Mit der SPD Stuttgart gegen jeden Antisemitismus

Wie Leserinnen und Leser von “Natur des Glaubens” wissen, bin ich ein entschiedener Befürworter von Engagement in demokratischen Parteien. Ich glaube, dass jede demokratische und gewaltenteilige Staatsform von der aktiven (sogar: zivilreligiösen) Mitwirkung von Abertausenden abhängt. Wo demokratische Parteien längerfristig schrumpfen, gerät auch die Demokratie an sich in Gefahr.

Deswegen nahm und nehme ich immer wieder gerne Einladungen zu Reden bei demokratischen, vor allem kommunalpolitisch aktiven Parteien an, die ich – wenn zeitlich irgend möglich – auch verschrifte. So sprach ich zuletzt etwa bei der CDU in Bruchsal, beim AK Antirassismus der Grünen in Stuttgart – und heute Abend beim SPD Kreisverband Stuttgart (Redeskript hier).

Einladungskachel und -plakat der SPD Stuttgart zu meinem Vortrag gegen Antisemitismus am 10.07.2023 in der St. Maria Kirche, Stuttgart. Post mit freundlicher Genehmigung: Michael Blume

Bis zur sechsmonatigen Karenzzeit vor den kommenden Kommunalwahlen hoffe ich noch weitere Einladungen, etwa seitens der FDP, wahrnehmen zu können.

Hier auch das Redeskript als Blogtext:

Liebe Katrin Steinhülb-Joos, MdL,

lieber Dejan [Perc],

sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freundinnen und Freunde,

es ist keine Floskel, wenn ich heute sage und schreibe, wie sehr ich mich darüber freue, heute bei Ihnen sein und sprechen zu können.

Als Politikwissenschaftler freue ich mich, dass die SPD als die Partei, die auch im Angesicht von Faschismus und Nationalsozialismus anständig geblieben ist, auch heute stabil zu den vier Parteien und Fraktionen im Land Baden-Württemberg gehört, die den Kampf gegen Antisemitismus ohne Wenn und Aber mitträgt. Ich danke Ihnen dafür von Herzen!

Ich bin in den vergangenen Wochen oft gefragt worden, was denn das Beste wäre, was jemand gegen das weltweite Erstarken des Rechtspopulismus und Neo-Faschismus tun könnte. Meine Antwort war und ist: Engagieren Sie sich bitte in einer demokratischen Partei, am besten in der Kommunalpolitik. Denn Stadt für Stadt und Gemeinde für Gemeinde wird sich im 21. Jahrhundert entscheiden, ob die sogenannte „Polykrise“ aus Medienrevolution, Klima- und Wasserkrise samt Migration und Inflation bewältigt werden kann; oder ob wir gemeinsam scheitern.

Es bedrückt mich, dass die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien (CDU) per Interview klarstellen musste, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: Uns Demokratinnen und Demokraten verbindet mehr, als uns trennt. Wir sollen Vielfalt repräsentieren, manchmal Wettbewerber und regelmäßig Partner sein. Aber niemals, wirklich niemals sind demokratische Parteien zueinander „Gegner“ oder gar „Feinde“!

Deswegen bekenne ich mich dazu, dass Sozialdemokraten wie unser früherer Filderstädter Oberbürgermeister Dr. Peter Bümlein (SPD) zu meinen bleibenden Vorbildern gehören. Derzeit lese ich auch das neue „Ökologie. Eine Einführung mit Handlungsanleitungen für eine nachhaltige Kommunalentwicklung“ von meinem langjährigen Kollegen im Gemeinderat, Prof. Willfried Nobel (SPD).

Und gemeinsam mit der Stuttgarter Sozialdemokratin und Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW), Professorin Barbara Traub (SPD), erlebte ich bei den Jusos Tübingen eine bewegende Lesung aus unserem gemeinsamen Buch „Wenn nicht wir, wer dann?“ und eine anschließende, wunderbare Diskussion mit den jungen, engagierten Menschen. Denn uns verbindet die biografisch und auch im Titel niedergelegte Überzeugung, dass die Lehre eine Bedeutung hat, wonach jeder Mensch „im Bilde Gottes“ (1. Mose 1, 27) geschaffen sei – es bedeutet für uns ein jeweils einzigartiges Potential, aber auch eine Verantwortung. Wer also in den egoistischen, bequemen Relativismus oder gar in den feindseligen, verschwörungsmythologischen Dualismus flieht, beraubt sich auch selbst der Chance, das einzigartige, weltzugewandte und monistische Potential voll zu enfalten, das schon in jedem Kinde steckt!

Eines der besten, nichtöffentlichen Fachgespräche meines Lebens durfte ich vor einiger Zeit mit unserem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und dessen Gattin Elke Büdenbender in Berlin führen. Selbstverständlich habe ich auch hierbei die strikte Vertraulichkeit gewahrt, erlaube mir aber eine Bewertung: Es ist gut zu wissen, dass wir auch an den Spitzen unserer Republik Menschen haben, die monistisch über den Tag und die Schlagzeile hinausdenken und mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht nur Fototermine absolvieren, sondern wirklich sprechen!

Eine starke Sozialdemokratie als „die“ soziale und gemäßigt-progressive Partei ist ein Gewinn, ich behaupte sogar: eine Notwendigkeit, für jede lebendige Demokratie.

Zusätzlich begeistert bin ich über die heutige Einladung aber auch als Religionswissenschaftler. Denn wir treffen uns ja nicht irgendwo, sondern ganz ökumenisch in der katholischen Kirche St. Maria. Auch das ist eine schöne und berechtigte Verbeugung vor den Quellen der SPD im liberalen Christentum, im Reformjudentum und im religionskritischen, demokratischen Sozialismus.

Otto Hirsch in Stuttgart

Bei der Verleihung der Otto-Hirsch-Auszeichnung 2023 erst letzte Woche hier in Stuttgart wies Dr. Martin Ulmer – u.a. Mitglied meines Expertenkreises – zu Recht darauf hin, dass es mutige Sozialdemokraten waren, die der konservativen Mehrheit des Stuttgarter Stadtrates von 1912 ins Gewissen redeten und damit eine knappe Mehrheit für den Juristen Hirsch erzielten. Im Ausschuss hatte der spätere „Vater des Neckarkanals“ und Retter vieler Menschen noch eine Mehrheit gegen sich gehabt; aus keinem anderen Grund als dem, dass er Jude war. Der Antisemitismus kam nicht erst mit den Nazis nach Stuttgart; und er verschwand auch nicht mit dem Untergang des NS-Regimes.

Diese drei Quellen und der tapfere, oft heldenhafte Anstand, den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gegenüber dem Antisemitismus und Faschismus gezeigt haben und weiter zeigen, ist der tiefe Grund dafür, warum Antisemiten und Faschisten auch die SPD wieder gerne ausschalten und Menschen verfolgen würden.

Ich sage es deutlich und ernst: Würden die demokratischen Parteien unseres Landes Baden-Württemberg ihre dialogisch-monistische Basis verlieren, würden sie sich wieder spalten lassen und die Brandmauer gegen den Antisemitismus und Faschismus aufgeben; dann wäre wie vor 100 Jahren auch für konservative Demokraten kein Halten mehr!

Wenn ich mir anschaue, welche Verschwörungsmythen auch gegen den Niederländer Mark Rutte als „WEF-Young Global Leader“ oder den Deutschen Friedrich Merz (CDU) als „Blackrock“-Klimaaktivisten schon heute bei mir eingehen, dann muss ich sogar sagen: Wie damals so würden auch heute die Faschisten zuerst Linke angreifen, aber dann auch Konservative nur so lange verschonen, wie sie es müssten. Wenn die Brandmauer fällt, dann fallen wir alle – Juden & linke Demokratinnen zuerst, dann aber auch alle anderen Demokraten.

Denken wir etwa an den badischen Sozialdemokraten Ludwig Marum (1882 – 1934), der für seinen Einsatz im ersten Weltkrieg das Kriegsverdienstkreuz erhalten hatte, als Justizminister, SPD-Fraktionsvorsitzender im badischen Landtag und Reichstagsabgeordneter für Karlsruhe und nach seinem Austritt aus der jüdischen Gemeinde im Vorstand der Freireligiösen Gemeinde Karlsruhe gedient hatte. Schon 1934 ermordeten ihn die Nationalsozialisten im KZ Kislau, 1943 dann auch seine Tochter Eva, die sie in Frankreich zu fassen bekamen.

In meinem ersten Antisemitismusbericht für unseren Landtag und in zahlreichen Veranstaltungen hatte ich für ein würdiges Gedenken für die Familie Marum in unserem Parlament geworben; leider bis heute ohne jede echte Resonanz.

Erinnern will ich auch an das Schicksal Hunderttausender Roma und Sinti, darunter unzählige Kinder, die von den Nationalsozialisten unter die sog. „Nürnberger Rassegesetze“ gefasst und ermordet wurden. Auch Homosexuelle, traumatisierte Veteranen des 1. Weltkrieges, politische und kirchliche Oppositionelle fielen den Mordkampagnen des NS zum Opfer.

Antisemitismus bedroht uns alle

Der britische Oberrabbiner Jonathan Sacks (1948 – 2020) – seligen Angedekens – hat die Gefahr des antisemitischen Verschwörungsglaubens ebenso präzise wie treffend formuliert: „Dieser Hass beginnt immer bei Juden, aber er endet nie bei ihnen.“

Deswegen schicke ich meiner Rede eine dringende Bitte vorab: Bekämpfen Sie, bekämpfen wir den Antisemitismus nicht nur der jüdischen Gemeinden zuliebe, sondern weil wir erkannt haben, dass es keine Wiederkehr des Faschismus geben darf! Ich sage es als Christ & Demokrat: Wer heute linke Politikerinnen mit Verschwörungsmythen wie „Großer Austausch“ und „Great Reset“, mit antisemitischen Vorwürfen des „Kulturmarxismus“ und „Ökosozialismus“ attackiert, will unsere Republik ein weiteres Mal zerstören und wird auch vor Liberalen, Bürgerlichen und Konservativen nicht Halt machen.

Was ist und wie funktioniert Antisemitismus?

Schauen wir uns also kurz an, was Antisemitismus ist und wie er funktioniert. Eine ausführliche und sehr gute Klärung, die ich sehr empfehlen kann und auch in meiner Arbeit verwende, ist die IHRA-Definition.

Für die Zwecke einer Rede fasse ich sie noch kürzer zusammen: Antisemitismus ist antijüdischer Rassismus mit eskalierenden Verschwörungsmythen.

Denn einerseits ist der Antisemitismus eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF), genauer: ein Freund-Feind-Dualismus wie andere auch. In allen Formen des dualistischen Rassismus, Sexismus und Ableismus werden die Menschen eingeteilt in vermeintlich absolut gute und absolut böse Gruppen. So wird beispielsweise vor allem Frauen im Sexismus vorgeworfen, bösartige Hexerei zu betreiben. Menschen mit Behinderungen wird vorgeworfen, dass sie selbst in einem früheren Leben oder dass ihre Eltern einen Fluch als vorgeblich „gerechte Strafe“ auf sich gezogen hätten. Roma und Sinti wird im Antiziganismus vorgeworfen, unmoralisch, verführerisch und kriminell zu sein. Menschen afrikanischer und arabischer Herkunft wird im Rassismus vorgeworfen, sexuell besonders aktiv und gleichzeitig faul zu sein und so weiter. Wir können in diesen dualistischen Projektionen immer auch leicht die Abspaltung der eigenen Unsicherheiten erkennen – mir ist tatsächlich keine antisemitische Bewegung bekannt, in der es nicht zu massiver Gewalt gegen Frauen und Kinder, zu Familienzerfall und Korruption gekommen wäre.

Was also unterscheidet den Antisemitismus von allen anderen Formen des Dualismus?

Das Judentum war die erste Religion der Alphabetisierung, die erste Religion der Bildung (!) – und deswegen wurde die Judenfeindlichkeit schon in der Antike mit der Funktion besonderer Schlauheit und Weltverschwörung verbunden.

Der schöne, deutsche Begriff der „Bildung“ entstammt direkt dem ersten Buch der Thora, 1. Mose 1, 27: Der Mensch – jeder Mensch! – sei „im Bilde Gottes“ geschaffen. Und bis heute besteht jede rabbinische Thora aus 304.805 mit einer Vogelfeder handgeschriebenen Alphabet-Buchstaben! In der Coming-of-Age-Reifezeremonie des Judentums wird keine andere Mut- und Könnensprobe verlangt als jene, vor der Gemeinde in Hebräisch zu lesen. Und wer auch nur einmal den Jubel einer ganzen jüdischen Gemeinde bei der erfolgreichen Bar Mitzwa oder Bat Mitzwa miterlebt hat, versteht die Bedeutung von Bildung im Judentum!

Auch der Noahsohn Sem, nach dem Landtag und Landesregierung mein Amt gegen Anti-Sem-itismus benannt haben, ist laut der jüdischen Bibelauslegung des Talmud gerade „kein“ Begründer einer „Menschenrasse“ oder Sprachgruppe – sondern der erste Begründer einer Schule in Alphabetschrift! Das Judentum war und ist die erste semitische, also alphabetisierte Religion!

Heute gehören nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung zum Judentum – aber über 20 Prozent aller Nobelpreisträger! Und das hat genau gar nichts mit einer Weltverschwörung zu tun, sondern alleine mit einer historisch einzigartigen Tradition der religiös geheiligten Alphabetisierung und Bildung seit über zwei Jahrtausenden!

Eine Freundin bat mich einmal, die Definition des Antisemitismus auf nur noch ein Wort herunter zu kürzen. Meine Antwort war: Bildungsneid.

Um diesen Umstand zu verdeutlichen, habe ich Ihnen ein Gemälde von Max Liebermann (1847 – 1935) mitgebracht, das ich für das vielsagendste Kunstwerk der deutschen Kulturgeschichte halte: „Der 12-jährige Jesus im Tempel“ von 1879, München. Denn der deutsche Maler Liebermann gehörte dem Reformjudentum an und wurde als DER „Arbeitermaler“ bekannt. Im Gegensatz zu den meisten Künstlern seiner Zeit stellte Liebermann nicht nur Motive der Oberschichten dar, sondern malte gezielt Menschen bei ihrer Arbeit.

Er verzichtete darüber hinaus aber auch darauf, etwa die berühmten Gänserupferinnen oder Fabrikarbeiter bloßzustellen oder für marxistische Propaganda zu verzwecken. Vielmehr brach Liebermann mit dem traditionellen, jüdischen Bilderverbot, um Menschen in ihrer Würde als Bilder G’ttes darzustellen.

Entsprechend malte Liebermann auch den hebräischen Jehoschua, griechisch: Jesus, als genau das hebräische Arbeiter- konkret Handwerkerkind der christlichen Bibel. In der Urfassung des Gemäldes, die uns in Zeichnungen erhalten geblieben ist, sehen wir einen dunkelhäutigen Jungen ohne Schuhe, mit dunklen Haaren und angedeuteten Schläfenlocken, der durch nichts anderes die berufstätigen Laien-Schriftgelehrten im Tempel von Jerusalem beeindruckt als durch seine Thora-, also Alphabetschrift-Bildung.

Und an der Stelle, an der in der klassischen, kirchlichen Ikonografie der Heilige Geist herniedersinkt, steigt im Liebermann-Bild die jüdische Mamme Jesu, Mirjiam / Maria, herab.

Das ursprüngliche Liebermann-Bild deckt sich exakt mit dem der judenchristlichen Evangelien von einem israelitischen Handwerkerkind, das durch seine Schriftkenntnisse beeindruckt, ausschließlich und auch in Synagogen und Tempel jüdische Heilige Schriften auslegt und eine Anhängerschaft um sich schart, die in ihm einen hebräischen Moschiach – einen Messias – gegen die römische Besatzung zu erkennen meint.

Die jüdische Bibelwissenschaftlerin Amy-Jill Levine stellte in einem Interview in der „Jüdische Allgemeine“ anlässlich ihres Besuches des Evangelischen Kirchentages zu Nürnberg noch einmal fest: Die neutestamentliche Bezeichnung von Jesus als „Rabbi“ – Lehrer – ist nach wie vor die älteste, schriftlich belegte Bezeichnung eines Menschen mit diesem Ehrentitel.

Ich möchte behaupten, dass Liebermann hier eine einzigartige Darstellung des Traumes von „Bildung“ gelungen war, wie sie von religiösen wie auch nichtreligiösen Monistinnen erhofft, von Relativistinnen und Dualisten aber ebenso entschieden bekämpft wird: Eine kommende Welt, in der jedes Menschenkind – jedes Mädchen, jeder Junge – das Recht auf Alphabetisierung und weitergehende Bildung haben soll, eine Welt, in der alle Kinder Noahs – alle Völker, alle Kulturen – gleichberechtigt, frei und in Verantwortung für ihre Mitmenschen und ihre tierische und pflanzliche Mitwelt leben. Es ist ein Ausblick auf eine Welt, in der sich religiöse und wissenschaftliche, humanistische und sozialistische, konservative, progressive, liberale und ökologische Hoffnungen überschneiden, genau deswegen aber auch den unerbittlichen Hass von Antisemiten, Rassisten und Sexisten auf sich zieht.

Antisemitismus bringt den Hass hervor, der niemals endet: Frauen und Juden wurde im Zeitalter des Buchdrucks vom 15. bis ins 18. Jahrhundert vorgeworfen, sich zum „Hexensabbat“ verschworen zu haben und auch getöteten Kindern „Hexensalbe“ herzustellen. Es ist dies genau der gleiche Verschwörungsmythos, den wir heute von der rechtslibertären QAnon-Bewegung und vom badischen Musiker Xavier Naidoo als „Adrenochrom“ wieder hören mussten.

Roma und Sinti wurde vorgeworfen, von den jüdischen Weltverschwörern nach Europa Eingeschleuste zu sein. Es ist dies genau der Vorwurf, der vor allem Geflüchteten im Verschwörungsmythos des sogenannten „Great Replacement / Großer Austausch“ gemacht wird.

Journalistinnen wie der großen Kriegsfotografin Gerda Taro (1910 – 1937) wurde vorgeworfen, die Öffentlichkeit zu täuschen und sogar christlich-rechtskonservative Wissenschaftler wie Werner Heisenberg (1901 – 1976) wurden als „weiße Juden“ geschmäht, weil sie es wagten, die Relativitätstheorien von Albert Einstein (1879 – 1955) anzuerkennen.

Entweder wir leben in einer monistischen Welt nach Liebermann, in der es eine Wahrheit gibt, der sich die verschiedenen Religionen, Wissenschaften und Künste im Dialog annähern können, ohne dass jemals eine Perspektive das Ganze besitzen kann. Oder wir leben im Relativismus, der jede Wahrheit und Gleichberechtigung verleugnet – und schließlich gar im Dualismus, der das erste Volk der Bildung und Menschenwürde als ewige Weltverschwörer bekämpft. Auch meinen konservativen Freundinnen und Freunde rufe ich von dieser Stelle aus zu: Mit Faschismus kann es keinen „Waffenstillstand“ geben, weil Faschisten gestern und heute schon die Bildung von Kindern, vor allem von Arbeitern und Mädchen, als „Kriegserklärung“ erscheint!

Liebermanns Bild wurde daher umgehend von Monisten als mutig erkannt, gefeiert, ausgezeichnet. Doch es empörte die Judenhasser und Rassisten von Bayern bis Berlin zutiefst! Wie ein Jude darauf käme, den Herrn Jesus als „Judenbengel“ zu bezeichnen? Es kam zu Tumulten und einer aufgeregten Debatte im damaligen bayerischen Landtag. Schließlich wurde Liebermann sogar dazu gezwungen, den Jesus seines Bildes zu „arisieren“ – also mit weißer Haut und blonden Haaren, hellem Kleid und güldenen Sandalen versehen. Erst dann durfte das Gemälde wieder ausgestellt werden.

Als die Nationalsozialisten zehn Jahre nach ihrem ersten, noch gescheiterten Putschversuch von 1923 mit Fackeln in Berlin einmarschierten, prägte Max Liebermann das bis heute geläufige Sprichwort:

„Ick kann jar nich soviel fressen, wie ick kotzen möchte.“

Obwohl er kurz zuvor sogar noch von Reichspräsident Hindenburg ausgezeichnet und Berliner Ehrenbürger geworden war, wurde Liebermann umgehend aus allen Ämtern gedrängt. Zu seiner Bestattung kamen nur noch die mutigsten Freunde. Seine Gattin Martha nahm sich 1943 angesichts der bevorstehenden Deportation ins KZ Theresienstadt das Leben.

Das Haus Liebermann befindet sich heute direkt am Brandenburger Tor. Und die Villa Liebermann befindet sich sogar in direkter Nachbarschaft zum Haus der Wannsee-Konferenz, in dem überwiegend promovierte Juristen die sogenannte „Endlösung“ – den Massenmord an den Jüdinnen und Juden Europas – beschlossen. Das Protokoll führte Adolf Eichmann (1906 – 1962).

Der berühmten These von der „Banalität des Bösen“ von Hannah Arendt (1906 – 1975) kann ich daher nicht zustimmen. Der Nationalsozialismus, der Faschismus sind aus meiner Sicht zwar böse, antisemitisch und dualistisch, aber gerade dadurch nicht banal.

Stattdessen schließe ich mich der Dualismus-These von Rabbi Sacks und den tiefen Beobachtungen des Holocaust-Überlebenden und Philosophen Hans Blumenberg (1920 – 1996) im direkten Vergleich von Napoleon und Hitler an:

„Enge der Zeit ist die Wurzel des Bösen.“

Alle semitischen Religionen – das Judentum, aber dann auch Christentum, Islam und Bahaitum – haben mit ihren alphabetisierten Heiligen Schriften auch lineare, aufsteigende Kalender hervorgebracht. Es sind Religionen des „Dennoch“, der Hoffnung gegen alle Erfahrungen von Leid und Sinnlosigkeit.

Und wenn immer es reale Fortschritte vor allem in der Bildung und Gleichstellung gibt, wenn immer neue Medien die Informations- und Wissensflut anschwellen lassen, wenn immer die mit jeder Veränderung einhergehenden Krisen Gewissheiten erschüttern – dann erhebt sich mit der „Enge der Zeit“ der Dualismus, der Verschwörungsmythos, der Antisemitismus. Deswegen bringt die Gleichzeitigkeit aus Digitalisierung, Covid19-Pandemie, Kriegen und zunehmend Klima- und Wasserkrise eine neue Gefahr des weltweiten Faschismus hervor, die wir noch kaum zu erfassen vermögen!

Bei der Reichstagswahl 1928 lag NSDAP bei mageren 2,6 Prozent und ihr „Führer“ Adolf Hitler war noch nicht einmal deutscher Staatsbürger. Doch das Bündnis mit dem Großunternehmer, DNVP-Chef und Medienmogul Alfred Hugenberg (1865 – 1951) ermöglichte Hitler nur wenige Jahre später den Griff nach der Macht!

Nun wissen Sie, warum ich so viel vor dem Verlust unserer regionalen Medien warne, für das nichtkommerzielle Fediversum werbe und beispielsweise gegen Twitter vor Gericht gezogen bin! Wir haben inzwischen wieder weltweit Medien, die rechtspopulistische und dualistische Inhalte verbreiten und die Menschen gerade auch mit Bezug auf die Klima- und Wasserkrise nicht aufklären, sondern Ängste verstärken. Mit der Verwaltung von Wasser begann jede Staatlichkeit – und mit Verschwörungsmythen zu Wasser kann sie enden!

Die erste Regierungsbeteiligung gelang der NSDAP 1930 in Thüringen, wo sie in eine Koalition mit der DVP – die heute noch unsere FDP Baden-Württemberg im Fraktionsnamen trägt -, der bereits erwähnten DNVP, dem „Thüringer Landbund“ und der „Reichspartei des deutschen Mittelstandes“ eintrat.

Nun wissen Sie, warum ich so viel Verständnis für die Sorgen derjenigen habe, die die „Brandmauer“ gegen den Faschismus durch FDP, Freie Wähler, CDU und CSU gefährdet sehen. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Dass in Thüringen der aus Hessen stammende, AfD-Fraktionsvorsitzende Björn Höcke darüber spricht, innerparteiliche Gegner „auszuschwitzen“ und die Partei in Umfragen dennoch an die Spitze rückt, müsste eigentlich jede Demokratin, jeden Demokraten in Sorge versetzen. Mir bleibt als Wissenschaftler und Beauftragter gegen Antisemitismus nur die klare Ansage gerade auch aus der Betrachtung der Thüringer Geschichte: Wer sich mit Faschisten verbündet, wird durch sie und mit ihnen untergehen!

Von der marxistisch-jüdischen Weltverschwörung zur Arbeiterbewegung als „bandförmiger Schmarotzer“

Bis zur ersten reichsdeutschen Regierungsbeteiligung hatten sich die deutschen Nationalsozialisten vor allem darauf gestützt, die gesamte deutsche Linke als Teil einer Weltverschwörung des „Juden Marx“ – der tatsächlich schon als Kind getauft worden war und sich selbst antijüdisch äußerte – zu diffamieren und ihr mit der „Dolchstoßlegende“ die Schuld an der Niederlage des Ersten Weltkrieges anzudichten.

In den letzten Jahren vor der Machtübernahme griffen sie nun aber bewusst auch Forderungen der Gewerkschaften etwa nach Arbeitsplatzgarantien auf und warfen der Sozialdemokratie mit großer Resonanz vor, mit der Duldung des Zentrums-Kanzlers Heinrich Brüning (1885 – 1970) die Arbeiterschaft verraten zu haben.

Bei den Grünen hier in Stuttgart habe ich in einer eigenen Rede dringend darum gebeten, die Verwendung zentraler Begriffe durch Faschisten zu reflektieren. Sie nutzten die Selbstbezeichnung „Sozialisten“, um die gesamte Linke als marxistisch-jüdische Weltverschwörer diffamieren zu können. Sie nutzten die Selbstbezeichnung „Arbeiterpartei“, um als Verbündete von konservativen Junkern und zynischem Großkapital die Arbeiterbewegung zu spalten. Und sie missdeuteten sogar den Begriff der „Umwelt“, um ein buchstäblich anti-semitisches Weltbild zu vertreten, nach dem jeder Mensch in seine „Umweltzelle“ eingesperrt bleiben müsse.

Vor allem der Hitler-Unterstützer Jakob von Uexküll (1864 – 1944) spielte eine entscheidende und bis heute nachwirkende Rolle dabei, den sehr viel besseren Begriff der „Mitwelt“ zurück zu drängen. In seinem grauenhaften Werk „Staatsbiologie“, von dem er Hitler zur Kanzlerschaft eine eigene Ausgabe widmete, wütete er gegen Juden und Briten als angebliche „Parasiten“, gegen die Presse, gegen arbeitende Frauen und gegen die Arbeiterbewegung. Da ich bei den Grünen Stuttgart schon mehr dazu ausgeführt (und auch online veröffentlicht) habe, kann ich es hier bei einem einzigen Zitat belassen:

„Der Beruf des Fabrikarbeiters, der an die Umwelten seiner Mitglieder die geringsten Forderungen stellt, zeigt aus diesem Grunde auch das geringste Verständnis für die Organisation des Staates. Er schloss sich leicht zu einem neuen lebendigen Ganzen zusammen, das wie ein bandförmiger Schmarotzer sämtliche größere Organbäume umschlang. Diesem gefährlichen Feind des Staates gelang es in Deutschland, das Staatsgefüge zu zerreißen und sich zum Herren des Landes zu machen.“ 

Antisemitisch-antirepublikanische Verschwörungsmythen des Kulturmarxismus und Ökosozialismus

Und wie gerne würde ich Ihnen sagen, dass dieser Traditionsstrang der antisemitischen, antilinken und im Kern gegen Bildung und Republik gerichteten Verschwörungsmythen mit dem deutschen NS-Reich untergegangen wäre.

Doch leider ist das Gegenteil der Fall: Schon unmittelbar nach dem Krieg entwickelte sich in den USA und Deutschland der antisemitische Verschwörungsmythos des sogenannten „Kulturmarxismus“, nach dem jüdische Marxisten der „Frankfurter Schule“ die gesamte Hochschul-, Politik- und Kulturszene unterwandert hätten. „Kulturmarxisten“ arbeiteten demnach weltverschwörerisch an der Zerstörung weißer Familien etwa durch die Förderung von Feminismus, Gendersprache und LQBTQ+, durch die Förderung von „Massenmigration“ im Rahmen eines Bevölkerungsaustausches und durch die Kontrolle aller nicht-rechtslibertären Parteien und Medien.

Ich habe selbst noch in der Hayek-Gesellschaft – die ich dann verließ – erleben müssen, wie die Gleichsetzung von Nationalsozialisten und Sozialisten durch Schriften von Roland Baader (1940 – 2012) gezielt unter jungen Männern propagiert wurde und libertäre Antisemiten wie Oliver Janich und Tilman Knechtel hofiert wurden. Knechtel, der in der gleichen Stadt wie ich aufwuchs und jünger ist als ich, jedoch inzwischen in die Schweiz floh, leugnet in seinem „Rothschild“-Bestseller den Holocaust gar nicht mehr. Nein, er behauptet, jüdische Weltverschwörer selbst hätten Hitler zur Schoah gezwungen, um damit die Gründung des Staates Israel vorzubereiten, der wiederum den 3. Weltkrieg auslösen solle.

Machen wir uns bewusst: Noch während die Republik Israel selbst von jüdisch-israelischen Rechtsextremisten attackiert wird, die unter anderem auch den Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin (1922 – 1995) ermordeten, überbieten sich gleichzeitig linke, libertäre und rechte Antisemiten im Hass auf die republikanische Staatsform. Ich danke daher der SPD Baden-Württemberg, dass auch sie sich klar gegen die israelfeindliche BDS-Bewegung gestellt hat und bitte Sie alle darum, die republikanischen und demokratischen Kräfte in Israel nicht im Stich zu lassen! Die Republik Israel ist heute nicht weniger gefährdet als die USA und Brasilien, als die Europäische Union, als Ungarn, Polen und Italien, als Frankreich, Spanien, die Niederlande und auch die Bundesrepublik Deutschland!

Die Staatsform der Republik begann mit Zeitungsdruck und Wachstumsversprechen – und einige Republiken werden den Übergang zur Digitalisierung und klimaneutralen Wassermangel-Wirtschaft nicht überleben. Schon jetzt bauen Verschwörungsunternehmer wie Markus Krall den Kulturmarxismus-Verschwörungsmythos zum sogenannten „Ökosozialismus“ aus, nachdem die eigentliche Gefahr von sozialdemokratischen und grünen Parteien ausginge.

Krall bezeichnet sich selbst gerne als „freiheitlich“, hat aber bereits wie auch die sogenannte „Achse des Guten“ versucht, mir Äußerungen gerichtlich verbieten zu lassen.

Bitte fallen Sie also nicht auf diejenigen herein, die gerne behaupten, es ginge Ihnen um „Meinungsfreiheit“. Nach meiner nun schon langjährigen Erfahrung können die meisten dieser Leute den Tag gar nicht abwarten, an dem nur noch ihre eigene Meinung geäußert werden darf!

Gefördert wurde der – inzwischen aus der DEGUSSA entlassene – Markus Krall von einem „Braunen Erben“, wie David De Jong die Unternehmerdynastien nannte, die schon die Nazis gefördert hatten und bis heute rechtslibertäre, rechtspopulistische und oft auch antisemitische Umtriebe finanziell unterstützen.

Ich kann Ihnen gerade auch als sozialdemokratisch Aktive und ökonomisch Interessierte das entsprechende Buch von David De Jong nur von Herzen empfehlen!

Auch die Texte etwa von Christian Stöcker zum verheerenden Einfluss von Milliardären wie Charles Koch auf die deutsche Parteienlandschaft kann und muss ich leider allen Demokratinnen und Demokraten empfehlen.

Ich habe selbst hautnah miterlebt, wie sich liberale Vereinigungen und Medien digital radikalisiert haben und in den dualistischen Libertarismus umgekippt sind. Nicht alle Großkapitalisten haben von der Geschichte Hugenbergs gelernt – oder wenn doch, dann das Falsche.

Schluss

Liebe Freundinnen und Freunde, ich hoffe es ist deutlich geworden, wie kostbar und wie gefährdet unser demokratisches Miteinander zum Beginn des 21. Jahrhunderts ist.

Ich habe 2015 im Irak gesehen, wie die Eskalation von Dualismus, Terrorismus, Antisemitismus mit der Klima- als Wasserkrise die Staatsform der Republik erschütterte und wie massiv antisemitische Verschwörungsmythen in einem Land wurden, in dem es gar keine jüdischen Gemeinden mehr gibt. Noch 2022 beschloss das irakische Parlament ein bizarres Gesetz, nach dem jeder Kontakt mit Israelis zur Todesstrafe führen kann. Andere arabische Länder haben mit den „Abraham-Verträgen“ die Republik Israel anerkannt und suchen nicht zuletzt die Zusammenarbeit zum Thema Wasser. Wenig bekannt ist auch, dass sowohl Jordanien wie auch der Gaza-Streifen längst von Wasserlieferungen aus Israel abhängen – und dass also ein Überleben aller Staaten und Menschen der Region nur noch durch Zusammenarbeit denkbar ist. Doch die hasserfüllten Dualisten aller Seiten werden genau dies weiter zu hintertreiben versuchen.

Ich mache mir große Sorgen um die Herkunftsregion meiner Eltern, um Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. In Baden-Württemberg erlebe ich noch einen lebendigen Konsens der großen, demokratischen Parteien von Grünen, CDU, SPD und FDP zum gemeinsamen Erhalt der „Brandmauer“ gegen den Faschismus. Dass ich zu all diesen Parteien wie heute zu Ihnen eingeladen bin, dass ich unter meinen Mitarbeitenden, in meinem Experten- und Freundeskreis engagierte Angehörige dieser demokratischen Parteien weiß, gibt mir den Mut und die Zuversicht, heute hier bei Ihnen auszurufen:

Diesmal werden es die Antisemiten nicht schaffen, unsere Demokratie zu zerspalten und zu vernichten – diesmal nicht!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

14 Kommentare

  1. @Michael Blume –
    Der berühmten These von der „Banalität des Bösen“ von Hannah Arendt (1906 – 1975) kann ich daher nicht zustimmen…
    Stattdessen schließe ich mich der Dualismus-These von Rabbi Sacks und den tiefen Beobachtungen des Holocaust-Überlebenden und Philosophen Hans Blumenberg (1920 – 1996) im direkten Vergleich von Napoleon und Hitler an:

    „Enge der Zeit ist die Wurzel des Bösen.“

    Wären sie so nett und würden mir den Widerspruch erklären, den sie da anscheinend sehen?
    Meinen sie wirklich, Hannah Arendt habe mit “banal” gemeint, der Nationalsozialismus sei nicht böse?
    “Der Nationalsozialismus, der Faschismus sind aus meiner Sicht zwar böse, antisemitisch und dualistisch, aber gerade dadurch nicht banal.”

    Ich finde, sie hat es ausgesprochen trefffend so bezeichnet (endlich mal wer, der im Angesicht des Bösen “seine Weite” nicht verliert!) und kann weder den Gegensatz zu Blumenberg sehen, noch einen zu Rabbi Sacks, denn was könnte banaler sein als dieses Einordnen in nur zwei Kategorien?

    Ja, ich habe auch erst eine Weile gebraucht, das Wörtchen “banal” mit “dem Bösen” zu assoziieren – aber seit ich es dann geschafft hatte , finde ich es sehr bereichernd – gerade auch unter dem Aspekt einer “Weite der Zeit”, also sozusagen realer Zeit – einem freien Fluss, bzw. fließen.
    (“Banal” i.S.v. “nicht denken”/nicht nachgedacht – enger geht es doch gar nicht.)
    Sie sagt ja auch:
    „Könnte vielleicht das Denken als solches – die Gewohnheit, alles zu untersuchen, was sich begibt oder die Aufmerksamkeit erregt, ohne Rücksicht auf die Ergebnisse und den speziellen Inhalt – zu den Bedingungen gehören, die die Menschen davon abhalten oder geradezu dagegen prädisponieren, Böses zu tun?“[163] (Wiki)

    Gerade auch nach dem Beispiel mit dem Bild Liebermanns bin ich irritiert – es geht doch nicht darum, dass die Nazis banal und nicht böse seien, sondern darum, dass es eine “banale Tatsache” ist, dass Jesus Jude war.
    Und dass diese “Banalität” ein solches Ärgerniss darstellen kann. So dass jeder weiß, dass es “vernünftiger” ist (sich der Enge anzupassen) und das Maul zu halten. Diese Banalität, diese subtile Angst, nicht dazu gehören zu können und darum einen vermeintlichen “Willen der Masse” über den eigenen Willen zu stellen, um die geht es doch, oder?
    Beim Anti-Semi-tismus, der Angst vor Bildung.

    Also meiner Meinung nach – und da wir in den anderen beiden Punkten (Dualismus und Enge der Zeit) ja durchaus übereinstimmen, bin ich so verwundert.

    Ja, “banal” bedeutet etwas gewöhnliches, kleines (https://de.wikipedia.org/wiki/Banal), aber dem wohnt auch eine gewisse “Allmacht” inne (second hand mässig), wie ein (banaler) Bienenstich, der im Hals einen “raumfordernden Prozess” in Gang setzt und tödlich enden kann.

    Persönlich mag ich diese Erklärung/Definition Arendts auch darum, weil sie das Böse so entlavt, das Verführerische als schiere Dummheit/Feigheit zeigt, es entmystifiziert.
    Und andererseits habe ich das Gefühl, besser gerüstet zu sein, da ich “Banalitäten” differenzierter einordnen kann.

    Dass sich Bildung und “banal” in einem diametralen Verhältnis befinden, scheint mir doch offensichtlich.

    (@Michael Blume, möglicherweise ist es nur eine Frage der Perspektive; Frau Arendt bezog sich ja wohl auch mehr auf den Aspekt des “Mitlaufens” als den der “Kreation”, also der Bildung der Verschwörungstheorie, was ihr Thema beim Vortrag ist. Aber ich sehe da so eine schöne “Dreiheit” (Arendt, Sacks und Blumberg) und frage ernsthaft danach, wo sie da, bzw. ob sie da wirklich etwas Gegensätzliches sehen.)

    „Als Bürger müssen wir schlechte Taten verhindern, weil es um die Welt geht, in der wir alle leben, der Übeltäter, das Opfer und die Zuschauer.“
    HannahArendt

    • Genau, @Viktualia – Hannah Arendt – die ich in vielerlei Hinsicht sehr schätze -, die dem Prozess in Jerusalem nur kurz beiwohnte, entwarf ein Bild von Eichmann als banalem, quasi regungslosen Mitläufer.

      Heute wissen wir jedoch, dass Eichmann keineswegs nur der Befehlsempfänger war, als der er sich im Prozess inszenierte. Noch in Argentinien bedauerte er, nicht noch mehr Jüdinnen und Juden ermordet zu haben. Als ihn ein christlicher Geistlicher vor dem Vollzug der Todesstrafe besuchte, lehnte er die Bibel als „jüdisches Märchenbuch“ ab.

      Vielen Deutschen bis heute gefällt die Vorstellung, der Antisemitismus sei gewissermaßen von außen über das allzu willfährige, deutsche Volk gekommen. Doch die bittere Wahrheit ist, dass Antisemitismus und Dualismus längst Teil der Persönlichkeit von Millionen geworden waren, als Hitler sich ihnen als „Führer“ anbot. Viele Deutsche, darunter auch Eichmann, wollten Herrschen, Vertreiben, Morden. Die waren nicht „banale“ Mitläufer, sondern aktive Mit-Täter.

      Hannah Arendt war m.E. als politische und auch philosophische Denkerin nicht nur groß, sondern sehr groß. Doch auch sie unterschätzte m.E. noch Tiefendimensionen des Bösen, die sich in Sprache, Denken, Identitäten eingegraben hatte und die der lebenslang in Deutschland (über-)lebende Hans Blumenberg Schicht für Schicht freilegte.

    • Looky machen vielleicht auch hier, es scheint so brauchbar zusammengefasst, was Hannah Arendt seinerzeit meinte :

      -> https://de.wikipedia.org/wiki/Eichmann_in_Jerusalem

      Dr. W hat diese Sache seinerzeit mit einigem Interesse geprüft (also diese Sache seinerzeit, nicht seinerzeit geprüft), es ging dann auch um den Adolf Eichmann, der sich vor einem israelischen Gericht, das er so nicht erwarten konnte, klein gemacht hat, sicherlich auch dem Überlebenstrieb folgend.
      Der konnte dann bspw. in deutscher Sprache gestellten Fragen nicht folgen und das Wort ‘Imperationsimperativ’ kannte er angeblich nicht.
      Es gibt dazu auch audiovisuelles Material, das Eichmann dann ein wenig wie einen Deppen ausschauen ließ.

      Korrekt ist dagegen, dass Adolf Eichmann eine gebildete, wenn auch nicht studierte nationalsozialistische Kraft war, die beträchtliche Eigeninitiative entfalten konnte, einen Besuch in Palästina eingeschlossen, um dort zu “lernen”, organisatorisch fähig war und “dem Juden” versuchte sozusagen bestmöglich nachzuspüren, wo immer der auch war.
      Mit beträchtlichem Einfühlungsvermögen und Intellekt.

      Insofern liegt Hannah Arendt, die bei Heidegger gelernt hat, vielleicht auch näher so verbunden war, Karl Popper warnte sozusagen bis zum Geht-Nicht-Mehr vor Heidegger [1], falsch.

      Ihre Idee der Alltäglichkeit der Judenverfolgung mag zeitgenössischer Mode gefolgt sein, derartiges sozusagen singuläres Verbrechen sollte womöglich der Menge zugeordnet werden und der dann wiederum in elit(ar)istischen Sinne misstraut werden.

      Hannah Arendt tauchte regelmäßig im bundesdeutscnen Staatsfernsehen auf, das sich lieber öffentlich-rechtlich nennt, um dann Israel zu kritisieren, nicht selten rauchend, Dr. Webbaer erinnert sich noch (vergleichsweise) gut daran.
      Antizionismus ist ja nichts Neues.

      Mit freundlichen Grüßen
      Dr. Webbaer

      [1]
      Dr. W hat auch Heidegger geprüft und in seinen Ausführungen tauchen dann immer wieder Setzungen auf, die nicht als solche benannt, gar hervorgestellt worden sind.
      So dass seine Ausführungen zwar kohärent zu sein schienen, abär dem Schreiber dieser Zeilen, der Täuschung ahnte, nicht konvenierten.
      Dies ganz unabhängig von der NSDAP-Nähe von Heidegger in dieser Fußnote angemerkt, Dr. W hat auch zu, Beispiel Carl Schmitt geprüft – und der war ihm oft nachvollziehbar und sprachlich klar.

  2. @Michael Blume – Für sie ist “tief” (Tiefendimensionen des Bösen) also eine “Höhe” die irgendwie “groß” sein kann?
    (Auf räumliche Dimensionen bezogen kann ich dieses “viel” nachvolllziehen, auf Menschliche “Größe” bezogen aber nicht. Bei “Autoritäten” (Menschen mit Macht) trenne ich ja auch zwischen “autoritär sein” und “Autorität haben”.)

    Bei “Doch die bittere Wahrheit ist, dass Antisemitismus und Dualismus längst Teil der Persönlichkeit von Millionen geworden waren, als Hitler sich ihnen als „Führer“ anbot” kann ich ihnen zustimmen, das sehe ich auch so.
    Auch “wollten Herrschen, Vertreiben, Morden. Die waren nicht „banale“ Mitläufer, sondern aktive Mit-Täter.” ist leider allzu wahr.

    Nur ist es nicht wirklich “herrschen”, es ist einfach nur Unterdrückung – das wäre mir halt wichtig.

    Was mich fasziniert ist, sozusagen, die neurologische Ebene, diese Auswirkung des “Nicht-Denkens”.
    Da ist doch nebenan gerade ein Artikel erschienen, darüber dass Befehlsempfangende weniger schlechtes Gewissen empfinden: https://scilogs.spektrum.de/hirn-und-weg/ich-habe-nur-befehle-befolgt-das-gehorsame-gehirn-und-die-willensfreiheit/
    Dass sich diese “Banalität” auch stofflich niederschlägt: das Empfinden von Verantwortung ist daran gebunden, ein “Mindestmaß an Größe” aufzuweisen; sie ist gebunden an “eigene Entscheidungen”.

    Und da wir die Welt als “Täter/Opfer/Zuschauer” erleben, wäre es wichtig, sich dafür zu entscheiden, ein “aktiver Zuschauer” zu sein, der in der Lage ist, solchem Tun einen Riegel vorzuschieben – zumindest theoretisch.

    (@Michael Blume, hier ist es mir wirklich wichtig, das ich ihnen nicht widerspreche – natürlich ist es absolut grausam und verachtenswert, was bei den Nazis geschah.)

    Aber mir geht es weniger um die Betrachtung als um die aktive Verhinderung eines solchen Geschehens. Und in meinen Augen spricht H.A. da als Praktikerin, das ist keine “theoretische Philosophie” – für mich.
    Sie formuliert es eher als Handlungsanweisung denn als moralischen Imperativ; sie fordert keine “Größe” von uns, sondern nur, dass wir uns nicht feige hinter der Banalität (der abgegebenen Verantwortung) verstecken.

    Oder anders herum formuliert: wenn ich es beschreibe (entymologisch) ist es natürlich vollkommen Grausam, hat eine schier unglaubliche Größe – in seinen Auswirkungen.
    Dennoch ist das, was es “eigentlich ist” (ontologisch) vollkommen unerwachsen, eine Verkrüppelung der Möglichkeiten im Namen des Egoismus.
    (Und das ist dann der Punkt, wo ich Parallelen zur Blumenergschen Enge sehe, bzw. zur Dualismus Theorie von Sacks.)

    Ich kann es meinerseits so stehen lassen – natürlich ist es (auch) richtig, wenn sie es als “Böse” und nicht als Banalität empfinden, was bei den Nazis lief.

    Das Banale bezieht sich (i.m.A.) halt nicht auf deren Tun, sondern den dahinter stehenden Mechanismus in jedem von uns. Und wir sind – alle – beides: gut und böse. Wir können unterscheiden – müssen dies jedoch erst aktiv tun.

    • Danke, @Viktualia

      Mit „tief“ meine ich bewusst den Unterschied zu „flach“ und eben auch „banal“. Das Böse, der Dualismus sind m.E. keine Oberflächenphönomene, sondern greifen über die Jahre und Jahrzehnte immer tiefer in die menschlichen Persönlichkeiten.

      Wir haben die im Kern gleiche Diskussion wieder bei der Frage, ob Wählerinnen und Wähler neo-faschistischer Parteien „nur Protest“ wählten. Und alle Erkenntnisse auch der Politikwissenschaft zeigen: Nein, ein großer Teil der Wählenden will tatsächlich wieder einen autoritären An-Führer statt der bisherigen, bundesrepublikanischen Demokratie. Das Böse ist nicht – wie so gerne gefloskelt wird – in „die Mitte der Gesellschaft zurückgekehrt“ – es war niemals weg. Faschismus und Antisemitismus wurden viel öfter unterdrückt als tatsächlich überwunden.

      Einig sind wir uns nicht nur in der Wertschätzung von Hannah Arendt, sondern auch in der Betonung einer Beobachterperspektive – mit Eingreifen. Genau das meinte auch Blumenberg, als er schrieb, wir könnten zwar nicht mehrfach in den gleichen Fluss steigen – aber stets ans gleiche (monistische) Ufer zurückkehren. Ganze Bücher wie „Schiffbruch mit Zuschauer“ sind genau dieser Perspektive gewidmet!

      „Enge der Zeit ist die Wurzel des Bösen“ problematisiert die Über-Beschleunigung, die uns (ja, uns alle) in Freund-Feind-Denken führen kann. Mit „Schnelles Denkem, Langsames Denken“ kam Daniel Kahnemann aus der Perspektive der Kognitionspsychologie zu analogen Befunden:

      https://de.m.wikipedia.org/wiki/Schnelles_Denken,_langsames_Denken

      Ihnen noch einmal Dank für die konstruktive Diskussion – und auch für das gemeinsame Interesse an Arendt! 🙏📚👍

  3. Blume: “… gegen jeden Antisemitismus”

    Und was ist mit dem “gesunden” Konkurrenzdenken, das aus dem “freiheitlichen” Wettbewerb und der daraus resultierenden menschenUNwürdigen Symptomatik entsteht???

    Ein Wettbewerb um die Deutungshoheit des zeitgeistlich-reformistischen Kreislaufes im stets immergleichen imperialistisch-faschistischen Erbensystem, wo Rassismus seit jeher mit “Entwicklungshilfe”, Waffenlieferungen und kriegerischen Auseinandersetzungen die heuchlerisch-verlogene Schuld- und Sündenbocksuche betreibt!!!

    • @hto

      Wenn Sie es geschafft hätten, den Text erst einmal in Ruhe zu lesen, bevor Sie Ihre immergleichen, dualistischen Satzbrocken von sich gegeben hätten – so hätten Sie entdecken können, dass ich gerade auch das „imperialistisch-faschistische Erbensystem“ nicht nur ansprach, sondern auch mit einem konkreten Buchtip hinterlegte.

      Mehr Lesen, mehr Nachdenken, weniger Hassen und Hetzen – das wäre doch was, nicht wahr?

      • Die Biodiversitätskriese wird vom Bundespräsidenten auch aufgezählt.

        Steffi Lemke: “Wir müssen die Biodiversitätskrise genauso entschieden bekämpfen wie die Klimakrise”

        • Ja, @Maisegen – deshalb habe ich in obiger Rede den Begriff der Polykrise eingeführt (und werde das auch im kommenden Bericht mit Handlungsempfehlungen für den Landtag BW tun). Wir sind längst in einem Zustand angekommen, in dem sich die verschiedensten Krisen gegenseitig pushen und verstärken. Darauf waren und sind wir nicht vorbereitet, das führt uns alle in „Enge der Zeit“ (Blumenberg)…

  4. Manchmal fühle ich mich wie der letzte Kapitalist auf Erden. Sieht denn keiner, dass wir vom Potenzial umgebracht werden? Dass wir riesige Ressourcen verschwenden, weil wir keine Lust haben, was damit anzufangen, und vor lauter Kraft in uns Amok laufen, weil wir nichts Sinnvolles damit anzufangen wissen? Faules Pack, vom Pharao bis zum Bettler. So wird das nix mit dem Niltal, der Arche, der Mad-Max-Oasenstadt. Zu viel Power geht in Austrocknung der Sahara und Zombie-Apokalypse. Suchen Sie uns halbwegs sinnvolle Aufgaben, investieren Sie, verschwenden Sie Geld für Forschung und Entwicklung und brotlose Kunst, wie Umweltschutz, Raumfahrt, Schulbildung oder Straßenbau, treiben Sie die Saubande zur Arbeit, bauen Sie ein Paradies, in dem sich Zellen teilen und verschmelzen können und reger Austausch zwischen ihnen herrscht, wo sich jeder ein Paradies nach eigener Fasson basteln kann und höchstens an sich selbst und nicht an der Welt scheitert, fett, frei und glücklich wird, dann stressen die Arschlöcher auch weniger.

    Ihr wollt im Gleichschritt marschieren und dem Boss gehorchen? Klar. Hier ist ‘ne Kelle, baut ein Haus. Wenn ihr fertig seid, werdet ihr alle drin wohnen, dann seid nicht aber ihr endgelöst worden, sondern die Baustelle. Willkommen im Jenseits, Öffnungszeiten von Feierabend bis Arbeitsbeginn, gespeist, bezahlt und erhalten wird es durch eure Teilzeitverdammnis im Fegefeuer, sonst kollabiert beides zur Hölle. Offen rund um die Uhr, Eintritt frei, Ausgang kostet alles, denn er ist am anderen Ende einer Spießruten-Einkaufsmeile voller Wucherpreise. Grade geht mir auf, die Saw-Reihe beschreibt im Grunde eine Kreuzung aus Disneyland und Kaffeefahrt… Hab’s eher mit Popkultur als Liebermann, jedem das Seine. Nazis haben eine Menge Spielzeug geklaut und in den Dreck gezogen, was davon waschen wir rein?

    Was man gegen Neofaschismus tun könnte, ist einfach: Machen Sie den Great Reset, bevor die Neofaschisten Sie in die Steinzeit reseten, denn passieren wird er so oder so. Schlachten Sie die Heilige Kuh Wirtschaft und nähen Sie sie neu zusammen. Ist leider keine so faule und dumme Lösung, wie die sture Trotzhaltung der Etablierten und das Köppe einschlagen der Faschisten, aber je mehr die Wirtschaft zum Teufel geht, desto weniger Leute haben einen Grund, nix zu tun – zu viele Gefahren, denen man entfliehen muss, zu viele Schwächen, die Chancen ergeben, zu viele Schwache, an denen man sich mästen kann.

    Enge der Zeit, Enge der Kehle, wir können gar nicht so fressen, wie wir kotzen möchten, denn wir müssen viel Feuer speien, um so viel Beute in so kurzer Zeit zu erlegen, so viele Drachen zu töten, bevor sie uns Allein Heiligen Georgzillas töten, uns die Beute streitig machen können. Unsere Umweltzellen werden uns zu eng, wir toben in unseren Särgen, weil wir die Matrix programmiert haben, sie immer weiter zu schrumpfen, die Schläuche einzusparen, die uns in den Hintern steckten, und uns stattdessen das Bild grenzenloser Freiheit und Macht in die Köpfe zu lügen. Realität und Massenwahn passen nicht mehr zusammen, das erzeugt Unmengen an Paranoia und kognitiver Dissonanz. Wir spüren, sehen und denken Dinge, die einander so sehr widersprechen, dass die Borg-Queen unliebsame Gedanken nicht mehr aus dem Kollektiv löschen kann, und sie selber zu denken beginnt.

    Einige Särge werden enger, weil sie nicht so schnell wachsen können, wie die Leute darin fett werden, auf Kosten anderer Särge. Doch es fühlt sich gleich an, und deswegen können stinksaure Großmilliardäre die Kraft, die sie nicht mehr für Wachstum verwenden können, fürs Arschlochsein verbraten. So werden sie zu den Zentren des Rechtspopulismus, doch dazu gehören auch willige Zuhörer. Kein Verführer ohne die Unschuld vom Lande, er weiß, was sie will, sie will jemanden, der es ihr gibt. Doch es ist ein Fehler in der Matrix, der sie quält, die Maschine funktioniert perfekt, makellos, immer besser. Führt nur das falsche Programm aus.

    Nicht nur der Fabrikarbeiter, auch die Eliten, haben keine große Ahnung, was auf der Welt vor sich geht. Was bleibt da übrig, als mit aller Kraft um sich zu schlagen und sich zu schnappen, was man kriegen kann? Es ist nicht die Aufgabe des Fabrikarbeiters, das System am Laufen zu halten, er muss nur Randale machen, wenn’s nicht funktioniert. Doch heute machen alle bloß Randale, auch die Eliten – das System hat sich selbständig gemacht, ist zum Gott geworden, der eigene Entscheidungen trifft, einem Ökosystem, das keinen Verstand kennt, nur Instinkte, Programme, Algorithmen, einem Computerspiel, das uns alle bewegt wie Super Mario, in Demo-Modus geschaltet, in dem es sich selber spielt. Und das Spiel hat Bugs, die es zum Absturz bringen.

    Neben der Kirche waren die Juden schon immer Vertreter und Symbol großer, internationaler Kommunikations- und Handelsnetzwerke. Die Religion der Schrift, eine der zwei Sprachen des europäischen Internets. Dass sie jedes Mal angegiftet werden, wenn die Welt zum Teufel geht, ist normal, Antisemitismus ist der Kanarienvogel im Bergwerk. Es beginnt mit den Juden, endet mit Centralia.

    Unser Kapitalismus verhält sich zu Kapital, wie Kastration zur Großfamilie, weil wir das Konzept „Kapital“ nicht verstanden haben. Kapital, das sind zum Beispiel Fabriken, Umwelt, Wasser, Rohstoffe, Wissen, Forschung, Infrastruktur, systemische Gerechtigkeit, Anpassungs- und Handlungsfähigkeit, aber auch die Menschen, die wir im Meer ertrinken lassen und in Aggro-Gettos deponieren, wo Kettenreaktionen die Explosionsgefahr boosten, wie sowohl in Frankreich, wie an der AfD sichtbar – Polen, Ungarn, Ostdeutschland, fallen unter Clan-Kriminalität – mafiöse Strukturen mit radikal-religiösem Hintergrund (ein Nationalstaat ist eine Theokratie mit der Religion Nation), autoritäre Kaziken, die die Demokratie verachten und Scharia nach eigenem Gutdünken einführen. Es sind alles enttäuschte Immigranten, deren Frust die ganze Skala abdeckt – von zurecht sauer, weil sie wie Dreck behandelt werden, bis Dschingis-sauer, weil die Pfeffersäcke ihnen nicht ihr ganzes Geld als Tribut zu Füßen legen, wo es doch solche Weicheier sind und sich nicht wehren können.

    Wichtige Regel der Ethik in einer darwinistischen Hölle: Nett sein ohne Stärke markiert leichte Beute. Da wird jedes Kuschelhäschen zum Löwen. Es scheitert immer wieder am Feintuning, am Gleichgewicht, weil „die da oben“ jede Forderung als Unverschämtheit und Undankbarkeit behandeln, für die Gewalt die einzig angemessene Antwort ist, und „die da unten“ einfach nie den Hals voll kriegen, und sofort unverschämte Forderungen stellen, wenn die Angemessenen erfüllt sind. Wenn das System so korrumpiert ist, dass nur diejenigen, die es korrumpiert haben, sich einbilden, es wäre gerecht, weil sie so sehr davon profitieren, bleibt nur Kräftemessen, um es zu verändern. Und das sehen Sie gerade – wir mutieren zu Barbaren, Kriegerstämmen, die sich mit Gewalt holen, was ihnen das Gesetz nicht gibt. Das Gesetz wird nicht respektiert, da es zu wenig Gerechtigkeit schafft. Das Gesetz wird immer noch respektiert, weil es immer noch etwas Gerechtigkeit schafft, und hier verläuft die Frontlinie zwischen Rechtsstaat, Zivilisation, Demokratie, und Faschismus, der nach dem Gesetz des Dschungels tickt.

    Und diese Front weicht zurück, weil die Zivilisation zu wenig Futter bietet, um das System so zu fluten, dass sich alle ihren Zorn über die Ungerechtigkeit verkneifen, und die Verteilungskämpfe zunehmend mit Lügen und Keulen geführt werden.

    Wir sind alle im Bilde Gottes geschaffen? Das fürchte ich auch. Fehlen nur noch Hörner und Pferdefuß, aber Nobody’s perfect. Wir sind Engel, die in Teufeln durch die Hölle reisen, liebe, unschuldige, dumme Babys, die Terminatoren speisen, darwinistischen Maschinen einen Sinn und Zweck geben. Die Zivilisation schafft einen Ort, wo die Engel die Maschine übernehmen und ein wenig Himmel spielen können, sie können friedlichere Programme hochfahren. Doch die Maschine drum herum, der Staat, muss immer noch fressen und töten. Weil das Paradies-Programm, das uns per WLAN verbindet, eher so Windows 11 ist, haben wir einen Systemabsturz, und das Betriebssystem schaltet auf Darwin-BIOS zurück, den Basic-Survival-Automatik-Modus.

    Innen drin Monismus, außen rum Dualismus, der Monismus hat als Programmierer versagt, und muss ohne Abendbrot zurück aufs Zimmer – aus der Realität zurück in die Köpfe, in die Träume, Wünsche, Sehnsüchte nach einer besseren Welt. Der Teufel darf raus und das Paradies verschlingen, besetzt die Körper von Arm nach Reich, was nach Außen hin wie eine Implosion aussieht.

    Zeit wird von Masse gehemmt. Viel Kapital gibt uns mehr Zeit, als Afghanistan oder Russland hatten. Doch heute wird Wachstum durch das Zermahlen von Kapital vorgetäuscht: Wir teilen es auf in Geld, Aktien, Identitäten, Dienstleistungen, Bürokratie, äh… Poser-Bildung als Hautfarbe und Ariernachweis der Oberschicht statt Erringen von sinnvollen Fähigkeiten (sorry, ist aber so – der Bildungsneid der Hauptschulproleten bezieht sich auf den Massa-Status, und Akademiker-Snobismus ist Rassismus, wie jeder andere auch), immer mehr Produkte von immer schlechterer Qualität. Wir verbrennen es, verwandeln Masse in Energie, Bewegung, Geschwindigkeit täuscht Materie vor, wo keine da ist. Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir noch haben, denn wir pappen Holz, Hexe und Feuer zu einem Scheiterhaufen zusammen und nennen alles Kapital, wir haben keine verlässlichen Wirtschaftszahlen, die globale Buchhaltung rechnet Schulden als Profite, Profite als Kosten. Solange der Dschinn tanzt, der Finanzderwisch mit dem Globus rotiert, bewegt er Materie, wir haben Chancen und Möglichkeiten. Wenn er kollabiert, haben wir nur, was noch in der Asche übrig ist. Und dass ihm die Puste ausgeht, sieht man.

    Noch geht der Verfall bei uns beruhigend langsam. Kann über Nacht sehr schnell werden. Wir werden von unserem eigenen ungeheuren Potenzial zerstört, zu viel Kraft in einer kaputten Maschine. Grund zur Hoffnung, Grund zur Verzweiflung. Läuft beides aufs Selbe hinaus.

    Viel zu lang, immer wieder das Gleiche mit neuen Worten, glaube nicht, dass es die Welt im Geringsten verändert. Wie das Leben selbst. Warum mache ich damit weiter? Algorithmus. Atmen, essen, kacken, neue Algorithmen basteln und wenn sie sich durch Kalk verfestigen, dem Rest des Universums damit auf den Sack gehen, ob der will oder nicht. Ebenbild Gottes eben. Was für ein Arschloch.

  5. @Michael 11.07. 08:45

    „Und alle Erkenntnisse auch der Politikwissenschaft zeigen: Nein, ein großer Teil der Wählenden will tatsächlich wieder einen autoritären An-Führer statt der bisherigen, bundesrepublikanischen Demokratie.“

    Fragt sich jetzt, warum denn? Es sollte doch klar sein, dass es sehr schwierig werden kann, eine autokratische Regierung wieder loszuwerden, wenn sie eben nicht liefert, was sie verspricht. Ist das Leuten egal, Hauptsache, die nahe Zukunft sieht ein bisschen besser aus?

    Sind die schlichtweg von der Komplexität überfordert? Oder haben viele jetzt einfach keine Lust, in aller Unsicherheit jetzt auch noch wirksamen Klimaschutz zu bezahlen? Geringverdiener, die in eher ländlicher Umgebung ein Auto brauchen, könnten sich in der Tat Sorgen machen, wenn sie sich ein Elektroauto nicht leisten können, und wären auch von den vielen Migranten der letzten Jahre durchaus etwas unter Druck. Die streben zunächst meistens auf den Niedriglohnsektor, und sorgen derzeit für eine ausgewachsene Wohnungsnot.

    Wer gut verdient, und noch Kapital in Form von zu vermietenden Immobilien hat, der verdient an Migranten nicht unerheblich, und kann sich selber Klimaschutzkosten locker leisten.

    Man sollte eigentlich darauf vertrauen, dass die Energiewende sozialverträglich ausgestaltet wird. Wie sieht es hiermit wirklich aus?

    Mein Vorschlag: hoffen wir es, und warten wir es ab. Abwählen kann man eine grüne Politik, die tatsächlich die Lebensbedingungen weniger qualifizierter und weniger solventer Mitbürger richtig schwierig macht, immer noch. Feinde der Demokratie wird man dagegen nicht wieder los. Da gibt es erst einmal keinen Weg zurück.

    Das Ziel, die Welt vor der Klimakatastrophe zu bewahren, ist doch eigentlich nicht unattraktiv. Wer sich hier erzählen lässt, dass das alles Fake ist, der muss doch eigentlich Gründe dafür haben. So dumm, dass man das nicht sieht, dass der Klimawandel längst im vollem Gange ist, können doch so viele gar nicht sein.

    Stromversorger, Ölkonzerne und Autobauer haben jedenfalls handfeste Gründe, sich gegen die Energiewende zu wehren. Insbesondere wenn diese auch noch flächendeckend von Menschen beschleunigt wird, die ihren Konsum tatsächlich überprüfen und wirklich reduzieren.

    Wer nur weniger Migranten haben will, der sollte dafür nicht die Demokratie verwerfen, meine ich. Aber warum schreibt sich keine demokratische Partei weniger neuen Zuzug und mehr Integration auf die Fahnen? Aus reiner Menschenfreundlichkeit, oder doch eher von der Wirtschaftslobby motiviert?

    Mir persönlich würde es reichen, wenn sich viele, die das können, wohnungsmäßig verkleinern würden, dann wäre auch wieder Platz für mehr Migranten. Wenn die Vielen dann auch noch zügig Deutsch lernen könnten, dann wäre das Problem von mir aus eigentlich vom Tisch.

    Zumal dann ein weiterer Zubau von Millionen neuen Wohnungen vermieden werden kann, was zum Klimaschutz Einiges beitragen könnte. Wir brauchen derzeit erstmal Investitionen in Klimaschutztechnik, meine ich. Und keinen Bauboom.

  6. I.p. SPD darf auch auf derartige “antizionistische” Rede einer Führungskraft geschaut werden :

    -> https://www.timesofisrael.com/hebron-is-an-apartheid-regime-says-top-german-politician/ (2012)

    -> https://www.welt.de/debatte/kommentare/article164033991/Sigmar-Gabriel-hat-als-Diplomat-versagt.html (2017)

    Antisemitismus ist aus diesseitiger Sicht bei derartiger Israel-Kritik oder “Israel-Kritk” nicht zu unterstellen, oft auch dann nicht, wenn Perteipolitiker anderer Richtung ungünstige Israelkritik üben.
    Dafür reicht die Beleglage nicht, zudem ist mit dem Antisemitismusvorwurf sparsam umzugehen, der soll schon die “Richtigen” treffen, nicht wahr?

    Der Schreiber dieser Zeilen sieht in der BRD kaum Antisemitismus, kaum “richtigen” Antisemitismus, so ist wohl doch aus der Geschichte und im Umgang mit Juden mittlerweile gelernt, also dass es so nicht geht und neben der sittlichen Niedrigkeit auch die Unvernunft allgemein durchschaut, wenn antisemitisch geredet wird.

    Was es natürlich gibt ist “Antizionismus”, die Ablehnung der Rechtmäßigkeit des israelischen Staates meinend, was aus diesseitiger Sicht ebenfalls sehr unschön ist, aber letztlich dann doch auf einen generellen Antinationalismus zurückgeführt werden könnte.
    Politisch linke Personen neigen zum Antinationalismus und der wird dann von ihnen, leider, auch auf den Staat Israel angewendet, auf den bekanntlich klar erklärten Judenstaat.
    Der Schreiber dieser Zeilen hat in diesem Zusammenhang auch Jakob Augstein und Günter Grass geprüft, wie auch einige jüdische Antizionisten.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer (der gerne noch etwas zum liberalen und politisch konservativen Antisemitismus geschrieben hätte, dafür aber über kein aktuelles (aus diesem Jahrtausend?) Material verfügt, vielleicht kann ihm mit Verweisen auf direkte O-Töne so ausgeholfen werden – Möllemann war seinerzeit hier fischend, aber ansonsten?)

    PS:
    Das Wort ‘ausschwitzen’ ist nicht nett, auch der Führerschein, die Autobahn, das Führerhaus (eines Lkw) und VW sind es nicht unbedingt; Dr. W rät an Wörter im Sinne ihrer Begriffsgeschichte zu nutzen, nicht anderen Personen die (ihnen : wahlfreie) Konnotation und insofern illegitime Herrschaft über die Sprache zu überlassen.

  7. Lieber Herr Dr. Blume,

    da haben Sie jetzt aber fälschlicher Weise die Demokratische Volkspartei (DVP) und die Deutsche Volkspartei (DVP) durcheinander geworfen.

    Die FDP Baden-Württemberg heißt offiziell mit vollem Namen Freie Demokratische Partei/Demokratische Volkspartei (FDP/DVP) Landesverband Baden-Württemberg. Das kommt daher, dass die beiden 1946 gegründeten Vorgängerparteien in Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern Demokratische Volkspartei (DVP) hießen. Der Name bezieht sich auf die 1864 in Stuttgart gegründete linksliberale Partei gleichen Namens. Eine Rückbesinnung auf den parteipolitischen Urvater des Linksliberalismus in Württemberg und ein Zeichen des Aufbruchs und politischen Neubeginns nach der Katastrophe des verbrecherischen Nationalsozialismus und der nationalsozialistischen Verbrechen. Führende Persönlichkeiten der Demokratischen Volkspartei (DVP) entstammten der 1918 gegründeten linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP).

    Dahingegen war die von Ihnen erwähnte DVP, die 1930 in Thüringen an der Landesregierung beteiligt war, die 1918 gegründete Deutsche Volkspartei (DVP), die 1930 bereits weit nach rechts außen gedriftet war.

    Die Behauptung in Ihrem Vortrag, dass die Landtagsfraktion der Freien Demokratischen Partei/Demokratischen Volkspartei (FDP/DVP) den Namen der Deutsche Volkspartei (DVP) in ihrem Fraktionsnamen tragen würde, ist also falsch.

    Ich bin mir sicher, dass Sie als Beauftragter der baden-württembergischen Landesregierung gegen Antisemitismus diesen despektierlichen Fehler so nicht länger in Ihrem Blogbeitrag stehen lassen möchten. Wir sollten uns gemeinsam gegen Antisemitismus und gegen Rassismus einsetzen. Spaltereien sind nicht angebracht. Vor Spalterei haben Sie selber in Ihrem Blogbeitrag gewarnt.

    Viele Grüße
    Wolf Dieter Dallinger

    • Vielen Dank, lieber Herr Dallinger!

      Tatsächlich habe ich es bisher so verstanden, dass sich die FDP/DVP sowohl auf die national- wie linksliberalen Vorläufer der Weimarer Republik berief. Gerade auch beim Streit um den verdienten Reichskanzler Stresemann (DVP), zu dessen Amtszeit der erste Hitler-Putsch abgewehrt wurde, stellte sich auch die Bundes-FDP klar gegen die AfD:

      https://www.nzz.ch/international/wem-gehoert-gustav-stresemann-ld.1342104

      Auch der FDP-Eintrag zur „Geschichte liberaler Parteien“ betont den doppelten Bezug:

      „Nach dem Zweiten Weltkrieg versammelten sich frühere Links- wie Nationalliberale in Parteien auf Landes- oder regionaler Ebene, die zumeist Namensbestandteile wie Demokratische, Liberal-Demokratische, Freie Demokratische oder Demokratische Volkspartei hatten. Nach dem Scheitern der alle vier Besatzungszonen umfassenden Demokratischen Partei Deutschlands (DPD) schlossen sich die liberalen Gruppen der drei westlichen Zonen im Dezember 1948 zur Freien Demokratischen Partei (FDP) zusammen. Die Spaltung des Liberalismus in ein national- und ein linksliberales Lager wollten sie überwinden.“

      Bewusst war ich mit der FDP/DVP-Fraktion in Baden-Württemberg auch schon im Gespräch über einen Stresemann-Vortrag, in dem wir genau dieses Thema des Weimarer Liberalismus behandeln wollten. Vor genau 100 Jahren rettete ein DVP-Politiker immerhin die Republik – und erhielt 1926 den Friedensnobelpreis!

      Wie ich ja auch ausgeführt habe, steht die FDP/DVP Baden-Württemberg fest zur demokratischen Brandmauer und dürfte sich m.E. (wie auch die CDU mit dem Zentrum und zersplitterten, protestantischen Parteien) kritisch-konstruktiv auf die liberalen Traditionen der Weimarer Republik berufen.

      Sehr gerne werde ich aber noch einmal direkt auf die FDP/DVP zugehen – Geschichte und ihre Deutung ist doch einfach viel zu spannend! Denkbar wäre m.E. aber auch eine gemeinsame Veranstaltung in Stuttgart, in der wir die verschiedenen Traditionen des Weimarer Liberalismus betrachten. Was meinen Sie? Ich würde mich sehr freuen!

      Ihnen Dank für den konstruktiven Hinweis auf die diversen, historischen Bezüge und herzliche Grüße!

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