Die Marmorklippen als Kunstmythos – Hans Blumenbergs Arbeit an Ernst Jünger

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So sehr ich die lebenslange Begeisterung von Hans Blumenberg (1920 – 1996) für die Entwicklung von Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) nachvollziehen kann – ich zögere noch, auch seinen ausführlichen Arbeiten zu Ernst Jünger (1895 – 1998) zu folgen. Denn einerseits scheint es sich mir hier um ein fast intimes, mindestens hoch-psychologisches Gespräch zweier Zeitgenossen über das NS-Regime zu gehen. Andererseits aber kann ich nicht verleugnen, dass gerade auch Jüngers bekanntester Roman “Auf den Marmorklippen” in Blumenbergs “Arbeit am Mythos” eine zentrale Rolle einnimmt.

Zitate aus Blumenbergs “Arbeit am Mythos” schrieb ich nicht zufällig handschriftlich in ein Star Wars-Ringheft ab. Foto: Michael Blume

So vermerkte Blumenberg in seiner eigenwilligen Haltung aus Anerkennung und Kritik zu Jünger:

“Zugleich zeigt der Kunstmythos der >Marmorklippen<, daß alles, was der Mensch durch die Erfahrung seiner Geschichte und schließlich durch Erkenntnis an Herrschaft über die Wirklichkeit gewonnen hat, ihm die Gefährdung, ja die Sehnsucht nicht nehmen konnte, auf die Stufe seiner Ohnmacht, gleichsam in die archaische Resignation, zurückzusinken.” (Arbeit am Mythos, S. 15)

Diese Jünger-These Blumenbergs stimmt meines Erachtens sowohl auf der Handlungs- wie auf der Autorenebene. Auf den märchenhaft ästhetisierten “Marmorklippen” nach dem klar erkennbaren Vorbild der Bodensee-Region um Überlingen entwarf Jünger 1939 (!) eine mythologische Warnung vor dem NS-Regime in der Gestalt des nach Goering oder gar Hitler gestalteten “Oberförsters”, der mit seinen Schergen mordlüstern in die heile Welt der Marina eindringt. Später bestätigte sich auch, dass auch der edle (allerdings scheiternde) Fürst Sunmyra ein reales Vorbild hatte – den 1944 wegen Beteiligung am Attentatsversuch auf Hitler hingerichteten Adam von Trott zu Solz (1909 – 1944).

Doch in dieser Anerkennung für die Leistung durch Blumenberg verbirgt sich eben auch eine Kritik: Denn Jünger beschrieb und berichtete, ohne aber selbst einzugreifen. Zwar verweigerten die Nazis ab 1942 für die “Marmorklippen” das Papier, vor einem Verbot oder gar einer Verhaftung schützte Jünger jedoch die Popularität als Veteran des Ersten Weltkrieges. Ist ein Be-Schreiben von Widerstand schon genug des Widerstandes?

Dies berührt nicht weniger als das Zentrum von Blumenbergs Philosophie und vor allem Metaphorologie, die uns auffordert, aus der “Enge der Zeit” – des Lebenszeitflusses – immer wieder ans Ufer der Beobachtung zu treten. Zumindest in “Arbeit am Mythos” würdigt Blumenberg diese “Leistung der Distanz” Jüngers in den höchsten Begriffen:

“Damit jedoch dieses Zurücksinken nicht nur möglich, sondern zum Inbegriff neuer Wünsche wurde, muß etwas vergessen worden sein. Dieses Vergessen ist die Leistung der Distanz durch >Arbeit am Mythos< selbst. Sie ist Bedingung für alles, was diesseits des Schreckens, des Absolutismus der Wirklichkeit, möglich wurde.” (S. 15)

Auch wenn ich sowohl die beobachterische wie literarische Leistung Jüngers gerade auch “Auf den Marmorklippen” anerkenne, tendiere ich dazu Blumenberg hier nicht zu folgen. Es war doch möglich, über eintausend vom IS-Genozid betroffenen Ezidinnen und ihren Kindern zu helfen und währenddessen sowie danach Beobachtungen aufzuschreiben. Warum also sollten Taten und Beobachtungen gegeneinandergestellt werden?

Freilich muss ich eingestehen, dass Blumenbergs Ansage tiefer geht, da er gerade nicht die Leistungen des Beobachtens und Aufschreibens, sondern des “Dieses Vergessen” als “Leistung der Distanz” anerkennt: Erst die Verdrängung wie auch Verarbeitung der Traumata des Ersten Weltkrieges ermöglichten Jüngers warnenden Blick auf den NS wie auch seine Literatur. Und hier ergibt sich tatsächlich ein Querverweis zu “dem” fantastischen Mythologen des frühen 20. Jahrhunderts: J.R.R. Tolkien (1892 – 1973) setzte nicht nur mit dem Hobbit “Sam” den britischen Soldaten des Ersten Weltkriegs wie auch der Arbeit an den eigenen Erfahrungen ein ewiges, literarisches Denkmal.

Für den Moment also mag es mir reichen, das Tor ins Höhlensystem der Blumenberg-Jünger-Arbeit geöffnet zu haben. Vielleicht aber wird mich das Wispern aus der Tiefe dieser Fragen eines Tages doch zum Einstieg darein verlocken. Die Blumenberg-Textsammlung “Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger” liegt für 2024 schon mal auf meinem Lesestapel…

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

14 Kommentare

  1. Dr. Webbaer ist, zum Glück sozusagen, so aus der Eigensicht angemerkt, hinreichend Frevler und Ablehnender sozusagen höherer literarischer Schrift, auch von sog. Weltliteratur.
    Nagt insofern an Hans Blumenberg wie an Ernst Jünger.
    Wenn doch Prosa möglich ist.
    Nicht ästhetetisiert werden muss.

    Doch in dieser Anerkennung für die Leistung durch Blumenberg verbirgt sich eben auch eine Kritik: Denn Jünger beschrieb und berichtete, ohne aber selbst einzugreifen. [Artikeltext]

    Ernst Jünger hat ‘eingegriffen’, literarisch.

    Der Schreiber dieser Zeilen, der so nicht mag, zitiert :

    In späteren Studien (Arbeit am Mythos, 1979; Höhlenausgänge) profiliert Blumenberg zunehmend den anthropologischen Hintergrund seines Denkens. Dabei ist die an Arnold Gehlen angelehnte Annahme leitend, dass der Mensch als endliches und hinfälliges Mängelwesen bestimmter Hilfsmittel bedarf, um sich angesichts des „Absolutismus der Wirklichkeit“ behaupten zu können. Unter diesem Aspekt interpretiert Blumenberg nun Metaphern und Mythen – auf Grund ihrer die Wirklichkeit distanzierenden, in ihr orientierenden und den Menschen so entlastenden Leistungen – als ein funktionales Äquivalent zu Institutionen im Sinne Gehlens. [Quelle und Interpretation]

    Ernst Jünger hat sozusagen mit grimmiger Freude (Peter Scholl-Latour verwendete sprachlich so) geschildert, der Andere soll an dieser Stelle nicht näher eingeordnet werden.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer (der es gut fand, dass Ernst Jünger hier angemessen sozusagen nachträglich gegrüßt worden ist, was ja schon eine “ganzen Menge” Verständigkeit bedarf)

    • Ja, @Webbaer – klar habe ich auch schon Jünger gelesen und mir dazu Gedanken gemacht. Mir ist aber noch nicht klar, warum dieser Autor auch in Frankreich 🇫🇷🇪🇺 so große Resonanz fand. Und wenn ich etwas nicht verstehe, dann weckt das meine wissenschaftliche Erkennenslust.

      Blumenberg hat ja selbst die Philosophie als Zeit-Gewinn gegenüber der „Enge der Zeit“ positioniert. Mir scheint, im Gegenüber zu Jünger lotete er aber auch aus, ab wann das reine Beobachten und Beschreiben zur Mittäterschaft wird. Ich bin schon sehr gespannt, was es da in den kommenden Monaten zu entdecken gibt…

      • Der Schreiber dieser Zeilen lernt von Ihnen.
        Sicherlich war Ernst Jünger, der vor einigen Jahren, als er zählebig die Hundert überschritten hatte, von Helmut Kohl und anderen gewürdigt worden ist, eine Kippe in der einen Hand (Jünger soll mit +90 wieder angefangen sein zu rauchen) und mit einem (kleinen) Pils in der anderen, nicht : gänzlich unproblematisch.
        Sie wissen so, Sie sind sind vely klug.

        Nochmals beste Wünsche, guten Rutsch und so
        Dr. Webbaer (der sich nun ausklinken wird, i.p.”Blumenberg” sicherlich noch aufzutanken hat)

  2. >Warum also sollten Taten und Beobachtungen gegeneinandergestellt werden?

    Ein Verhaftet-Bleiben in der alten Dichotomie vita activa – vita contemplativa?

    Oder eine Verallgemeinerung der Beobachtung, dass der Moment der Aktion die Reflektion verdrängt? Goethe: “Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.” Das gälte mE. aber nur für den Moment, nicht für längere Perioden bzw Werke, wie Sie sie bei Jünger ansprechen.

    Und auch für den Moment löst sich diese Ausschließlichkeit auf mit der durch Meditation erübbaren Haltung des “Tranzendenten Zeugen”,(*) der das eigene Tun *im selben Moment*, aber unbewegt, weil nicht wertend, wahrnimmt. Kann ich mir bei Jünger aber nicht so recht vorstellen.

    Also vielleicht eine strategische Entscheidung? “Mit Warnen erreiche ich mehr (um den Preis des Nichthandelns) als mit Handeln (wofür man mich zügigst kaltstellen würde).”

    (*) transcendental witness — suchen Sie ggf. englische Seiten, auf Deutsch habe ich auf die Schnelle nichts brauchbares finden können.

    • Danke, @Noch‘n Wort

      Blumenberg setzte sich ja mit keinem Autor so intensiv auseinander wie mit Goethe. Bin schon sehr gespannt, ob und wie sich das auf seine Wahrnehmung von Jünger auswirkte. Werde dazu dann sicher auch schreiben, wird jedoch sicher etwas dauern. Tiefe statt Hetze, auch hier.

  3. Goethe wusste noch nichts von der Rolle des limbischen Systems für das Handeln. Das “Gewissen” begleitet die Tat – gerade weil wir im Fluss des Geschehens nicht gleichzeitig beobachtend am Ufer stehen können.

    Gewissen ist kein Wissen, sondern, etwas blumig 😉 formuliert, ein emotional verdichteter Ruf der Zivilisation bzw. der Menschlichkeit. Nicht alle hören ihn, nicht alle hören auf ihn.

  4. Die „Marmorklippen“: „Die Maske des Roten Todes“, geschrieben von Prinz Prospero. Hier ist der Tod braun, vielleicht hatte der Prinz so’ne coole Designer-Sonnenbrille an, oder der Tod hatte endlich gelernt, Sunblocker aufzutragen, bevor er zum Strand geht.

    Wort und Tat – nun, die Feder ist nur dann mächtiger als das Schwert, wenn sie viele Schwerter koordiniert. Sprache hat eine gewaltige Wirkung in unseren Köpfen, doch in der physischen Welt sind wir weiterhin nur Materieklümpchen, die andere Klümpchen anschubsen. Wenn Sie da reden, zittert nur etwas Luft, außer Sie reden zu Menschen so, dass es per Kaskaden-Effekte in ihren Köpfen und Körpern zur Bewegung ihrer Hände führt. Schall löst nur Lawinen aus, wenn der Berg die ganze Vorarbeit schon gemacht hat.

    Sprache und Kommunikation vernetzen diese Klümpchen, schaffen eine Art Magnetfeld, das ihnen koordinierte Handlungen ermöglicht – aus Staub werden Flüssigkeiten, Wellen, Festkörper, ein lebender Organismus.

    Wort und Tat existieren nicht getrennt voneinander, die Kraftfelder der Sprache sind mit denen der Physik verwandt. Ich weiß nicht, was Ihre Moleküle und Quarks so miteinander zu bequatschen haben, aber sobald sie die Klappe halten, zerfallen Sie zu Staub.

    Wenn ich in Europa von einem Kampf der etablierten Leichenstarre gegen die populistische Leichensäure spreche, ist das weniger Metapher als es scheint. Es fehlt das Wort, um Lazarus von den Toten zu erwecken. Nur Zombies im Innern und Maden von draußen, die es ihn ihr Maul locken. Ich weiß nicht, ob es nicht bloß ein Koma ist, aber die Elektroschocks des Defibrillators lassen das Ding nur zucken und noch mehr zerfallen – all die Krisen, Finanzen, Corona, Wirtschaft, Migration, der Dritte Weltkrieg, der längst ausgebrochen ist, auch wenn noch bloß Bauern geopfert werden.

    Es gab keine heile Welt in Weimar, nur ein Häuflein Untoter, die über ihre Verhältnisse lebten, während der Rest bereits zu Zombies mutierte. Wenn die Leute einen Messias brauchen, tut’s auch der Antichrist.

    Zombies schreiben nicht viel, Geschichte deuten die Schlossgespenster in ihrem Oberschichtsparadies, die ihre Paläste vermissen, den feudalen Saus und Braus, der von den Bauern bezahlt wurde. Bauern sind dumm, sie folgen jedem Licht, das man ihnen vor die Nase hält. Und von der Oberschicht kam nur die Finsternis eines Grabes mit einem Kranz Haifischzähne drum herum.

    Man muss nicht arm und schwach sein, um zum Zombie zu werden, nur zu arm und zu schwach. Es reicht, dieses Maul vor sich zu sehen, zu wissen, dass man nicht entkommen kann. Dann verfällt man in Angststarre, driftet in geistige Paradiese ab wie die Gespenster, oder man verfällt in Panik, schlägt um sich und schreit.

    Es sei denn, ein Wort knipst das Kraftfeld an. Dann können wir koordiniert arbeiten und uns wehren. Die großen Stärken des Faschismus. Die Nazis gaben den Menschen, was sie gerade brauchten. Die Demokraten – feierten im Urlaub und quatschten über Life-Work-Balance und darüber, was denn so alles nicht ihr Problem ist und die Schuld anderer Leute.

    All die Toten im Leichenschauhaus, die in einem Aktenschrank aus Kühlschränken abgelegt werden. Warten sie auf das Wort, das sie erweckt? Könnten sie alle einfach so aufstehen und weiterleben, wenn einer den Zellen sagt, was sie zu tun hätten? Aber weil keiner kommt, entscheiden sie sich doch für die Verwesung? Wann wissen die Toten, dass sie tot sind, wenn das Leben im Körper noch lange weitergeht?

      • Wikipedia: “Nicht nur Jünger selbst maß seinem Werk im Nachhinein eine darüber hinausgehende geschichtsphilosophische Erklärungsmacht bei, die den Totalitarismus im Sinne Hannah Arendts mit erfassen würde.”

        Ich habe weder das Buch noch irgendwas von Jünger gelesen, aber diese Beschreibung ist echt erfrischend und ausreichend, im Sinne meiner Ahnung was Jünger da wohl erfasst hat.😇👍

        Auch sehe ich die blumschen Versuche seine Marmorklippen damit zu verschönern.👋🤣

        • Ich finde ja Männer immer wieder besonders glaubwürdig, die auch zu Büchern und Autorinnen eine Meinung haben, die sie gar nicht gelesen haben, @hto. Nicht. 🤭📚🤷‍♂️

          Ihnen einen guten Rosch ins neue Jahr! ☺️🖖

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