Identitätspolitik als Freund-Feind-Dualismus analysiert nach Richard Schuberth

Auch Identitäten gehören zu den medialen Entitäten, die erst durch Medien-Symbole, Worte, Texte erzeugt werden. In meinem Worthaus-Vortrag zu Monismus, Relativismus und Dualismus präsentierte ich die Beobachtung und Erfahrung, dass gerade auch die Digitalisierung zu bizarren Formen von Identitätspolitik führe – beispielsweise zu Veganer:innen, die Vegetarier:innen nicht etwa als Verbündete für eine Ernährungswende, sondern als nur halb Erwachte und daher Feinde betrachten.

Meist unbemerkt changiert Identitätspolitik zwischen wissenschaftlicher und mythologischer Sprache. Foto von der Worthaus-Skript-Erstellung, Michael Blume

Ausgerechnet im Linksmagazin “konkret” von 08/2022 fand ich nun – neben schmerzhaftem Querfront-Geraune gegen die Energiewende von Frank Graf – auch eine direkte und völlig unabhängige Bestätigungen für die These. Der sich selbst als Sozialist präsentierende Richard Schuberth gab dem Magazin ein dreiseitiges Interview (S. 31 – 33) zu seinem Buch “Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung. Das identitätspolitische Lesebuch“, Drava 2022. 

So führte Schuberth u.a. genau passend zum Freund-Feind-Dualismus aus:

“Ich sehe kaum linke Abschiede in die Identitätspolitik, eher linke Initiationen in diese. Sie spricht vor allem linke Novizen an, deren Ungerechtigkeitsempfinden und das Bedürfnis nach identitäter Verordnung. Also sehr junge Menschen, bei denen moralische Empörung das wichtigste Movens ist und die eine verrückt komplexe Gesellschaft kognitiv mit eindeutigen Täter-Opfer-Dichotomien zu ordnen versuchen.”

Ebenso kann ich seiner Beobachtung nur zustimmen, dass gerade auch die lautesten Stimmen oft ihre eigenen Privilegien unter den Tisch fallen lassen, um sich als “die Stimme” dieser oder jener konstruierten Gruppe zu präsentieren:

“Essentialismus macht es möglich, dass sie sich als einzig legitime Repräsentanten minoritärer Gruppen inszenieren. Wie bei der Volksgemeinschaft gibt es keine Klassenunterschiede innerhalb ihrer Gruppen. Außer durch modische Lippenbekenntnisse scheren sie sich nicht um soziales Gefälle, und die unteren Einkommen der Gruppen, die sie zu repräsentieren glauben, scheren sich nicht um die diskursiven Shows dieser Volkstribunen.”

Etwas unfreiwillig legt Schuberth sogar die organisatorische und demografische Schwäche der meisten links-progressiven Bewegungen dar, indem er als Ziel des Sozialismus den schon wieder libertär klingenden Individualismus identifiziert:

“Es geht im Sozialismus darum, Individualität vom Zwang zur Gemeinschaft zu befreien, beziehungsweise deren Organisation zur freien Wahl werden zu lassen. Altruismus und Egoismus würden vom Zweck des Überlebenskampfes entbunden. Niemand braucht mehr seine Familie, Nachbarn, Sprachgruppe oder seinen Tauschkreis lieb zu haben.”

Wenn ich persönlich die soziologisch-ökonomischen Sprachspiele der extremeren Linken oft unerträglich verschachtelt und oft doch nur dualistisch finde, so habe ich dieses kritisch-reflektierte Interview doch sehr genossen. Ich hoffe, es fand nachdenkliche Leser:innen.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

6 Kommentare

  1. Na Herr Blume wie ist es denn so, die Antisemitismuskeule zur Abwechslung mal nicht zu schwingen sondern selbst abzubekommen?
    Mich erfüllt das mit großer Genugtuung. Es gibt anscheinend doch noch ausgleichende Gerechtigkeit.

    • Ach, seit 2003 werden meine Familie & ich digital getrollt, seit meiner Benennung zum Antisemitismusbeauftragten 2018 nahm das massiv weiter zu. Und der deutsche Rechtsstaat schwächelt gegenüber Rechtsextremismus – laut Staatsanwalt Sachsen dürfen Sie mich sogar einen „falschen Juden“ nennen, der sein „Daseinsrecht verwirkt“ habe…

      https://youtu.be/zfnU2tAu-3s

      Und jetzt eben ein Beschluss des LG Hamburg, der weithin Befremden auslöst:

      https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.landgericht-hamburg-anti-blume-tweet-muss-wieder-online.443ea044-c473-427e-a39f-cc8fb12fd158.html

      Es gehört also zu meinen Aufgaben, auch schon traditionelle Schwächen in Teilen der föderalen, deutschen Justiz aufzudecken – auch wenn das schmerzt. Dass Sie sich über Rechtsaußen-Erfolge freuen ist ja nun wirklich nichts Neues. Aber ich schalte es hier gerne nochmal frei, damit Menschen sehen, wen eine schwache Justiz erregt und anstachelt. Sollte meiner Familie oder mir schließlich Troll-Gewalt geschehen, wünsche ich mir von den Demokrat:innen kein Mitleid, sondern eine Justizreform.

    • Dr. Webbaer sieht hier keine ‘Genugtuung’, sondern das Gegenteil davon, Ekel also eher, dennoch mag er böse Einschätzung, toleriert sie zumindest, ohne dass sie zutreffend ist, ohne dass so substantiiert worden ist.

      Wer böse und unbelegte Einschätzungen beibringt, in liberaler Demokratie in der Regel erlaubt, wird selbst angreifbar.
      Genau dies ist im kompetitiven Sinne so auch vorgesehen und wünschenswert, wie Dr. Webbaer findet.

  2. Gott hat mich zum Atheisten gemacht, wer bin ich, ihm zu widersprechen?

    Alphatier ist immer: Religion ist uns angeboren, wer Gottes Job macht, ist Gott und wird dementsprechend angebetet. Ob’s nun Papi ist, eine Kirche oder der Staat. Natürlich gibt’s da Macht- und Verteilungskämpfe, die Theokratie Nationalstaat mit dem Staatsgott Nation hat den Christengott herausgefordert, sich dann aber oft und gern mit ihm verbündet. Ich klatsche meist Religion und Ideologie zur Relideologie zusammen, denn es sind zwar stets verschiedene Symbole, doch stets die gleiche Game Engine. Ob da jetzt Jesus, Atheismus oder Super Mario durch die Landschaft Jump-and-runt, es ist stets das gleiche Spiel mit unterschiedlicher Dekoration. Und alle Religionen haben ihre Fanatiker und Missionare, aber auch ihre Friedensstifter und Menschen, die im Tausch für ihr Leben gern Andere leben lassen. Menschliche Natur lässt sich nicht ändern, Glauben bleibt Glauben, ganz egal, wie wir uns drehen und wenden. Menschliche Natur lässt sich nur austricksen, natürliches Verhalten in gesellschaftliche Bahnen leiten, bei denen was Neues herauskommt. Wenn Krieg in der menschlichen Natur liegt, mache ich Fußball draus und habe den Spaß ohne Leid und Tod. Ähnlich würde ich’s mit Religionen machen: Use it, don’t abuse it. Ich meine, ich passe ja auch in das Profil eines alten Querulanten alias Zeitvampirs, doch versuche, die Triebe so umzusetzen, dass auch Sie was davon haben. Es ganz sein zu lassen, wäre wie Religion, Sex oder Geschichtsverherrlichung zu unterdrücken: Macht alles nur noch schlimmer.

    Sozialismus und Individualismus ist wie Kapitalismus und Individualismus, oder katholische Kirche und Demokratie: Ich zerstreue den Feind, nehme ihm die Fähigkeit, kollektiv zu handeln. Ich befreie die Schäfchen aus dem Gehege des Gegners, bevor ich sie in meines treibe, ich verteufele deren Alphatier, verführe sie mit der Möglichkeit, dass jeder sein eigener Gott wird, der Herr seines eigenen Geheges. Wenn sie dann frei sind und ziellos umherirren, sind sie leichte Beute, man kann sie ins eigene Gehege treiben. Götter schaffen Gemeinschaften, wie auch immer sie aussehen mögen. Der Papst will Kathofaschismus, die Kreuzung aus Nationalstaat und Königtum von Gottes Gnaden, wo der Staat so sehr durch Narzissmus und Nabelschau geblendet ist, dass er nach Außen hilflos ist wie ein Baby und das internationale Kirchennetzwerk zum Überleben braucht, der Sozialismus ist was für einen kontrollsüchtigen Sektenführer, der Beliebigkeit ins Extreme predigt, um selbst die Biologie mit seinen eigenen Programmen zu überschreiben, damit alle keinen Gott kennen und lieben neben ihm, der Kapitalismus will hirnloses Vieh, das sich mit Maul und Händen abrackert, damit er es melken und scheren kann. Alles Varianten von Viehzucht.

    Der Trick ist an sich werteneutral: Auch einen Nazi versuchen Sie, zum Zweifeln zu bringen, aus der Herde rauszulösen, zeigen ihm die Schwächen und die Korruption seiner Führer. Der häufigste Argumentationsfehler ist stets: Weil dein Alpha böse ist, ist meiner gut. Nervt gerade heute, wo kaputte Etablierte gegen genauso kaputte Populisten antreten, obwohl keiner Lösungen zu bieten hat, und sich beide gegenseitig stützen und aufbauen, weil nur ein Feindbild ihre Macht rechtfertigen kann. Hassen, Angst haben und Kämpfen ist einfach, effizient, spart Kosten, Organisationsaufwand, Rechenpower. Der Kapitalismus ist nun mal eine faule Sau, da kann selbst der Sozialismus neidisch werden.

    Sprache ist dann ein Mittel, die Herde zu schützen. Ob Deutsch oder soziologisch-ökonomischen Sprachspiele der extremeren Linken, irgendwann hat man mit seinem Zielpublikum einen Slang ausgebildet, der nicht mehr zur Kommunikation mit der Allgemeinheit, sondern zur Ausgrenzung dient: Eine Barriere, die jeder überwinden muss, der an die Gruppe heran will. So ist die Gruppe anfangs überlegen und kann mit dem Eindringling fertig werden, ob er nun als Freund oder Feind kommt. Babylonische Sprachverwirrung hilft aber auch, Ausbrüche zu verhindern, denn eine Festung ist auch ein Gefängnis.

    Essentialisten scheinen oft die typischen Stammzellen von Zombie Kings und Messias-Massas zu sein, also Erlöserfiguren, die die Massen durch Macht und Reichtum blenden und an sich binden, gerade weil diese diesen Massen fehlen: Onkel Donald schart die wirtschaftlich Frustrierten um sich, Putin versucht’s mit der Dritten Welt, während er eigene dunkelhäutige Minderheiten bevorzugt verheizt (da steckt eine Logik drin), der Zuhälter ist halt keine Hure, der Papa ist kein Kind. Wer weder Geld noch Armeen hat, versucht es halt mit Gequatsche, viele Leute, die aufs Wort parieren, sind auch so Kapital. Andererseits kann man sich diese Leute auch nur einbilden und nur Status unter Seinesgleichen anstreben, dürfte so der alternative Lebensweg für gescheiterte Führer sein. Was heute in der Welt vorgeht, finden Sie auch in jeder anderen Leiche: Einerseits führt der Tod eines Gottes dazu, dass andere um seinen Thron kämpfen, statt eines Zentrums entwickeln sich mehrere, die sich isolieren und gegenseitig aufzufressen versuchen, die typische Zombifizierung. Andererseits zerfließen alte Sub-Zentren, Grenzen fallen, es gibt mehr Synkretismus, wie den zwischen Wissenschaft und Religion, auf den wir beide so abfahren. Die Archen, von denen Sie oft sprechen, haben sehr viel mit Dualismus und Radikalisierung zu tun: Die Zivilisation wird für den Übergang verpackt, die Kultur wird in Museen und Bibliotheken versteckt, Bundesladen voller heiliger Schriften, die von Horden von Analphabeten, hirnlosen Aggro-Zombies in die nächste Welt getragen werden. Die menschliche Natur erzwingt es, denn früher war das Horden-Gemetzel der einzige Weg, zu überleben. Doch heute könnten wir bessere haben. Wir sterben wieder und wieder, bis wir weise und mächtig genug sind, den Untergang für eine Erneuerung zu nutzen. Hat jede Bazille drauf, die Menschheit übt noch.

    Schätze mal, der Trick ist, die Übergangsphase zu stabilisieren: Atheismus löst Religion auf, Religion löst Atheismus auf, es entstehen Dialoge, Konflikte, Streit und Verständigung. Das Konzept der Meinungsfreiheit ist ein guter Ansatz: Wenn jeder nach eigener Fasson irren und Werbung für seinen Irrweg machen kann, gibt’s viele Gehege für alle möglichen Schafe, jeder kann sich die geistige Heimat suchen, die zu ihm passt, Zombies inklusive. Aber wir sollten begreifen, dass es nichts Neues gibt unter der Sonne – dass es Menschen immer wieder mit Toleranz probiert hatten, und immer wieder Intoleranz als Lösung für die daraus resultierenden Probleme gefunden hatten, genau wie umgekehrt. Das Alphamännchen muss seinen Job machen, Zeus muss die Welt am Laufen halten, nur das verhindert die Götterdämmerung auf dem Olymp: Solange es nicht um Brot geht, sondern nur um Macht, Geld, Glauben, bleibt alles nur ein Spiel, das er mit möglichst weit gefassten Regeln beherrschen kann. Eine Gesellschaft muss ein Bisschen wie der echte Gott sein, alias die physikalische Realität: Macht möglichst wenig Vorschriften und stellt Mittel zur Verfügung, damit wir uns eigene Welten bauen können.

    Symbole werden gemeinhin mächtiger, wenn sie an Substanz verlieren, denn dann kann sie jeder mit seinen eigenen Wahnvorstellungen und Wünschen füllen. Genauso ist es mit Gott, beziehungsweise mit dem entkernten Gott der Sozialisten, Atheisten und Buddhisten, die den Sonnenschein ohne Sonne predigen: Wir haben im Prinzip nur das Gefühl, ein Bedürfnis nach Liebe, Wärme, Sicherheit, Freiheit, Frieden. Der Rest ist eine Frage der Ingenieurskunst: Wir bauen ihm Avatare, Messiase, lassen ihn Fleisch werden. Wir basteln also organisierte Strukturen um Kraftzentren, wie es die Materie schon immer gemacht hat, und ob man sich das mit Physik und Biologie erklärt oder mit Religion, hängt vor allem davor ab, ob man die Welt lieber emotionslos betrachtet, oder auf das leichte High steht, das uns unser Hirn-Dealer verpasst, wenn wir von Gott reden. Wir machen eine Ausbildung zu Demiurgen, am Ende werden von uns wohl nur die geistigen Kinder übrig bleiben – in Körpern, die keine menschliche DNA mehr enthalten und Hirnen, die von der menschlichen Natur befreit wurden, weil sie die ihre selbst konfigurieren können. Falls wir uns vorher nicht umbringen. Gott dürfte es egal sein, der hat viele Eisen im Feuer.

  3. Vely schlau (und klug) angemerkt, wieder, lieber Herr Dr. Michael Blume, die Identitätspolitik ist womöglich das Spiegelbild der politisch Linken auf politisch rechten Identitarismus.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer (der die letzten Gerichtsentscheide nicht ganz mitbekommen hat, es ist aus liberaler Sicht schon gut, wenn Personen adjektiviert oder substantiiert werden dürfen, wahlfrei und ohne besondere Grundlage, was dann nichts über die so bezeichneten Personen aussagen muss oft auch nicht tut – sich jedenfalls freut, dass Sie “locker”, halbwegs “locker” da sind und sich nicht einschüchtern lassen)

    • Danke, @Webbaer – ja, ich tendiere auch dazu, rechten Dualismus auf konstruierte, „reine“ Identitäten zurück zu führen (Identitarismus), wogegen Linke sich entlang von Nuancen des Historizismus (nach Karl Popper) aufreiben. Dies würde auch erklären, warum staatsfeindliche, dualistische Libertäre (nicht zu verwechseln mit staatskritischen, aber monistischen Liberalen!) immer wieder nach Rechtsaußen abkippen: Der männlich, alters- und beziehungslos sowie „rational“ konnotierte Homo oeconomicus erwiese sich als identitäres Projekt.

      Spannend wird, ob – siehe oben – zumindest Teilen der Linken eine wissenschaftlich informierte Selbstaufklärung gelingt – wofür ich auf der Rechten bislang keinerlei Hinweise erkennen kann.

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