Erinnerung und Hoffnung – Der Holocaust-Gedenktag 2024 in Karlsruhe

Ja, viele Menschen verstehen auch heute noch nicht, warum es wichtig sein solle, der Ermordeten des deutschen Nationalsozialismus zu gedenken. Sie fordern, es “müsse doch langsam mal reichen” oder gar einen “Schlussstrich” mit der sogenannten “Vergangenheitsbewältigung”.

Doch ich meine, dass Bundespräsident Roman Herzog (1934 – 2017) 1996 zu Recht den 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus proklamierte. An diesem Tag hatten 1945 sowjetische und insbesondere ukrainische Truppen das KZ Auschwitz befreit. Seitdem wird die Welt – und jede Generation neu – mit dem bis heute kaum fassbaren Vernichtungsantisemitismus der Shoah konfrontiert.

Eine schwarze Kippa liegt auf einem Tisch, darauf in gelber Schrift: "Gedenkstunde des Landtags von Baden-Württemberg am 26.01.2024 in Karlsruhe". Foto: Michael Blume

Da der 27. Januar 2024 auf einen Samstag, einen Schabbat fällt, beging ihn der Landtag von Baden-Württemberg gemeinsam mit der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden bereits am 26.01.2024 in Karlsruhe. Foto (s)einer Kippa zum Gedenktag: Michael Blume

Feindselige, nicht selten antisemitische Kritikerinnen und Kritiker am Gedenken von rechts und links sind sich einig: Das westliche Holocaust-Gedenken diene einem “Schuldkult”. Einige skandierten zur Unterstützung des Hamas-Terrorangriffs gegen Israel vom 7.10.2023 sogar “Free Palestine from German Guilt”. Einige BDS-Unterstützende wie Judith Butler hatten nach Boykottforderungen gegen Israel nun mit “Strike Germany” auch antideutsche Boykotte gefordert. 

Eine Delegation der Jüdischen Studierenden-Union Württembergs mit einer Abteilungsleiterin des Landtags von Baden-Württemberg am 26.01.2024.

Demokratisches Miteinander & gemeinsames Gedenken: Alon Bindes, Lior und Aaron Smith von der Jüdischen Studierenden-Union Württemberg (JSUW) mit Landtags-Abteilungsleiterin Ioanna Papadopoulou auf dem Weg von Stuttgart nach Karlsruhe. Foto: Michael Blume 

Doch nach meiner Auffassung hatte der Holocaust-Überlebende und spätere Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel (1928 – 2016) auch in dieser Frage Recht, als er formulierte: „Erinnerung ist Hoffnung – und Hoffnung ist Erinnerung“.

Mit Hans Blumenberg (1920 – 1996) ließe sich sagen, dass Erinnerung als Hoffnung der “Enge der Zeit” als der “Wurzel des Bösen” entgegenwirken: Indem wir uns die Zeit für Geschichte nehmen, machen wir die Erfahrung, dass wir für Gegenwart und Zukunft eine Wahl haben.

Prof. Dr. Doron Kiesel am Rednerpult zum Holocaust-Gedenktag 2024 in Karlsruhe. Dort sprach er unter anderem die unterschiedlich starken Demonstrationen nach dem Terrorangriff der Hamas und dem sog. Geheimtreffen von Potsdam an.Nachdem sich die Anwesenden nach der Gedenkrede des badischen Oberrats-Vorsitzenden Rami Suliman erhoben hatten, sprach Prof. Dr. Doron Kiesel feinfühlig über die Veränderungen der deutsch-jüdischen Gedenk- und Erinnerungskultur. Foto: Michael Blume 

Die gemeinsame Erinnerung von Jüdinnen und Christen, von Sinti und Roma und von Neo-Faschisten Bedrohten, von Zugewanderten, Demokratinnen allen Alters und von Menschen mit Behinderungen dient längst nicht mehr der “Bewältigung” persönlicher Schuldgefühle, sondern dem Bekräftigen gemeinsamer Verantwortung. So hatte Landtagspräsidentin Muhterem Aras in ihrer Gedenkrede zu Karlsruhe erklärt: „Wir als Gesellschaft müssen unmissverständlich deutlich machen: Wir dulden keinen Antisemitismus! Nicht von rechts, nicht von links, nicht aus der Mitte der Gesellschaft, und nicht aus muslimischen Kreisen“.

Gemeinsam Erinnern für die Hoffnung: Der IRGB-Vorsitzende Rami Suliman, Landtagspräsidentin Muhterem Aras und Landesbischöfin Prof. Dr. Heike Springhart.

Gemeinsam Erinnern in der und für die Hoffnung: Der IRGB-Vorsitzende Rami Suliman, Landtagspräsidentin Muhterem Aras und Landesbischöfin Prof. Dr. Heike Springhart. Foto: Michael Blume

Wie es gerade auch der CDU-Fraktionsvorsitzende Manuel Hagel im Landtag Baden-Württemberg zu den Demonstrationen gegen den Neo-Faschismus zitierte: “Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie kann sich reimen.” Immer mehr Menschen wird entsprechend bewusst: Die NS-Geschichte ist nicht nur ein Ort des Trauerns, sondern eröffnet die Möglichkeit, die Gefahren des feindseligen Dualismus und Antisemitismus für die Gegenwart zu erkennen und für die Zukunft abzuwehren.

Deswegen hatte mich besonders eine Geste von Mitgliedern der Jüdischen Jugend Baden (jujuba) berührt: Anwesende erhielten jeweils den Namen einer vom NS ermordeten Person, um diesen zu bewahren.

Denn Erinnerung ist Hoffnung und Hoffnung ist Erinnerung.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

7 Kommentare

  1. „Schuldkult“ ist erst mal kein Vorwurf. Schuldgefühle haben einen Sinn und Zweck, völlige Enthemmtheit kann sich das eine oder andere Individuum leisten, doch die Gesellschaft als Ganzes muss Hemmungen kennen, und die entstehen durch Angst. Eine Religion der Schuld installiert Standard-Ängste in der Bevölkerung. Bei außerehelichen Sex ist das Machtmissbrauch, bei Genozidphobie – eher wünschenswert.

    Natürlich riskiert man bei allen Blockaden den Backlash, dass sie bei Dammbruch ins gegenteilige Extrem umschlagen. Weswegen es auch bei geistigen Dämmen wichtig ist, dahinter keine großen Energien zu stauen, sondern sie in andere Handlungen abzuleiten.

    So etwas kann durchaus nützlich sein – die sexuell gehemmten Amis schuften wie die Wilden, ein rammelndes Karnickel ist auch nur eine hart arbeitende Maschine. Die angestaute Energie entlädt sich aber auch in religiösem Wahn, Hexenjagden und der einen oder anderen Purge Night, sowie in einer sadistischen, hinterhältigen Boshaftigkeit der Gesetzgebung. Kulturelle Hirnhydraulik war bislang ein Produkt von Zufall und Improvisation, und dementsprechend sieht sie auch aus – funktional, aber wirr und voller recht lästiger Risiken und Nebenwirkungen.

    So habe ich auch kein Problem mit dem Schuldkult an sich, sondern daran, dass er manchmal in psychotischen Irrsinn ausartet, wie es bei Relideologien unter Stress oft der Fall ist. Dann muss man dem Ganzen den Stecker ziehen, mit einem Eimer kaltes Wasser, einer Mega-Standpauke, oder indem man jedem Beteiligten eins aufs Maul gibt. Whatever works.

    Die Juden haben Jesus am Kreuz abgelöst, doch sie sind nicht Gottes Sohn, kein idealisierter Kadaver, der seit 2000 Jahren nicht mehr dazwischen quatschen kann. Sie sind Menschen, wie alle anderen auch. Das Gegenteil von Göttern sind Teufel, wenn es Konflikte zwischen Dogma und Wirklichkeit gibt, wird Normalmenschliches schnell dämonisiert. In jedem Menschen steckt ein Teufel, wir alle sind Höllenfeuer, das eine Haut nach der anderen ausbrennt. Kann man mit leben, muss man kein Theater drum machen. Eigentlich ist das Feuer ethisch neutral, will erschaffen, verändern, frei sein. Es hat nur eine eingeschränkte Auswahl von Häuten zu Verfügung, ist irgendwie in eine Halloween-Party geraten, wo es nur Monster-Kostüme zum Leben erwecken kann. Passiert schon mal, wenn ein Engel stürzt.

    Was ich mir mit den Juden wünschen würde, wäre Augenhöhe. Würde allen nützen. Ja, die kulturellen Verwandten meiner Vorfahren haben den Holocaust verbrochen, und solange ich ihr Erbe nicht als Ganzes verwerfe, ihre Autobahnen benutze, ihre Sprache spreche, das Brot von ihren Feldern esse, ihren Staat weiterbetreibe, trage ich auch ein Fünkchen Erbschuld – nicht als etwas, wofür ich bestraft werden muss, sondern als Verantwortung dafür, dass es nicht wieder passiert. Vielleicht sollte ich es eher als Makel an meiner Stammesehre betrachten, einen Vogelschiss auf der Windschutzscheibe, den ich nur in der Zukunft wegwischen kann, wieder und wieder und wieder. Per Zwangsneurose, bei der ich mich freiwillig dazu entscheide, sie weiter am Leben zu halten, aber nicht in Selbstkasteiung oder sonstigen für psychische Macken typischen Irrsinn eskalieren zu lassen. Ich münze die Schuld in eine Pflicht um, und dass ich sie erfülle, gibt mir Ehre und Würde zurück, sodass ich keine Schuld trage.

    Ich habe einen Schatz geerbt, an dem Blut klebt, ich kann das Erbe entweder ausschlagen – oder einen Teil davon für Wohltaten ausgeben, damit ich den Rest investieren und mehren kann, sodass ich auch meine Wohltaten mehren kann. Doch Blut, das vergossen ist, lässt sich nicht mehr abwaschen. Es verblasst über Generationen, meine Kinder sind nicht die Erben meiner Eltern, sondern meine. Die Schuld bleibt, die Schuldigen und ihre Erben sind fort, die Grenze ist irgendwo dort, wo die eigene Geschichte zu Märchen wird.

    Aber die Juden waren die Opfer. Ich kenne ihr Leid nur durch Empathie, ich habe genug gelesen, genug von dem Gelesenen verstanden, um jeden Nazi ans Kreuz schlagen zu wollen. Ich kann mich auch irgendwie einfühlen, meine Großeltern haben den Bandera-Völkermord in der Ukraine mitgemacht, noch bei mir hallt der Dachschaden nach, und zwar gewaltig. Und deswegen verstehe ich, wie verlockend es sein kann, den Spieß umzudrehen – von Opfern zu Tätern zu werden. So pflanzen sich die Vampir-Dämonen von Volk zu Volk fort – durch Vergewaltigung. In ganz Osteuropa gibt es Kulturen, die nur dazu da sind, die Völker, die sie anbeten, in ewigen Blutfehden gefangen zu halten, damit die Kultur, der Dämon, immer wieder durch neues Blut und neues Leid genährt und gestärkt wird. Irgendwo in den Verliesen des Kreml verdurstete Iwan der Schreckliche, deswegen ließ er seine Renfields Putin auf den Thron heben.

    Und der Geist, der auch Hitler besessen hatte, hat es anscheinend geschafft, auch Israel zu erwischen: Die Blutfehde, die Erbfeindschaft, opfert auf seinem Altar, was das Zeug hält. Noch gibt es Hemmungen, noch gibt es viele Juden, die die Verantwortung wahr nehmen, nicht zu Erben und Kindern ihrer Mörder zu mutieren. Aber ein Opferritual, bei dem fanatische Gläubige zwei Vampirgötter tränken und mästen, ist verflucht schwer aufzuhalten.

    Sind natürlich alles Metaphern. Oder auch nicht. Ist eigentlich scheißegal, es funktioniert in beiden Fällen gleich.

    Wir sollten uns alle erinnern. Opfer und Täter, diejenigen, die ihre wiedergefundene Ehre wahren wollen, und diejenigen, die nachts aufwachen, weil jemand den sie lieben, im Traum schreit. Es führen verschiedene Ausbildungswege zu einer Karriere als Van Helsing. Hauptsache, wir nehmen es mit unseren Dämonen auf.

    • Puuh, ich habe lange mit mir gerungen, ob ich diesen essayistischen Kommentar von @Paul S. zum 27.01. wirklich freischalten sollte. Für einige Stunden hatte ich ihn bereits im digitalen Ablagefach, dem sog. Papierkorb, abgelegt.

      Zu krass und missverständlich erschienen mir Ausdrücke wie „Vampir-Dämonen“ oder „Nazis ans Kreuz schlagen“. Andererseits fordere ich ja selbst immer wieder eine von Tabus freiere Debatte und erkenne den überwiegend konstruktiven Willen des Langfassung-Kommentators an.

      Vielleicht, weil inzwischen der 28.10. angebrochen ist, habe ich Paulchens Kommentar also nun doch aus der Ablage gefischt und „wie neu“ (also ohne Eingriffe meinerseits) freigeschaltet.

      Was meinen Sie?

  2. Paul S.: “Noch gibt es Hemmungen, noch gibt es viele Juden, die die Verantwortung wahr nehmen, nicht zu Erben und Kindern ihrer Mörder zu mutieren.”

    DAS IST DER SCHLÜSSELSATZ, auch wenn er nicht ganz stimmt, Möchtegern-Herr Blume
    👋😇

  3. @Paul S. 27.01. 21:39

    Die Tage hatte ich eine Fernsehsendung gesehen, da wies man darauf hin, dass Orthodoxe Juden zunächst wenig vom Zionismus hielten. Das Schicksal der Juden sei nun mal, verstreut über die Völker als Minderheit zu leben.

    Nach den grandiosen Erfolgen der Israelischen Armee gegen angreifende Muslime änderte sich dies allerdings. Man dachte dann an eine mögliche Endzeit, und hat entsprechend den Zionismus und einen ausgeweiteten Siedlungsbau in den Palästinensergebieten gefördert.

    Zugleich warnte der Fernsehbeitrag vor Übermut.

    Der Angriff vom 07. Oktober mit seinen 1.500 Opfern ist inzwischen sicherlich reichlich mit dem Faktor 20 vergolten worden, mit 25.000 toten Palästinensern. Man will hier allerdings auch Sicherheit erreichen, und die Hamas ganz vernichten.

    Dass danach dann Friede herrscht, glaubt jetzt aber eigentlich auch kein vernünftiger Mensch. Der Vernichtungswille gegen Israel in der kompletten islamischen Nachbarschaft scheint eine Konstante zu sein. Man kann hier nur hoffen, dass die Nachbarn weiterhin zerstritten bleiben.

    Sicherlich steht die USA und Teile Europas bereit, um Israel zu helfen. Die Situation bleibt aber prekär, auch für Europa. Eine Unterbrechung der Öl- und Gaslieferungen können wir uns noch lange nicht leisten, und Konfrontationen mit Russland und China machen es uns auch nicht leichter.

  4. Apropos Judith Butler. Es gibt Neues zu ihrem “Lieblings”thema “Wie kontextualisiere ich mir die Realität zurecht”.

    Judith Butler sagte dem Videoausschnitt zufolge, man könne unterschiedlicher Ansicht über die Hamas und über bewaffneten Widerstand sein. Aber es sei ehrlicher und historisch korrekter zu sagen: »Der Aufstand vom 7. Oktober war ein Akt des bewaffneten Widerstands. Es ist kein terroristischer Angriff, und es ist keine antisemitische Attacke.«

    Sie habe diesen Angriff auf Israelis »nicht gemocht«, habe dies öffentlich geäußert und sich damit Schwierigkeiten eingehandelt, so Butler: »Es war quälend für mich, es war schrecklich.« Doch es habe nicht nur Gewalt gegen Israel gegeben, seit Jahrzehnten geschehe den Palästinensern Gewalt. Insofern habe es sich am 7. Oktober um einen Aufstand aus einer Position der Unterdrückung heraus gegen einen gewalttätigen Staatsapparat gehandelt.

    Wenn man die Attacke als »bewaffneten Widerstand« bezeichne, könne man »wenigstens eine Debatte führen«, so Butler weiter unter dem Applaus des Publikums, »ob es die richtige Strategie ist«. Die Philosophin sieht allerdings das Problem, dass wer von »bewaffnetem Widerstand« spreche, sofort als jemand angesehen werde, der den »bewaffneten Widerstand« unterstütze und auch »diese Taktik des bewaffneten Widerstands« befürworte. Darüber müsse man diskutieren.

    https://www.spiegel.de/kultur/hamas-attacke-auf-israel-philosophin-judith-butler-sieht-7-oktober-als-akt-des-bewaffneten-widerstands-a-83e8d59a-5f89-42f6-b322-1cad36df62c9

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