Verschwörungsfragen 4 – Zeit und Kalender zwischen Hoffnung und Antisemitismus

Inzwischen ist der stark nachgefragte Podcast über podigee, Spotify, Deezer, ITunes und YouTube verfügbar. In dieser Folge geht es um das unterschiedliche “Zeitgefühl” in Religionen, Weltanschauungen und Antisemitismus.

Hier finden Sie die mp3 aller Folgen von “Verschwörungsfragen” bei podigee.

Hier einfach zum Abruf via YouTube:

Hier finden Sie den Text der Podcast-Folge als pdf-Dokument zum (Nach-)Lesen.

Und hier als Fließtext, mit Videos und Bild:

Herzlich willkommen zur vierten Folge des Podcasts „Verschwörungsfragen“. Danke für die starken Rückmeldungen zur letzten Folge zur Macht der Sprache, zu Theorien und Mythen. Mein Team und ich hatten ehrlich befürchtet, diese Folge könnte zu lang oder zu schwer geworden sein. Umso mehr freut es uns, dass es doch viele Menschen gibt, die sich auch mal Zeit nehmen, um reinzuhören oder reinzulesen. Vielen Dank!

Und um „Zeit“ selbst soll es in dieser Folge gehen. Denn Zeit fließt für uns Menschen nie nur so dahin, sie fühlt sich ganz unterschiedlich an. So wäre heute, während ich diese Zeilen schreibe, eigentlich der 1. April, ein Tag der Streiche. Doch nicht nur das Bundesministerium für Gesundheit warnte 2020, Zitat: „Aprilscherze können zur Verunsicherung beitragen und genutzt werden, um Falschmeldungen zu verbreiten.“ – Zitat Ende –

Auch historisch hat der gestrige Tag nicht die Leichtigkeit, die wir ihm vielleicht wünschen würden: Die Nazis eröffneten gezielt am 1. April 1933 im ganzen Reich ihre antisemitische Boykottkampagne „Kauft nicht beim Juden!“, die mit Gewalt gegen Juden und Nichtjuden umgesetzt wurde und an die auch heutige, antisemitische Boykottbewegungen anzuknüpfen versuchen.

In dieser Podcast-Folge werden Sie nicht nur erfahren, was es mit dem 1. April auf sich hat. Sie werden auch entdecken, warum sich Demokratinnen und Semiten einerseits von Rassisten und Antisemitinnen andererseits in ihrem Gefühl für Zeit grundlegend unterscheiden.

Es wird also nochmal eine anspruchsvolle Folge – aber ich kann Ihnen versprechen, dass Sie danach auch zum Beispiel unseren alltäglichen Kalender mit anderen Augen sehen werden.

Bestimmt ist es Ihnen schon aufgefallen: Sehr viele Juden, Christinnen, Muslime, Bahai sowie nichtreligiöse Humanistinnen glauben fest an eine bessere Zukunft, an das Kommen einer höheren Gerechtigkeit oder doch an echte Fortschritte in Wissenschaften, Politik, Kultur und Gesellschaft.

Persönlich habe ich da zum Beispiel einigen Hundert Perry-Rhodan-Science-Fiction-Heften in meiner Jugend viel Zukunftshoffnung zu verdanken.

Wenn ich gebeten werde, das Zeitgefühl aller semitischen Mythentradition kurz zusammen zu fassen, dann antworte ich gerne mit: „Dennoch.“ Für ihre meist lesefreudigen Anhängerinnen und Anhänger sind Krisen und Katastrophen immer auch Herausforderungen, Verantwortung zu übernehmen (vgl. „Hineni“ in Folge 3), das Beste zu geben, zusammen zu arbeiten, um jedes Leben zu kämpfen und möglichst gemeinsam zu wachsen.

Nach einem beliebten, jüdischen Witz lassen sich daher alle jüdischen Feiertage zu einem Dreisatz zusammenfassen: 1. Man hat versucht, uns umzubringen. 2. Dennoch haben wir überlebt. 3. Lasst uns essen.

Ich würde behaupten, dass auch sehr viele nichtjüdische und nicht nur religiöse Feiertage in diesem Schema der Hoffnung passen: Am Ende wird es gut; und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.

Das ist natürlich überhaupt nicht wissenschaftlich beweisbar, sondern Mythos pur. Aber es ist ein guter, lebensbejahender, hilfreicher Mythos. Religiös finden wir diese semitische Einstellung zum Beispiel an der Klagemauer in Jerusalem, an der jüdische und nichtjüdische Menschen die Zerstörung der Stadt und des zweiten Tempels um 70 n.Chr. erinnern.

Hier wird also gerade nichts an der Geschichte verleugnet oder verniedlicht, aber eben auch kein Verschwörungsmythos begründet. Im Gegenteil: Nach den Auslegungen der Weisen schon im Talmud sei die Zerstörung von Jerusalem keinesfalls durch eine böse, römische Superverschwörung herbeigeführt worden. Vielmehr hätte grundloser Hass – hebräisch „Sinat Hinam“ – in Jerusalem selbst zum Einmarsch Roms geführt, mythologisch verdichtet in der Geschichte von Kamza und Bar-Kamza.

Die Klagemauer soll als Aufforderung zur Selbstkritik dienen, damit aus Trauer und Reue dann auch wieder Hoffnung entstehen kann: Menschen – darunter inzwischen auch zum Beispiel römisch-katholische Päpste – beten an der Mauer um das Kommen des Messias und vertrauen den Ruinensteinen Zettel mit guten Wünschen an.

Und das ist alles andere als passives Jammern: Die israelische Frauenrechtsorganisation N’schot ha-Kotel, deutsch „Frauen der Mauer“, kämpft seit Jahren gegen fundamentalistische Widerstände bis in Gerichte und Parlament hinein darum, dass auch Frauen überall an der Mauer in Gebetskleidung an diesem religiösen Ritual der Hoffnung teilnehmen dürfen.

Im säkularen Gewand finde ich diese Zukunftshoffnung beispielsweise bei der großartigen Südwest-Band RAHÎ. Auch die Deutschkurdin Hiser, ihr Bruder Rager sowie der Deutschtürke Şahin leugnen Probleme und Konflikte unserer Welt ausdrücklich nicht. Ihr Song „Immer wieder“ beklagt ganz konkret Kriege, Vertreibungen und Rassismus. Doch in ihrem „Utopie“ feiern sie „dennoch“ die Zukunftshoffnung, aus der sie ihre Kraft schöpfen.

Und das klingt dann zum Beispiel so:

„Refrain:

Das hier ist unsere reale Utopie

Sowas hast du nie erlebt, kannst nicht widerstehen, hast schon viel gesehen, aber das noch nie.

Das hier ist unsere reale Utopie,

sowas hast du nie erlebt, lass uns vom Wind verweh’n, unser Weg das Ziel.

  1. Strophe:

Unsichtbares sehen, alles verstehen, alles so dreh’n, dass es alle verstehen.

Das hier ist mehr als nur Fantasie.

Das hier ist Leben ohne Krieg.

Das hier ist Leben ohne Krieg.“

Wenn mir der ganze Hass, Antisemitismus und Rassismus zu viel wird, höre ich gerne dieses Lied. Denn es klingt nicht nur gut. Die Sängerin Hiser Sedik gehörte als Studentin freiwillig zu meinem Team, mit dem wir rund 1.100 überwiegend ezidische Frauen und Kinder, Opfer des sogenannten „Islamischen Staates“ aus dem umkämpften Kurdistan-Irak nach Deutschland evakuieren konnten.

Als es darauf ankam, vertraute sie dem Land Baden-Württemberg und riskierte ihr Leben, um anderen zu helfen – und zwar völlig unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, einfach von Mensch zu Mensch.

„RAHΓ besingen den Traum von einer „realen Utopie“ nicht nur, sie leben ihn. Sie sehen Herkunft nicht als festgefügtes Schicksal, sondern als Startpunkt ins Offene. Und ich glaube, sie haben damit recht.

Rassisten und Antisemitinnen sind dagegen fest davon überzeugt, dass die Zukunft eine schreckliche Bedrohung ist und früher angeblich alles besser war: „Die Jugend“ war angeblich viel „anständiger“, „die Familien“ angeblich noch „heile“, die „Rassen“ noch unvermischt, „echte Arbeit“ wurde noch „anerkannt“ und „die Juden“ waren noch nicht „übermächtig“, sondern abgesondert „im Ghetto“.

Fortschritt macht in diesem Verschwörungsdenken buchstäblich Angst und auch mit realer Geschichte gibt es immer ein Problem. Denn diese vermeintlich heile Vergangenheit ist ein schlechter Mythos, es hat sie nie gegeben: Familien waren früher keineswegs „heiler“, sondern im Durchschnitt von mehr Armut, niedrigerer Lebenserwartung und viel mehr Gewalt geprägt als heute. Menschengruppen bis zurück zu Homo sapiens und Homo neanderthalensis haben sich immer vermischt. Um Lohn und Anerkennung wurde seit der Erfindung des Geldes – übrigens vor dem Judentum – immer gestritten. Und auch als Juden abgeschottet im Ghetto lebten, wurden weiterhin antisemitische Verschwörungsvorwürfe über sie verbreitet.

Knapp zusammengefasst: Während sowohl säkular wie religiös Hoffende ihre Utopie (wörtlich: ihren „Nicht-Ort“) in eine fiktive Zukunft projizieren, verorten Antisemiten von Rechtsextremen bis hin zu Salafisten ihre Utopie in einer fiktiven Vergangenheit.

Sehr oft haben sie schon als Kinder Misstrauen und sogar Gewalt erfahren und geben auch das, weil nie verarbeitet, in ihren Familien und Bewegungen weiter. Die Podcast-Folge 1 hat davon berichtet.

Wer ihnen gegenüber von Fortschritt und einer besseren Welt spricht, fühlt sich daher unmittelbar verdächtig an.

Deswegen unterstellen sie Engagierten für Freiheit und Demokratie, für Gleichberechtigung, für Bildung und Wissenschaft sowie für Inklusion, soziale und ökologische Gerechtigkeit immer wieder, Teil der bedrohlichen Verschwörung zu sein. Und kontrolliert werde diese Weltverschwörung von „den Juden“, die mit dem Semitismus angefangen hätten.

Krisen sind für Rassistinnen und Antisemiten daher auch kein Aufruf zu Selbstkritik und Verantwortung, sondern immer nur der Auftakt zu Schlimmerem: So gilt ihnen die aktuelle Covid19-Pandemie entweder als jüdisch-amerikanische „Biowaffe“ oder als Inszenierung.

Im schroffsten Gegensatz zum Semitismus nutzte so auch Adolf Hitler Ruinen nicht etwa zur selbstkritischen Reflektion; sondern er berauschte sich an ihnen als vermeintlicher Bestätigung seines Hasses. Ralph-Miklas Dobler hat in seiner Max-Planck-Studie „Hitler in Rom 1938“ eindrucksvoll herausgearbeitet, wie sich der selbsternannte „Führer“ von den italienischen Faschisten inmitten der eigens dafür hergerichteten, römischen Ruinen als neuer Imperator inszenieren ließ. Dazu gehörte auch der Titusbogen, der die Deportation der Jüdinnen und Juden aus Jerusalem samt der Tempelschätze und Menorah darstellt und feiert.

Mehr noch: Der psychologisch gewiefte „Reichsarchitekt“ und NS-Minister Albert Speer gewann die Gunst des „Führers“ dadurch, dass er zu seinen architektonischen Entwürfen etwa für eine neue Hauptstadt „Germania“ auch gleich Zeichnungen hinzufügte, wie die noch nicht einmal angefangenen Bauten später als Ruinen aussehen würden.

Es ist leider kein Witz: Hitler berauschte sich in der sogenannten „Ruinenwerttheorie“ an der Vorstellung, dass später einmal „Sklaven“ durch die Ruinen seiner geplanten Hauptstadt geführt und erschauern würden. In seinem Weltbild gab es keine wirkliche Erlösung, kein himmlisches Jerusalem und auch keinen echten, gesellschaftlichen Fortschritt. Stattdessen schwärmte er in eigenen Worten von Ruinen als – Zitat – „Bild des Werdens, Wirkens und – Vergehens der wahrhaftigen Kulturbegründer dieser Erde, der Arier“. Denn unweigerlich gingen – Zitat – „die Eroberer von der Reinheit ihres Blutes ab“ und „nach tausend Jahren und mehr zeigt sich dann die letzte Spur des einstigen Herrenvolkes im helleren Hautton, den sein Blut der unterjochten Rasse als Farbe hinterließ.“ – Zitat Ende –

Das also war die vermeintliche „Zukunftshoffnung“ des „tausendjährigen Reichs“: Zerfallene Ruinen und hellere Hauttöne. Und für diesen üblen Mythos mussten Millionen sterben.

Nun also verstehen Sie, warum sich antisemitische und rassistische Menschen tatsächlich freuen, wenn andere leiden. Es bestätigt ihr Weltbild.

Gerade auch Bürgerliche zum Beispiel in der sogenannten „Werteunion“ oder der Europäischen Volkspartei möchte ich daher eindringlich vor der Fehlannahme warnen, solche Leute könnte man durch politische Gespräche oder gar Koalitionen besänftigen. Das hat nie funktioniert und wird nicht funktionieren, da sich die Zeitvorstellungen nur scheinbar ähneln: Eine Konservative will Traditionen erhalten, den Fortschritt im System kritisch prüfen und auf ein gefühlt erträgliches Maß verlangsamen. Aber Antisemiten und Rassistinnen wollen Fortschritt und das gesamte System als Teil der vermeintlichen Weltverschwörung zugunsten fiktionaler Traditionen vernichten!

Wer das nicht wahrhaben will, macht sich zum nützlichen Idioten, ja zur Hilfstruppe des Hasses.

Und das muss niemand unbesehen glauben. Überzeugen Sie sich selbst beispielsweise beim Twitteraccount „Die Insider“ vom 18. März 2020. Dort haben die digitalen Ermittler einige Screenshots aus Facebook-Gruppen wie „Freunde und Verbündete der AfD“ veröffentlicht, in denen die Covid19-Erkrankung von Friedrich Merz kommentiert wurde. Wer sich diese bösartige Häme, den Hass und die Vernichtungswünsche angeschaut hat, kann nicht mehr ernsthaft behaupten, mit diesen Hatern, Rassisten und Antisemitinnen könnte man irgendein konstruktives Zukunftsprojekt verwirklichen. Diese Menschen berauschen sich an Leid und Zerstörung und wünschen auch bürgerlichen, auch konservativen Demokraten nicht weniger als den Tod.

Screenshot von @DieInsider aus dem Inneren diverser, antisemitischer und rassistischer Facebook-Gruppen. Mit freundlicher Genehmigung

Woher aber kommen diese so vollkommen unterschiedlichen Zeitgefühle? Und wie kam es zu unseren Kalendern und dem Nebeneinander von Scherzen und Bedrohung am 1. April?

Solange unsere Vorfahrinnen und Vorfahren vom Sammeln und Jagen lebten, gab es noch keine Vorstellung von Fortschritt. Menschen wie Tiere wurden geboren, alterten und starben, ebenso wie die Jahreszeiten immer wiederkehrten. Es dominierte eine zyklische Zeitvorstellung von Werden und Vergehen.

Mit dem teilweise auch traumatischen Übergang vom Leben als Wildbeutern zu Ackerbau, Viehwirtschaft und Siedlungen – in der Bibel verdichtet und erinnert in den Mythen von Adam und Eva sowie ihren Kindern Kain und Abel – änderte sich das. Die Konkurrenz um Güter, Vieh und Land führte zu mehr Gewalt zwischen Gruppen und innerhalb der Familien: Die kulturellen und religiösen Traditionen wurden zunehmend patriarchal.

Nun erst musste Zeit beherrscht (be-„herr“-scht!) werden und es boten sich dafür die für alle sichtbaren Gestirne an: Sonne, Mond und Sterne.

Ackerbauern und frühe Städter brauchten für Saat, Ernte und Steuern den Jahreslauf der Sonne und Sterne. Viele der ältesten Steinkreise und Tempel jener Jahrtausende bilden monumentale Ritualkalender, mit denen die Zeit eindrucksvoll gemessen, bekräftigt und gefeiert wurde.

Das zoroastrisch-persisch-kurdische Nouruz-Neujahrsfest wird seit Jahrtausenden nach dem (unterschiedlich berechneten) Tag begangen, an dem die Sonne in das Sternzeichen Widder eintrete. 2020 war dies der 20. März.

Nomaden setzten dagegen auf den reinen Mondkalender, in dem jeder Monat einem auf- und untergehenden Mond entspricht: Dies war gut zu beobachten und häufig zog man die Wanderung im Mondlicht der sengenden Sonne vor. Als ein reiner Mondkalender hat sich der arabisch-islamische Jahreskalender gehalten, der 10 bis 12 Tage kürzer ist als das Sonnenjahr. Deswegen wandern die islamischen Monate einschließlich des Fastenmonats Ramadan durch die Jahreszeiten. 2020 beginnt er am 24. April, im Jahre 1441 nach der Auswanderung des Propheten aus Mekka nach Medina, der Hidschra. Denn wie alle anderen semitischen Religionen und Weltanschauungen zählt auch der islamische Kalender linear aufwärts.

Warum? Einen massiven Schub erlebte das Zeitgefühl mit der Erfindung von Schriften, vor allem der Alphabete. Nun konnten vergangene Ereignisse aufgezeichnet werden und der Kreislauf der Zeit brach auf: Es entstand ein Gefühl für „Geschichte“, das Aufeinander-Schichten von Vergangenheit in eine weite Zukunft.

Der Astronom Galileo Galilei feierte die Veränderung der Zeitgefühle durch die Alphabetschrift 1632 mit den Worten, Zitat: „Mit jenen reden zu können, die in den Indiens sind, die in tausend oder zehntausend Jahren noch nicht geboren sind; und mit welcher Leichtigkeit: Zwanzig kleine Buchstaben, arrangiert auf einer Seite! Lasst dies das Siegel aller bewundernswerten Erfindungen des Menschen sein.“ – Zitat Ende –

In einigen alten Traditionen wie dem antiken Griechenland, dem frühen Hinduismus oder in den Amerikas wurden die gefühlten Zeitkreise nun auf Jahrtausende oder sogar Jahrhunderttausende ausgedehnt.

Zu 2012 bildeten sich unter Verschwörungsgläubigen und Esoterikern prompt massive Erwartungen über einen baldigen Weltuntergang, als ein Kalenderzeitalter der Maya endete. Immerhin verdanken wir dieser Kalenderwende einen recht unterhaltsamen Film („2012“ von Roland Emmerich), in dem die Menschheit durch den Bau von noachidischen Archen überlebt. Zu einem religionswissenschaftlichen Seminar an der Universität Jena zur „Lust an der Apokalypse“ gönnten wir uns in jeder Pause den satirischen Themensong „Der letzte Sommer“ von Y-Titti, der mit Covid19 wieder auflebt.

Schon im babylonischen Kalender vor rund 4000 Jahren entwickelten sich die Grundlagen unserer heutigen Zeitrechnung wie die Einteilung des Jahres in Monate und 7-Tage-Wochen. Der Jahresanfang wurde dabei auf den Frühlingsmonat Nisannu zwischen März und April gelegt. Hier also finden wir ihn, den Keim zum 1. April.


Denn mit der Schöpfungsgeschichte bot die alphabetisierte und sich schnell ausbreitende Bibel erstmals die Grundlage für einen linearen Kalender, der nicht mehr mit jedem Herrscher- oder Zeitenwechsel neu startete. Die Zeitrechnung konnte nun mit der Schöpfung der Welt beginnen und in einer Linie weiterlaufen.

Und auch nach dem 2. Buch Mose, Kapitel 12, galt dabei der hebräische Frühlingsmonat „Nisan“ als Jahresanfang – und am Zehnten dieses Monats sollte das Lebens- und Befreiungsfest Pessach gefeiert werden. Dies wird nächste Woche, am 8. April 2020, wieder der Fall sein.

Nach den Evangelien erlebte auch der Jude Jesus an Pessach Tod und Auferstehung – das Osterfest. Der April war also als Neujahrsmonat schon fast durchgesetzt.

Doch es kam anders, weil es zum Frühling noch einen mächtigen Konkurrenten gab: Die Wintersonnenwende um den 21. Dezember, ab dem die Sonne wieder stärker wurde. Sie bildete das Hochfest in vielen Sonnenkalendern und gewann vor allem in Stadtkulturen immer mehr Bedeutung. So verlegten die Römer den Amtsantritt ihrer Konsuln 153 vor Christus vom landwirtschaftlichen 1. März zurück auf den 1. Januar, im Anschluss an die Feiern zur Wintersonnenwende.

Die Spuren dieses Eingriffs finden sich bis heute in unseren Kalendern: Wir nennen den September immer noch lateinisch den siebten, den Oktober den achten und den Dezember den zehnten Monat, obwohl diese seit über zweitausend Jahren ab Januar auf Platz neun, zehn und zwölf gerutscht sind.

Auch im Christentum wurde die Wintersonnenwende als römisches Fest der unbesiegten Sonne („Sol invictus“) mit der Geburt Jesu verknüpft – zu Weihnachten.

Als erstes rückte das Judentum vom April ab, ohne sich den Sonnenkulten oder Christen annähern zu wollen. Stattdessen legten die frühen Gelehrten das jüdische Neujahrsfest Rosch HaSchana (wörtlich: Kopf des Jahres) auf den 1. Tischri im September, an dem die ersten Menschen erschaffen worden seien und der den Auftakt zum Versöhnungsfest Jom Kippur bildet.

Bis ins 11. Jahrhundert hatte sich dann der jüdische Sonnenkalender im Judentum durchgesetzt, nach dem heute der 7. Nisan des Jahres 5780 seit Erschaffung der Welt ist.

Und der jiddische Neujahrsgruß „A gude Rosch!“ ging zusammen mit dem Segenswunsch „Hatslokhe u brokhe“ in den launigen Ruf „Ein guter Rutsch – und Hals- und Beinbruch!“ über.

Doch obwohl die Christen von den römischen Kaisern Julius Cäsar und Augustus den „julianischen Kalender“ samt den Monatsnamen Juli und August übernahmen und die Jahre linear ab der Geburt Jesu zählten, stand bis ins 16. Jahrhundert noch gar nicht fest, wann das jeweils neue Jahr begann. Viele feierten ihn im Ostermonat April, andere zu Weihnachten oder an anderen Tagen.

Der junge, französische König Karl IX., dessen Reich zwischen Katholiken und Protestanten zerrissen war, erließ daher im Jahre 1564 einen Befehl: Weder Ostern noch Weihnachten, sondern der 1. Januar sollte der Jahresanfang sein. Das war der Tag der römischen Konsuln – und er ließ sich auch religiös rechtfertigen, da es am 8. Tag nach Heiligabend das Beschneidungsfest Jesu war.

Mit einer päpstlichen Bulle um 1582 setzte schließlich Papst Gregor XIII. den bis heute gültigen Kalender samt dem 1. Januar als Neujahrstag endgültig durch. Und schon bald darauf tauchten die ersten Berichte in Bayern auf, wonach Menschen, die noch an alten Neujahrsbräuchen festhielten, „in den April geschickt“ und „zum Narren gehalten“ wurden. Der Ausruf „April, April“ bedeutet bis heute: Ich habe Dir vorgeführt, dass Du von gestern bist.

Auch die islamische Welt konnte zwar religiös am Mondkalender festhalten, brauchte aber für Reiche und Städte einen funktionierenden Sonnenkalender. Schon im Osmanischen Reich wurde daher der Rumi-„Römer“-Kalender ausgerufen. Die türkische Republik unter Kemal Atatürk und immer mehr islamisch geprägte Gesellschaften nahmen dann ab dem 20. Jahrhundert schließlich ebenfalls den gregorianischen Sonnenkalender an. Eigene Monatsnamen wurden teilweise beibehalten – wie der Nisan für den April.

In Erinnerung an die Einsetzung des ersten türkischen Parlamentes am 23. Nisan/April wird der türkische Nationalfeiertag als internationales Kinderfest begangen – denn es gehe ja immer um Bildung und Zukunft.

Heute wird also fast überall auf der Welt die Zeit seit der Geburt des Juden Jesus gezählt und der Neujahrstag am Tag seiner Beschneidung begangen. Gleichzeitig werden die religiösen und manchmal auch nationalen Feiertage vielerorts noch nach den älteren, eigenen Kalendern berechnet, beispielsweise in Judentum und Islam, aber auch zum Beispiel in China und Japan.

Mit den Schriften und besonders mit den Alphabetschriften entstand die Idee eines Fortschritts, eines Ausbrechens aus dem zyklischen und letztlich hoffnungslosen Kreis aus Aufstieg und Vergehen. Alle semitischen Religionen und Weltanschauungen stützen sich heute auf linear aufsteigende Kalender.

Und falls Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, sich in die faszinierenden Themen der Zeit und Zeitgefühle einlesen und das hier Gehörte oder Gelesene überprüfen oder vertiefen wollen, so empfehle ich beispielsweise „Von Zeit und Macht“ von Christopher Clarke. Ein Klassiker zu Schriften und Zeiten ist „Religion und kulturelles Gedächtnis“ von Jan Assmann. „Die Geschichte der Prophezeiungen“ von antiken Astrologen bis zu modernen Futorologinnen schrieb Georges Minois. Als Geheimtip empfehle ich zudem „Dimensionen der Zeit“ von meinem leider zu früh verstorbenen Kollegen und Freund Wolfgang Achtner, von Stefan Kunz und Thomas Walter.

Eine psychologische Perspektive bietet Marc Wittmann in „Gefühlte Zeit“, eine Zeit-Philosophie Jeanne Hersch in „Erlebte Zeit“.  Andreas Krafft erkundet empirisch die semitisch geprägten „Werte der Hoffnung“. Und Vanessa Ogle beschreibt in „The Global Transformation of Time” die interkulturellen Umwälzungen, Raum- und Zeiterfahrungen von 1870 bis 1950.

Zeitgefühle verändern sich, auch heute noch. Es liegt an uns allen, ob sich der 1. April in Zukunft wieder mit Freude, Wissen und Fortschritt verbindet; oder mit antisemitischen Boykottkampagnen, wie sie die Nazis gezielt am 1. April 1933 zelebrierten. Es liegt an uns, ob wir mit dem Holocaust-Überlebenden und Friedens-Nobelpreisträger Ellie Wiesel die „Weisheit des Talmud“ erkunden. Oder ob wir dem Neofaschismus folgen, wie ihn zum Beispiel der von Stephen Bannon verehrte Julius Evola in „Men among the Ruins“ auch nach dem Scheitern Hitlers und Mussolinis weiter verkündet hat.      

Aber auch wenn wir einfach so auf unseren ganz alltäglichen Weltkalender schauen, betrachten wir ein über Jahrtausende gewachsenes Kunstwerk aus babylonischen, römischen, jüdischen und christlichen Zutaten, das zudem die griechisch-ägyptische Idee des Schaltjahres sowie indische und arabische Ziffern aufgenommen hat.

Nicht mit Abschottung und Rassismus, sondern mit Austausch und Schriftkultur haben wir einander als Angehörige einer verbundenen, in der gleichen Zeit voranschreitenden Menschheit entdeckt. Und wer wollte gerade auch in Zeiten des Coronavirus bestreiten, dass das Schicksal einzelner Völker nun auch das Schicksal aller Völker betrifft?

Auch am mörderischen Scheitern des antisemitischen und rassistischen NS-Regimes können wir lernen, was die Weisen an der Klagemauer seit Jahrtausenden semitisch bekennen: Dass Hass immer wieder nur in Katastrophen führt; Selbstkritik und Versöhnung aber Hoffnung stiftet. Ich empfinde das – gerade auch im April des Jahres 2020 – als eine gute, eine wirksame, eine reale Utopie.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

18 Kommentare

  1. Das Problem, daß man (etwa als WerteUnion) mit einem Höcke nicht verhandeln, nicht zu einem Interessensab- und ausgleich finden kann, sehe ich viel einfacher:

    Solche Leute sind Apokalyptiker. Die gehen davon aus, daß spätestens in 50 Jahren das deutsche Volk „ausgetauscht“, „umgevolkt“, nicht mehr vorhanden sei, und das gelte es, mit allen Mitteln zu verhindern. Also nicht nur Stop der Zuwanderung, sondern „Remigration“, „Entsorgung in Anatolien“ all derer, die nicht von hier sind, deren Eltern, Großeltern nicht von hier sind. Da gibt es keinen Kompromiß. Das ist, was sie meinen, durchsetzen zu müssen. Wer mit solchen paktiert, kann aus deren Sicht keine andere Funktion haben denn als Steigbügelhalter.

    Stimmt natürlich auch, was Sie dazu sagen, Herr Blume.

  2. Friedrich Merz wird ja vor allem fuer seine frühere Tätigkeit bei Blackrock von links wie rechts gehasst. Der Konzern hat mittlerweile sogar Goldman Sachs bei den Verschwörungstheorien abgelöst. Höcke nannte Merz vor einiger Zeit sogar einen “Verräter”, weil er bei Blackrock arbeitete.

  3. Was wäre die Bewertung einer AfD ohne Höcke etc? Meuthen will ja bekanntlich den “Flügel” loswerden.

    Gruss
    Rudi Knoth

    • Hypothetische Bewertungen von Parteien in Was-wäre-wenn-Szenarien sehe ich nicht als meine Aufgabe, @Rudi Knoth. Die AfD hat viele Jahre gebraucht, um Wolfgang Gedeon auszuschließen – und Jörg Meuthen wird für seinen (verzweifelten?) Vorstoß gerade schwer angegangen und auch beschimpft.

  4. @Michael Blume Zeitalter

    Interessant der Hinweis auf die Zeitwahrnehmungen. Der Jäger und Sammler lebte in einer Welt in Zyklen, die sich ewig wiederholen. Spätestens mit der Erfindung der Schrift fing er an, eine Geschichte zu schreiben, die sich fortsetzt. Nun ja, die Anfänge der Welt waren dann aber auch kürzer datiert als heute der Urknall.

    Allerdings war ein Ende der Zeit absehbar, und in vielen Varianten dann doch Teil der Mythensysteme. Ich kenne das nur aus den Christentum. Was sagt denn dazu der jüdische Glaube? Sie sagen, dass es so wichtig ist, dass wir an Fortschritte glauben. In einer Erwartung von Apokalypsen sehe ich dann aber wirklich überhaupt keine Perspektiven.

    Nur gegen Seelenheil dann schön brav alles mitmachen und dem Niedergang der Welt tatenlos zusehen, ist für mich keine moderne Option. Wenn wir wirklich Perspektive haben wollen, müssen wir wohl die patriachalen Kulturen des Mittelalters noch gründlicher überwinden würde ich sagen.

    Die Zivilisation, die mit dem Ackerbau begann war einerseits ein Fortschritt im Sinne der Kulturen – aber für das alltägliche Leben der Menschen dann doch zumeist eine Mischung aus fürchterlicher Arbeit, stetiger Not und einen eher noch fortschreitenden Prozess der Ausbeutung und Versklavung. Ich finde das krass, dass die ägyptischen Pyramiden immer noch als Großtat und Wiege der Zivilisation gefeiert werden – dabei kann man sich kaum was Sinnloseres vorstellen, dass da ein Pharao den eigenen Lügen verfallen ist, und dachte dass er wirklich unsterblich wird, wenn er sich solche Grabsteine bauen lässt.

    Die Besserungen, die mit Revolution, Gewerkschaften, Sozialismus und Demokratie mühsam erkämpft wurden, wurde auch durchweg gegen den Widerstand der Kirchen durchgesetzt.

    Und gerade mit der Freiheit hat sich auch die Glaubensfreiheit etabliert, und das hat nochmal ganz neue Weltanschauungen mitgebracht. Wirklicher Fortschritt hat doch damit erst angefangen, wenn es um das Leben des Durchschnittsmenschen geht. Die ganze finstere Zeit hindurch ging es dann eher noch stetig bergab, im Vergleich zu dem doch recht angenehmeren Leben der Jäger und Sammlerkulturen.

    Man denke hier an die Meuterei auf der Bounty, wo englische Puritarismuskultur auf eine eher zur Steinzeit gehörende Südseekultur traf. Dass da jeder halbwegs vernünftige Mensch nicht wieder zurück nach England wollte, ist leicht nachvollziehbar.

    Naja, heute geht es schon wesentlich besser. Aber so ganz klar ist das jetzt doch nicht immer. Es geht auch heute nicht immer geradeaus beziehungsweise aufwärts. Und wenn es im Land insgesamt vorwärts geht, muss das auch nicht für alle gleichermaßen gelten. Die Erfolge der Rechtsradikalen in Deutschland ist auch eine Spätfolge von Harz4, Niedriglohnsektor und Ostdeutscher Landflucht. Und auch die Migration in Deutschland ist aus Sicht der Wirtschaft und der Besserverdienenden ein Symptom des wirtschaftlichen Booms – die Alteingesessenen, die an den Rand gedrängt werden, oder Angst davor haben, erleben das aber offenbar anders herum.

    Ich selbst sehe im Prinzip ein Überwiegen des Fortschrittes, aber sehe uns hier eher noch am Anfang einer Entwicklung, in der wir uns Lebensbedingungen erarbeiten, die uns und dem Rest der Natur dieser Welt wirklich gerecht werden.

    Der Schwerpunkt liegt hier wohl schon auf internationaler Zusammenarbeit. Solange die aber nur in den Anfängen vorhanden ist, müssen wir uns doch erst mal national orientieren, gerade um von da aus die international nötige Zusammenarbeit zu realisieren.

    Das gleiche gilt für das Spannungsfeld von europäischer und internationaler Perspektive.

    Wenn wir wie die Verrückten schon innerhalb Europas die Arbeitsplätze im Land an uns ziehen, mit dem Ergebnis das die Menschen der Arbeit hinterherziehen, ist das gar nicht so gut. Für diese Menschen nicht, und für uns selber auch nicht. Das muss man doch vernünftig verteilen, innerhalb Europas wie auch weltweit. Daran sollten wir arbeiten, wenn das was mit einer internationalen Perspektive aller Menschen diese Welt irgendwann mal was werden soll. Was anderes kann ich mir dazu nicht vorstellen.

    Wenn die Arbeit nicht vernünftig verteilt wird, wird es auch mit einer gemeinsamen und friedlichen Weltkultur nichts werden, fürchte ich. Im Gegenteil, ich kann mir hier ganz gut konkrete Rückschritte vorstellen. Neben dem jetzt schon grassierendem Rechtsradikalismus, der in den USA schon Präsident geworden ist, kommt es jetzt vermutlich darauf an, ob die EU die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Gegenmaßnahmen irgendwie überleben kann.

    Der Glaube an den Fortschritt fällt leichter, wenn es für einen persönlich vorwärts geht.

    Was die Lebenswelt der Jäger und Sammlerkulturen dieser Welt angeht, so lohnt sich hier vielleicht auch ein Blick auf deren Kultur und Religion. Zumindest, wenn man auf der Suche ist nach ganz neuen Mythen, die einerseits die Erkenntnisse der Wissenschaft gut integrieren können, und anderseits die Anforderungen einer praktikablen Weltkultur erfüllen.

    Also im Zeitmaßstab keine fertige Schöpfung in 7 Tagen, und am Ende keine Apokalypse schon nach ein paar Tausend Jahren. Also ein Zeitrahmen von 13,8 Mrd Jahren zurück und mindestens 500 Mrd Jahren in die Zukunft, mit einer Zivilisation, die sich in der ganzen Galaxis ausgebreitet hat. Dazwischen ist ne Menge Platz, finde ich. So viel Platz, dass sich den überhaupt zu denken erst mal gewagt werden müsste, was die kulturellen Möglichkeiten in diesen Dimensionen bereithalten könnten.

    Aber vielleicht habe ich in meiner Jugend auch zuviele Science-Fictions gelesen.

    • Lieben Dank für Ihre Ausführungen, denen ich weit zustimmen kann, und für Ihre Nachfrage, @Tobias Jeckenburger.

      Judentum, Christentum und Islam lehren (überwiegend) die Ankunft eines (jüdischen) Messias, mit dem sich göttliche Gerechtigkeit und Ewigkeit verwirklichen wollen. Die meisten Juden verbinden diese Messias-Erwartung mit Elias, Christen und die meisten Muslime mit Jesus.

      Bei den Bahai gibt es bereits die Erwartung auf jeweils neue Gottesoffenbarer im Abstand von einigen Jahrhunderten bis tausend Jahren.

      Und in säkularen, semitischen (d.h. alphabetisierten) Weltanschauungen wie dem Humanismus oder Marxismus findet der Aufstieg innerhalb der Weltzeit statt.

      Klar gibt es innerhalb der Religionen und Weltanschauungen immer wieder auch antisemitische Gegenströmungen, sowie zwischen den Religionen und säkularen Weltanschauungen massive Spannungen. Die Messias-Hoffnung einer orthodoxen Jüdin und eines evangelikalen Christin unterscheiden sich doch massiv von der marxistisch-leninistischen Erwartung einer proletarischen Weltrevolution.

      (Nichtsdestotrotz versucht ja z.B. unser Langzeit-Kommentator @hto diese Mythen zu „fusionieren“ und mittels aggressiver Mission und der Beschimpfung Andersdenkender für „konfusioniertes Bewusstsein“ zu „werben“.)

      Die „Apokalyptik“ (wörtlich: Enthüllung, Offenbarung) ist dabei in den religiösen und säkularen Mythologien oft sehr ähnlich: Es müsse erst schlimmer werden (Kriege, Revolutionen etc.), bevor es dann wirklich gut werde.

  5. Tobias Jeckenburger,
    Ihre Beiträge ersetzen schon eine Kulturgeschichte.
    Andere Menschen haben sich auch über unsere Kultur Gedanken gemacht. Interessant ist das Buch von Carl Amery: Die Kirchen und der totale Markt.
    Darin wird nicht nur die Geschichte des Christentums nacherzählt, sondern auch das Verhältnis von Kirche zur Wirtschaft, also dem, was dem Vatikan auf den Fingern brennt und nicht nur dem Vatikan, denn Europa und die USA beuten ja die Welt aus und sind die Gewinner bei den Weltmarktpreisen. Ein moralisches Buch also.
    Wie unsere Zukunft aussieht ? Da braucht man gar nicht viel zu philosophieren, die könnte von einem kleinen Virus abhängen noch nicht mal sichtbar für das Auge. Der Größenwahn der Wirtschaftsmächte steht auf dünnem Eis.

    • @Zeitalter Nachtrag

      Wenn wir wirklich langfristig denken, und in ein paar Jahrhunderten eine Weltkultur aufgebaut haben, mit der wir und der ganze Planet richtig gut leben kann, kommt das auch in gewisser Weise einem Ende der Geschichte gleich.

      Dann gibt es wohl keine wirklich wesentliche Geschichte mehr, und wir leben wieder so ähnlich wie vor der Erfindung des Ackerbaus. Natürlich mit einer weltweiten funktionierenden Regierung und Wirtschaft, und mit nur noch recht wenig Arbeit, und so das alle gut beteiligt werden. Mit einer ökologischen Kreislaufwirtschaft und viel freier Natur auch zur Freude für uns Menschen.

      Das wäre wieder eine Situation, in der es sich nur noch weniger lohnt, überhaupt die Jahre zu zählen. Wir werden wohl weiter noch Kalender haben, aber vor allem zur Feststellung der aktuellen Jahreszeit. Eine neue Zeitvorstellung von ewigen Zyklen könnte sich für den Alltag und das Leben ganz von selber wieder einstellen. Wenn Entwicklung wieder ganz schön langsam in Jahrmillionen stattfindet, wäre ein ewiger Kreislauf die natürliche Betrachtungsweise aus der Perspektive eines Menschenlebens.

      Hier hätten wir tatsächlich ein Ende der Geschichte im Sinne von Fortschritt, aber eben ein Ende im Diesseits und im Sinne des Lebens auf unserem Planeten. Einfach weil der Fortschritt dann fertig ist.

      Brauchen wir hierfür einen Messias oder gar massive gesellschaftliche Katastrophen? Ich glaube nicht. Einfach global Denken und lokal Handeln reicht doch. Die Wissenschaft kanns sowieso nicht lassen, alles zu erforschen, und spätestens mit neuen weiter reichenden Erkenntnissen in Soziologie, Ökologie und naturverträglicher Technik müssten sich die erforderlichen Lösungen zeigen.

      Wir brauchen die Katastrophen nicht, aber passieren können sie trotzdem. Noch gibt es genug Idioten auf der Welt, die überhaupt nicht wissen was sie machen, bzw. denen es vollkommen egal ist, was sie jenseits ihres Tellerrandes an Kollateralschäden verursachen.

  6. Tobias Jeckenburger,
    …..Brauchen wir einen Messias ? Sollte das die Quintessenz ihrer Vorstellungen sein ?
    Die Cäsaren des Römischen Weltreiches hätten es sich nicht träumen lassen, dass einmal die Barbaren die Hauptstadt der damaligen Kultur plündern würden.
    Die Welt beginnt jede Sekunde neu, neu mit jedem neuen Weltbürger. Wenn der nicht im Sinne von Humanismus aufgezogen wird, dann fallen wir wieder in die Zeit der Barbarei und Irrtümer zurück.
    Wir brauchen immer wieder einen Messias der uns aufzeigt, dass nicht materielle Dinge allein unser Leben ausmachen. Wenn wir das vergessen, dann steht die Kultur auf wackligen Füßen.

  7. Wo Missverstandnisse beginnen könnten: ich machte ja doch nur Computerkunst…
    und sie glauben es, weil sie zu sehen wähnen…
    Und Computer sind keine Hexerei: sondern ziemlich präzise Automaten.
    thats all.

  8. @H.Wied Messias und Geistesleben

    „Wir brauchen immer wieder einen Messias der uns aufzeigt, dass nicht materielle Dinge allein unser Leben ausmachen.“

    Ich dachte, dass inzwischen doch einiges an Konsens vorherrscht, dass materielle Dinge alleine für ein gutes Leben nicht ausreichen. Die Inklusion von Soziologischen und Psychologischen Lebensbedingungen ist heute eher selbstverständlich, und selbst die Anerkennung von spirituellen Aspekten ist heute auch recht verbreitet. Zumal wir ja auch schon gleich mehrere Religionsgründer hatten, die uns hierauf hingewiesen haben.

    Interessant ist doch zunächst, die materiellen und die fassbaren geistigen Angelegenheiten von uns Menschen auf diesem Planeten vernünftig zu organisieren und zu gestalten. Alles, was wir verstehen, überblicken und gestalten können, steht uns hier bevorzugt zur Verfügung. Alte oder neue Mythen, die von Geisteswelten erzählen, können allerdings bei der Motivation helfen, hier das Gute und Nötige auch tatsächlich zu tun.

    Ansonsten habe ich ein grundsätzliches Problem mit dem Prinzip Messias. Wenn der uns Sachen erzählt, die wir nicht nachprüfen können, die aber dennoch wahr und wichtig sein sollen, bekommen wir Schwierigkeiten: Eigentlich gehört es zu den guten Angewohnheiten des Menschen, genau das nicht zu tun, und nur wirklich Überzeugendes zu glauben.

    Und wenn der Messias nachvollziehbar vernünftige Sachen erzählt, die wir prüfen und für vernünftig einstufen können, dann ist es womöglich kein Messias mehr. Sonder nur ein Mensch, der uns auf supergute Ideen bringt, die weiterhelfen. Aber gerne, ich freue mich über neue Erkenntnisse.

    Generell finde ich Inspiration sehr hilfreich, als die richtige Intuition, die dann ausgearbeitet, überprüft und eingeordnet werden kann, so dass man dann auch Anderen die neuen Erkenntnisse mit Argumenten plausibel machen kann. Das bringt dann auch erst die erforderliche Reichweite.

    Warten auf den Messias dauert mir allerdings auch einfach zu lange. Sollen wir das denn nicht einfach selbst in die Hand nehmen, soweit das möglich ist? Hier kann das Warten selbst ein wesentlicher Teil des Problem sein, finde ich.

  9. Tobias Jeckenburger,
    unser Thema behandelt ja auch die Geschichte des jüdischen Volkes.
    Und dieses Volk hat in der Diaspora 2000 Jahre überlebt, in der Hoffnung auf den Messias und hat den höchsten Blutzoll aller Völker dafür gezahlt. . Das ist Beweis genug.

  10. @H.Wied Barbarei

    „Und dieses Volk hat in der Diaspora 2000 Jahre überlebt, in der Hoffnung auf den Messias und hat den höchsten Blutzoll aller Völker dafür gezahlt. . Das ist Beweis genug.“

    Offenbar hat hier die Kombination von Bildung, Glaube und Hoffnung fast unvorstellbares geleistet. So langsam komme ich dahinter, wieso die zerstreuten Juden nicht einfach ihren Glauben und ihre Kultur aufgegeben haben. Der sichtbare Bildungserfolg bei den eigenen Kindern, und auch der wirtschaftliche Erfolg, der sich daraus ergeben kann, hat die immer wiederkehrende Verfolgung und Diskriminierung wohl ausgleichen können.

    „Die Welt beginnt jede Sekunde neu, neu mit jedem neuen Weltbürger. Wenn der nicht im Sinne von Humanismus aufgezogen wird, dann fallen wir wieder in die Zeit der Barbarei und Irrtümer zurück.“

    Naja, wir haben ja jetzt generell Schulbildung und im Ergebnis auch überwiegend keine Barbarei. Insofern war die Bildung unter den Juden wohl durchaus vorbildlich wirksam. Das passt ja direkt, das die modernen Anhänger der Barbarei größtenteils Antisemiten sind. Wissen die das selber überhaupt?

    Dennoch meine ich, dass wir keinen neuen Messias brauchen. Bildung, Vernunft und Wissenschaft sind so weit entwickelt, dass wir vorerst selber die Dinge in die Hand nehmen können, und Lösungen für unsere Zukunft finden und umsetzen können.

    Was nicht heißt, das mehr und bessere Bildung nicht nützlich wäre. Mehr Lebenspraxis, weniger aber dafür gezieltere Berufsvorbereitung und vielleicht auch Religion als Schulfach ohne konfessionelle Bindung und dafür mit Religionswissenschaft und mehr Philosophie, das wäre sicher hilfreich. Das direkte Ergebnis könnten weniger moderne Barbaren sein.

    Es mag aber auch ganz Harte geben, die die Barbarei lieben. Und sich wenigstens im privaten Bereich gerne prügeln, oder sich kriminelle Wirkungsbereiche suchen. In sportlichen Bereichen und in den Sicherheitsdiensten können die aber auch ganz gut unterkommen, insofern sie ihre Gewalttätigkeit kultivieren können.

  11. Wenn man einen Freund hat der bereits aus 109 Supermärkten geflogen ist, würde man dann davon ausgehen dass es an den Supermärkten liegt, oder an dem Freund? Just asking for a friend

    • Vielen Dank für die Hinweise, @Be! Den Florian Freistetter lese, höre und sehe ich immer wieder gerne – wissenschaftliche Bildung und Aufklärung auch für die interessierte Bevölkerung sind so wichtig. Top! 🙂

      Ihnen Dank und alles Gute, bleiben Sie gesund!

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