Viele Berge = viel Föderalismus und viele Verschwörungsmythen. Wisskomm für die Tagesschau

Ob im EUSALP-Alpenraum oder in Wales und den schottischen Highlands, ob in den “Bergen Kurdistans” oder in Tibet, ob im Baskenland oder Katalonien, im äthiopischen Hochland (früher oft: abessinische Alpen genannt), im sächsichen Erzgebirge oder Thüringer Wald – überall auf der Welt bestätigt sich die Gebirgsregionen-Medienthese: Zwischen den Bergen entwickeln sich stärker föderale Traditionen mit mehr Dialekten, mehr Föderalismus, Ehrenamt und Selbständigkeit, aber auch mehr Esoterik und Verschwörungsmythen.

Im Gespräch mit Fabian Siegel vom SWR für die Tagesthemen und Tagesschau.de über das starke Reichsbürgertum in Baden-Württemberg habe ich versucht, die These in verständlicher Allgemeinsprache zu vermitteln.

Wissenschaftskommunikation per Tagesschau-Tweet und Tagesthemen-Video: “Warum Baden-Württemberg Reichsbürger-Hochburg ist”. Screenshot: Michael Blume

Und so heißt es im Beitrag beispielsweise:

Die Menschen hier legten schon immer großen Wert auf Autonomie und selbstständiges Leben, so Blume. Hinzu komme die Topographie: Die südlichen Bundesländer liegen weit weg von den politischen Zentren. “In Regionen, wo sich Menschen zwischen den Bergen selber organisieren, entsteht Ehrenamt, Zivilgesellschaft, Parlamente. Aber leider auch ein Hang zu Verschwörungsmythen und Esoterik”, sagt Blume.

Das beobachte man in Baden-Württemberg, aber auch in Bayern, Österreich oder der Schweiz.

Der Tagesthemen-Beitrag vom 23.05.2023 mit dem Beitrag zum Reichsbürgertum in Baden-Württemberg ab Minute 24:10.

In wissenschaftlicher Fachsprache lautet die Gebirgsregionen-Medienthese dagegen:

„Zwischen Menschen in Gebirgsregionen entwickelten sich >sprachliche<, kleinteilige, naturromantische & patriarchale Selbstverwaltungen. Gegenüber zentralisierenden Vor->Schriften< entstand daher mythologische Medien-, Wissenschafts-, Obrigkeits- und Staatskritik, die sich konstruktiv als bündischer Föderalismus und später Liberalismus, destruktiv als dualistischer Verschwörungsglauben bis hin zum Antisemitismus äußert.“

Philosophisch ließe sich das auch so formulieren: In Gebirgsregionen werden die Menschen stärker zu einer Entscheidung zwischen dialogischem Monismus und verschwörungsmythologischem Dualismus gedrängt. Der mitlaufende Relativismus tritt dagegen häufiger in zentralistischen Staaten auf.

Gefreut habe ich mich schließlich aber auch darüber, dass es gelang, zusätzlich einige Sätze zum in Baden-Württemberg weit verbreiteten Verschwörungsunternehmertum, der libertären Verschwörungsmythologie des Geldes beizusteuern. Auf Tagesschau.de komprimiert:

“Der Wohlstand in Baden-Württemberg stehe nicht im Widerspruch zu diesen extremen Ausprägungen, sagt Blume. Im Gegenteil: Die sozioökonomischen Strukturen begünstigten radikale Ansichten oftmals sogar. “Wer ein Haus gebaut hat, hat auch etwas zu verlieren”, fasst Blume es vereinfacht zusammen. “Reichsbürger” seien oft keinesfalls arme und ungebildete Menschen, sondern Menschen, die etwas erreicht hätten im Leben und nun glaubten, sie müssten das gegen eine Verschwörung verteidigen.

Ein guter Nährboden für radikale Ansichten: Deshalb sei auch die “Querdenken”-Bewegung im Raum Stuttgart entstanden. Auch deshalb gebe es in Baden-Württemberg zahlreiche florierende Verlage, die Verschwörungsmythen und radikale Ansichten publizierten – und damit ein Geschäft machen. Denn auch das sei Teil der Geschichte: “Es ist eben auch deswegen in Süddeutschland so stark, weil man hier damit so richtig Geld machen kann”, sagt Blume.”

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

15 Kommentare

  1. Ischt ein “heißes Eisen, vergleiche :

    Zwischen den Bergen entwickeln sich stärker föderale Traditionen mit mehr Dialekten, mehr Föderalismus, Ehrenamt und Selbständigkeit, aber auch mehr Esoterik und Verschwörungsmythen.

    +

    Philosophisch ließe sich das auch so formulieren: In Gebirgsregionen werden die Menschen stärker zu einer Entscheidung zwischen dialogischem Monismus und verschwörungsmythologischem Dualismus gedrängt. Der mitlaufende Relativismus tritt dagegen häufiger in zentralistischen Staaten auf. [Quelle : jeweils Artikeltext]

    Bei Dr. W hat so schon lange notiert, beobachtet und eben theoretisiert, grob so zusammen gefasst :
    Dort, wo es jahreszeitenmäßig auch mal kühler bis extra-kühl werden kann, ist der Mensch (vs. Bär) idR sozialer bemüht, hat sich so sozial zusammenzufinden, um die nächste Kälteperiode (auch den Winter) bestmöglich (zusammen) überstehen zu können. [1]

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer (der Ihnen, nur beobachtend, zustimmen möchte, gerne noch auf weitere empirische Daten wartend)

    [1]
    Ist oder war eigentlich eine “Stammtischtheorie”. bisher, Dr. W lässt gerne weiter so informieren.

    • Danke für das Interesse, @Webbaer

      Zu Ihrer Kälte-These nur der Hinweis, dass das extrem hierarchisch-kooperierendere Pharaonenreich in Ägypten um das Wassermanagement am Nil entstand, nachdem eine längere Hitzephase große Regionen Nordafrikas ausgetrocknet hatte. Das spricht dafür, dass nicht nur Kälte, sondern generell extremere oder sich schnell wandelnde klimatische Bedingungenen kooperatives („soziales“) Verhalten erzwingen können.

      Zur Gebirgsregionen-Medienthese habe ich hier Vortrag & Reader eingestellt:

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/die-alpenraum-medienthese-kit-vortrag-und-studienbrief/

      Zudem gibt es mehrere Interviews & spätere Blogposts dazu. Habe mir schon in der Evolutionsforschung abgewöhnt, noch die letzten Skeptiker überzeugen zu wollen. Da sei Popper vor.

      • Evolutionsbiologisch machen Ihre Ausführungen, lieber Herr Dr. Michael Blume. Sinn, auch sozusagen gesellschaftsbiologisch, es gibt ja auch die sog. Epigenetik, die zur vglw. zeitnahen Übertragung von Information, zwischen den Generationen beihelfen könnte.
        Bleibt abär, aus diesseitiger Sicht, ein “Spekulatius”.
        Und klingt womöglich auch a bisserl böse, wenn bspw. Thilo Sarrazin – Weihrauch in diesem Raume! – ähnlich biologisch, biologistisch sozusagen, zu interpretieren gewusst hat, biologische Erkenntnis.
        Ansonsten könnte sich an der Kultur festgehalten werden, Dr. Webbaer, der sich so auch mit Juden und entsprechender Verfolgungserfahrung auseinandergesetzt hat, glaubt nicht so recht daran.
        Vielen Dank für Ihr stets tapferes, kluges und grundiertes Bemühen
        Dr. Webbaer

  2. @ Blume

    Glückwunsch! Ich halte Sie momentan für den wichtigsten Analysten und Protagonisten und Aktivisten geisteswissenschaftlicher Entwicklungen.
    Danke,dass ich Sie hier erlebe.
    Hut ab für Ihr standing, für Ihre Offenheit, für’s Teilen und vor allem bedingungslose Transparenz!

  3. Not ist in einer Wohlstandsgesellschaft der verdrängstende Begriff und Bedeutung.
    Seelisch in Notwendigkeit=Alternativlosigkeit verkehrt.
    Nötigung und nötig sein sind nicht widerspruchsfrei,wie wir täglich erleben.
    Flucht,Verteibung und Migration,Not wird nur in Bildern produziert,aber nicht als Bedeutung thematisiert.
    Not ist ein elementares Gefühl und Gespür und damit verbunden die Erlösung…

  4. @ Blume

    Ja,eine weitere Paradoxie oder Schizophrenie: wir versuchen der Not zu entfliehen und produzieren immer wieder anthropogen verursachte Neue.

    Fatalismus ist nicht beherrschbar…

  5. Zur Verschwörungsmythologie:
    Das wird ja gerade von Beatrix v. Storch ganz groß aufgewärmt https://www.youtube.com/watch?v=HPcZGxanfhE und ist, so weit ich es sehe, gar nicht groß in der Öffentlichkeit diskutiert worden, dabei ist das brandgefährlich.
    (ich würde gerne mehr hier mit diskutieren- aber ich habe keine Zeit) Das hier sollte einmal thematisiert werden.

  6. @Michael 29.05. 22:20

    „Zu Ihrer Kälte-These nur der Hinweis, dass das extrem hierarchisch-kooperierendere Pharaonenreich in Ägypten um das Wassermanagement am Nil entstand, nachdem eine längere Hitzephase große Regionen Nordafrikas ausgetrocknet hatte.“

    In Ägypten war es vermutlich eine reine Kulturleistung, hier eine organisierte Bewässerung hinzubekommen. Die Lebensbedingungen mit kalten Wintern mögen über etliche Jahrtausende durchaus den sozialen Zusammenhalt gefördert haben, was sich sogar biologisch niedergeschlagen haben mag. Einfach weil die Kälteerfahrung über so lange Zeiträume andauerte.

    Im Norden läufts dann auch eher besser und sozialer. Da kann man auch China zurechnen, das liegt zwar eher südlich, hat aber richtig kalte Winter. Russland mag eine Ausnahme sein wie Nordkorea, das Klima ist sicher nur eine Nebenbedingung unter vielen. Gesellschaften sind ziemlich komplex.

    Die aktuellen kulturellen Bedingungen mögen wiederum selbst den größten Einfluss auf das soziale Leben haben. Eine Verbesserung des kulturellen Klimas kann dann auch das Sozialleben entscheidend fördern. Und kulturelle Katastrophen wie autokratische Despoten oder der Islamismus ruinieren dann auch wieder das Sozialleben.

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