WissKon21: Karl Popper und das Kreuz der Falsifikation. Religion & Wissenschaft

Meinen säkularen, sehr freiheitsliebenden Eltern verdanke ich eine große Begeisterung für Wissenschaft: Jeden Morgen brachte mein Vater, der morgens als Zeitungsausträger arbeitete, verschiedene Blätter mit nach Hause und ich kann mich nicht erinnern, dass Lesewünsche je abgelehnt worden wären. Auch deswegen hatte ich ja gerade eine Lesung im Buchladen meiner Kindheit, dem Bunten Bücherladen Filderstadt, gegeben.

Doch später musste ich lernen, dass die Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse keine Selbstverständlichkeit ist, sondern schmerzt. So lehnen beispielsweise nicht nur religiöse Kreationist:innen die Evolutionstheorie ab – sondern auch umgekehrt Antitheist:innen jene Befunde, die einen evolutionären Nutzen von Religiosität belegen. Rechtsextreme weisen Widerlegungen des “Rasse”-Begriffes zurück, Linksextreme Widerlegungen etwa des marxistischen Historizismus. Und auch ich selbst wäre vor vielen Jahren beinahe an Daten zur Religionszugehörigkeit von Frauen in der Schweiz gescheitert, die so gar nicht zu meinem damaligen, noch sehr rationalistisch-individualistischen Menschenbild gepasst hatten.

Auch darüber hatte ich in meinem Vortrag zur Wissenschaftskommunikation bei der WissKon21 vor wenigen Wochen zum ersten Mal öffentlich gesprochen. Denn wie soll ich von anderen erwarten, ehrlich auch mit sich selbst und den je eigenen Gefühlen umzugehen – ohne einzugestehen, dass auch ich selbst dem Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) und Schmerzen bei Widersprüchen (Kognitive Dissonanz) unterliege wie andere auch? Die richtige Frage scheint mir nicht zu sein, “ob” wir alle auch anfällig für Dualismus und Verschwörungsmythen sind – sondern wie wir mit dieser Anfälligkeit umgehen.

Der rationalistisch-humanistische Erkenntnistheoretiker Karl Popper (1902 – 1994) – meines Erachtens der bedeutendste und wirkungsvollste Philosoph des 20. Jahrhunderts – wählte in seiner “Offenen Gesellschaft” dafür in mehrseitigen Überlegungen ein zentrales, religiöses Problem: Das Kreuz.

Das Kreuz als Symbol des Erkenntnis-Schmerzes bei Karl Popper

So müsse laut Popper der freie, vernünftige Mensch „die Last der persönlichen Verantwortung“ übernehmen: „Wir tragen das Kreuz dafür, dass wir Menschen sind.“ (Hervorhebung auch im Original)

Denn: „Es gibt keine Rückkehr in einen harmonischen Naturzustand. Wenn wir uns zurückwenden, dann müssen wir den ganzen Weg gehen – wir müssen wieder zu Raubtieren werden.“ Wir dürften also, so Popper, nicht „davor zurückschrecken, unser Kreuz zu tragen, das Kreuz der Menschlichkeit, der Vernunft und unserer Verantwortung“. Und wenn wir, so Popper, „der Last des Kreuzes müde werden, dann müssen wir uns zu stärken versuchen, mit dem klaren Verstehen der einfachen Entscheidung, die vor uns liegt.“ Wir könnten nur entweder „zu den Raubtieren zurückkehren.“ Damit würden wir sogar unsere Menschlichkeit aufgeben. „Aber wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft. Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse und ins Unsichere weiterschreiten; wir müssen die Vernunft benutzen, die uns gegeben ist…“

Sowohl im hier zitierten Band I der “Offenen Gesellschaft” (1945 / 2003, S. 236 – 238) wie auch in Band II stellte Popper dabei mehrfach fest, dass es ihm nicht um ein religiöses oder außerweltliches Bekenntnis gehe, sondern um die Betonung menschlicher Verantwortung – auch im Durchleiden von Falsifikationen.

Diese sehr drastische Ansage erfolgte dabei in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus der Nationalsozialisten, vor dem der aus einer jüdisch-christlichen Familie stammende Popper gemeinsam mit seiner Ehefrau nach Neuseeland geflohen war.

So entschied ich mich, diese auch emotionale Tiefendimension von Wissenschaft und Erkenntnis bei meiner Keynote für die WissKon21 des NaWik – Nationale Institut für Wissenschaftskommunikation zu thematisieren. Es war ein interdisziplinäres Wagnis, doch über die immer noch anhaltende, enorme Resonanz darauf habe ich mich sehr gefreut!

Zudem nutzte ich die Chance, das nach “Verschwörungsmythen” (2020) entwickelte Vier-Stufen-Modell der Verschwörungspsychologie auch gegenüber den Expertinnen und Experten der Wissenschaftskommunikation einmal vorzustellen.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

47 Kommentare

  1. Poppers offene Gesellschaft wird meist als Bekenntnis zur Demokratie und zur pluralistischen Gesellschaft interpretiert. Doch auf dem Hintergrund seines empirischen Falsifikationsprinzip und der zugrundeliegenden Annahme niemand wüsste im Voraus die Wahrheit und die Zukunft sei offen, könnte man die offene Gesellschaft auch als das menschlich/gesellschaftliche Gegenstück zur natürlichen Evolution sehen – nur eben auf einer höheren Ebene.

    Wenn man von einer technisch/wissenschaftlich/kulturellen Evolution ausgeht, gilt es ständig aufs neue die beste Adaption an die sich entwickelnde, nun vom Menschen weitgehend selbst geformte Umwelt zu finden. Die Zukunft ist offen und ebenso die menschliche Gesellschaft.

    Faschismus und Verschwörungsüberzeugungen, aber auch viele religiöse Glaubenssysteme wären in dieser Sicht Resultate von evolutionären Übrigbleibseln, von Atavismen, die genau so weiterexistieren wie in der natürlichen Evolution etwa unser Steissbein oder der Blinddarm immer noch da sind, aber nicht mehr gebraucht werden. Wobei das vielleicht eine allzu grosse Vereinfachung ist, aber in der Tendenz trotzdem stimmen kann.

    • Anmerkung: Popper begründete den kritischen Rationalismus und damit eine Herangehensweise an die Welt die deduktive Logik und Empirie auf die gleiche Stufe stellt und wo Hypothesen falsifizierbar sein müssen. Für ihn war die Evolutionstheorie deshalb keine klassische Natur-Wissenschaft, weil ohne Prognosekraft ohne Testbarkeit. Poppers ursprüngliche Herangehensweise unterscheidet sich auch deutlich von evolutionären Ansätzen in der Philosophie wie etwa der Evolutionären Erkenntnistheorie. Dennoch gilt heute Karl Popper zu den Unterstützern der evolutionären Erkenntnistheorie – vor allem über sein Buch Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. .

      Und tatsächlich ist Poppers Falsifikationsprinzip sehr gut verträglich mit einem Urprinzip der evolutionären Entwicklung: alles was weiterlebt muss eine Art Realitätstest bestehen, muss „funktionieren“ oder wie Gerhard Vollmer sagte:

      „Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte.“

      Popper ist aber insoweit viel stärker in der Welt der Logik, der Konzepte und der Wahrheiten verankert als ein typischer evolutionärer Erkenntnistheoretiker, indem Popper so etwas wie Schmerz empfinden kann, wenn eine „Wahrheit“ der (neuen) Realität geopfert werden muss. Für einen vor allem evolutionär Denkenden ist der Tod und das über Bord werfen von Theorien der normale Gang der Dinge, für Popper aber ist das Abwerfen von überholtem theoretischen Ballasts
      eine Art Passionsweg, ein Schmerzensweg.

      Dennoch: Poppers „Offene Gesellschaft“ kann nicht nur als Konsequenz seiner Lehre des kritischen Rationalismus gesehen werden, sondern ebenso gut als Konsequenz des Glaubens/Wissens um die Notwendigkeit ständiger Veränderung in einer evolvierenden Welt.

  2. Klingt gut :

    Aber wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft.

    Popper ist hier sehr positiv aufgefallen, weil er eine klare Sprache sprach, er Gerede anderer Philosophen gerne einordnete und bestimmte Überlegungen zur Freiheit, zur offenen Gesellschaft (nicht zu verwechseln mit der grenzenlosen Gesellschaft) und zum Liberalismus allgemein anstellte, denen hier eigentlich nur gefolgt werden kann.

    Das mit der “Welt 3” habe ich schlechter verstanden, ging nicht mit, zu dem, was aus Sicht einiger zu Deutschland gehört (Wie eigentlich? Fehlte da nicht das Adverb, das die gemeinte Entitätsbeziehung kennzeichnet?), fiel ihm wohl (diesbezüglich ist a bisserl geprüft worden) nichts ein und dass der “Rasse”-begriff ‘widerlegt’ wäre, wäre mir neu.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer (der gleich noch in die “Keynote” reinschaut)

  3. PS zur “Keynote” und zu Heidegger kurz :

    Dr. Webbaer versteckt sich hier erst einmal so :

    -> https://denkstil.bankstil.de/einige-anmerkungen-zu-heidegger (Quelle nicht geprüft!, hoffentlich ist sie OK, bitte keine “Kontaktschuld” nahelegen, falls dies nicht der Fall)

    Zitat :

    Es gibt eine Art Rezept für diese Dinge. Das Rezept besteht darin: Man sage Dinge, die großartig klingen, aber keinen Inhalt haben, und gebe dann Rosinen hinein – die Rosinen sind Trivialitäten. Und der Leser fühlt sich gebauchpinselt, denn er sagt, das ist ja ein ungeheuer schweres Buch! Und dabei habe ich mir einiges schon selber gedacht!
    […]
    Gewöhnlich schreibt er ja Dinge, die man überhaupt nicht versteht [Hervorhebung : Dr. Webbaer – sicherlich ist nie zu Man-Sätzen angeraten, wenn nicht alle gemeint sind, aber köstlich ist derartige Einschätzung schon aus diesseitiger Sicht], und zwar seitenweise! [Popper über Heidegger]

    Und hier musste dann auch geschmunzelt werden, denn Dr. Webbaer hat Heidegger grundsätzlich nicht verstanden und wenn er doch gelegentlich verstanden hat, sah er Bluff, Toppertum und vermutlich bewusste Irritation der Abnehmerschaft.
    Auch mit Hannah Arendt war Dr. Webbaer nie happy, sie diente bis 1976 in der BRD als Israel-Kritikerin, sie wurde televisionär hervorgeholt wie später unter anderem auch Uri Avnery und Moshe Zimmermann, womöglich um Äquidistanz medial zu transportieren, Willy Brandt war ja 1973 in einem dieser Kriege um Israel dediziert / dezidiert um Neutralität bemüht. (Bei besonderem Bedarf können passende Belege beigebracht werden.)

    • Selbstredend melde ich für’s Protokoll pflichtbewußt in Sachen Heidegger meinen Widerspruch an. Alleine die Ignoranz, mit der Karl Popper seinen Kollegen Hegel und Heidegger begegnet, zeigt, daß er auf gar keinen Fall zu rechnen ist zu den bedeutendsten und wirkungsvollsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Bei einem Jürgen Habermas finden wir bei aller zeitlebens geäußerten Kritik eine doch ganz andere Wertschätzung.

      Wen aus dem vergangenen Jahrhundert wird man in 300 Jahren noch studieren so wie wir heute einen Kant, Hegel, Schelling, Schopenhauer? Wittgenstein, Heidegger, Habermas. Popper wird eine Standartreferenz in der wissenschaftstheoretischen Sekundärliteratur, Stichworte Falsifikationsprinzip, Schwarzer Schwan. Adorno wird man lesen zum Grundlagenverständnis Habermas’, ebenso Husserl für Heidegger.

      Ralf Keuper eröffnet im verlinkten Beitrag mit dem Rücktritt Günter Figals. Alleine dieser Rücktritt zeigt schon an, daß die deutsche Heidegger-Rezeption sich auf einem gänzlich anderem Level befindet als die französische Orthodoxie. Das war eine absolut grandiose, wichtige Tat, die mit Recht weitreichende Folgen hatte. Ein Popper mit seiner herumschwadronierenden Ignoranz kommt nicht einmal in den Dunstkreis dessen, worum es geht.

      • Lieber @Alubehüteter,

        bezüglich Popper müssen Sie sehr stark sein: 😉

        https://twitter.com/PhilipLeButt/status/1401626252604231683

        Ernsthaft: Ob uns persönlich nun Popper gefällt oder nicht – mit der Falsifikation, der Kritik am Historizismus, der evolutionären Erkenntnistheorie, dem Toleranzparadox oder eben der liberalen „Offenen Gesellschaft“ hat Popper philosophische Anwendungen von erheblichem Nutzwert geschaffen. Hegel und der Antisemit Heidegger haben dagegen Textlandschaften geschaffen, in denen sich Spezialist:innen gerne verlaufen.

        Und das bietet z.B. Blumenberg auch, nur aktueller, menschenfreundlicher und etwa in der Erforschung des Mythos schlichtweg besser.

        Popper formte und trägt (u.a.) den evolvierenden Liberalismus und die wissenschaftliche Methodik. Heidegger hat nichts auch nur annähernd Vergleichbares geschaffen. 💁‍♂️

        • philosophische Anwendungen von erheblichem Nutzwert

          Praktische Philosophie; da bleiben seine Errungenschaften unbenommen.

          In der theoretischen Philosophie sehe ich keine großen Neuerungen. Er hat viele Antworten Kants auf die Frage „Was können wir wissen?“ übersetzt, verständlicher gemacht, und damit operationalisierbarer für die Wissenschaftstheorie und die Methodenlehre. Und auch da nur für die Naturwissenschaften. Wer geisteswissenschaftlich-hermeneutisch methodisch arbeiten will, wird um Dilthey und Gadamer, also um Hegel und Heidegger nicht drumrum kommen. – Ein solch ein von Popper übersetzter Grundgedanke Kants: Wir können Die Wahrheit™ nicht wissen (Kants „Ding an sich“), wir können sie allerdings wie beim Schiffe-Versenken durch immer mehr Irrtümer („Masken helfen nicht“, Christian Drosten vor 15 Monaten) immer gezielter einkreisen, bis wir Wahrheiten erlangen, mit denen wir immerhin praktisch leben können; zum Mond fliegen, Quantencomputer bauen u.v.a.m. Weder Relativitätstheorie allerdings noch die Quantenmechanik sind Die Wahrheit™ an sich; sie sind nur vorläufig gültige Irrtümer, die wir noch nicht widerlegen können bzw. überbieten durch leistungsfähigere Theorien, die noch mehr erklären können, und mutmaßlich ihrerseits auch nur wieder Irrtümer sind. Was sich hier alleine schon darin zeigt, daß wir diese Theorien nicht ineinander überführen können. Sie widersprechen einander gegenseitig.

          In der politischen Philosophie teilt Popper allerdings noch die Grundannahme Platons, daß es auch für das Zusammenleben der Menschen eine, oder zumindest für konkrete Fragen eine, letztlich Die Wahrheit™ gäbe. Die Offene Gesellschaft ist doch selber auch nur ein historizistisches Endziel der Geschichte. Wer weiß, ob sich die chinesische Harmonische Gesellschaft nicht doch als die effizientere herausstellt. Nur können wir politische Wahrheiten nicht einfach ableiten etwa aus höheren Ideen, und damit ein für alle Male festlegen. Wir müssen, wie in der Wissenschaft, immer wieder für jedes Problem neu in einen Diskurs treten. Das Problem dabei ist, daß diese Diskussionen prinzipiell nicht abschließbar sind. Denn wir müssen zuvor schon Entscheidungen treffen, gewissermassen Wetten abschließen darauf, was in einer Situation „die richtige“ Entscheidung wäre. Einer meiner Professoren pflegte für diesen Ansatz das schöne Bild „man müsse sich jetzt einmal gemeinsam hinsetzen und das gründlich ausdiskutieren“. Eben dies aber sei aufgrund des Entscheidungsdrucks nicht möglich. Gleichwohl hat Popper mit Platon immer noch die Vorstellung gemein, daß es eine politische Wahrheit gibt, richtige Entscheidungen, die man prinzipiell ausdiskutieren könnte. Praktisch kommen wir im politischen Diskurs nur approximativ dran. Wir können uns dem nur annähern.

          Schon mit Sartre läßt sich einwenden: Das funktioniert nicht, weil der Mensch frei ist. – War die so massiv umstrittene NATO-Nachrüstung damals richtig oder nicht? Helmut Kohl bilanziert, sie sei richtig gewesen, denn die Geschichte habe dieser Entscheidung mit der Wiedervereinigung Recht gegeben. Das sehe ich durchaus mit einem Historismus vereinbar, der sich mit der Offenen Gesellschaft Karl Poppers verbinden läßt. Wir hatten in einer Offenen Gesellschaft heftigste Auseinandersetzungen inklusive Aktionen bürgerlichen Ungehorsams – Festketten am Atomraketenlager Mutlangen –, und Politik hat schließlich aufgrund approximativer Einschätzungen Beschlüsse getroffen, denen die Geschichte™ im Nachhinein Recht gegeben hat. In Sachen Atomenergie hingegen sieht das so aus, als ob wir hier besonders in der Endlagerungsfrage einen riesigen Irrtum begangen haben.

          Letzteres läßt sich bestimmen. Letzteres ist Physik. Die Sache mit der NATO-Nachrüstung aber ist gelungen, weil sie zwei nicht zu berechnende und nicht vorherbestimmte Faktoren beinhaltet: Das sozialverträgliche Frühableben der Herren Andropow und Tschernenkow. Das fällt schon eher in den Bereich der Spieltheorie, der menschlichen Freiheit: Genauso denkbar wäre gewesen, daß Gorbatschow auf die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa reagiert wie schon Crutschtschow auf die Stationierung von Mittelstreckenraketen in der Türkei: Mit der Stationierung von Raketen auf Kuba. Heißt, es gab in dieser Frage kein richtig oder falsch. Es ging um ein Wagnis, das man eingeht oder auch nicht. Die Geschichte hat hier nicht Recht gegeben. Es gibt Rechnungen, die gehen auf, andere, die gehen nicht auf. Diese aber sind nicht auszudiskutieren, weil sie ihre Grenze finden in der undeterminierten menschlichen Freiheit.

          • @Alubehüteter(Zitat 1):

            Ein solch ein von Popper übersetzter Grundgedanke Kants: Wir können Die Wahrheit™ nicht wissen (Kants „Ding an sich“),

            Ja, Kant meint es gebe Die Wahrheit, wir seien aber prinzipiell nicht zur Erkennung der Wahrheit in der Lage, weil unserer Erkenntnisfähigkeit nicht zu trauen ist, weil sich die Wahrheit vor uns verbergen kann.
            Im Kern habe Kant damit bereits den (radikalen) Konstruktivismus begründet meint etwa Markus Gabriel, der Begründer des „Neuen Realismus“. Für den Konstruktivisten ist alle Erkenntnis nur ein Konstrukt, eine Täuschung und die Wissenschaft könne höchstens einen Konsens hervorbringen. Markus Gabriel sieht den Konstruktivismus als Gegenteil des Realismus und als Giftpflanze, die die Philosophie der letzten Jahrhunderte vergiftet habe und Kant sei derjenige, der diese „Erbsünde“ der Philosophie in die Philosophie hineingebracht habe..

            Wenn sie schreiben, wir könnten die Wahrheit nicht wissen sei ein von Popper übersetzter Grundgedanke Poppers, so liegen sie komplett falsch. Kant als Konstruktivist glaubt an die prinzipielle Unzugänglichkeit der Wahrheit, Popper an die Annäherbarkeit an die Wahrheit.

            Die Naturwissenschaften wiederum haben heute eine ähnliche Wahrheitsauffassung wie die axiomatische Mathematik und dort bedeutet Wahrheit, dass die Beziehungen zwischen Dingen erkannt werden können, die Grundannahmen, die Axiome aber müssen „geglaubt“ werden. Allerdings können in den Naturwissenschaften im Gegensatz zur Mathematik die Grundannahmen bis zu einem gewissen Grad falsch sein, was dann bedeutet, dass eine naturwissenschaftliche Theorie in sich zusammenfallen kann, wenn eine Grundannahme sich später als falsch herausstellt. In der Mathematik aber sind die Grundannahmen willkürlich und eine mathematische Theorie bleibt immer gültig. Naturwissenschaft ist empirisch, Mathematik logisch.

            Zitat 2:

            Die Offene Gesellschaft ist doch selber auch nur ein historizistisches Endziel der Geschichte. Wer weiß, ob sich die chinesische Harmonische Gesellschaft nicht doch als die effizientere herausstellt.

            Nein, die Idee der „harmonischen Gesellschaft“ ist doch nichts anderes als die Idee des sozialistischen Paradieses, während die Offene Gesellschaft (Zitat Wikipedia): ein in der Tradition des Liberalismus stehendes Gesellschaftsmodell Karl [ist], das zum Ziel hat, „die kritischen Fähigkeiten des Menschen“ freizusetzen.

            Einen grösseren Gegensatz gibt es nicht: Harmonie als Auflösung aller Spannungen gegen immerwährend mögliche Weiterentwicklung in der offenen Gesellschaft. Zitat Wikipedia: Er [Popper] besteht darauf, dass jedes historische Subjekt zu jedem Zeitpunkt mit seinen Entscheidungen und Handlungen den weiteren Lauf der Dinge beeinflussen kann, während historizistische Darstellungen suggerieren, dass es ein anzustrebendes Ideal oder eine ideale Form gebe, auf die die geschichtliche Entwicklung unvermeidlich zustrebe.

            Jetzt wieder zurück zur Philosophie: Persönlich neige ich dazu, die Philosophien, die zu sehr in die Tiefe gehen, kritisch zu betrachten, denn es fehlt ihnen die empirische Grundlage.

            Ohne Empirie wären wir nie zur heutige Welt gekommen. Empirie bedeutet, geistige Modelle über die Welt müssen Berührungspunkte zu dem besitzen, was unser physikalisches Universum ausmacht, denn das Universum ist nicht von uns konstruiert. Es existiert wirklich. Wer das nicht glaubt, hat sich von der realen Welt in meinen Augen verabschiedet.

          • @Martin Holzherr

            Persönlich neige ich dazu, die Philosophien, die zu sehr in die Tiefe gehen, kritisch zu betrachten, denn es fehlt ihnen die empirische Grundlage.

            Persönliche Vorlieben bleiben unbenommen. Dennoch ist der Mensch nicht nur, was empirisch in Raum, Zeit und Kausalität meßbar und bestimmbar ist. Da ist auch etwas, was auch immer das ist, das wir vorläufig „Geist“ nennen müssen. Und wenn es nur der Überbau unserer Biochemie ist, so geht es doch (noch) in neurologischen Beschreibungen nicht auf und unterliegt eigenen Regeln.

            Mit Dilthey: Aufgabe der Naturwissenschaften ist es, zu erklären. Der Geisteswissenschaften aber, zu verstehen. Und das ist immer wackeliger, uneindeutiger, subjektiv geprägter, hängt immer ab von meinem persönlichen Erfahrungshorizont, dem meiner „Klasse“, meines „Volkes“, meiner Zeit.

            Goethes Faust: Der naturwissenschaftlichen Empirie entspräche hier grob z.B. die philologische Quellenkritik. Der Abgleich mit den Faust-Stoffen der Marionettentheater bis hin zu den Volksbüchern über den historischen Dr. Faust zu Wittenberg. Dann stellen Sie etwa fest, daß die Gretchentragödie Goethescher Sonderstoff ist. Die kommt nirgends sonst vor. Dafür finden Sie aber ein Vorbild in Prozeßakten über eine Kindsmörderin, ein Prozeß, an dem Goethe teilgenommen hat.

            Das alles sind die harten, empirischen Fakten, um die man ringen, die man letztlich meist wird allgemein anerkannt klären können.

            Zum Verständnis des „Faust“ ist damit aber nur Grundlage geronnen. Man kann noch weitere Untersuchungen erklügeln; wann Goethe welches Metrum- und Reimschema, nämlich oft gewissermaßen leitmotivisch einsetzt.

            Damit ist aber alles weitere, tiefere Nachdenken über Goethes Faust nicht schon gleich willkürlich, unverbindlich, jeder kann loslabern, wie ihm lustig ist, jenseits wissenschaftlicher Regeln. Es sind geisteswissenschaftliche Regeln, und zwar durchaus verbindliche. Die allerdings keine letzten Ergebnisse erzielen, sich auch nicht unbedingt solchen annähern, da jede Zeit ihren eigenen Faust interpretiert, entdeckt, erschafft. Man mag sich da unwohl fühlen. Bleibt jedem unbenommen. Wer da Talent und Händchen hat, findet das ungemein spannend.

          • @Alubehüteter (Zitat): “ Persönliche Vorlieben bleiben unbenommen. Dennoch ist der Mensch nicht nur, was empirisch in Raum, Zeit und Kausalität meßbar und bestimmbar ist.“

            Sicher. Wobei Aussagen auch ohne Messung einen empirischen Bezug haben können und es zudem auch noch den subjektiven Erfahrungs- und Erlebnisraum gibt, der etwa in der Literatur zum Zuge kommt. Wenn sich die Literaturkritik Goethes Faust annimmt, dann gelten die Gesetze der Literaturkritik und nicht die der Naturwissenschaft. Schriftsteller sehen ihre Aufgabe ja oft darin etwas zur Sprache zu bringen für das es noch keine Sprache gibt und für das sie dann die Sprache finden und schaffen.

            Wenn aber ein Philosoph die ganze Welt erklären will, dann erwarte ich schon, dass seine Aussagen einen Bezug zur Realität haben und für bestimmte Sachverhalte zutreffen. Wenn die Philosophie dann noch ein bestimmtes Menschenbild vermittelt, dann kann man empirisch untersuchen, wie stark es zutrifft und wieviele Menschen davon betroffen sind. Mindestens sollte das ein Diskussionspunkt sein. Bei Nietzsches anzustrebendem „Übermenschen“ müsste man also fragen wie dieser Begriff mit der gesellschaftlichen Realität zusammenhängt und was der Versuch einer Realisierung konkret bedeuten würde.

        • Popper also denkt von der zeitlichen Begrenztheit politischer Diskurse aus. Man kann Probleme nicht ewig ausdiskutieren – obwohl man es theoretisch könnte –, man muß irgendwann zu einer Entscheidung finden. Diskussionen können praktisch sich einer vernünftigen Idealentscheidung nur annähern.

          Sartre denkt von der menschlichen Freiheit aus. Angesichts meines Todes muß ich mich entscheiden, bin verurteilt zu dieser Freiheit, welches Leben ich geführt haben will. Beide also denken letztlich von der menschlichen Begrenztheit, Endlichkeit, vom Tod aus.

          Hannah Arendt hingegen denkt von der Geburt aus. Von der Möglichkeit des Neuen. Auch darum gibt es nicht Die Wahrheit™ in der Politik: Weil mit jedem Menschen etwas völlig Neues, etwas Unvorhergesehenes eingebracht und vorgebracht werden kann. Nicht nur bislang schon Dagewesenes, aber Verdecktes, das bislang nur noch nicht gesehen worden war, das nun aber aus einer neuen Perspektive sieht. Sondern tatsächlich Neues, bislang nicht Dagewesenes. Für mein Beispiel der NATO-Nachrüstung: Mahatma Gandhi brachte eine religiöse Tradition als vollkommen neuen Player ein in die politische Öffentlichkeit; die a-himsa, Un-Gewalt, die Gewaltlosigkeit. Bislang war „Der Friede muß bewaffnet sein“ eine Binse in der Weltgeschichte. Gegen Gewalt hilft nur Gegengewalt bzw. die glaubhafte Androhung derselben. Gandhi hatte zum ersten Mal diese weltgeschichtlich völlig neue Möglichkeit eingebracht; Martin Luther King hat gezeigt, daß das durchaus reproduzierbar ist.

          Beide, Arendt wie Sartre, kündigen den Historismus viel tiefer auf, als dies Popper vermochte. – Popper sagt im Grunde ja nur mit Kant: Wir kommen nun mal aus der platonischen Höhle nicht raus. Wir bleiben in ihr gefangen. Die Auswege, die uns präsentiert werden, sind keine, sind Kurzschlüsse. Wir müssen weiterhin diskutieren über die Schatten an der Wand; über andere Daten verfügen wir nicht.

          • Nachtrag zu Sartre: Meine Freiheitsentscheidungen finden ihre Grenze immer an den unbedingten Freiheitsentscheidungen anderer.

        • Mit alldem aber befinden wir uns nicht einmal näherungsweise auch nur im Dunstkreis der philosophischen Grundlagenforschung eines Kant, eines Hegel, eines Wittgenstein, eines Heidegger. Zu der Popper meines Erachtens nicht viel Neues eingebracht hat; er hat Kant operationabler, anwendbarer gemacht.

          Ob uns persönlich nun Popper gefällt oder nicht

          Mir gefällt er nicht. Und er gefällt mir zunehmend weniger, weil mich im Pandemiejahr die Wissenschaftsfeindlichkeit der Politik und weiter Kreise der Medien zunehmend radikalisiert hat. Und ich ertrage die Arroganz, diese Ignoranz nicht mehr, die ein Julian Reichelt einem Christian Drosten, ein Karl Popper einem Georg Friedrich Wilhelm Hegel entgegenbringt. Man kann an einam Marx, einem Dilthey, einem Habermas viel und gerne radikal kritisieren. Man kann sagen: Dieser Hegel, der ist zutiefst und im inneren Kern reaktionär und totalitär, das wird von diesen Herren verkannt, unterschätzt; im Grunde übernehmen sie so dieses nichtaufgeklärte totalitäre Erbe.

          Was nicht geht, das ist, überall herumzutrompeten, Hegel, das sei inhaltsloses, nationalchauvinistisches Geschwätz. Das bedeutet, einen Marx, einen Dilthey, einen Habermas im Grunde für dumm zu erklären. Bei Heidegger lasse ich das noch durchgehen aufgrund der Veröffentlichungssituation. „Holzwege“, „Unterwegs zur Sprache“, diese Veröffentlichungen lesen sich wirklich merkwürdig, wenn man niemanden hat, der einen darin einführt, und mehr gab es damals kaum. Für Hegel gilt diese Entschuldigung nicht.

          Wir hatten an der Wuppertaler Universität einen weltweit und mit Recht und auch in der Heidegger-Forschung hoch angesehenen Professor, der einmal offen in einem Seminar einräumte, Hegel, das habe sich ihm nie erschlossen. Er habe nie verstanden, worum es diesem eigentlich gehe. Und er traue ihm auch nicht. Hegel käme ihm vor wie ein Zauberer auf der Bühne, der ein Kaninchen hervorhole aus dem Zylinder. Er, mein Professor, glaube dem Zauberer nicht; er sei überzeugt davon, daß da ein Trick hinter stecke, den er nur nicht durchschauen könne; er käme ihm nicht dahinter. So, denke ich, kann man es machen. So kann man über Hegel reden: Ich persönlich kann mit ihm nichts anfangen.

          Ich selber etwa kann mit C.G. Jung nichts anfangen, mit seinen Archetypen. Ich kann nicht nachvollziehen, wie der darauf kommt. Mir leuchtet das nicht ein. Aber Autoren, vor denen ich in anderen Belangen allergrößten Respekt habe – mein Schlüsselerlebnks war Eugen Drewermann – sagen, doch, C.G. Jung, das sei schon große Klasse. Kann man mit arbeiten, theoretisch wie praktisch. Muß ich zur Kenntnis nehmen. Muß dann an mir liegen. Was mich ja nicht daran hindert, Jungs antisemitischen Schwurbeleien gegen Freud zu mißbilligen.

          Karl Popper ist ein respektloser Ignorant, der gegen jedes Denkmal uriniert, dessen Geist zu begreifen sein eigener zu klein ist.

          • Lieber @Alubehüteter,

            wie Sie wissen, achte ich Sie und Ihre profunden, philosophischen Kenntnisse sehr! Ich denke jedoch, Sie haben im obigen Kommentar bewusst oder unbewusst getrickst, indem Sie Popper gegen Drosten und Hegel in Stellung brachten. Aber tatsächlich gehört Drosten klar zu Popper, indem er strikt empirische und falsifizierbare Forschung vertritt. Hegel tat dies, bei allem Respekt nicht.

            Ich stimme Ihnen zu, dass Popper Hegel und Heidegger allzu schnell abgetan hat. Gerade auch auf Ihre Anregung hin bin ich tiefer in Heideggers Begriffswelt eingetaucht und schließe auch nicht aus, den Hegel wieder aufzufrischen.

            Aber Ihr auch emotionaler Widerstand gegen die Falsifikation alter Autoritäten und des Historizismus passt doch sehr gut zum o.g. WissKon-Vortrag. Inhaltlich hat Ihnen ja @Martin Holzherr vorzüglich geantwortet… 🙏📚💁‍♂️💜

      • Es gibt Personen, die Heidegger gut finden, auch gut : fanden, nicht nur in “brauner” Zeit, korrekt.
        Die sind idR oft auch verständig, no problemo hier.

        Popper bemühte sich stets um Klarheit, machte es nicht komplizierter als es sein muss, wenn Inhalt zu berichten, zu teilen war.
        Heidegger liebte dagegen sozusagen die schwierige Formulierung, Dr. Webbaer ging fast nie mit, wenn er auf seine Aussagen traf, die eine bestimmte Axiomatik voraussetzen, die nicht geteilt werden muss.

        Macht abär nüscht, Beispiele für gutes Heideggers Wirken wären nett.

          • Der Name Hans Blumenberg ist sich gemerkt worden, danke für den Hinweis, Herr Dr. Michael Blume.

  4. Ergänzend zu dem Widerspruch von Religion und Wissenschaft.
    Schon im 16. Jahrhundert hat Ignatius von Loyola gefordert, dass sich Geistliche mit Wissenschaft beschäftigen sollen . Mit Mathematik, Astronomie, Philosophie.
    Die Jesuiten, dieser Orden , in dem die Geistlichen auch einen weltlichen Beruf erlernen müssen, sehen keinen Widerspruch zwischen Religion und Wissenschaft.
    Dem Klerus war der Jesuitenorden zu freiheitlich und so wurde der Jesuitenorden auch öfters durch den Papst verboten.

    • Lieber Herr Blume,

      Wie Sie wissen, achte ich Sie und Ihre profunden, philosophischen Kenntnisse sehr!

      Immer wieder freundlich von Ihnen, meine philosophische Expertise so zu überschätzen 😎 Tatsächlich lese ich seit bald 15 Jahren kaum noch längere philosophische Primärliteratur. Mir haben sich andere Baustellen erschlossen, auch wenn ich natürlich Kontroversen wie die um die Schwarzen Hefte weiterhin mitverfolge.

      Direkt zu Karl Popper: Ich bin bei seiner „Offenen Gesellschaft“ nicht mehr bis Hegel gekommen, fand damals, in meinen ersten Philosophiesemestern, Spannenderes. Ich beziehe mich also vor allem auf seine öffentlichen, weit gestreuten Äußerungen zu Hegel und Heidegger.

      Ich denke jedoch, Sie haben im obigen Kommentar bewusst oder unbewusst getrickst, indem Sie Popper gegen Drosten und Hegel in Stellung brachten.

      Habe ich nicht. Nicht Popper gegen Drosten in Stellung gebracht. Ich habe Popper mit Reichelt verglichen – Julian Reichelt stellvertretend bzw. verantwortlich für die BILD-Meute, die er für mich personifiziert.

      Popper wie Reichelt stellen sich feindlich gegen Wissenschaften, insbesondere dabei persönlich gegen Wissenschaftler, die sie nicht verstehen, für die sie keine Begabung haben und keine Antenne. Nicht, daß sie keine Begabung haben, ist dabei mein Vorwurf, sondern daß sie gegen das Nuhr’sche Prinzip verstoßen. – Ich verwies auf eine Hegel-Nichtbegabung eines hochgeachteten Professors von mir, auf mein eigenes Unvermögen, C.G. Jung zu verstehen. Habermas höchstselbst machte sich nach dem 11. September den Satz Max Webers zueigen, er, Habermas, verfüge über keinerlei „religiöse Musikalität“.

      Herr Blume, auch Sie werden Menschen kennen, denen man das sachlich attestieren wird: Daß sie einfach über keinerlei Antenne verfügen für Religion, Spiritualität. Nicht verstehen können, wie man auf so etwas in ihrer Erfahrung Abwegiges kommen könne, wie „imaginären Freunden“ zu vertrauen. Da gibt es aber eine ganz scharfe Trennung zwischen denen, die sagen: Ich verstehe das alles nicht, ich kann damit überhaupt nichts anfangen, interessiert mich auch nicht, aber ich nehme zur Kenntnis, daß anderen das wohl anders geht. Sollen sie, solange sie mir nicht vorschreiben wollen, wie ich zu leben habe. Und solchen, die sagen: Alles Humbug! Priesterbetrug! Opium für’s Volk! Religion ist voraufklärerisch und muß bekämpft werden! Popper gehört für mich auf ungleich höherem Niveau aber doch zu Letzteren.

      Er kritisiert Hegel und Heidegger nicht (von griech. kritein unterscheiden). Er sagt nicht: Hier haben die etwas, dort ist eine wichtige Entdeckung, aber an dieser Stelle sind sie grundlegend falsch abgebogen. Er zerstört sie. Das sei alles Wortgeklingel. Alles Geraune, inhaltsleer, Täuschung, Betrug. Und das sei nicht sein, Poppers, persönlicher Eindruck, seine Meinung, ihm jedenfalls käme das so vor, sondern das ist so. Fakt. Heidegger gehört totgeschwiegen. Totschlagen geht nicht mehr, wir wollen ja nur noch Ideen töten, keine Menschen mehr, aber totgeschwiegen. Über ihn sollte niemand mehr publizieren.

      Aber tatsächlich gehört Drosten klar zu Popper, indem er strikt empirische und falsifizierbare Forschung vertritt.

      Da sind Sie aber gewaltig im Irrtum. Empirische Forschung ist das, was Drosten kann, was Drosten macht, und wo er in einem ganz speziellen Orchideenfachgebiet einer der wenigen weltweit führenden Köpfe ist. Niemals aber würde er sich deswegen schon zuordnen lassen in ein Lager, die alles jenseits empirischer Forschung als unwissenschaftlich ansieht, Kokolores, Laberei, Spökenkieckerei. Im Gegenteil ist er stets darauf bedacht, sich ganz definitiv nur dort, nur dazu zu äußern, wo er wirklich qualifiziert zu ist, wirklich Expertise zu hat. Wenn etwas nur angrenzt an sein Fachgebiet, schickt er das sofort voraus, „dazu kann ich nicht wirklich etwas sagen“, ist dann oft noch so gut drin, daß er den allgemeinen Stand der Diskussionen recht präzise wiederzugeben scheint (kann ich natürlich noch weniger beurteilen). Umgekehrt ist er höchst allergisch, wenn auch nur Ökobiologen, Mediziner, Menschen mit durchaus empirisch-naturwissenschaftlicher Expertise, aber eben nicht auf seinem Gebiet, in seinem Fachbereich herumdilettieren.

      Beispielsweise war ihm ein Anliegen, in einem Podcast einmal groß PLURV vorzustellen; Methoden, systematische Vorgehensweisen pseudowissenschaftlichen Argumentierens. Da ist er drin, das ist sein Ding, da kennt er sich aus. Da hat er auch zu viel Blödsinn zur Kenntnis nehmen müssen, sich mit auseinandersetzen.

      Aber schon angrenzend an das eng an dieser Thematik anliegende Gebiet der Verschörungstheorien schränkt er sofort ein, ich zitiere:

      „’Verschwörungstheorie’ ist ja anscheinend auch das falsche Wort. Man muß, glaube ich, sagen ‘Verschwörungsmythen’, oder so. Also ich kenne mich da wirklich nicht so gut aus.“

      (Hervorhebungen von mir.)

      Gaanz, ganz vorsichtig. Daß Verschwörungstheorien keine sind, will man damit Vergleiche ziehen zu wissenschaftlichen Theorien, das weiß er natürlich. Aber ist „Verschwörungsmythen“ das richtige Wort? Woher will er denn das wissen? Kann es, muß es nicht „Verschwörungsnarrative“ heißen oder „Verschwörungsmärchen“ oder „Verschwörungslegenden“? Was weiß Drosten schon, was Mythen sind? Einer, der noch nicht einmal den „Herrn der Ringe“ kennt? – Drosten ist weeeit weit weg von einem anmaßenden „Mitreden, obwohl ich keine Ahnung habe“ eines Karl Popper. Von sich flüchtig was Anlesen und gleich die Welt erkären. Geschweige denn, Wissenschaftler von weltweiter Reputation ohne wirkliche eigene Expertise – und die spreche ich Popper mindestens in Bezug auf Heidegger völlig ab – in Grund und Boden zu stampfen. Sie sehen, wie vorsichtig Christian Drosten auf Ihrem Gebiet operiert. Nun vergleichen Sie das mal mit der popper’schen Dampfwalze, mit der Sie durch Heidegger/Trawny gepflügt sind.

      Hegel tat dies, bei allem Respekt nicht.

      War auch nicht seine Aufgabe. Die Tatsachen widersprechen seinen Theorien? „Um so schlimmer für die Tatsachen!“ wird er zitiert.

      • Lieber @Alubehüteter,

        nun hat Popper Hegel zwar tatsächlich im 2. Band seiner „Offenen Gesellschaft“ als „falschen Propheten“ bezeichnet, ihn jedoch intensiv besprochen. Mir scheint, Sie vermischen hier das Abtun von Heidegger (bewusst?) mit der Kritik am Historizismus Hegels.

        Und selbstverständlich ist Popper auch kein plumper Reduktionist, sondern präsentiert u.a. eine 3-Welten-Theorie, diskutiert den „Geist des Christentums“ in seiner Bedeutung für den Liberalismus und wählt das Kreuz als Symbol des vernünftigen, freiheitlichen Menschen.

        Vielleicht würden sich ein wenig mehr als Internet-Fundstücke über den wirkungsvollsten Philosophen des 20. Jahrhunderts doch lohnen? 💁‍♂️

        Ihnen herzliche Grüße 🖖

  5. @Stur bleiben und Modelle als solche sehen

    Offenheit für Neues gehört sogar zu den Big Five der Psychologie. Entsprechend macht eben auch die Nichtoffenheit ihren Sinn. Man kann nicht ständig die eigenen Ansichten in Frage stellen, weil man dann überhaupt nicht mehr weiterkommt, und sich im Chaos des Angebotes der aktuellen Kultur verliert.

    Eine gewisse Sturheit ist richtig wichtig, es macht aber vielleicht viel Sinn, sich der Sturheit ganz bewusst zu bedienen, und seine eigenen Ansichten als Modelle betrachtet, mit denen man selbst eben aktuell weiterarbeiten will. Wenn sich nachhaltig immer mehr Gegenargumente finden, kann man ja immer nochmal gründlich drüber nachdenken, und sich dann doch auch mal noch bewegen.

    So ist der Bestätigungsfehler (Confirmation-Bias) eben auch strukturfreundlich, man baut an seinem Weltbild dann eben konstruktiver weiter, auf der Basis dessen, was schon steht. So kommt man viel weiter als wenn man ständig immer wieder ganz woanders herumwerkelt. Wichtig ist hier, dass man mit Andersdenkenden in gewissem Austausch bleibt, wiederum respektiert, was die sich aufgebaut haben, und dann hin und wieder die Konzepte dann nebeneinanderstellt und sorgfältig vergleicht. So kommt man doch fast besser vorwärts, als wenn man sich ständig selbst in Frage stellt, und sich schon in den Grundlagen in endlosen Diskussionen verliert.

    Die Widerspruchsschmerzen (Kognitive Dissonanz) kann man vielleicht auch sogar gut aushalten, wenn man sich damit abfindet, dass Menschen sowieso zu verschiedenen Konzepten neigen, und sich damit begnügt, dass auch die eigenen Konzepte nicht das Absolute sein müssen. Die Welt geht weiter, die Wissenschaft findet ständig Neues heraus, und die Weltkultur sammelt weltweit täglich immer mehr Interessantes oder auch weniger Interessantes ein.

    Wenn man sich mal die Komplexität der ganzen Weltbühne ansieht, in der nicht nur die medial bevorzugten Neuigkeiten kursieren, sondern auch im Privaten die eigenen Freunde und Bekannte ständig und immer wieder auf neue Ideen kommen, dann ist das schon klar, dass ein einzelner Mensch da nie wirklich hinterherkommt. Dieser „Mikrokulturprozeß“ läuft täglich auf über 7 Mrd Exemplaren unserer Spezies, und anscheinend ist niemand mehr in der Lage, hier den Überblick zu behalten.

    Dass die Menschen eine gewisse Sturheit haben, und erstmal da weiterbauen, wo sie gerade dran sind, und kompetenter Widerspruch ihnen schmerzt, dass sie ihm auch gerne mal aus dem Weg gehen, ist meine ich nicht nur normal, sondern wohl auch sinnvoll.

    @Holzherr 07.06. 11:00

    „Wenn man von einer technisch/wissenschaftlich/kulturellen Evolution ausgeht, gilt es ständig aufs neue die beste Adaption an die sich entwickelnde, nun vom Menschen weitgehend selbst geformte Umwelt zu finden. Die Zukunft ist offen und ebenso die menschliche Gesellschaft.“

    Stimmt so, nur kommen viele nur begrenzt hinterher. Das lohnt sich, dieses zu berücksichtigen. Und die kleinen Geschichten begrenzter Geister können in ihrer Weise wieder nett sein. Man lebt ja nicht nur die kulturellen Optima, sondern hat ganz elementar sein eigenes privates Leben zu leben. Und das Sein selbst ist immer persönlich.

    Wer kann, und Zeit dafür hat, sollte aber gerne öfter mal weitergucken. Und sich auch bewegen, wenn neue Evidenzen nachhaltig ins Spiel kommen.

  6. @Holzherr 09.06. 09:37

    „Einen grösseren Gegensatz gibt es nicht: Harmonie als Auflösung aller Spannungen gegen immerwährend mögliche Weiterentwicklung in der offenen Gesellschaft.“

    Ein Abbau von Spannungen ist aber nicht unbedingt verkehrt. Und eine immerwährende Weiterentwicklung kann ich mir auch reduzierter vorstellen, in dem Sinne, dass alles einigermaßen gut funktioniert, und man sich gar nicht mehr groß mit Politik beschäftigen muss.

    Ich weiß nicht so recht wo wir noch hinmüssten, wenn wir mal das Klimaproblem und weitere Umweltprobleme hinreichend gelöst hätten, wenn wir alle Menschen an der Wirtschaft beteiligen und auch den Einsatz von KI und Robotern so gestalten, dass wir Menschen dauerhaft gut beschäftigt sind.

    Was darüber hinausgeht geht, ist wohl außerhalb meines Horizontes, allerdings kann ich mir tatsächlich eine Art Ende der Geschichte vorstellen im Sinne einer allgemeinen politischen und sozialen Entspannung.

    „Ohne Empirie wären wir nie zur heutige Welt gekommen. Empirie bedeutet, geistige Modelle über die Welt müssen Berührungspunkte zu dem besitzen, was unser physikalisches Universum ausmacht, denn das Universum ist nicht von uns konstruiert. Es existiert wirklich. Wer das nicht glaubt, hat sich von der realen Welt in meinen Augen verabschiedet.“

    Das ist sehr gut zusammengefasst, nur so verschwenden wir keine Zeit mit philosophischen Spitzfindigkeiten, die zu nichts führen. Und alles was erkennbar ist, können wir auf die Dauer doch noch herausfinden.

    • @Tobias Jeckenburger (Zitat). Ich weiß nicht so recht wo wir noch hinmüssten, wenn wir mal das Klimaproblem und weitere Umweltprobleme hinreichend gelöst hätten, …
      Am 9.6.21 hat Joe Biden mit den Republikanern zusammen US-Investitionen von einigen hundert Millionen Dollar in fortgeschrittene Technologien im Senat durchgebracht – zusammen mit der Auflage chinesische Technologie dürfe damit weder direkt noch indirekt gefördert werden. Anlass für diese Staats-Investitionen war der Eindruck, die Chinesen überflügelten die USA bald schon in einigen Technologiefeldern.

      Der Kampf um Vorherrschaft, der existiert heute noch genauso wie vor 2000 Jahren und genauso wie in der ganzen Zeit dazwischen. Und das ganz unabhängig von Klima- und Umweltproblemen.

      Mir scheint, dem Menschen fehlen die Voraussetzungen für eine längere Phase der „harmonischen Gesellschaft“. Doch soll man den Menschen nun irgendwie ändern um doch noch zur globalen Harmonie zu kommen. Ich denke eher nicht. Man muss vielmehr damit leben. Es bedeutet aber auch, dass die Menschheit wahrscheinlich nur dann weitere Jahrtausende überlebt, wenn sie bald schon zur multiplanetaren Spezies wird, so dass ein Totalschaden an einem Ort nicht mehr genügt um die Fortexistenz der Menschheit in Frage zu stellen.

  7. @Alubehüteter

    Persönlich neige ich dazu, die Philosophien, die zu sehr in die Tiefe gehen, kritisch zu betrachten, denn es fehlt ihnen die empirische Grundlage.

    Persönliche Vorlieben bleiben unbenommen. Dennoch ist der Mensch nicht nur, was empirisch in Raum, Zeit und Kausalität meßbar und bestimmbar ist.

    Es ging um Philosophie – nicht um “was der Mensch ist”.

    Da ist auch etwas, was auch immer das ist, das wir vorläufig „Geist“ nennen müssen. Und wenn es nur der Überbau unserer Biochemie ist, so geht es doch (noch) in neurologischen Beschreibungen nicht auf und unterliegt eigenen Regeln.

    Auch dieser (angebliche) Geist hat empirische Eigenschaften.
    Es ist oft erschreckend wie vorhersehbar Menschen handeln und denken.
    Verhaltensforscher, Psychologen etc. würden ja nicht arbeiten können bzw. Werbung z.B. würde nicht funktionieren, wenn der Geist un-empirisch wäre. Empirisch bedeutet ja nicht auf seine Bestandteile reduzierbar.

    • Alleine die Werbeindustrie mit ihren erschreckenden Etats – Privatsender leben davon, Google –, die sie ja auf Heller und Pfennig wert sind, zeigt ja, wie verdammt berechenbar wir sind in unserem Verhalten. Obwohl das die wenigsten von uns für sich zugeben wollen würden.

      Andererseits wird man den Sinn, den Gehalt, die Bedeutung von Goethes „Faust“ nicht empirisch messen können, darauf will ich hinaus.

  8. I did not imagine Popper intended for his writs to serve as precursor to a first-timer attempts at understanding the lattice-complexity of religions in the social fabric. Contrarily, it informs my choice of intro reads for more enlightenment.

    • Absolutely – having learned about Popper as being a rationalist philosopher, I was rather surprised to find lots of thoughts concerning (and respecting) religion, especially Christianity. To read Popper in-depth is an exciting adventure! 💁‍♂️📚🌈

  9. Martin Holzherr schrieb (09.06.2021, 09:37 Uhr):
    > […] die Grundannahmen, [auch bekannt als] die Axiome
    > […] In der Mathematik aber sind die Grundannahmen willkürlich und eine mathematische Theorie bleibt immer gültig.

    Sofern es in der Mathematik möglich sein soll, bestimmte Axiome willkürlich so (“inkonsistent”) auszuwählen, dass die resultierende (formale) Theorie ggf. insgesamt und dauerhaft inkonsistent ist (d.h. sich widersprechende, gegenseitig ausschließende Theoreme enthält),
    ist die Formulierung von dafür in Frage kommenden Axiomen in der Mathematik doch nicht völlig willkürlich.

    > Allerdings können in den Naturwissenschaften im Gegensatz zur Mathematik die Grundannahmen bis zu einem gewissen Grad falsch sein, […]

    Sofern es Ziel und Aufgabe der Naturwissenschaften sein soll zu unterscheiden, welche Aussagen empirisch richtig und welcher Wert einer bestimmten Messgröße jeweils deren wahrer Wert ist, und welche das nicht sind (deshalb also jeweils einzeln falsch sind),
    können die Grundannahmen doch nicht selbst für “falsch” befunden werden, anhand derer überhaupt erst festgesetzt wird, wie eine die Empirie betreffende Aussage jeweils als “richtig” oder “falsch” zu bewerten wäre bzw. wie (durch Anwendung welcher Messoperation) jeweils ein Messwert der betreffenden Messgröße zu gewinnen wäre;
    bzw. gehören Annahmen, die entsprechend als empirisch richtig oder falsch bewertet werden können,
    nicht zu den genannten Grundannahmen (der betreffenden naturwissenschaftlichen Mess-Theorie),
    sondern zu Modell-Annahmen.

  10. @Martin Holzherr
    zur Kritik an Kants “Ding an sich” könnte ein Blick in Konrad Lorenz “Rückseite des Spiegels” und seine evolutionäre Erkenntnistheorie lohnen. (Ich gebe aber zu, ich bin nie selber dazu gekommen, Den Hinweis verdanke ich Prof. Rauh; Greifswald konnte es aber nie ausführen)

  11. Um noch einmal Jürgen Habermas zu zitieren.

    Jürgen Habermas schreibt zu Martin Heideggers Sein und Zeit:

    „Noch von heute aus gesehen bildet dieser neue Anfang den wohl tiefsten Einschnitt in der deutschen Philosophie seit Hegel.“

    Und Habermas ist nun völlig unverdächtig, ein kritikloser Heidegger-Anhänger zu sein, ein blinder Heidegger-Apologet. Er schreibt dies im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Viktor Farias’ Heidegger und der Nationalsozialismus, dem bis dahin brachialsten Anschlag auf Heidegger im französischsprachigen Raum. In Deutschland hat Habermas selber maßgeblich die Frage nach Heidegger und dem Nationalsozialismus vorangetrieben; so massiv, daß sich Der Alte vom Berg höchstpersönlich genötigt sah, von seiner Hütte herabzusteigen und dem SPIEGEL Rede und Antwort zu stehen. Aber was Habermas hier referiert, das ist einfach common sense der damit befassten scientific community.

    Ich war selber etwas verwundert, als ich das weiter oben aufgeschrieben habe, aber ja. Die ganze Pandemiekrise hat mich dünnhäutiger gemacht. Wenn Wissenschaftler Corona leugnen, oder zumindest bestreiten, daß Covid-19 mehr sei als eine schwere Grippe; wenn andere den Klimawandel leugnen, oder zumindest, daß er wesentlich menschengemacht sei; wenn dritte bestreiten, daß Hegel und Heidegger irgendwie auch nur ansatzweise ernstzunehmende Philosophen seien, geschweige denn, wie der common sense der scientific community überwiegend übereinstimmend bezeugt, zu den bleibenden und bedeutendsten Philosophen nach Kant gehören, dann haben sie sich eben selber ausgeschlossen aus der scientific community, dann sind die eben doof, dann mag ich auch nicht mehr mit ihnen spielen. Ihre Expertise auf ihrem ureigensten Fachgebiet bleibe ihnen unbenommen, hier: der Erkenntnistheorie in empirisch-naturwissenschaftlicher Forschung, aber darüber hinaus haben sie sich in meinen Augen selber ausgegrenzt und disqualifiziert. Ich lese Bhagdi nicht, obwohl er den bedeudensten deutschsprachigen Bestseller geschrieben hat seit Sarazzin; ich habe auch Sarazzin nicht gelesen. Ich werde auch „Die Offene Gesellschaft“ nicht mehr zur Hand nehmen.

    Ich habe besseres zu tun.

    • Womit Sie bezüglich Popper tun, was Sie diesem – zu Unrecht – gegenüber Hegel vorwerfen, @Alubehüteter. 💁‍♂️😄

      Aber, hey, das ist völlig okay: Den Popper jemandem aufzuzwingen wäre… illiberal. 😊📚

      Ihnen ein schönes Wochenende!

      • Gibt ja durchaus noch andere Gründe, Popper als nicht mehr zeitgemäß anzusehen, hatte ich ja nicht nur hier schon genannt.

        Popper teilt mit Platon noch die Grundannahme, daß es im Zusammenleben von Menschen zu politischen Entscheidungen kommt, die als „richtig“ oder „falsch“ bewertet werden können, was prinzipiell wissenschaftlich feststellbar ist. Popper kritisiert nur, die Methode ist old school: wissenschaftliche Wahrheiten abzuleiten aus Grundprinzipien, Ideen, Urwahrheiten. Die Wahrheit kann nur empirisch ermittelt und im freien Diskurs behauptet werden.

        Ich folge halt denen, die mit Aristoteles schon diesen Grundansatz kritisieren. Die der Ansicht sind, daß sich menschliches Miteinander grundlegend unterscheidet von den Zwängen der Natur, alleine schon, weil menschliche Freiheit ins Spiel kommt, oder, bei Arendt, die Nativität. Leittugend ist dann nicht mehr die theoretisch-wissenschaftliche Erkenntnisfähigkeit, sondern die praktische Klugheit.

        Zum anderem bin ich, Bj. 1967, eine neue Generation und habe einen anderen Zugang zum Sozialismus. Popper ist Zeitgenosse Stalins, mit allen auch ideologischen Exzessen. Die Urknalltheorie wird abgelehnt, weil dann ja am Anfang doch wieder ein Gott stehen müsse, der den Big Bang auslöst. Wir hingegen hatten den Prager Frühling hinter uns und hielten eine Reform des Sozialismus hin zu einem mit menschlichen Antlitz für möglich. Für uns schien die Mauer ewig zu stehen, ein Systemwechsel nicht in Sicht, einen Systemwandel also für wünschenswert. Also verfolgten wir Marxisten – Rudolf Bahro, Robert Havemann –, die nicht so sehr das totalitäre Erbe des aristokratischen Hegel, sondern das demokratisch-bürgerliche Erbe bei Marx freilegten. Einen Marxismus, der durchaus flüssiger, offener, empirischer ist. Der sich auch korrigiert, man lese nur Engels letztes Vorwort zum „Manifest“, wo er klar sagt, die Zeit, die gesellschaftliche Entwicklung ist inzwischen weiter gegangen, aber in eine andere Richtung; das Manifest sei ein Zeitdokument, aber nicht mehr aktuell.

        Gorbatschow 10 Jahre früher. Vielleicht hätte er den Sozialismus bewahrt/transformiert. Den Chinesen scheint das, wenn auch auf ganz andere (von mir durchaus nicht mehr erstrebter) Weise zu gelingen.

        Ihnen gebe ich zum Wochenende mal Brechts Lob des Zweifels mit. Was Karl Popper dazu wohl gesagt hätte?

        • O, wie war doch der Lehrsatz mühsam erkämpft!
          Was hat er an Opfern gekostet!
          Daß dies so ist und nicht etwa so
          Wie schwer wars zu sehen doch!

          Aufatmend schrieb ihn ein Mensch eines Tages in das Merkbuch des Wissens ein.
          Lange steht er vielleicht nun da drin und viele Geschlechter
          
Leben mit ihm und sehn ihn als ewige Weisheit

          Und es verachten die Kundigen alle, die ihn nicht wissen.


          Und dann mag es geschehn, dass ein Argwohn entsteht, denn neue Erfahrung
          Bringt den Satz in Verdacht. Der Zweifel erhebt sich.
          Und eines anderen Tages streicht ein Mensch im Merkbuch des Wissens
          Bedächtig den Satz durch.

  12. @Holzherr 10.06. 14:17

    „Der Kampf um Vorherrschaft, der existiert heute noch genauso wie vor 2000 Jahren und genauso wie in der ganzen Zeit dazwischen. Und das ganz unabhängig von Klima- und Umweltproblemen.“

    Vorherrschaft war eigentlich die meiste Zeit nur der Ehrgewinn für Könige und ihren Hofstaat. Im Prinzip ist dies m.E. eher ein Selbstzweck. Insbesondere bei der derzeitigen Produktivität frage ich mich ernsthaft, wofür wir z.B. in Deutschland irgendeine Vorherrschaft brauchen. Die Handelsbilanz sollte schon halbwegs ausgeglichen sein, wenn dieses Ziel erreicht ist, haben wir alles was wir brauchen.

    „Es bedeutet aber auch, dass die Menschheit wahrscheinlich nur dann weitere Jahrtausende überlebt, wenn sie bald schon zur multiplanetaren Spezies wird, so dass ein Totalschaden an einem Ort nicht mehr genügt um die Fortexistenz der Menschheit in Frage zu stellen.“

    Eine Menschheit, die es echt nicht schafft, sich selbst und diesen Planeten nicht zu vernichten, davon kann dann auch gerne der weitere Kosmos von verschont bleiben, finde ich.

    Nebenbei sieht es nicht danach aus, dass es technisch möglich ist, dass wir auf dem Mars, auf Asteroiden oder gleich im interplanetaren Raum Stationen errichten, die von uns so unabhängig sind, das sie über Jahrhunderte ohne Nachschub von der Erde auskommen. Das wäre wohl die Voraussetzung dafür, dass von da aus eine Wiederbesiedlung der Erde möglich wäre, etwa nach einem ausgiebigem Atomkrieg.

    Auch sähe die Erde dann nicht mehr so schön aus, neben dem Menschen wären wohl auch die meisten andere Arten dann strahlenbedingt ausgestorben.

    • @Tobias Jeckenburger (Zitat): “ Eine Menschheit, die es echt nicht schafft, sich selbst und diesen Planeten nicht zu vernichten, davon kann dann auch gerne der weitere Kosmos von verschont bleiben, finde ich.“
      Es gibt nicht die Menschheit als Handelnden, sondern nur einzelne Menschen, Gruppen, Nationen, die handeln.
      Interessanterweise sagt auch niemand, die Menschheit habe im zweiten Weltkrieg 6 Millionen Juden umgebracht, sondern man sagt, Hitler habe das getan. Nicht einmal das deutsche Volk, sondern Hitler.
      Nur hilft diese Redeweise nicht weiter, wenn am Schluss doch alles zu Bruch geht. Ob die allerletzte Atombombe nun von einem verrückten Wissenschaftler abgeworfen wird oder von „der Menschheit“ ändert am Resultat nichts.

  13. …stets fragt man sich, wozu Ikonoklasmen eingesetzt wirken könnten: doch vlt garnicht, um neue Weltbilder zu erzeugen, sondern vlt um als alt wirkende Weltbilder mit noch besser und ggf noch älteren Weltbildern auszutauschen – al gusto ad infinitum?

    aber, sowas steht ja ggf auf noch ganz anderen Blättern, die noch garnicht beschrieben wurden

  14. @Holzherr 12.06. 13:28

    „Es gibt nicht die Menschheit als Handelnden, sondern nur einzelne Menschen, Gruppen, Nationen, die handeln.“

    Und doch geht es beim Kampf gegen den Klimawandel darum, dass möglichst jeder seinen Beitrag leistet und am Ende dann auch nur der gemeinsame Erfolg das Problem lösen kann.

    Es steht auch jedem frei, sich als Weltbürger zu sehen. Manch einer macht das auch.

  15. @Holzherr 10.06. 14:17

    „Doch soll man den Menschen nun irgendwie ändern um doch noch zur globalen Harmonie zu kommen. Ich denke eher nicht. Man muss vielmehr damit leben.“

    Soweit wir uns tatsächlich ändern, in dem Sinne dass wir keine Lust mehr haben, andere auszurauben und die Tragfähigkeit der Ökosysteme wirklich erhalten wollen, so kann das doch nachhaltige Auswirkungen haben. Und dann kommen wir auch dauerhaft auf diesem Planeten und miteinander aus.

    Den Menschen an sich gibt es ja nun auch wieder nicht. Wir sind ziemlich flexibel, und wenn genug Menschen einsehen, sich entsprechend vernünftig zu verhalten, dann werden wahrscheinlich die meisten anderen auch mitmachen, bzw. mitmachen müssen.

    Entsprechend kann man gerne Werbung für ein vernünftiges Verhalten machen. Und die Arbeit an technischen Lösungen kann für sich nochmal schon einiges an positiven Effekten bewirken.

    Darauf zu bauen, dass wir andere Planeten brauchen, um mit uns selber klar zu kommen, ist jetzt eigentlich Unfug, meine ich. Das müsste doch auch hier auf der Erde möglich sein.

    • @Tobias Jeckenburger (Zitat): Den Menschen an sich gibt es ja nun auch wieder nicht. Wir sind ziemlich flexibel, und wenn genug Menschen einsehen, sich entsprechend vernünftig zu verhalten, dann werden wahrscheinlich die meisten anderen auch mitmachen, bzw. mitmachen müssen.
      Ja, den Menschen an sich gibt es nicht. Auch die Gesellschaft an sich gibt es nicht. Die von Popper vorgeschlagene „Offene Gesellschaft“ beispielsweise hatte von Beginn weg ihre Feinde, was Popper bereits im Titel erwähnt.
      Gerade haben Autokratien wieder Aufwind. Dort bedeutet es etwas anderes (Zitat) „sich vernünftig zu verhalten“ als in einer „Offenen Gesellschaft“.
      Neben Feinden der Offenen Gesellschaft, aber Freunden von Autokratien gibt es aber auch noch einfach Spinner und Verrückte. Sogar die können gefährlich werden, wenn sie über entsprechende technische Mittel verfügen.

  16. @Holzherr 13.06. 23:35

    „Gerade haben Autokratien wieder Aufwind. Dort bedeutet es etwas anderes (Zitat) „sich vernünftig zu verhalten“ als in einer „Offenen Gesellschaft“.“

    In der Tat hätte ich wenig Lust, etwa in China zu leben. Meine Meinungsfreiheit ist mir schon wichtig. Und doch gibt es wohl Qualitätsunterschiede von Autokratien. Wenn ich etwa Iran mit China vergleiche, muss ich feststellen, das man in China doch gut vorwärts kommt, und neben Wohlstand und Beschäftigung anscheinend auch Klima- und Umweltschutz realisieren kann. Im Iran läuft kaum noch was, noch nicht mal Religionsfreiheit bekommen die hin.

    Und natürlich ist unsere Meinungsfreiheit komfortabel, aber die Lobbyisten haben doch manchmal mehr Einfluss auf die aktuelle Politik als der Wähler. Damit muss anscheinend eine Demokratie leben. Mehr Transparenz wäre eventuell aber doch möglich. Eine gewisse Rechtsverbindlichkeit von Wahlprogrammen könnte ein Anfang sein.

    In den USA sieht es wieder etwas anders aus. Deren Streben nach Vorherrschaft und die entsprechenden riesigen Rüstungsausgaben verursachen anscheinend eine chronisch negative Handelsbilanz, die dann mehr ungute Nebenwirkungen hat, als wie die Vorherrschaft überhaupt nützlich sein kann. Die Geschäfte, die die Rüstungsfirmen machen, sind dort offenbar überwiegend ein Selbstzweck, den das Land gar nicht braucht, und die Welt schon gar nicht.

    • @Tobias Jeckenburger
      Interessant, was Sie über China und den Iran sagen. Da ich in meinem Bekanntenkreis Menschen aus beiden Ländern habe, sieht es für mich genau umgekehrt aus.
      In Fragen der Religion scheint mir der Iran doch wesentlich toleranter zu sein als China. Der Umweltschutz in China ist ein Lippenbekenntnis, sagten mir Menschen, die es wirklich wissen müssen und wie man dort mit der katholischen Kirche (als Beispiel) umgeht, können Sie gut selbst recherchieren.
      Dass es in beiden Ländern nicht gut ist gebe ich gerne zu, aber der Iran scheint mir nach dem, was ich höre, etwas freier zu sein. Man denke auch an den Umgang mit transsexuellen Menschen. Schade, dass zwei so große Kulturnationen so autoritär regiert werden. Was könnten Sie nicht zur Menschheitskultur beitragen, wenn es Demokratien wären.

      • Sie haben diesen älteren Blogpost in einer Antwort verlinkt.
        Eine These von Popper, die ich sehr einleuchtend finde. Bittere Erkenntnisse als Kreuz, das jede(r) Einzelne zu tragen hat. Das ist an sich ein Motiv, das sich durch die Geschichte des Glaubens zieht.
        Die Menschen, die etwa in der Zeit von Johann Sebastian Bach lebten, empfanden ihre Belastungen als ein von Gott ihnen auferlegtes Kreuz. Glaube und Religion prägten mehr als heute den Alltag.
        Popper hat mit seiner These ein uraltes Glaubensprinzip mit neuer Bedeutung erfüllt. Religion und Wissenschaft schließen sich demnach nicht aus. Da sehe ich aber einen Unterschied gegenüber früheren Zeiten.
        Dazu passt musikalisch die Bachkantate “Ich will den Kreuzstab gerne tragen”, BWV 56.

        • Danke & ja, @Marie H.

          Es hat mich sehr überrascht, dass Popper die sog. kognitive Dissonanz, den Anpassungsschmerz an neue Erkenntnisse, mit dem Kreuz identifizierte. Auch seine Warnung vor dem Rückgang in einen nur vermeintlichen Natur- und Paradieszustand lässt sich mit unserem heutigen Verständnis von Reaktanz verbinden. Hier ergeben sich völlig neue, interdisziplinäre Deutungswege etwa zum Baum der Erkenntnis (!). Allerdings bin ich kein Theologe und möchte auch keiner sein. Ich gebe gerne biblische Deutungen wieder, aber erstelle sie nicht. Diese Tür werden andere durchschreiten, irgendwann.

          Ihnen Dank für das Interesse und den Druko!

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