Musik & Sinn: Rahi, Fries, Halev Stuttgart & die Antilopen-Gang

Es gibt einen verborgenen Faden in meinem Leben, für den ich lange eher Gefühle als Worte gefunden habe: die Verbindung von Musik und Hoffnung. Dabei geht es um mehr als ums Konsumieren. Schon in meiner Doktorarbeit zur Neurobiologie von Religiosität waren die Forschungsergebnisse zur Musikalität hilfreiche Wegweiser. Ich halte es seitdem nicht mehr für einen Zufall, dass der Religions- und Musiksoziloge Max Weber (1864 – 1920) von “religiös (un-)musikalischen” Menschen sprach, von “religiösen Virtuosen” u.v.m.

Als ich im Juli 2022 die Otto-Hirsch-Auszeichnung erhielt, wünschte ich mir daher die Musik meiner Lieblingsband dazu: Rahi mit Rager, Hizir und Sahin.

Und nachdem ich am 9.11.2023 im Landtag Baden-Württemberg über die akuten Gefahren des Antisemitismus gesprochen hatte, nahm ich die Einladung gerne an, am 19.04.2024 in der heimischen Alten Mühle Filderstadt mit der wundervollen Musikband Fries aufzutreten – um über Hoffnung zu lesen. Denn die Musiker von Fries vertreten nicht nur schöne Songs, sondern auch eine Philosophie der Zeit, die mich sehr berührt.

Einladungsflyer zur Veranstaltung: "FRIES macht Musik - Dr. Michael Blume liest zum Thema Hoffnung" am 19.04.2024 in der Alten Mühle Filderstadt-Bonlanden. Klick führt zur Homepage der Alten Mühle

“Fries macht Musik – Dr. Michael Blume liest zum Thema ‘Hoffnung'”, Freitag 19.4.2024, 20 Uhr in der Alten Mühle Filderstadt-Bonlanden. Screenshot: Michael Blume

Doch wann einen die Lebensthemen “treffen”, kann sich niemand aussuchen. So erreichte mich noch an Ostern die glückliche Nachricht meiner Mit-Autorin Prof. Barbara Traub, dass die Stuttgarter Jugendgruppe Halev Stuttgart die Jewrovision 2024 in Hannover gewonnen hatte! Und zwar nicht mit irgendeinem Thema, sondern mit “Schalom & Salam” – einem Aufruf für die jüdisch-muslimische Freundschaft gerade auch nach dem Hamas-Terrormassaker des 7.10.2023!

Und als ich das Halev-Stuttgart-Video sah, wusste ich auch, warum. Ja, ich habe geweint. Denn diese jungen Menschen gaben und geben – Hoffnung.

(Und auch sie sind Fans des VfB Stuttgart, dessen Schal ich bei meiner Stuttgart-hält-zusammen-Demo-Rede bewusst trug…)

Gerne besuchte ich daher die Jugendgruppe der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) in Stuttgart am Schabbat des 06.04.2024, um zu gratulieren – und um eine Einladung auszusprechen. Staatssekretär Florian Hassler & ich möchten einen Regierungsempfang für die jungen Leute ausrichten, zu dem sie und jeweils eine nichtjüdische Freundin / ein nichtjüdischer Freund eingeladen werden sollen. Denn auch im direkten Gespräch bestätigten mir die Jugendlichen, dass sich nach dem 7.10.23 zwar einige Freund- und Bekanntschaften verloren, andere aber auch vertieft haben. Die Idee eines gemeinsamen Empfangs traf daher auf große Freude!

Dr. Michael Blume (Mitte hinten) umgeben von den dynamischen Jugendlichen von Halev Stuttgart im jüdischen Gemeindezentrum Stuttgart. Klick führt zu einer Vorstellung der Gruppe auf leo-bw.de

Hoffnung mit Herz. Mit der Jugendgruppe Halev Stuttgart im jüdischen Gemeindezentrum. Foto: Staatsministerium BW

Am Sonntag, 7.04. hörte ich dann erstmals von einem starken Anti-Antisemitismus-Song der Antilopen Gang: “Oktober in Europa”. Doch zunächst hielt mich der Skandal um den israelbezogenen Antisemitismus von Helen Fares aus dem SWR-Moderationsteam in Atem.

Doch schon am Montag, 8.4.2024 publizierte die taz-Journalistin Lea Fauth einen Artikel, in dem sie die Antilopen Gang und mich für unseren Kampf gegen Antisemitismus gemeinsam angriff. Ich wurde bei einem Iftar (Fastenbrechen-Abendessen zum Ramadan) von verwunderten, muslimischen Freundinnen und Freunden darauf angesprochen und werde mir ein paar Tage Zeit nehmen, bis ich mich ernsthaft dazu äußere. Denn der taz-Text scheint eine Art linker Blutmystik von deutscher Erbschuld und der dualistischen Einteilung der Deutschen in solche mit Migrations- und solche mit Nazi-Hintergrund zu vertreten, den ich – nicht nur mit Bezug auf meine Familie – völlig abwegig finde:

“Wenig rühmlich und in dieselbe Richtung äußerte sich auch der Antisemitismus-Beauftragte von Baden-Württemberg, Michael Blume. Als im Dezember die Monopol-Chefredakteurin Elke Buhr in einer DLF-Debatte von „Menschen mit Nazi-Hintergrund“ sprach und korrekterweise klarstellte: „Also wir, die wir hier sprechen“, unterbrach Blume sie empört: „Ekelhaft! Ekelhafter Spruch. Lasse ich mir nicht sagen. Deutsche mit Nazi-Hintergrund, was soll denn das bitte heißen?“. Augen auf bei der Berufswahl. Als Antisemitismus-Beauftragter hätte man sich zu dieser Frage mitunter am meisten Gedanken machen sollen.

Beide Beispiele verdeutlichen eine katastrophale Dimension der Selbstgerechtigkeit und der Geschichtsverklärung: Antisemitismus, das sind die anderen.

Die Steigerung dessen: Der Holocaust, das waren die anderen.

Diese Tendenz tritt zutage, wenn Deutsche die Verbrechen der Hamas mit dem Holocaust gleichsetzen. Darin steckt auch eine Sprachlosigkeit über das Grauen, man greift zu äußersten Mitteln, um es zu beschreiben – darin offenbart sich aber auch ein Bedürfnis, von eigenen Verbrechen abzulenken. Womöglich ist das eine neue Stufe dessen, was Max Czollek als Versöhnungstheater beschrieben hat: Alles ist gut, wir waren’s nicht.

Doch die deutsche Schuld ist nicht zu tilgen. Der Kampf gegen Antisemitimus ergibt sich als Notwendigkeit aus dieser Schuld, aber er wird sie niemals beseitigen.

Nun werden Antilopen Gang oder Michael Blume womöglich erklären, das sei alles ganz anders gemeint. Fair enough. Vielleicht können sie Missverständnisse ausräumen. Sie müssten aber mindestens zugeben, dass ihre Worte eine Zweideutigkeit zugelassen haben, dass sie damit einen Nerv getroffen haben, wie die begeisterten Reaktionen von Regierungsvertretern bis Springer-Presse zeigen.

Wünschenswert wäre vor allem, auch bei anderen Äußerungen mehr Milde zu zeigen, mehr in die Debatte zu gehen, nachzufragen: Wie war das gemeint?”

Nun kann ich zwar nicht für die Antilopen Gang sprechen – aber dass der von der Hamas gerühmte arabische Großmufti Mohammed al-Husseini schon damals zahlreiche jüdische und gemäßigt-arabische Menschen ermorden ließ, sich mit Adolf Hitler verbündete, in Bagdad die mörderischen Farhud-Pogrome entfesselte u.v.m. – hätte Frau Fauth leicht auch über diesen Blog & den Verschwörungsfragen-Podcast recherchieren können. Da scheint mir, gelinge gesagt, die Antilopen Gang besser recherchiert zu haben.

Lassen wir aber doch auch zum Abschluss einfach die Musik selbst sprechen: Das m.E. bedeutende “Oktober in Europa” von der Antilopen Gang.

Über Eure Beobachtungen zu Musik & Hoffnung würde ich mich sehr freuen, klar.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

8 Kommentare

  1. Musik und Hoffnung! Musik gibt mir unheimlich viel. Eine sehr gute Verbindung von beiden ist für mich die Musik von Johann Sebastian Bach. Seine Kantaten geben Trost und Hoffnung, nicht nur im christlichen Sinne. Ich wünschte, ich könnte es so perfekt beschreiben wie Rilling.
    Es kommen für die meisten Menschen Zeiten, in denen Zweifel und Angst überwiegen. Da zur Musik häufig auch das Wort gehört, erinnere ich am heutigen Tag an Dietrich Bonhoeffer, der am 09.04.1945 ermordet wurde. “Von guten Mächten” zählt zu meinen Liedern der Hoffnung.
    “People” aus dem Film “Funny Girl”, gesungen von Barbra Streisand, interpretiert von ihrer einmaligen Stimme ist ein weiterer Hoffnungssong.
    People who need people are the luckiest people in the world.
    Ouvertüren von Rossini sind für mich Hoffnungsstimulantien.
    Das sind nur ein paar Beispiele.

    Sie schreiben hier auch von der deutschen Schuld. Ich habe nach meiner Schulzeit viele Jahre gebraucht, um mich nicht mehr persönlich schuldig zu fühlen. Ich bin nicht schuld an dem, was zwischen 1933 und 1945 an Verbrechen etc verübt wurde. Aber ich habe die Verantwortung, dass es nicht wieder passiert. Schuldig gemacht, haben sich damals viele Deutsche. Wir müssen uns weiterhin mit dem Nationalsozialismus und den Deutschen im 3. Reich beschäftigen. Es gibt in der Forschung interessante neue Ansätze, wie ich in einem Online-Vortrag eines renommierten Historikers erfahren habe. Ob man hier zur Neubewertung von Schuld kommen kann oder will, kann ich nicht beurteilen. Aber das Wort “Nazi-Hintergrund” scheint mir aus verschiedenen Gründen sehr weit hergeholt zu sein. Es sollte in der Form nicht Teil unserer Erinnerungskultur sein.

    Zum Schluss: Danke für dieses Thema und Ihre Ausführungen.

    • Vielen Dank, @Marie H. – auch da stimmen wir wieder in so Vielem überein!

      Zur „Matthäuspassion“ von Johann Sebastian Bach lese ich gerade das Buch meines Hausphilosophen Hans Blumenberg. Es ist aber so komplex, dass ich nach wenigen Seiten immer wieder Pausen einlege.

      Bei der Schuldfrage stimme ich völlig zu: Ich glaube nicht an Erbschuld oder Erbsünde, sondern nur an die persönliche Verantwortung jedes einzelnen Menschen. Dazu habe ich hier auch bereits mit Prof. Inan Ince diskutiert:

      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/nein-zur-erbsuende-ja-zur-verantwortung-protestantismus-folge-bei-blume-ince/

      Die Unterteilung unseres Volkes in „Deutsche mit Migrationshintergrund“ und „Deutsche mit Nazi-Hintergrund“ baut nach meiner Auffassung auf einem letztlich rassistischen Geschichtsbild, das Menschen nicht als Individuen, sondern nach Herkunft und Vorfahren pauschalisiert. Deswegen werde ich diesem Dualismus auch weiterhin klar und deutlich widersprechen.

  2. Hoffnung heißt im Moment, Aussitzen, an Symptomen doktern und Däumchen halten. Eine Welt stirbt, eine neue wird geboren, und wir toben in Agonie auf dem Sterbebett. Leider beherrschen die Todgeweihten die Welt und die Debatten, wenn man keine Hoffnung hat, wird man vor Frust schnell zickig.

    Im Moment können wir kaum mehr tun, als die Tobenden festhalten, damit ihre Agonie nicht noch mehr in Kriege ausartet, und versuchen, die Blutfehden unserer Welt nicht zu vererben. Was die taz schreibt, passt ins Zeitgeist-Klima, alle Aussagen möglichst negativ zu interpretieren. Sagen Sie dem Menschen, der Ihnen Sachen unterstellt, Sie sind dafür verantwortlich, was Sie sagen, er dafür, was er hört. Und wenn er Hass und Hetze hört, ist die in seinem Kopf, nicht Ihrem, und er muss an sich arbeiten, nicht an Ihnen.

    Ich sehe hier allerdings einen Bezug zu Ihrem Internet-Talmud und verwandten Phänomenen – der Name programmiert den Kontext, in dem der Empfänger Ihre Botschaft interpretieren wird, er bestimmt seine Emotionen. Wenn Einstein wirres Zeug brabbelt, gehen Sie davon aus, dass es einfach zu schlau ist, um es zu verstehen, wenn einer wie ich wirres Zeug brabbelt, gehen Sie davon aus, dass es wirres Zeug ist. „Frieden“ aus dem Mund von Albert Schweitzer klingt anders als aus dem Mund von Adolf Hitler. Und wir leben im Age of Trump – als de facto amtierender Gottkönig der Welt bündelt er unsere Gefühle, destilliert die gemeinsamen Nenner und strahlt sie auf uns zurück. Wir haben ihn zu unserem Avatar gemacht, jetzt macht er uns zu Avataren von ihm. Hat viel mit Religion, Propheten, Heiligen zu tun.

    Wenn Sie für jemanden zum Markenzeichen für Feind geworden sind, ist kaum ein vernünftiges Gespräch mehr möglich. Was ich für meinen Teil sehe, ist, dass sich die Welt immer mehr mit Energie auflädt – die Spannung steigt. Und wir entladen sie alle über Team Antichrist – senil-infantile Egomanen, die das Schlimmste in uns verkörpern und in unserem Namen Gräuel begehen, zu denen wir selbst nicht fähig wären. Die große, bunte Bibi-Hamas-Show ist genauso ein Teil davon, wie Nero Putins Circus Maximus in der Ukraine, und es verschlingt auch Europa. Sie sind kein Gott, und auch Trump und Co sind bloß Marionetten des Zeitgeistes. Hier wirken Mächte der Physik, Evolution, die Energie muss wandeln und wird wandeln, bevor sie wieder verschwindet. Tun Sie, was Sie können – mehr können Sie nicht tun.

    Ich würde mir wünschen, wir könnten die Energie in etwas Positiveres lenken als Krieg und Hass. Meine Musikrichtung geht eher so in Richtung Metal, aber Metaller sind ja gerade deswegen friedliche Spießer, weil sich ihre Seelen frei austoben können. Musik ist die Sprache der Emotionen, der Kräfte, die uns alle bewegen. Und wenn sie ihre Puppen in der Weltpolitik tanzen lässt, sollten sie dabei lieber Schaufeln und Kellen in der Hand halten, als Schwerter und Speere.

    Es sind die Jungen, die die Welt erben werden. Mögen sie es besser machen als wir. Es ist die alte Schule, für die es keine Hoffnung gibt. Wenn Sie alt sind und Ihre Hoffnung die Jungen sind, zählen Sie nicht dazu. Wenn Sie jung sind und am Alten festhalten, weil es weniger Mut erfordert, als sich den Herausforderungen zu stellen, schon.

  3. Guten Tag und vielen Dank für die inspirierenden Musik-Tipps!
    Ich habe den Taz-Artikel gelesen und mir die dort erwähnte DLF-Sendung angehört. Ich halte die im Artikel geäußerte Kritik an Ihnen für überzogen und selbstgerecht. Ich habe einen Kommentar zum Taz-Artikel geschrieben und hoffe, dass er freigeschaltet wird.

  4. Ich möchte auf folgende Songs aufmerksam machen.

    Da ist zum einen “Nie wieder” aus Dezember 2023 von der Südtiroler Band Frei.Wild. Ich möchte dazu erwähnen, dass der Band vor vielen Jahren vorgeworfen wurde, Lieder mit rechtslastigen, nationalistischen bzw. völkische Anklang zu veröffentlichen. Zu ihrer Vergangenheit möchte ich nichts weiter sagen, da ich mich zu wenig mit Frei.Wild beschäftigt habe.

    “Nie wieder” ist aber eine deutliche Absage an jegliche rechtspopulistische/rechtsradikale Verklärung und eine Anklage gegen antisemitische, israelfeindliche und judenhassende Tendenzen, wie sie sich seit einen halben Jahr deutlich in einem Milieu zeigen, welches sich selbst gemeinhin als links bzw. links-progressiv sieht.

    https://www.youtube.com/watch?v=3Ps5OZswUzk

    Mein anderer Vorschlag ist “Demokratie” von den Ärzten. Der Song erschien ursprünglich im Herbst 2021 auf dem Album “Dunkel” unter dem Titel “Our Bass Player Hates This Song” und wurde jetzt aufgrund der anstehenden Europawahl als Single veröffentlicht.

    https://www.youtube.com/watch?v=n9kQLU3Q8A0

    • Vielen Dank für die Musiktips und Videolinks, @RPGNo1. Beim “Demokratie”-Video der Ärzte habe ich gleich eine “Like”-Stimme abgegeben. Es spricht mir aus der dialogisch-monistischen Seele.

      “Freiheit ist keine App aus dem World Wide Web.”

      “Dein Kreuz gegen Hakenkreuze, damit fängt es an.”

      “Wählen zu gehen ist das höchste Privileg in einer Demokratie.”

      So geht humanistische Zivilreligion mit Menschenwürde zusammen!

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