Fluch oder Segen? Neues Medikament gegen Depressionen nach der Geburt

Der Wirkstoff Zuranolone bekam nun die Zulassung der zuständigen US-Behörde für die sogenannte postpartale Depression. Das Mittel ist damit die erste derartige Behandlung in Tablettenform. Was steckt dahinter?

In verschiedenen US-Medien wurde es als bahnbrechende Entwicklung dargestellt: Bis zu einer halben Million Frauen könnten hiervon profitieren, Jahr für Jahr, allein in den Vereinigten Staaten. An Superlativen herrschte kein Mangel: Es handle sich um einen “Durchbruch”, sogar um einen “game changer” (Paradigmenwechsel).

In den deutschen Medien

Von dieser Euphorie ließ sich auch die ARD-Korrespondentin in Washington, Nina Barth, anstecken: “Erste Pille gegen Wochenbettdepressionen in den USA zugelassen“, hieß es am 10. August auf tagesschau.de.

Ihr Artikel beginnt mit dem Beispiel einer Mutter, die sich nach der Geburt “niedergeschlagen und beklommen” gefühlt habe – und am liebsten weggelaufen wäre. Man erklärt dem Leser: “Es ist eine unterschätzte, missverstandene Krankheit.”

Dann kommt die Forscherin zu Wort, die die Studie federführend durchgeführt hat. Dass hier finanzielle und karrieremäßige Interessenkonflikte offensichtlich sind, erfährt man allerdings nicht; auch nicht, dass die Studie durch die Pharma-Firma selbst finanziert wurde, wie leider so oft in der Medikamentenforschung.

Stattdessen kommt eine zweite, ebenfalls euphorische Forscherin zu Wort: “Das neue Medikament nennt sie bahnbrechend.” Die Behandlung in Tablettenform für den Hausgebrauch mache die Therapie zugänglicher und sei auch weniger stigmatisierend.

Immerhin folgen dann noch drei kurze Sätze zu den möglichen Nebenwirkungen: Schläfrigkeit und Schwindel sowie – man höre und staune: “Wie bei allen Medikamenten zur Behandlung der seelischen Gesundheit, sehen wir auch ein leicht erhöhtes Selbstmord-Risiko”, erklärt Forscherin Patricia Kinser von der Virginia Commonwealth University.

Was ist Wochenbettdepression?

Ich komme gleich auf das Suizidrisiko zurück. Verstehen wir erst einmal, was Wochenbettdepression überhaupt ist.

Die Kriterien sind dieselben wie bei einer depressiven Episode: Das heißt, es muss einer der Kernfaktoren Antriebslosigkeit oder depressive Verstimmung vorliegen. Dazu kommen nach dem amerikanischen Diagnosehandbuch DSM-5 sieben weitere Symptome, wie zu viel oder zu wenig schlaf, eine Änderung des Körpergewichts, Konzentrationsmängel oder Schuldgefühle. (Wer es genauer nachlesen will, findet die gesamte Liste in meinem Grundlagenartikel: Was sind psychische Störungen?).

Damit sind Depressionen eine Problematik mit vielen Gesichtern: Es sollen mindestens fünf der insgesamt neun Symptome vorliegen, was insgesamt 227 Varianten zulässt. Zwei Patienten mit derselben Diagnose teilen vielleicht nur ein einziges Symptom!

Zudem gilt, dass die psychischen Probleme mindestens zwei Wochen lang vorliegen müssen. Und, wie bei allen psychischen Störungen: Sie sollen mit klinisch signifikantem Leid und/oder einer klinisch signifikanten Einschränkung des Lebens einhergehen. Was “klinisch signifikant” ist, entscheiden Ärzte oder Therapeuten im Einzelfall.

Suizidrisiko

Ich stolperte in dem tagesschau.de-Bericht über die – wie beiläufige – Bemerkung der Forscherin, wie bei allen Psychopharmaka erhöhe auch Zuranolone das Selbstmord- (besser: Suizid-) Risiko. Wir erinnern uns, dass uns Psychiatrieprofessor Ulrich Hegerl, gleichzeitig Sprecher der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, noch vor wenigen Jahren weismachen wollte, “Antidepressiva” hätten die Suizidrate erheblich reduziert.

Diejenigen mit intaktem Gedächtnis und kritischem Interesse erinnern sich vielleicht daran, dass Pharma-Firmen Befunde über häufigere Suizide – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – im Zusammenhang mit “Antidepressiva” unterdrückt haben. Oft wurden sie erst vor Gericht zur Herausgabe der wichtigen Daten gezwungen. Und was sind im Endeffekt schon hunderte Millionen Dollar Strafe, wenn man mit einem Produkt Milliarden verdient?

Die gestorbenen Menschen bleiben tot. Die Gewinne sprudeln weiter. Glücklicherweise sind Suizide insgesamt eher selten: Man misst sie in einigen Dutzend pro 100.000 pro Jahr. Trotzdem sind sie für die Betroffenen und oft genug auch die Behandelnden vernichtend.

Historische Perspektive

Der tagesschau.de-Artikel wirkt auf mich so, als hätte man aus den vergangenen Pharma-Skandalen immer noch nichts gelernt. Und man kann hier durchaus zurück bis in die 1940er gehen, als Medien die krude Gehirnchirurgie (Lobotomie) zur Behandlung psychischer Störungen euphorisch darstellten (hier als Beispiel ein Foto der Saturday Evening Post vom 24. Mai 1941).

Die unwiderrufliche Zerstörung von Teilen des Frontalhirns wurde weltweit bei zehntausenden Patientinnen und Patienten durchgeführt. Einige starben direkt an Komplikationen. Andere lebten mit schweren Persönlichkeitsschäden weiter. Der SPIEGEL widmete der Kennedy-Tochter Rosemary (1918-2005) vor ein paar Jahren eine hierfür anschauliche Reportage.

Jetzt fällt mir erst auf, dass ihre Operation im November 1941 stattfand – also vielleicht sogar inspiriert von dem zitierten Nachrichtenartikel vom Mai jenes Jahres? Rosemary war damals zarte 23 Jahre alt – und würde nach dem Eingriff ins Gehirn nie mehr dieselbe sein.

“Joseph Kennedy wollte aus seinen neun Kindern Gewinner machen – doch die älteste Tochter Rosemary hatte Lernschwierigkeiten und enttäuschte ihn. 1941 ließ er sie am Gehirn operieren und dann weit weg bei Nonnen unterbringen.”

Marc von Lüpke, 21.10.2015, SPIEGEL Geschichte

Das Verfahren wurde auch bei Minderjährigen angewendet, bei denen man beispielsweise eine Aufmerksamkeitsstörung vermutete. Die hieß damals passenderweise noch “Minimal Brain Damage” (minimaler Hirnschaden). Oder galten die Kids vielleicht einfach irgendwie als “schwierig”?! Wer weniger prominent war als Rosemary Kennedy, bekam hinterher nicht einmal eine Reportage.

Die psychiatrischen Verfahren änderten sich. Über die alten Irrtümer wollte man freilich nicht mehr reden. Die begleitende Euphorie in den Medien aber blieb: Sie blieb bei der ersten Generation der “Antidepressiva”, den Tricyclica ab den 1950ern. Sie blieb bei den neueren Medikamenten, den SSRIs ab den 1980ern. Sie blieb auch bei Tiefenhirnstimulation (DBS), bei transkranieller Magnetstimulation (TMS) und bei vielen anderen Versuchen auch.

Und sie blieb eben auch am 10. August auf tagesschau.de für Zuranolone, herübergeschwappt aus den US-Medien.

Psychiatrische Alternativen

Hier geht es natürlich nicht darum, das Leid der Betroffenen zu relativieren. Psychische Störungen können sehr ernst, gar lebensbedrohlich sein. Es ist aber auch ein Fakt, dass die Diagnose “Depression” insbesondere seit den 1980ern auf immer mehr Fälle ausgeweitet wurde. Insbesondere wurde Angst auf diese Weise medikalisiert und psychiatrisiert (siehe z.B. Horwitz, 2010; Shorter, 2009).

Während früher vor allem die schweren Fälle – man nannte sie “melancholische Depression” – in Kliniken und medikamentös behandelt wurden, verschreibt man die Medikamente heute immer häufiger. Allein in den letzten zehn Jahren stieg die Verschreibung von “Antidepressiva” auf schon sehr hohem Niveau um noch einmal mehr als 30 Prozent. Pillen und Tabletten lassen sich immerhin schneller produzieren als Psychotherapeuten.

Wie man es anders machen kann, erfährt man im niederländischen öffentlichen Rundfunk, der sich zeitgleich mit dem Thema postpartale Depressionen beschäftigte. Zehn Prozent der neuen Mütter seien von der Problematik betroffen. Doch anstatt einfach die Zitate derjenigen zu übernehmen, die an dem neuen Medikament verdienen, macht man sich selbst auf die Suche nach Experten.

Zunächst berichtet eine betroffene Mutter von der Problematik: Sie habe nach der Geburt unter Schwindel gelitten, schlecht oder gar nicht mehr schlafen können, keinen Hunger mehr gehabt, die einfachsten Tätigkeiten nicht mehr hinbekommen und auch nicht mehr für ihr Kind sorgen können.

Aus medizinischer Sicht kommentiert das Mijke Lambregtse von der Psychiatrischen Universitätsklinik in Rotterdam, die auch ein Handbuch über Schwangerschaft und Psychiatrie herausgegeben hat. Demnach sind die betroffenen Mütter stark damit beschäftigt, sich über Wasser zu halten, befänden sie sich in einer Art Überlebensmodus. Dann könnten sie auch die Signale der Kinder nicht mehr so gut auffangen und darauf auch nicht mehr angemessen reagieren.

In schweren Fällen könne die Situation eskalieren und drohe dann auch den Kindern Schaden.

Behandlungsmöglichkeiten

Die Psychiaterin informiert darüber, wie sie mit der Problematik umgehen: In leichten Fällen berate man die Mütter bei der Anpassung ihres Lebensstils, dass sie beispielsweise auf den Schlaf- und Wachrhythmus achten und genug essen müssten. Bei mittelschweren Fällen biete man Gesprächstherapie an, damit die Betroffenen ihre Schwierigkeiten anders wahrnehmen und anders damit umgehen könnten.

Nur bei schweren Fällen verschreibe man öfter Medikamente. Das dürften wohl herkömmliche “Antidepressiva” sein, da das neue Mittel (noch?) nicht in Europa zugelassen ist.

Zu den Behandlungsmöglichkeiten wurde ebenfalls Veerle Bergink befragt, Professorin an der Mount Sinai-Klinik in New York und Direktorin des dortigen Programms für die psychische Gesundheit von Frauen. Sie weist daraufhin, dass das neue Medikament vielleicht gar nicht spezifisch gegen die depressive Verstimmung wirkt.

Schließlich sei eine der Nebenwirkungen von Zuranolone Schläfrigkeit. Und Schlaflosigkeit sowie damit verbundene andere psychische Probleme sind wiederum Symptome von Depressionen. Schlafen die Frauen nach Einnahme des Medikaments vielleicht einfach nur besser?

Richtlinien

Um den angeblichen Durchbruch einordnen zu können, muss man die Richtlinien der amerikanischen Zulassungsbehörde besser verstehen: Da für postpartale Depressionen kein vergleichbares Medikament zugelassen war, galten hier niedrigere Standards:

Zuranolone wurde daher im sogenannten “Fast Track” zugelassen. Deshalb musste man es nur mit Plazebo vergleichen, nicht mit anderen “Antidepressiva”. (Und wie man solche Ergebnisse selbst in kontrollierten wissenschaftlichen Studien beeinflussen kann, behandelten wir hier.)

Zudem wurde das Mittel nur für zwei Wochen verabreicht und wurden die Symptome der jungen Mütter nur bis zu vier Wochen nach dieser Behandlung verfolgt. Ob die Therapie langfristig hilft, weiß also niemand. Es ist auch noch nicht sicher, ob es von stillenden Frauen genommen werden kann.

Die Expertin Bergink stellt allerdings – in außergewöhnlicher Offenheit – das gesamte Zulassungsverfahren infrage: “Das Argument, dass es keine andere Behandlung für postpartale Depressionen gibt, ist nicht wahr. Es gibt gute Behandlungen für postpartale Depression.” Auf meine Rückfrage, welche Behandlungen sie damit meint, erhielt ich leider keine Antwort.

Fazit

In der Gesamtschau scheinen daher große Zweifel an den Behauptungen berechtigt, bei dem neuen Medikament handle es sich um einen Durchbruch oder gar einen Paradigmenwechsel in der Behandlung postpartaler Depressionen.

Dabei bezweifelt niemand, dass es manchen Müttern nach der Geburt psychisch sehr schlecht geht. Im Gegenteil kann diese Erfahrung ein schweres Lebensereignis sein – was wiederum die größten bekannten Risikofaktoren für Depressionen sind.

Eine medikamentöse Behandlung postpartaler Depression hat dort am meisten Sinn, wo die Symptomatik durch hormonelle Schwankungen bedingt ist. Doch hierbei handelt es sich bisher um einen hypothetischen Zusammenhang, der weiterer Untersuchung bedarf.

Im Vergleich von tagesschau.de und einem vergleichbaren Medium aus den Niederlanden (Nieuwsuur) fällt auf, dass Erstere schlicht die euphorischen Berichte aus US-Medien übernahm. Letztere holte stattdessen die Meinungen unabhängiger Expertinnen ein. Durch die unterschiedlichen Perspektiven haben wir mehr darüber gelernt, welche Hilfe es für Mütter mit depressiver Symptomatik gibt.

Abbildung: Das angebliche Wundermedikament muss in den USA diesen Warnhinweis auf der Verpackung tragen. Es könne die Reaktionen im Straßenverkehr oder beim Bedienen von Maschinen beeinträchtigen. Die Sorge für ein Neugeborenes aber nicht?

Spätestens seit den 1940ern sahen wir mehrere Wellen euphorischer Medienberichte darüber, dass es neue medizinische Wundermittel gegen psychische Störungen gäbe. In Extremfällen hat ein kritikloser Umgang mit solchen Verfahren sogar Menschenleben gekostet. Trotzdem wiederholt sich das Muster in der Berichterstattung immer wieder.

Dass Zuranolone das lange gesuchte Wundermittel ist, darf wohl bezweifelt werden. Trotzdem: Wer “Antidepressiva” nimmt und sich dabei gut fühlt, möge die Medikamente nehmen. Für einen spezifisch antidepressiven Effekt dieser Substanzen fehlt allerdings die solide wissenschaftliche Basis.

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79 Kommentare

  1. Immerhin erhielt Zuranolone die Zulassung der FDA, was bedeutet, dass es Studien gibt, welche zeigen, dass FDA signifikant wirksam ist für die postpartale Depression. Zudem kann Zuranolone oral eingenommen werden und es wirkt bereits nach 3 Tagen, während konventionelle Antidepressiva frühestens nach 1 bis 2 Wochen wirken. Was Zuralone wirklich einzigartig macht ist die Kombination von schneller Wirkung (nach 3 Tagen Einnahme) und und dass es geschluckt werden kann anstatt dass es gespritzt werden muss.

    In der englischsprachigen Wikipedia liest man dazu:

    Zuranolone wurde als Verbesserung des intravenös verabreichten Neurosteroids Brexanolon mit hoher oraler Bioverfügbarkeit und einer biologischen Halbwertszeit entwickelt, die für die einmal tägliche Verabreichung geeignet ist. 7][10] Seine Halbwertszeit beträgt etwa 16 bis 23 Stunden, verglichen mit etwa 9 Stunden für Brexanolone.

    Zu den durchgeführten Studien liesst man:

    In Studie 1 erhielten die Teilnehmer 14 Tage lang einmal täglich abends 50 mg Zuranolone oder Placebo.[ 2] In Studie 2 erhielten die Teilnehmer ein weiteres Zuranolon-Produkt, das etwa 40 mg Zuranolone oder Placebo entsprach, ebenfalls für 14 Tage.[ 2] Die Teilnehmer beider Studien wurden nach der 14-tägigen Behandlung mindestens vier Wochen lang überwacht.[ 2] Der primäre Endpunkt beider Studien war die Veränderung der depressiven Symptome unter Verwendung des Gesamtscores der 17-Punkte-Hamilton-Depressionsbewertungsskala (HAMD-17), die an Tag 15 gemessen wurde.[ 2] Die Teilnehmer in den Zuranolon-Gruppen zeigten signifikant mehr Verbesserung ihrer Symptome im Vergleich zu denen in den Placebo-Gruppen.[ 2] Der Behandlungseffekt wurde an Tag 42 aufrechterhalten – vier Wochen nach der letzten Dosis von Zuranolone

    Beurteilung: Zuranolone scheint mir eine gute orale Alternative zur früheren intravenösen Behandlung der schweren postpartalen Depression.
    Profitieren werden nur sehr wenige Patientinnen davon, nämlich diejenigen, die unter sehr schweren Symptomen leiden.

  2. Ergänzung zu meinem Kommentar vom 04.09.2023, 14:12 Uhr

    Wenn es irreführende Informationen zu Zuranolone gibt, dann vor allem die, die behaupten Zuranolone sei ein Medikament für viele wie auch in postpartum.net zu lesen.
    Zitat:

    „Die Zulassung der FDA ist eine willkommene Neuigkeit für die geschätzten 500,000 Frauen in den Vereinigten Staaten, die jedes Jahr berichten, dass sie Symptome dieser verheerenden und oft missverstandenen Krankheit haben“, sagte Wendy N. Davis, Ph.D.

    Beurteilung: Wer behauptet, pro Jahr könnten 1/2 Million Frauen in den USA von Zuranolone profitieren, der ist definitiv unseriös.

  3. @Holzherr: Signifikanz

    Es gibt Studien? Hmm, es gibt wohl mindestens eine Studie, ja.

    Als jemand, der hier schon viele Jahr lang mitliest, wissen Sie natürlich, dass “statistische Signifikanz” der Schlüssel für eine wissenschaftliche Fachpublikation ist, es für das Wohlergehen der Patienten aber auf “praktische Relevanz” ankommt.

    Seriöserweise (wo Sie schon das Wort in den Mund nehmen) hätte man das neue Medikament mit den bestehenden Behandlungen vergleichen müssen, nicht nur mit Placebo. Hier hat man halt eine Lücke in den Richtlinien gefunden – und diese gewinnbringend ausgenutzt.

    Und zu guter Letzt: Hier im Blog haben Sie schon gelernt, wie man derartige Studien “anpassen” kann, damit ein gefälliges Ergebnis herauskommt.

  4. Wie inzwischen jeder Interessierte im Web nachlesen konnte ist Zuranolone eine Neurosteroid welches einen GABA Rezeptor allosterisch moduliert.

    Interessant der zeitliche Zusammenhang, wo GABA in der physiologischen Erklärung von Depressionen gerade wieder en vogue ist:
    https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34781862/

    Neulich im Executive Board: “Wenn sich Serotonin-Agonisten nicht verkaufen lassen, geht vielleicht bei GABA etwas?”
    🙂

  5. @Neher: GABA & so

    Danke für den Hinweis. Und wenn das es nicht ist, dann eben Psychedelika. Oder Elektroschocks. Oder oder.

    Mein theoretischer Punkt ist und bleibt, dass Forschung, die Depressionen als konkrete Entität ansieht und nicht als Oberbegriff für eine ganze Reihe unterschiedlicher Erfahrungen und Verhaltensweisen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist.

    Die Forschungsergebnisse der letzten 200 Jahre stützen mich in dieser Sichtweise.

  6. @Stephan 04.09. 18:06

    „..dass Forschung, die Depressionen als konkrete Entität ansieht und nicht als Oberbegriff für eine ganze Reihe unterschiedlicher Erfahrungen und Verhaltensweisen, „

    Unbedingt. Ein guter Praktiker macht das sowieso. Die menschliche Psyche ist komplex, und kann nicht auf eine grobe Diagnose sinnvoll reduziert werden. Und doch werden gerne auch die Substanzen eingesetzt, die von der Pharmaindustrie angeboten werden.

    Letztlich macht auch der Psychiater selber seine Erfahrungen mit den Medikamenten, und setzt sie dementsprechend ein.

    Es ist auch nicht verkehrt, dass es viele verschiedenen Präparate gibt. Wenn das eine nicht recht hilft, probiert man mal was anderes aus, bis dass es dem Patienten vielleicht endlich irgendwann mal besser geht. Und selbst wenn es mehr der Placeboeffekt war, bleibt man dann eben bei dem, was anscheinend geholfen hat.

    Auch öfter mal ein ganz neues Medikament kann denen Hoffnung machen, die schon lange nicht richtig vorwärts mit sich kamen.

    Natürlich ersetzt dieses keine psychologische und soziale Unterstützung. Da ist noch Luft nach oben. Pharmafirmen sind hierfür dann eher keine Experten. Das ist schlichtweg nicht ihr Geschäftsmodell und auch kaum ihr Fachgebiet.

  7. @Tobias Jeckenburger (Zitat): “ Wenn das eine [Präparat] nicht recht hilft, probiert man mal was anderes aus, bis dass es dem Patienten vielleicht endlich irgendwann mal besser geht.“

    Bei Antidepressiva ist genau das aber ein grosses Problem, denn es können 2 bis 3 Wochen vergehen ehe man realisiert, dass das verabreichte Antidepressiva bei diesem Patienten zu wenig wirkt. Man würde sich schon wünschen von vornherein zu wissen, ob ein bestimmtes Medikament wirken wird oder eben nicht.

  8. @Tobias: Durchprobieren

    Wenn man aber weiß, dass a) depressive Symptomatik meist nach ein paar Wochen bis Monaten von selbst verschwindet und b) der Placebo-Effekt hier eine große Rolle spielt, dann sollte man dieses “Versuch & Irrtum”-Spiel mit Vorsicht betrachten (man denke vor allem an die Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Impotenz usw.).

    Ich behaupte, würde man statt all der sogenannten “Antidepressiva” immer Placebos verschreiben, dann gäbe es in der Praxis bei der Wirksamkeit kaum einen Unterschied (allerdings weniger Nebenwirkungen). Aber dann a) würde die Pharma-Industrie halt keine Milliarden verdienen und b) müssten die Ärzte einräumen, dass ihre Gehirntheorien doch nicht so geil sind und sie eigentlich nicht wissen, was sie da tun (oder halt einfach mal Strom durchs Gehirn leiten; vielleicht hilft’s? Elektrokonvulsive Therapie, EKT).

    Die Geschichte wird irgendwann auf uns zurückblicken – und hoffentlich wahrnehmen, dass nicht alle auf den Neuro-Zug aufgesprungen oder Wissenschaft für ein paar Tausender über nette Beratungsverträge verkauft haben.

  9. @ Stephan Schleim 04.09.2023, 18:06 Uhr

    Zitat: „Mein theoretischer Punkt ist und bleibt, dass Forschung, die Depressionen als konkrete Entität ansieht und nicht als Oberbegriff für eine ganze Reihe unterschiedlicher Erfahrungen und Verhaltensweisen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist.“

    Es fragt sich, ob es trotz der vielen unterschiedlichen Erfahrungen und Verhaltensweisen bei „Depressionen“, nicht doch „Gemeinsamkeiten“ gibt, die man halt nicht gut beschreiben kann.

    Ich meine, die Gemeinsamkeiten haben mit so etwas wie „gefühlsmäßigen Missempfindungen“ zu tun, die „lästig“ sind und die man gerne vermeiden möchte. Sie können bei den üblichen „Schicksalsschlägen“ auftreten und bewirken die üblichen „Störungen“ wie z.B. Schlaflosigkeit oder andere „Beschwerden“.

    Die „gefühlsmäßigen Missempfindungen“ berühren die „Bewusstseinsfrage“ und halbwegs gesichert ist nur, dass „Drogen“ auf das „Bewusstsein“ positiven oder negativen Einfluss nehmen können. In diesem Sinne wären positive Wirkungen von Medikamenten zu erklären.

    Ich sehe die Sache sehr „elektronisch“ und gehe einfach davon aus, dass einerseits das „gefühlsmäßige Bewusstsein“ als Phänomen in bestimmten Hirnstrukturen, z.B. in „auch stützenden Gliazellarten“ auftritt.

    Die Effekte dann eintreten, wenn bestimme „Örtlichkeiten“ in einer bestimmten zeitlichen Dynamik, von triggernden Neuronen oder eventuell im Zusammenwirken mit chemischen Prozessen, die z.B. auch von Synapsen ausgehen könnten, das „gefühlsmäßige Empfindungsgeschehen“ aktivieren.

    Korrelationen zwischen grundlegenden physikalisch/chemischen „Funktionsmustern“ (womöglich bis zur Quantenebene) und „Gefühlen/Empfindungen“ sollten im Prinzip Physiker/Chemiker herausfinden.

    Es gibt zwar Probleme, Medikamente selektiv bei möglichst allen Patienten genau an den „passenden Stellen wirken“ zu lassen um unerwünschte neuronale Aktivitäten zu unterbinden, bzw. erwünschte Aktivitäten zu fördern, aber es scheint, dass viele Patienten mit Medikamenten auch zufrieden sind.

    Vermutlich verursachen derzeit Medikamente weniger Kosten, als psychologische Therapien oder soziale Unterstützung. Abgesehen davon, können auch sehr wohlhabende Menschen von Depressionen „geplagt“ werden. KI Einsatz könnte künftig psychologische Therapien wesentlich „billiger“ machen.

  10. @Holzherr 05.09. 17:28

    „Man würde sich schon wünschen von vornherein zu wissen, ob ein bestimmtes Medikament wirken wird oder eben nicht.“

    Was soll man machen? Vielleicht könnte die Erfahrung des Psychiaters mal helfen, schneller was Passendes zu finden. Oder irgendwann mal KI?

    Wenn es aber sowieso im wesentlichen der Placeboeffekt ist, dann ist die Reihenfolge sowieso egal. Dann kommt es ja nur darauf an, das ein bestimmtes Medikament jetzt zufällig gerade in eine Phase der Besserung gefallen ist. Ich würde es dann jedenfalls auf jeden Fall erstmal weiternehmen.

    @Stephan 04.09. 18:06

    „Ich behaupte, würde man statt all der sogenannten “Antidepressiva” immer Placebos verschreiben, dann gäbe es in der Praxis bei der Wirksamkeit kaum einen Unterschied (allerdings weniger Nebenwirkungen).“

    Ich kenne eher Psychosen als Depressionen. Und denke schon, dass die gegen Psychosen angewendeten Medikamente mehr als Placebo wirken.

    Sollte man aber besser mal noch viel mehr untersuchen? Aber auch Placebos müssen unbedingt gegeben werden, gar nix machen wäre mit Sicherheit viel weniger. Und dass wird ja jetzt nicht gemacht, man müsste die Placebos auch testen und zulassen, und dann draufschreiben, dass sie zwar keine spezifischen Wirkstoffe enthalten, aber in kontrollierten Studien dennoch 30% oder 50 % Besserung gebracht haben. Je nach den Testergebnissen.

    Ich fände es generell eine gute Idee, für alles Mögliche, das nur widerspenstig mit Medikamenten zu behandeln ist, dass man dafür dann spezifische Placebos entwickelt, die in Farbe, Form, Geschmack und Packungsdesign auf den jeweiligen Einsatz optimiert werden. Das könnte dann nicht nur weniger Nebenwirkungen machen, sondern kann viel kostengünstiger sein. Wenn man das erlaubt, dann kann jede Pharmafirma sich daran machen, ihr eigenes Placebosortiment zu entwickeln, zu testen und zuzulassen. Die Konkurrenz würde dann die Preise schön niedrig halten.

    Eine Psychiatrie mit Placebooption könnte in der Tat eine gute Sache sein, aber ganz ohne Pillen würde die Behandlung vermutlich sehr viel schlechter funktionieren.

    „..müssten die Ärzte einräumen, dass ihre Gehirntheorien doch nicht so geil sind und sie eigentlich nicht wissen, was sie da tun…“

    Von einem vernünftigem Psychiater würde ich das jetzt sogar sowieso fordern, und mich andernfalls nach einem Anderen umgucken. Wer hier seine Möglichkeiten überschätzt, der ist vermutlich nicht so gut.

    @Elektroniker 05.09. 22:50

    „KI Einsatz könnte künftig psychologische Therapien wesentlich „billiger“ machen.“

    Ich bin in der Tat gespannt, was hier noch so kommt. Ich glaube, KI könnte sogar besser werden als die meisten real existierenden Psychologen. Diese könnten dann die KI mit Supervision unterstützen, während eine umfangreiche automatische Patientenbegleitung die Kleinarbeit macht.

    Oder es wird doch eher grausamer Bockmist. Ich bin gespannt drauf, wie gesagt.

  11. Es ist irgendwie seltsam, wenn sich Männer über Schwangerschaftsdepression auslassen.
    Herr Schleim, lassen Sie doch mal Betroffene zu wort kommen.

  12. @Tobias Jeckenburger, Stephan Schleim

    Zitat Schleim: “ Ich behaupte, würde man statt all der sogenannten “Antidepressiva” immer Placebos verschreiben, dann gäbe es in der Praxis bei der Wirksamkeit kaum einen Unterschied “
    Zitat Jeckenburger: “ Wenn es aber sowieso im wesentlichen der Placeboeffekt ist, dann ist die Reihenfolge sowieso egal. “

    Es werden aber nur Medikamente zugelassen, die besser als Placebo wirken. Dazu gibt es ja Doppelblindstudien.

    Beurteilung der Medikamentenwirksamkeit: Wenn man schon Medikamente bezüglich ihrer Wirkung kritisieren will, dann müsste man all die Naturheilmittel und die homöopathischen Mittel kritisieren, die verkauft werden können ohne dass es Studien gibt, die ihre Wirkung nachweisen.

    Fazit: Neben Arzneimitteln gibt es etwa die Lichttherapie, strukturierte Tagesabläufe, Sport, Verhaltens- und Psychotherapie oder die transkranielle Magnetstimulation. In der Praxis werden diese nicht-medikamentösen Verfahr3n oft kombiniert mit Medikamenten.

  13. @Tobias: Stempel und Ihre Bedeutung

    Du und ich wissen das – und gute Psychologen/Psychiater stellen eine Diagnose gemäß DSM- oder ICD-Codes, weil sie die Kosten abrechnen müssen, und stellen das Buch dann wieder ins Regal.

    Aber viele andere halten diese Stempel eben für konkrete Entitäten, die dann als Erklärung der Probleme angesehen werden: Dann heißt es eben nicht, mir geht es schlecht und die Ärzte nennen das Depression, sondern ich bin krank, weil ich Depressionen habe. Damit verengt man die Sichtweise – und möglichen Lösungswege.

  14. @Elektroniker: Gemeinsamkeiten

    Na ja – man kann sich ja noch nicht einmal darauf einigen, ob der “Wesenskern” von Depressionen nun die Antriebslosigkeit oder die schlechte Stimmung ist.

    Es ist ein komplexer Sammelbegriff. Formal kann man 227 Arten (= Symptomkombinationen) von Depressionen unterscheiden. In der Praxis könnte nicht nur jede “Depression” anders sein, sondern sogar jeden Tag anders sein.

  15. @Holzherr 06.09. 10:22

    „Es werden aber nur Medikamente zugelassen, die besser als Placebo wirken. Dazu gibt es ja Doppelblindstudien.“

    Wenn man das später noch mal untersucht, sind die Wirksamkeitswerte oft niedriger als in den Zulassungsstudien, hab ich mal gelesen.

    Mir persönlich wäre es egal, wenn ein Medikament in seiner Wirksamkeit einen hohen Placeboanteil hat. Entscheidend ist doch, wie hoch die Wirksamkeit insgesamt ist. Und zu welchen Nebenwirkungen.

    Da kann ein Placebo wirklich besser sein, wenn es z.B. statt 40% nur zu 30% wirkt, dafür aber ohne gravierende Nebenwirkungen.

    So wie das jetzt läuft, geht es weniger um Evidenz als um das Geschäftsmodell der Pharmafirmen. Mir wären lockerere Regeln lieber. Wichtig wäre mir dabei aber Transparenz, dass die genaue Wirksamkeit auf der Packung draufsteht, und inwieweit hier spezielle Wirkstoffe oder eben gar keine drin sind. Auch die Wirksamkeit von Placebo im Vergleich zum Wirkstoffmedikament wäre eine interessante Information, die ja nun in der Studie zur Wirksamkeit mitgemessen wird. Ist der Unterschied klein, würde ich das Placebo bevorzugen, wenn es denn erhältlich wäre. Wie gesagt, auch Placebos müssen eingenommen werden, um zu wirken.

    Die Nebenwirkungen stehen ja schon im Beipackzettel, da könnten höchstens noch genauere Wahrscheinlichkeiten für die einzelnen möglichen Nebenwirkungen dabei stehen.

    Ich finde, dass man bei vielen Krankheiten, gegen die man keine guten Mittel hat, gut Placebos einsetzen könnte. Da sollte man nicht drauf verzichten, nur um eine Evidenz hochzuhalten, die nun sowieso öfter begrenzt ist. Außerdem kann das Kosten einsparen.

  16. @ Tobias Jeckenburger
    Zitat 1: “ Da kann ein Placebo wirklich besser sein, wenn es z.B. statt 40% nur zu 30% wirkt, dafür aber ohne gravierende Nebenwirkungen.“
    Ein Medikament mit gravierenden Nebenwirkungen wird nur zugelassen, wenn es eine gravierende Krankheit lindert. Beispiel: Antidepressiva können, wenn über lange Zeiträume eingenommen, teilweise ernsthafte Nebenwirkungen haben. Doch wenn Antidepressiva tatsächlich über lange Zeiträume eingenommen werden müssen, dann liegt wohl eine gravierendere Situation vor – oder aber das Antidepressivum ist zu wenig wirksam.

    Zitat 2: “ So wie das jetzt läuft, geht es weniger um Evidenz als um das Geschäftsmodell der Pharmafirmen. Mir wären lockerere Regeln lieber.“
    Ja und Nein. Ja, Pharmafirmen wollen ihr Medikament auf den Markt bringen. Das ist ihr Geschäftsmodell. Nein, die Zulassungsbehörde für Medikamente dient nicht dem Geschäftsmodell der Pharmafirmen, sondern es dient der Öffentlichkeit, der Gesamtheit aller potenziellen Kranken.
    Lockere Regeln bei der Zulassung von Medikamenten wären ein grosser Fehler. Nur gerade bei neuen Medikamenten mit grossem Heilungspotenzial ist eine beschleunigte Zulassung eventuell gerechtfertigt. Allgemein gilt: es gibt eher zu viele Medikamente als zu wenig. Jedes zugelassene Medikament muss von der Krankenkasse bezahlt werden. Das allein ist schon ein Grund, möglichst wenig Medikamente zuzulassen.

  17. @Holzherr: Praxis

    Leider kennen Sie sich auf dem Gebiet kaum aus: In der Praxis kriegen manche Patient*innen nach fünf, vielleicht zehn Minuten vom Hausarzt den Stempel “depressiv” aufgedrückt – und dann vielleicht jahre- oder gar jahrezehntelang immer wieder neue Rezepte, ohne dass mal jemand genauer schauen würde, was da eigentlich los ist.

    Solche Fälle sind mir persönlich bekannt und auch in der Fachliteratur beschrieben. (Ich denke da z.B. an den bekannten Fall einer Lehrerin mit Holocaust-Erfahrung, die jahrzehntelang mit Psychopharmaka am funktionieren gehalten wurde, dann im Ruhestand zusammenbrach – und erst dann mal Aufmerksamkeit für ihre erstaunliche Lebens- und Medikamentengeschichte bekam.)

  18. @Holzherr 06.09. 15:10

    „Nein, die Zulassungsbehörde für Medikamente dient nicht dem Geschäftsmodell der Pharmafirmen, sondern es dient der Öffentlichkeit, der Gesamtheit aller potenziellen Kranken.“

    Wenn am Ende des Zulassungsprozess ein Patent und die Erlaubnis von Phantasiepreisen winkt, dann ist das lukrativ. Und je schwerer es für die Konkurrenz ist, mit einer Alternative mitzuziehen, desto mehr Geld kann verdient werden.

    Bei der Erlaubnis von Placebomedikamenten müsste man nur die Wirksamkeit testen, alle anderen Prüfungen würden wegen der fehlender u.U. problematischer Substanzen wegfallen können. Es wäre für die Konkurrenz entsprechend einfach, fast dasselbe auch rauszubringen, zumal es hier auch gar nichts zu patentieren gibt. Die Konkurrenz würde entsprechend dafür sorgen, dass auch neue Placebos billig wie Generika wären.

    Die Kosten für die Krankenkassen würde also eher geringer werden, wenn denn die Placebos von den Kunden und den Ärzten tatsächlich genutzt würden. Homöopathische Präparate jedenfalls bräuchte man dann eigentlich auch nicht mehr.

  19. @Tobias Jeckenburger // Placebos

    »Bei der Erlaubnis von Placebomedikamenten müsste man nur die Wirksamkeit testen, alle anderen Prüfungen würden wegen der fehlender u.U. problematischer Substanzen wegfallen können. «

    Im Falle des Wirkstoffs Zuranolone, der in Kapseln verpackt als Zurzuvae™ in den USA zukünftig verkauft wird, ist die „Wirksamkeit“, wenn man so will, bereits nachgewiesen. Das gleiche gilt im Grunde für alle Placebos, die in placebokontrollierten Studien eingesetzt wurden und einen signifikanten Effekt gezeigt haben.

    Wie stellen Sie sich denn die Kennzeichnung der jeweiligen Placebopräparate vor, etwa „Zuranolone-Placebo“ oder, anderes Beispiel, „Prozac-Placebo“?

  20. @Balanus 07.09. 23:12

    „Wie stellen Sie sich denn die Kennzeichnung der jeweiligen Placebopräparate vor, etwa „Zuranolone-Placebo“ oder, anderes Beispiel, „Prozac-Placebo“?“

    Man legt Tablettenform, Farbe, Geschmack und Packungsdesign fest, und testet das Placebomittel dann z.B. auf Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und Muskelschmerzen. Wenn man dann z.B. jeweils 35%, 30% und 40% Besserung kontrolliert feststellt, dann schreibt man eben drauf:

    Dieses Medikament enthält keine spezifischen Wirkstoffe, führt aber zu einer Besserung bei:

    Kopfschmerzen zu 35%
    Rückenschmerzen zu 30%
    Muskelschmerzen zu 40%

    Mehr dann nicht. Rezeptpflicht könnte unnötig sein, Apothekenpflicht wäre vermutlich sinnvoll. Den Rest bestimmt dann eigentlich nur noch der Preis und die Nachfrage danach.

  21. @ Jeckenburger,

    Wenn man dann z.B. jeweils 35%, 30% und 40% Besserung kontrolliert feststellt, dann schreibt man eben drauf:

    Kopfschmerzen zu 35%
    Rückenschmerzen zu 30%
    Muskelschmerzen zu 40%

    Da haben Sie schon den ersten Fehler in Ihrer Formulierung und Vorstellung.
    Wenn ein Medikament oder Placebo bei 35% der Stichprobe zu signifikanten Besserungen geführt hat heißt das nicht dass dies auch für den Einzelfall zu 35% zutrifft. Bei jedem Einzelfall zählen individuelle Faktoren, da kann die Wahrscheinlichkeit dann bei 5 oder 80% liegen, das weiß basierend auf gruppenbasierten Werten der Stichprobe niemand.

  22. @all: Placebo

    Schon komisch: Der Pharmaindustrie lässt man “kreative” Formulierungen durchgehen. Hin und wieder übertreiben die extrem und müssen dann Strafe zahlen – für die aus der Portokasse.

    Und wenn es jetzt nur einmal ums Patientenwohl geht, nicht um Profite, streitet man sich so über Details.

    Man kann bei einem Placebo ehrlich sagen, dass manche (viele?) eine Besserung erfahren haben; und einen geeigneten Namen wird man dafür schon finden.

    Manchmal wirken Placebos sogar dann, wenn sie “offen” sind, wenn die Personen also wissen, dass sie ein Placebo bekommen. Merkwürdige “Psyche”. Aufmerksame Leser von MENSCHEN-BILDER sollte das aber nicht wundern.

  23. Stephan Schleim,
    Im Haupttext kommen Frauen vor, nicht im blog hier und jetzt.
    Mir scheint., das ist ein grundsätzliches Problem.
    Vielleicht sollte man eine ,grundsätzliche Verbesserung einführen, Männer dürfen nur noch ohne Vornamen teilnehmen, das wäre doch einen Versuch wert.

    Das nächste Problem ist, dass Frauen ihre Depression zu verbergen suchen, während Männer ihr Leid offen beklagen und damit schon mal den Druck abbauen. “Le malade imaginaire” von Molière war typischerweise ein Mann.

    Genug gelästert !

  24. Man konnte ja an anderer Stelle hier im Forum schon lesen dass Herr Schleim nichts von diesen ‘Hype’ hält – aber ich denke dass Deutschland trotzdem mal wieder das Thema ‘Psychedelica gegen Depressionen’ total verschläft.
    Man kann über die Amerikaner viel klagen – sie machen im medizinischen Bereich wirklich viel Mist. Aber im Gegensatz zu uns sind sie dann auch manchmal mutig genug, wirklich neue Wege zu gehen und alte Zöpfe eher zu hinterfragen.
    Und zu allererst hinterfragt gehört doch, ob Psychedelica nicht vor allem deshalb nicht sehr viel mehr und gründlicher erforscht werden, weil Pharma Firmen da nicht so nen grossen Gewinn machen können, und Ärzte und Therapeuten sich da mehr um ihre Patienten kümmern müssten, als bei den herkömmlichen Mitteln.

  25. @Sunflower: Hype vs. Praxis

    Wichtig: Der Psychedelika-Hype, den wir gerade miterleben, ist nicht dasselbe wie die Praxis der Psychedelika in Psychologie und Psychiatrie.

    Ich glaube schon, dass die Kombitherapie – Psychedelikum & Psychotherapie – ihren festen Platz z.B. für Fälle bekommen wird, in denen Menschen traumatische Erfahrungen unterdrücken; und dass sie durch diese Kombination auch die Dehumanisierung in der Biologischen Psychiatrie ein Stück zurückdrehen wird.

    Sie wird aber nicht die “magic bullet” zur Behandlung psychischer Störungen insgesamt, auch nicht von Depressionen sein; das ergibt sich sowohl aus der Theorie (z.B. Was sind überhaupt Depressionen?) als auch aus der Phänomenologie.

    Und was genau ist jetzt Ihr Gegenargument?

  26. Hallo Herr Schleim, was meinen Sie mit ‘Gegenargument’?
    Man muss wirklich nicht lange googeln um drauf zu stossen, dass es für die Forschung an Psychedelics international so gut wie keine staatliche Förderung oder wirklich grossangelegte Studien gibt. Es werden seit Jahren oder bald Jahrzehnten letzlich immer dieselbe handvoll Institute und Lokationen genannt: Schweiz, MAPS, London, John Hopkins. Dann wird die Luft auch schon ziemlich dünn.
    Und obwohl sogar die Ergebnisse der o.g. Institute bereits bei den vergleichsweise geringen Teilnehmerzahlen zwischen ‘sehr vielversprechend’ und ‘noch nie dagewesen’ liegen trauen sie sich schon die Aussage zu, dass da keine ‘magic bullet’ seit Jahrzehnten ungenutzt bzw. eher unterdrückt in den Schubladen liegt? Ist das nur Bauchgefühl, oder haben sie dafür konkrete Hinweise?

  27. @Sunflower: Studien zu Psychedelika

    Es gab doch schon während der ersten Welle der Psychedelika-Forschung schon über 1000 wissenschaftliche Publikationen; diese Zahl erreichen wir jetzt bald jährlich (bitte etwas herunter scrollen für die Abbildung).

    Erst kürzlich erschien im Journal of the American Medical Association, also einer der angesehendsten medizinischen Zeitschriften, eine Studie, für die aus rund 1.500 Bewerber*innen Freiwillige an elf unterschiedlichen Forschungszentren zur antidepressiven Wirkung von Psilocybin untersucht wurden.

    Erstens bestätigen diese Studien meinen Eindruck, dass es unter Umständen leichte und im Einzelfall vielleicht auch starke Verbesserungen geben kann. Zweitens ist eben aus theoretischer Sicht überhaupt nicht plausibel, ein komplexes und langanhaltendes biopsychosoziales Problem wie “Depressionen” mit einer Pille lösen zu wollen, ganz gleich, was für ein Wirkstoff sich darin befindet.

    Reagieren Sie doch bitte einmal hierauf – und zeigen Sie mir, wo mein Denkfehler liegt.

  28. P.S. Sunflower, vielleicht noch ein wissenschaftlicher Tipp:

    Gerade dann, wenn es hier bahnbrechende neue Befunde gäbe, bräuchte man dafür keine großen Studien, sondern würden sich diese auch schon in kleinen Stichproben zeigen.

    Mit immer größeren Stichproben werden immer kleinere Effekte statistisch signifikant, wie man es seit Jahrzehnten in der Genforschung sieht (das ist reine Mathematik); damit werden die Ergebnisse aber auch praktisch immer irrelevanter.

    Daher gebe ich die Frage nach dem Bauchgefühl gerne an Sie zurück: Was bleibt von Ihrer Position übrig, wenn man das Bauchgefühl abzieht?

  29. @Schleim

    Danke für den Link. Mir ist aber nicht klar, was sie mit der ‘ersten Welle’ meinen? Die 50er, als das alles noch legal war und Prominente wie Cary Grant und Aldous Huxley die Verwendung diverser Substanzen als Charakter- und lebensverändernd beschrieben haben? Oder erst die Zeiten ab den frühen 90ern, als Rick Strassman noch einen Bürokratie-Marathon für die Genehmigung von Experimenten mit DMT auf sich nehmen musste, der sicher nicht aufwändiger gewesen wäre, wenn er mit Plutonium hätte arbeiten wollen? Und wie lang ist es schon her, dass Franz Vollenweider in der Schweiz vor sich hin forschte? Ohne dass dabei je irgendwas Konkretes im Hinblick auf die medizinische Praxis raus gekommen wäre? Und MAPS versucht bereits über 30 Jahre die offensichtliche Wahrheit ‘gesellschaftsfähig’ zu machen, dass man mit MDMA (ja, gehört nur am Rande zu den Psychdelica) Menschen selbst aus tiefster Verzweiflung wieder ins Leben zurück führen kann (habe ich selbst schon erlebt).

    Nein: ich empfinde es definitiv so, daß sich hier jede Art von Schönrednerei verbietet, was die konkreten Fortschritte für die vielen Millionen von betroffenen Patienten weltweit angeht: bis heute ist es offensichtlich von den maßgeblichen Akteuren (Politik, Pharma, Therapeuten etc.) nicht GEWOLLT, dass die bei solchen Studien gemachten Ergebnisse ihrer Bedeutung entsprechend in die Therapie und Klinik umgesetzt werden.
    Und Deutschland ist hier sowieso nochmal das Schlusslicht in der relevanten internationalen ‘Awareness’, aber wie immer natürlich führend in der Bedenkenträgerei.

    Ihr Denkfehler ist zweiteilig – aber leider weit verbreitet:

    Erstens: nur weil man eine Substanz einnimmt wird dadurch ‘Depression’ nicht als substanzgebunden (z.B. Serotoninmangel o.ä.) trivialisiert. Im Gegenteil: immer wieder wird von Leuten, die sich auskennen, bzw. die sich selbst erfolgreich damit therapiert haben darauf hingewiesen, dass es vor allem um die ‘spirituelle Erfahrung’ (also den starken subjektiv empfundenen Rauschzustand) geht, die einem dann hilft, das Leben wieder aus einem neuen, positiven Blickwinkel zu sehen, oder eine schwerwiegende Sucht wie Rauchen oder Alkohol nachhaltig zu bewältigen. Deshalb ist es auch so dumm und ganz sicher nicht erfolgreich, wenn manche Forscher versuchen, den Substanzen ausgerechnet ihre Rauschwirkung quasi wegzuzüchten!

    Zweitens: sie rechnen nicht angemessen den weitestgehend POLITISCH / WIRTSCHAFTLICHEN Charakter des offiziellen Widerstands und der bestehenden Verbote mit ein, sondern sie lassen sich aus meiner Sicht zu sehr auf den Unsinn mit der ‘Psychosegefahr’ ein, der immer als Popanz und Ausrede dient, und der die Tatsache verstellt, daß doch alle relevanten Stoffe (von Iboga vielleicht mal abgesehen) gesundheitlich weitestgehend unbedenklich sind. Eigentlich wird nämlich umgekehrt ein Schuh draus: WEIL man den Psychedelica keine echten Gesundheitsgefahren (Überdosis, Herz-Kreislauf Überlastung, Neurotoxizität, Schädigung von Gewebe und Gefäßen etc.) andichten kann, war es schon in den 70ern so, daß alle möglichen völlig aus der Luft gegriffenen Anekdoten erfunden wurden, um der Bevölkerung hier Angst zu machen. Und weil man medizinische Insider auch damit nicht ‘kriegt’ bleibt, halt am Ende nur noch das ‘Psychosegefahr’-Thema übrig (da gehen bei jedem Mediziner die Alarmglocken an wegen späteren Regressansprüchen), für das es aber zahlenmässig keinerelei Nachweise gibt, weil man ja entsprechend gefährdete Personen gleich von vorne herein von allen Studien ausschließt!

    Fazit: man könnte Studien mit P. viel mutiger, grösser und breiter und intelligenter anlegen – wenn man den WOLLTE. Die Substanzen selber und ihre Wirkungen sind als Grund für die hier nach wie vor bestehende Über-Vorsicht und Angstmacherei aber eben absolut nicht tauglich.

  30. @Sunflower: Psychedelika

    Danke für die Antwort. Endlich mal ein paar inhaltliche Punkte, über die man diskutieren kann:

    Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, dass die von Ihnen genannten Autoren ihre psychedelischen Erlebnisse ausgeschmückt haben könnten, damit sie mehr gelesen werden bzw. ihre Bücher sich besser verkaufen? Aber das würden Autoren, die vom Erlös ihrer Bücher leben (müssen), natürlich nie machen.

    Zum Psychoserisiko usw.: Was Sie mir hier unterstellen, ist genau das Gegenteil von dem, was ich schreibe (z.B. gerade erst ausdrücklich über Cannabis: Was sagt die Wissenschaft über seine Gefährlichkeit?; zwei Essays über Psychedelika mit ähnlichem Ergebnis habe ich gerade verlinkt). Ich kann’s nicht ändern, wenn Sie scheinbar lieber Ihre Vorurteile auf mich projizieren, als meine Artikel gut zu lesen.

    Die Welt erscheint mir nicht so schwarzweiß, wie Sie sie sich vielleicht ausmalen. Meinetwegen sollen die Leute ihre (u.a. psychedelischen) Erfahrungen machen! Ich warne hier vor dem Hype und setze mich für realistische Erwartungen ein. Wären psychedelische Therapien bahnbrechend, hätte man das längst herausfinden müssen.

    In der Allgemeinbevölkerung scheint die psychische Gesundheit bei denjenigen, die schon einmal Psychedelika ausprobiert haben, etwas besser zu sein (hatte ich in meinen Artikeln zum Thema verlinkt); in meinem eigenen Umfeld sind aber gerade diejenigen, die sehr häufig Psychedelika konsumieren, eher am Kämpfen, um sich psychosozial über Wasser zu halten.

    P.S. Die “erste Welle” der Psychedelikaforschung sind natürlich die 1950er bis frühen 1970er; das weiß doch eigentlich jeder, der sich mit der Materie beschäftigt?!

  31. @Schleim

    … das vielleicht noch zur Ergänzung … nach meiner Erfahrung ist es schlicht weg so: wenn jemand von vorne herein nicht der ‘Typ’ dafür ist, dass ihm ein ernsthafter Trip mit einem Psychedelic bei einer Depression wirklich helfen könnte – dann wird er sich entweder einfach unwohl dabei fühlen, oder, was noch häufiger vorkommt, das ganze wird für ihn wie ein Besuch im Europapark sein, ein spassiger ‘Event’, der mal ganz interessant war, aber keine nachhaltige Wirkung hatte. In beiden Fällen ist das Ganze dann in kürzester Zeit vergessen – kein Schaden wurde angerichtet, und das Thema ist vom Tisch.
    Es ist völlig ABSURD, dass Politik und Medizin da so einen unglaublichen Eiertanz aufführen, statt Leute, die sich dafür interessieren und sich nach eingehender Aufklärung freiwillig dazu bereit erklären, das ganze einfach mal AUSPROBIEREN zu lassen. Wo es sich doch auch noch um im Substanzen handelt, die man eben NICHT wochen- oder monatelang einnehmen muss, um überhaupt eine Wirkung zu bekommen, und wo man deshalb auch NICHT ständig auf die Nebenwirkungen schielen muss!
    Und diese Hasenfüßigkeit in einer Welt, in der der Mißbrauch von zugelassenen und offiziell vom Arzt verschriebenen Medikamenten das Normalste von der Welt ist, und eine Entwicklung wie die Opioid-Krise in den USA von allen Verantwortlichen sehenden Auges in Kauf genommen wurde! Nein, es ist nicht ABSURD … es ist LÄCHERLICH.

  32. @Sunflower: Ich würde mir wünschen, dass es “Bars” gäbe, in denen Menschen verschiedene psychoaktive Substanzen in einer sicheren Umgebung ausprobieren könnten, so wie Alkohol; ich bin aber nun einmal in keiner Position, das zu entscheiden.

    Darüber, wie “authentisch” und “spirituell” psychedelische Erfahrungen sind, könnte man an geeigneterer Stelle noch einmal diskutieren.

    Und ja, wir hatten an der Uni so eine Debatte darüber, ob Psychedelika spezifisch aufgrund der “spirituellen Erfahrung” wirken; darüber hatte ich hier ja geschrieben. Auch auf Nachfrage bleiben die Vertreter dieses Lagers aber eher vage und oberflächlich.

    Und auf meine Mails mit Vorschlägen für eine Zusammenarbeit reagieren sie erst mit “ja” – und sagen dann hinterher ab, weil sie “zu gestresst” sind. Tja, so wirkt man eben nicht gerade überzeugend.

    (Während ich tief in die Materie einsteige und im anderen Fenster gerade einen Essay aus den 1970ern über spirituelle Erfahrungen lese, wenn mich andere Dinge nicht gerade ablenken.)

  33. P.S. “Heilung” durch Psychedelika?

    Nebenbei: Ecstasy-Pillen enthalten heute oft gar kein MDMA mehr – oder nur als Begleitstoff.

    Mir sind mehr Menschen begegnet, als ich an meinen Fingern abzählen kann, die von “tiefen Einsichten” auf psychedelischen Trips berichteten. Bei der Mehrzahl konnte ich nicht erkennen, dass sich etwas Wesentliches in deren Leben änderte.

    Und nicht selten waren sie ein paar Wochen oder Monate später wieder im Burn-Out oder in einer depressiven Phase.

    Die gerade verlinkte neue Studie im JAMA testete auch nur bis ca. eineinhalb Monate (43 Tage) nach dem Trip. Zum Vergleich: Bei Pharma-Studien wirft man es den Forschern oft vor, dass sie nur sechs Wochen lang das Wohlbefinden nachverfolgen.

  34. @Schleim

    Wenn ich ihre letzten Antworten so lese muss ich noch weitere ‘Denkfehler’ bei ihnen anmerken:

    1. Zweifel an ‘Authentisch & Spirituell’
    Wieder ein Fall der typischen Ungleichbehandlung von psychedelischen und anderen, ‘normalen’ Erfahrungen: wenn jemand begeistert aus dem Neuseeland-Urlaub zurück kommt und davon schwärmt und nur Positives berichtet – dann wird in aller Regel NICHT die ‘Authentizität’ seiner Gefühle und Eindrücke angezweifelt. Und wenn jemand die Geburt seines ersten Kindes, oder den Tod eines nahestehenden Menschen als emotional erschütternd und lebensverändernd beschreibt, dann macht man ihm das üblichererweise auch NICHT madig. Aber bei ‘Drogen’, da fühlt sich jeder Laie berufen, an positiven Trip-Berichten herumzukritteln oder gar Lüge, Selbstbetrug oder Schlimmeres (üblicherweise: Sucht) zu vermuten. Das ist eben die Crux: bei Drogen kann man sich als kompletter Laie endlos weit aus dem Fenster lehnen – das gesellschaftliche Klima, das ja absolut überwiegend aus Laien besteht, die neben Alkohol höchstens noch Cannabis kennen, lässt einem da alles durchgehen. Ich würde stattdessen sagen: wenn sie sich an den Ergebnissen des ‘Good Friday’ Experiments und an solchen bekannten Aussagen wie denen von Steve Jobs über seine LSD Trips orientieren liegen sie sicher nicht falsch.
    Und wie man darüber wirklich noch diskutieren kann, ob ein Wirkstoff wie LSD ‘stofflich’ wirkt, oder primär auf der Erfahrungsebene – ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Ganz abgesehen davon, dass man da auch schon sehr stark in philosophische Grundfragen gerät, die etwa die Natur des menschlichen (Ich-) Bewusstseins betreffen.

    2. Jemand hat mal sinngemäß gesagt: “In einer kranken Welt kann niemand dauerhaft gesund bleiben”.
    Für Psychedelics heisst das: wenn ich mich mit meinem Konsum bzw. den dadurch gewonnenen Einsichten ständig verstecken muss, sie nicht offen kommunizieren kann, und mögliche Verhaltensänderungen ständig mit dem gesellschaftlich Erwünschten in Konflikt geraten – dann sind viele Vorstellungen die der ‘Laie’ da hat, und Ansprüche, die an einen P.-Konsumenten gestellt werden, einfach unfair. Ob sich etwas ‘wesentliches im Leben ändert’ und zwar so ändert, dass es die Umgebung auch merkt – hängt in unserer Gesellschaft nunmal sehr stark vom äusseren Umfeld ab.
    Ich hab das immer wieder am eigenen Leib erlebt: vor allem durch mein Erfahrungen mit LSD habe ich mich u.a. noch stärker der Natur zugewandt, und hab meine früheren materielle Konsumorientierung und die Wichtigkeit meiner Berufskarriere für mich deutlich reduziert, ohne dass mich das grosse Anstrengung gekostet hätte. Ich beschäftige mich stattdessen stärker mit weltanschaulichen Themen, und ich habe gemerkt, dass mir viel und weit verreisen gar nicht wirklich soviel bringt, mich in Wahrheit sogar eher stresst, und man sich die Reisetätigkeit notorisch schön redet, weil die Gesellschaft das quasi ERWARTET, und einen komisch anschaut, wenn man sagt, dass man lieber ‘Reisen nach innen’ macht, statt mit dem letzten Fernurlaub zu protzen.
    Schon mit diesen Veränderungen gerate ich in meinem Freundeskreis aber immer wieder in Rechtfertigungszwang – sie werden da nämlich gar NICHT automatisch als so positiv anerkannt, wie ich sie selbst empfinde. Stattdessen wird erwartet, dass man überall nur noch Frieden und Liebe verbreitet wie ein Guru – und sich grundsätzlich nur da positiv verändert hat, wo es dem Gegenüber individuell genehm ist. Es läuft auf dasselbe raus wie unter 1. … solange die Gesellschaft so wenig Ahnung hat, und sich die meisten Leute selbst vor einer einzigen stärkeren Erfahrung mit einem Psychedelic mit allen möglichen Ausreden drücken – sind solche Einschätzungen und Bewertungen und Erwartungen, wie sie sie hier auch andeuten, schlicht nicht gerechtfertigt.

    3. Es gibt noch einen Denkfehler, der in diesem ganzen Zusammenhang auch sehr üblich ist: wenn man P. als Medikament einsetzen will, dann geht die Allgemeinheit davon aus, dass sie auch nach den üblichen Regeln von Medikamenten wirken und funktionieren müssen: nämlich erstens, dass die Wirkung sehr klar und eng abgrenzbar ist und vergleichsweise zuverlässig und gleichartig bei der absolut überwiegenden Anzahl der Patienten eintritt, und zweitens: dass die psychische Individualität des Patienten und die aktuelle Verfassung und Umgebung in der er sich befindet eine (möglichst) untergeordnete Rolle zu spielen hat. Anders kriegen sie ein Medikament gar nicht durch die ganzen Studien.
    Genau DAS, die weitgehende Unabhängigkeit der Wirkung von ‘Set & Setting’ ist aber bei P. eben genau NICHT der Fall! Das kann man als Mediziner kritisieren und beklagen – aber diesen grossen Unterschied zu der (abgesehen von der Placebo-Wirkung) rein Substanz-induzierten Wirkung ‘normaler’ Medikamente sollte man schlicht nicht ignorieren, wenn man auf diesem Gebiet seriöse Aussagen und Einschätzungen – von Studien ganz abgesehen – machen will.

  35. @Sunflower: Schattenboxen

    Wiederum danke fürs Teilen Ihrer Erfahrungen; in vielen Punkten stimmen wir sogar überein. Doch wiederum muss ich feststellen, dass Sie Vorurteile auf mich projizieren: Natürlich hinterfrage ich “spirituelle” Erfahrungen aller Arten auf die gleiche Weise; meine Studierenden lernen in den Seminaren über östliche Denkweisen und Psychedelika, dass es auf deren transformierende Wirkung ankommt. Im Übrigen vermeide ich lieber den Begriff “Droge”. Tipp: Unter dem Titel “Substanzkonsum” habe ich gerade ein ganzes Buch veröffentlicht (gratis).

    Ich habe den Eindruck, dass Sie den Ast absägen, auf dem Sie sitzen: Einerseits fordern Sie wissenschaftliche Studien; andererseits argumentieren Sie prinzipiell gegen deren Aussagekraft.

    Den primären Denkfehler sehe ich darin, dass Sie mir (wiederholt) Annahmen unterstellen, die ich gar nicht tätige; ein sekundärer, noch offensichtlicherer Denkfehler besteht darin, in diesem Beitrag gehe es um Psychedelika (siehe auch die Haus- und Diskussionsregeln).

    Schön, dass wir darüber geredet haben; im Endeffekt wirkt es auf mich eher wie ein Schattenboxen. 😉

  36. @Schleim

    Ach, noch zum Thema ‘Heilung’ … das war und ist für mich in diesem Zusammenhang schon immer ein weit überdehnter Begriff gewesen – da mache ich eine klare Unterscheidung zwischen ‘Spiritualität’ und ‘Esoterik’.
    P. schliessen eine Tür auf, die in unserer modernen Gesellschaft seit langer Zeit ziemlich zugenagelt ist. Wie weit sie für einen aufgeht, und wie weit man sich traut, durch sie hindurch zu gehen, und was man dahinter findet – ist hochgradig individuell. Aber jeder der sich auskennt wird ihnen bestätigen, dass ein LSD Trip in aller Regel aus einem eher einfach gestrickten, unreflektierten Menschen nicht wie von Zauberhand einen Philosophen oder Künstler macht. Und was noch stärker zutrifft: man muss eine grundsätzliche Bereitschaft haben, Einsichten und ‘Wahrheiten’ anerkennen zu können, auch wenn sie einem nicht auf jedem Schritt des Weges immer nur angenehm sind. Das ist grade bei Leuten, die sich von allem und jedem ‘Heilung’ versprechen nach meiner Erfahrung oft nicht der Fall – die landen und bleiben dann auch gern bei der puren Esoterik, und sind nicht selten genauso vehemente oder noch stärkere Gegner von ‘Drogen’, wie jeder Durchschnittsbürger.

    Und was die Reinheit von MDMA angeht: was alles noch so beigemischt wird lässt sich tatsächlich für den Laien nicht mit angemessenem Aufwand feststellen. Deshalb wäre ja eine Änderung der Politik in Bezug auf ‘drug testing’ so wichtig. Eines der üblichen Test-Kits, die man auch privat kaufen kann (allerdings nur aus dem Ausland) sagt einem aber ziemlich klar, ob ÜBERHAUPT MDMA drin ist. Und da war die Entwicklung in den letzten 10 Jahren leider so, dass die Menge stetig zugenommen hat. Die zwar seltenen, aber natürlich immer sofort in den Medien hochgejazzten Todesfälle von – in aller Regel – Jugendlichen kommen dann auch genau daher: früher konnte man einfach auch mal ne ganze Pille nehmen, und lag dann höchstens ein-zwei Stunden halb bewusstlos in der Ecke. Bei 300mg oder mehr pro Pille kann diese Dummheit und Unreife aber leicht einen jungen Menschen – oft sind es Mädchen – das Leben kosten. Das liegt dann aber in aller Regel NICHT an irgendwelchen Streckstoffen oder anderem Mist – sondern nur daran, dass selbst die allereinfachste Regel misachtet wird: man nimmt von einer neuen Charge grundsätzlich nie mehr als eine HALBE Pille. Wirklich zu viel verlangt? Politik, Gesellschaft und Medien verbieten und skandalisieren ja lieber, statt offen aufzuklären ….

  37. @Schleim

    “Den primären Denkfehler sehe ich darin, dass Sie mir (wiederholt) Annahmen unterstellen, die ich gar nicht tätige;”

    Man könnte meinen sie sind ein ‘Schüler’ von Jordan Peterson … der versteht es auch meisterhaft, zu behaupten, er hätte ja Dieses oder Jenes gar nicht gesagt oder anders gemeint – und wird aber komischerweise von der grossen Mehrheit seiner Zuhörer GENAU SO verstanden 😉
    Da bin ich hier aber nicht der Erste, dem das bei Ihnen auffällt, dass sie da öfter links blinken, und dann im Zweifelsfall doch noch rechts abbiegen …

    “ein sekundärer, noch offensichtlicherer Denkfehler besteht darin, in diesem Beitrag gehe es um Psychedelika (siehe auch die Haus- und Diskussionsregeln).”

    Schon verstanden … gehe auch schon wieder in den read-only Modus … Solche reinen Dialoge, wo sich sonst niemand mehr zu Wort meldet, halte ich in einem solchen Medium sowieso für fehl am Platz.

  38. Stephania Mucus,
    machen Sie es selbst, die Mitleser werden Ihnen anders begegnen wie als Mann.
    Nur Mut !

  39. @Sunflower im Fakten-Check

    Schauen Sie, den Punkt mit Ecstasy und dem Drug-Checking, das der Bundestag übrigens vor der Sommerpause erlaubt hat (nicht mitbekommen? och…), habe ich genau so am 27. Juli beschrieben.

    Ich habe hier bald 500 Artikel zur Diskussion gestellt. Wenn ich mich so oft irre, wie Sie es mir unterstellen, könnten Sie das ja einfach mal an einem Zitat festmachen; nur einem!

    Ich wünsche mir ja, dass hier mehr junge(?) Menschen und mehr Frauen(?) mitdiskutieren; aber auch dann gilt, dass man sich ehrlich machen sollte. Ansonsten ist man eben in seiner Blase der moralischen Überlegenheit gefangen und betreibt – Schattenboxen.

    Mit dem Hinweis auf Peterson wollen Sie mich wohl provozieren. Doch wissen Sie: Der Mann ist Bücher-Millionär und hat 7,5 Millionen Abonnenten auf YouTube. Wenn Sie all das nicht mal zur kritischen Reflexion Ihres überheblichen Standpunkts veranlasst – dann helfen wohl auch keine Psychedelika. 😉

    P.S. Und ich bin nicht nachtragend; diskutieren Sie gerne mal wieder mit, doch bitte auf Grundlage der tatsächlichen Aussagen, nicht Ihrer Vorurteile.

  40. Zum Abschluss, um der Depression auf die Spur zu kommen, letzte Frage.
    Können depressive Menschen noch lachen ? (nicht weinen !) und worüber ?
    Und wenn ja, dann könnte man doch ein Maß einführen für die Stärke einer Depression.
    Das hört sich jetzt nicht besonders mitfühlend an, ich weiß, trotzdem interessiert es mich. Und dann könnte man feststellen, ob sich die Anzahl der Lacher nach einem Witz z.B. oder einem Slapstick nach der Einnahme von Antidepressiva erhöht ?

  41. @Neumann: Dass man den Stempel “Depression” verpasst bekommt, heißt ja nicht, dass man die ganze Zeit über maximal depressiv ist; aber in der Tendenz dürften Menschen mit dieser Problematik eher weniger lachen, ja.

    Davon abgesehen ist die “depressive Verstimmung” zwar ein Kernkriterium der psychischen Störung, doch kein notwendiges Symptom. Das andere ist “Motivationslosigkeit”. Man kann weniger Lust auf Tätigkeiten haben – aber trotzdem über einen Witz lachen, oder?

  42. P.S. Aus eigener Erfahrung, ohne dass das jetzt für alle Menschen mit der Diagnose “Depression” gelten muss, kenne ich es so, dass jemand dann sehr stark auf negative Reize reagieren kann, die eigentlich Kleinigkeiten sind (z.B. “der Kaffee ist schon wieder zu stark”) – und dann schlimmstenfalls der ganze Tag im Eimer ist und der-/diejenige dann alles schwarz sieht (“immer geht alles schief”), auch wenn sonst noch positive Dinge passieren.

  43. Stephan Schleim
    Danke, das Beipiel mit dem starken Kaffe war erleuchtend.
    Ich würde die Gereiztheit als cholerisch bezeichnen.
    die wiederum hält nur kurz an, dann scheint wieder die Sonne.

    Die Motivationslosigkeit hängt wieder mit der Sinnfrage zusammen.
    Wenn einem alles egal ist, dann wäre das ein Warnsignal erster Güte.
    Ansonsten hat die Person auch Verpflichtungen, deren Missachtung zu schwerwiegenden Folgen führt.

    Könnte man Depression als ein Fehlen von Freude bezeichnen oder eher als eine ständig schlechte Laune.
    Oder keines von beidem , eher eine Kraftlosigkeit ?

    P.S. Sie geben sich ja echt Mühe, ein Dank dafür.

  44. Mir hat vor vielen Jahren eine junge Frau die an schweren endogenen Depressionen litt erklärt, dass keiner versteht wie es sich „anfühlt“ wenn man unter so etwas wie einer sehr schlechten „gefühlsmäßigen Stimmung“ leidet. Man kann es nicht einmal beschreiben, man versteht nicht wie es medizinisch und schon gar nicht wie es chemisch/physikalisch dazu kommt.

    Ich hatte vor vielen Jahren, einen glücklicher Weise nur absolut einmalig gebliebenen, eher harmlosen epileptischen Anfall, wie ein Arzt den ich später nebenbei davon erzählt habe, vermutete. Es dauerte nur rund 2 Minuten und war so plötzlich wie es gekommen war auch wieder vorbei.

    Das „wellenartig“ auftretende, sehr breite „Spektrum aus Gefühlsempfindungen“ könnte ich nur „negativer Orgasmus“ bezeichnen. Ich hatte dabei keine Muskelkrämpfe. Aber ich kann jetzt besser nachvollziehen, warum sich jemand umbringt, der dauerhaft unter derartigen „Empfindungsstörungen“ leidet.

    Als ehemaliger Elektroniker gehe ich davon aus, dass hauptsächlich dynamisch auftretende elektrische Ladungen, die selektiv biologischen Strukturen zugeführt werden, irgendeinen „empfindenden Prozess“ aktivieren könnten.

    Aber auch ein nur chemischer Einfluss (Drogen, Nebenwirkungen von Medikamenten) sollte „Gefühlsempfindungen“ auslösen können, die in neuronalen Systemen ausgewertet werden können.

    Bestimmte physikalisch/chemische Prozesse können nicht nur die dynamischen „Lebensprozesse“ generieren, sondern sollten auch das „Empfindungsphänomen“ realisieren können. Vermutlich als bestimmte „Bewegungsmuster“ bestimmter „Elektronen oder Teilchen“. Physiker sollten zumindest sehr wahrscheinliche Korrelationen ermitteln können.

    Damit sollte man Empfindungen/Gefühle objektiv messbar machen und systematisch vorgehen können. Sogar Placeboeffekte sollte man erklären können.

    Letztlich dürfte es, abgesehen von den rein chemischen Aktivierungen, darauf hinauslaufen, dass auch „elektrische Spannungsvektoren“ selektiv chemische Strukturen „aktivieren“, ähnlich wie sie eine Glühlampe zum Leuchten bringen. Einerseits tragen sie zu „Lebensprozessen“ bei, andererseits dürften sie auch Empfindungen generieren. (Besonders „Gefühlsempfindungen“ könnten auch in „Gliazellen“ realisiert werden).

    Die elektrischen „Spannungs – Vektoren“ der jeweiligen „Einspeisepunkte“ (z.B. triggernde Neuronen) bestehen z.B. aus den jeweils 3 „Raumkomponenten“ und einer Komponente für die „zeitliche Dynamik“ der eingespeisten Signale.

    Damit könnte erklärt werden, wie das neuronale System, besser die „Denkprozesse“, auf die „Empfindungen“ Einfluss nehmen, z.B. auch wie es zu „psychosomatischen Effekten“ kommt.

  45. @ Elektroniker:

    Die Psychiatrie auf der einen Seite (Psychotherapie, Praxis) und die Neurowissenschaften auf der anderen Seite (Wissenschaft, Theorie) die Prozesse erforschen wie Sie sie beschrieben haben sind zwei völlig verschiedene Welten.

    Bis auf wenige Ausnahmebereiche arbeiten beide Bereiche nicht wirklich zusammen, auch wenn Ihnen viele Leute etwas anderes erzählen werden (wie toll das doch alles verzahnt sei und so weiter – alles Quatsch).

    Der 08/15 Psychiater hat gar keine richtige Ahnung über solche dynamischen Prozesse; er lernt es nicht im Studium, nicht in der Facharztausbildung, und wenn er dann in der Praxis arbeitet hat er auch keine Zeit sich damit intensiv auseinanderzusetzen. Welcher Psychiater liest schon ernsthaft wissenschaftliche Paper über solche Themen? Das sind ganz, ganz, gaaaanz wenige Ausnahmen.

    Der 08/15 Neurowissenschaftler im Bereich Neuroimaging (EEG, fMRI, etc.) schreibt ein Paper nach dem anderen – er arbeitet rein theoretisch.

    Das sind zwei Welten, oder alternativ formuliert Tag und Nacht. Sie können diese dynamischen Prozesse aus der Sicht der Neurobiologie genau verstehen – nehmen wir einmal an es wäre so – damit wäre in der Praxis trotzdem niemanden geholfen, es würde gar nichts ändern. Natürlich ist das für Menschen wie für uns interessant, denn uns interessieren diese Themen. Aber in der Praxis können Sie damit fast nichts anfangen.

    Die Erforschung von Medikamenten ist schon wieder etwas anderes, die läuft auf einer anderen Ebene als das was Sie beschrieben haben.

  46. @Philipp

    Die Frage, ob etwas im aktuellen wissenschaftlichen System erforscht WIRD, oder ob etwas prinzipiell detektierbar, und dann ggf. auch manipulierbar wäre – sind aber zwei paar Stiefel.
    Die Ausführungen von ‘Elektroniker’ sind mir zwar auch etwas zu mechanistisch – aber allein die Tatsache, dass – inbesondere hierzulande – zwei Gebiete wie die Psychiatrie und die die Neurowissenschafen nicht (so) zusammenarbeiten, wie der Laie sich das womöglich vorstellt, spricht ja nicht dagegen, dass das prinzipiell möglich WÄRE, und es hier schon lange Fortschritte geben KÖNNTE.

    Ich habe mich in den späten 80ern und in den 90ern lange mit Themen der sog. ‘Kognitionswissenschaft’ beschäftigt – und musste feststellen, dass es in den angloamerikanischen Ländern damals schon viel üblicher war, fachübergreifend zu denken und zu forschen, als in Deutschland, wo die Trennung der einzelnen Gebiete oft schon aufgrund der Eitelkeit und Wagenburg-Mentalität einzelner Protagonisten ziemlich unüberwindbar war. Als MINT’ler ist mir da vor allem bei den Medizinern aufgefallen, dass die oft keinerlei Zugang zur Informatik hatten – in der Praxis sogar auf die Informatiker herunter geschaut haben, und das Gebiet nur als reine ‘Hilfswissenschaft’ betrachtet haben, die keine essentiellen perspektiv neuen Lösungen anzubieten hat.
    Das hat sich heute sicher verbessert – schon aufgrund der viel grösseren Transparenz und der Möglichkeit, sich im Internet ganz anders austauschen zu können, als früher. Aber ich habe trotzdem nach wie vor das Gefühl, dass da noch viel ‘Luft nach oben’ ist, und es vielen Fachgebieten gut täte, ihre Tendenz, überall Nägel zu sehen, weil man ja selbst nur einen Hammer hat, gezielter zu hinterfragen. Heute kranken aus meiner Sicht viele Fachbereiche, die zu den ‘hard sciences’ gehören, nach wie vor , oder sogar verstärkt darunter, dass man sich zu lange und zu stark den als ‘esoterisch’ empfundenen Einordnungen der Philosophie komplett entzogen hat. Wobei wir beim Thema ‘Depressionen’ wären: solange wir keine Nöglichkeit haben, uns in den Kopf eines anderen Menschen – des Patienten – direkt hinein zu versetzen, bleibt hier das bekannte Problem der ‘Qualia’ eine womöglich unüberwindbare Hürde, die auch von der kleinteiligen Elektronenschubserei, wie sie ‘Elektroniker’ vorschlägt, nicht prinzipiell überwunden werden kann: ist mein Blau dasselbe Blau, wie ihr blau? Ist mein Leiden in einer stark depressiven Phase dasselbe Leiden, das sie empfinden, wenn dieselben elektrochemischen Kaskaden durch unsere Hirne rauschen? Man stösst hier auch sehr schnell an Grundfragen nach der Natur der Bewusstseins, wo die Neurowissenschaften sich ja auch mit Händen und Füßen dagegen wehren, ihren Reduktionismus vielleicht doch mal ernsthafter zu hinterfragen.

  47. @JoeChip: Neuro & Psychiatrie

    Danke für Ihren Kommentar; mir gefällt Ihre Denkweise.

    Die (angebliche) Synthese zwischen Neurowissenschaften und Psychiatrie nennt man entweder Neuropsychiatrie (durchaus schon sehr lang; Griesinger, Mitte des 19. Jahrhunderts nennt man auch den Vater dieses Fachs) oder klinische Neurowissenschaft, wobei ich letzteres schon etwas lächerlich finde; und was ist eigentlich mit der Neurologie?

    Die Bestrebungen, Neuro & Psychiatrie enger zu verzahnen, dürften zum Großteil damit zusammenhängen, dass es für alles “Neuro” seit den 1980ern/1990ern sehr viel mehr Geld gibt, sich dort Forschung einfacher publizieren lässt (so auch in meiner Doktorarbeit) usw. Das große Drama ist, dass die Steuer- und Fördergelder dafür nicht nur weitgehend nutzlos verpufft sind (sieht man vom Nutzen für die Karrieren der Neuropsychiater ab); das große Drama ist, dass Patient*innen davon kaum profitierten und praktisch nützliche Alternativen viel seltener gefördert wurden.

    Ich war gerade auf der “Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst“-Ausstellung des Medizinhistorischen Museums der Charité. In der festen Ausstellung wurden zwei bemerkenswerte Ergebnisse dargestellt: Erstens sahen Anatomen/Pathologen schon sehr früh in der Geschichte die großen Unterschiede zwischen den Menschen bei den Krankheiten (siehe schon die Sammlung der Gallensteine gleich am Eingang); anders gesagt: Jede Krankheit ist einzigartig. Zweitens hat sich im 19. Jahrhundert die naturwissenschaftliche Medizin durchgesetzt. Deren Erfolge brachten aber – bis heute – einen Verlust des für uns Menschen auch wichtigen Erfahrungswissens mit sich.

  48. @ Philipp 13.09.2023, 22:56 Uhr

    Was Sie über das „Verhältnis“ von Psychiatern und Neurologen berichten, gibt es auch in anderen Fachgebieten.

    Ich habe aushilfsweise als Fernsehmechaniker gearbeitet und konnte einen „Reparaturgenie“ über die Schulter sehen und dabei sehr viel lernen. Nach meiner Ingenieursausbildung war ich in der Elektronikentwicklung beschäftigt und hatte die Möglichkeit von gleich 3 sehr kreativen und erfahrenen Schaltungsentwicklern zu lernen.

    Die „Praktiker“ arbeiten nach „Heuristiken“, können extrem schnell und sehr erfolgreich die Probleme lösen. Die „Theoretiker“ wollen die Probleme grundlegend analysieren und möglichst allgemein gültig einer Lösung zuführen.

    Bei Psychologen und Neurologen ist mir aufgefallen, dass sie zwar wie üblich „emotional“ wie Sie es sehen, miteinander „diskutieren“, aber die Psychologen können sich sehr leicht in den „Psychologenmodus“ versetzen und sehr „verständnisvoll“ argumentieren.

    Dass die „Dynamik von Prozessen“ sehr häufig zu wenig beachtet wird, ist auch mir klar. In meinem Ausbildungsfach „Nachrichtentechnik“, stand sie im Mittelpunkt. Wie eigentlich ganz allgemein in Fächern die das „Leben“ betreffen. Leben ist „Dynamik“.

    Einerseits sollten Neurowissenschaftler noch mehr, womöglich mit Quantenphysikern/Chemikern zusammenarbeiten, um bei den Fragen aller Fragen (nach dem Empfindungsphänomen, Qualia und Bewusstsein) einer Antwort näher zu kommen.

    Andererseits sollte man die Lösungskonzepte so aufbereiten, dass die an der „Patientenfront“ arbeitenden Praktiker was damit anfangen können.

    Allerdings sollten die Lösungskonzepte zunächst in zweckmäßige „Messverfahren“ eingebunden werden. So dass bestimmte „Empfindungswerte“ genau so gemessen werden können wie z.B. der Blutzucker oder der Blutdruck. So dass auch Empfindungen/Gefühle so „eingeregelt“ werden können wie der Blutzucker oder der Blutdruck mittels Medikamente.

    Letztlich konnte die Pharmaindustrie eigentlich recht wirksame Medikamente entwickeln. Früher starben Zuckerkranke mit rund 50 Jahren. Mein bester zuckerkranker Kumpel wird jetzt auch bald 80 Jahre….

  49. @ JoeChip 14.09.2023, 08:54 Uhr

    Dass die Zusammenarbeit verschiedener Fachgebiete, besonders in unserer (westlichen) „Wettbewerbsgesellschaft“ ein Problem ist, ist allgemein bekannt. Da sind uns die Chinesen mit ihrem traditionellen „Harmoniestreben“ voraus.

    Es kommt halt darauf an, dass erfolgreiche Unternehmer, allenfalls unter Mithilfe von Psychologen, erfolgreiche Forschungsteams zusammenstellen. Psychologen könnten die „Psychospiele“ analysieren und die Kooperation fördern.

    In D ist das „Spezialistentum“ durch Förderung besonderer individueller „Anlagen“ weit verbreitet und auch sehr erfolgreich. Auch aus diesen Gründen kann die Kooperationsfähigkeit zu kurz kommen.

    Allgemein gelten Mediziner als „geistige Elite“ eines Volkes. Und wenn man auf die Fähigkeit Wert legt, jederzeit, sehr schnell und exakt das „Wissen und die Fähigkeiten“ abrufen zu können, wie es bei Ärzten sehr wichtig ist, so sind sie auch diese Elite.

    Andere Wissenschaftler sind „launenhafter“, können absolute geistige Höchstleistungen und Kreativität erbringen, aber nur wenn sie halt gut drauf sind….

    Die Informatik wird von Menschen die mit diesem Fachgebiet wenig zu tun haben stark unterschätzt.

    Die Möglichkeit, sich im Internet ganz anders austauschen zu können als früher, fördert extrem die Kreativität. Man erhält Einblick in andere Sichtweisen und kann seinen eigene Horizont stark erweitern.

    Ich meine, dass Psychologen gelernt haben, sich recht gut in den Kopf eines anderen Menschen – des Patienten – möglichst direkt hinein zu versetzen.

    Ich gehe davon aus, dass ‘Qualia’ eine physikalische Ursache hat, die man irgendwann, zumindest als Korrelation mit messbaren Effekten, erklären kann. Und wäre es mit der kleinteiligen Elektronen- oder Teilchenschubserei.

    Mein Blau ist nicht zwingen dasselbe Blau, wie ihr blau!

    Ganz einfach, Menschen mit verschiedenen „Augenfarben“ empfinden Farben etwas unterschiedlich, abhängig davon mit welchem Auge sie darauf schauen. Ist auch irgendwie naheliegend.

    Zitat: „Ist mein Leiden in einer stark depressiven Phase dasselbe Leiden, das sie empfinden, wenn dieselben elektrochemischen Kaskaden durch unsere Hirne rauschen?

    „Dasselbe Leiden“ ist es offensichtlich nicht, weil die Strukturen unterschiedlich sind. Aber wenn man die relevanten „Empfindungsstrukturen“ und die möglichst genauen Prozesseigenschaften die Empfindungen/Gefühle realisieren findet, so könnte das reichen. So wie z.B. die „Einpegelung“ des Zuckerspiegels im Blut reicht, die Lebensqualität zu verbessern.

    Reduktionismus scheint zumindest solange sinnvoll, als nicht ein „absoluter Quantenzufall“ eine Rolle spielt. Es fragt sich höchstens, ob man einen derartigen Zufall sinnvoll manipulieren könnte?

    Die Neurowissenschaftler (und auch die Physiker) wollen halt nicht aufgeben, wer aufgibt hat schon verloren…..

  50. @Elektroniker und @JoeChip:

    Das wovon Sie (Elektroniker) in ihren zwei Beiträgen geschrieben haben betrifft die Grundlagenforschung, beispielsweise im Bezug auf Dynamic Systems Theory.

    Hier im Blogbeitrag geht es aber um Medikamente.

    Was Sie an dynamischen Prozessen aus der Analyse von Zeitreihen aus Neuroimagingdaten gewinnen können kann sehr interessant sein, da stimme ich Ihnen ja zu. Das ist auch genau das Thema das mich interessiert. Aber damit können Sie keine Medikamente entwickeln oder gar Menschen helfen. Sie können das Gehirn hier im Ansatz verstehen, aber dieses Wissen für praktische Hilfe umzusetzen ist ein ganz anderes Thema.

    Der Rest den Sie nun angesprochen haben (Elektroniker) betrifft ja schon wieder metaphysische bzw. philosophische Grundfragen jene die Neurowissenschaften ohnehin niemals lösen können. Das geht alles vom eigentlichen Thema hier weg.

    Allein (1) “dynamische Prozesse” von Nervenaktivität des Gehirns verstehen und (2) Medikamente zur Behandlung der Depression entwickeln sind auch zwei Welten. Da versteht der Neurowissenschaftler der (1) betreibt nicht was der aus der Gruppe (2) erzählt und umgekehrt. Die Themen sind so komplex und völlig unterschiedlich.

    Ich wollte Sie nicht kritisieren, sondern Sie nur darauf hinweisen dass das was Sie angesprochen haben an das Thema der Medikamententwicklung völlig vorbei geht.

  51. @ Philipp 14.09.2023, 14:58 Uhr

    Sie werden es kaum glauben, aber ich sehe es weitgehend wie Sie. Es sind in der Tat verschiedene „Welten“ und dazwischen die Philosophie.

    Nur müssen einerseits „die Welten“ zusammengeführt werden und die Philosophie zumindest hinterfragt werden.

    In der Technik ist es völlig selbstverständlich, dass die verschiedensten Fachgebiete kooperativ und auch höchst erfolgreich zusammenarbeiten. Und ich sage es ganz offen, die Informatik „schert“ sich nicht um die Philosophie. Würden sie auf die Philosophen hören, es gäbe keinen Computer, keine KI. Aber nicht einmal einfache Technik, elektrisches Licht, Dampfmaschine, Eisenbahn, Telefon, Radio, Fernsehen, ……

    Mit dem grundsätzlichen Argument, der Mensch könne sich nicht mit dem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, wurde früher alles als verrückte Phantasie abgetan.

    Um das Gehirn im Ansatz besser zu verstehen, verweise ich auf die Assembly Theorie.

    Auch W. Singer und C. v. d. Malsburg haben daran geforscht. W. Singer vermutete zuerst, sein EEG Gerät hätte „Kurzschlüsse“, weil er „Synchronitäten“ (Bindungsproblem) entdeckt hatte….

    Hier habe ich beschrieben, wie ich meine Begeisterung dafür entdeckt habe.

    Dass metaphysische bzw. philosophische Grundfragen der Neurowissenschaften ohnehin niemals lösbar sind, das ist eine Kapitulation vor den Problemen. Über dieses Thema hatte ein ehemaliger Klassenkollege von der Grundschule einen Konflikt mit seinem Vater, einen Dr. Phil. Zur Hirnforschung meinte der Sohn, wenn nicht daran geforscht werde, so kann man auch nie Wissen über das “Denken” erwerben….

    Meines Wissens haben Medikamentenentwickler früher versucht, Signalwege im Gehirn zu blockieren um bestimmte Areale abzuschalten. Das war immerhin ein guter Anfang.

    Ich gestehe ihnen aber ausdrücklich zu, dass es in der Medizin wegen der ethischen Aspekte wesentlich schwieriger ist „kreativ“ zu sein, so wie in der Technik.

    Vielleicht kommt man mit Forschungen an geeigneten „künstlichen“ Zellverbänden weiter.

  52. @ Elektroniker:

    Dass metaphysische bzw. philosophische Grundfragen der Neurowissenschaften ohnehin niemals lösbar sind, das ist eine Kapitulation vor den Problemen.

    Können Sie mir ein einziges metaphysisches Problem der Philosophie nennen das empirisch-wissenschaftlich gelöst wurde? Ich kenne keinen einzigen Fall. Man kann metaphysische Probleme nicht empirisch lösen.

    Die metaphysischen Probleme aus der Vergangenheit der Philosophiegeschichte die heute nicht mehr so wie damals diskutiert werden sind nur insofern “gelöst” als dass sich herausstellte dass die Philosophen das Problem falsch konstruiert hatten; sprich das Problem selbst war Unsinn, es stellte sich als Pseudoproblem heraus, da die Dinge in echt ganz anders stehen oder funktionieren. Man hat also erkannt dass das Problem einfach Unsinn war und die Diskussion verschob sich auf neue und andere Arten von Probleme.

    Aber wirklich 1:1 “gelöst” wurde ein metaphysisches Problem noch nie.

    Das hat also nichts mit Kapitulation zutun.

  53. @Philipp @Elektroniker

    Kleiner Einwurf von mir, den ich so kurz halte, dass hoffentlich Herrn Schleim’s tldr; Detektor nicht anschlägt: niemand sollte sich ernsthafter über Metaphysik äussern, der nicht mindestens einmal im Leben einen starken psychedelischen ‘Trip’ erlebt hat.

    Wieso? Die Frage stellt nur jemand, der es noch NICHT gemacht hat … q.e.d. 😉

    Nur soviel:
    Die dadurch erreichbare Ausweitung des Blickwinkels auf die ‘Natur der Realität’, auf Grundfragen der Daseins, und auf das was wir ‘Bewusstsein’ nennen, ist mit nichts anderem, was ein Mensch ohne grösste Anstrengungen (jahrzehntelange Meditationspraxis) oder höchst unangenehme Erfahrungen wie schwere Krankheit, Unfall oder Tod (von geliebten Menschen), oder einem eigenen Nah-Tod Erlebnis erreichbar.
    Das wissen zig Millionen Leute, die ‘experienced’ sind seit vielen Jahrzehnten. Nur fragt sie in diesem Ignoranten-Klima von Wissenschaft, Politik, Kommerz und Medien, in dem wir alle bis zum Hals drin stecken, eben keiner.

  54. @ Belzagor:

    …niemand sollte sich ernsthafter über Metaphysik äussern, der nicht mindestens einmal im Leben einen starken psychedelischen ‘Trip’ erlebt hat.

    Irgendwie geht Ihre Aussage an der Diskussion vorbei.

    Da könnte man auch sagen: niemand sollte sich ernsthaft über die Möglichkeiten der Neurowissenschaften zur “Lösung” von metaphysischen Fragen äußern der noch nicht selbst mit diesen Mitteln gearbeitet hat.

    Nur soviel: Software zur Datenanalyse sowie EEG und fMRI Datensätze findet man gratis im Internet. Man könnte sich also alles downloaden und selbst beginnen Daten zu analysieren und Studien selbstständig zu publizieren, beispielsweise auf einer eigenen Homepage.
    Wer behauptet dass man metaphysische Fragen (hier z.B. der Philosophie des Geistes) über neurowissenschaftliche Tools auch nur im Ansatz lösen kann, der kann ja mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen wie das geht.

  55. @Belzagor 15.09. 10:31

    „…niemand sollte sich ernsthafter über Metaphysik äussern, der nicht mindestens einmal im Leben einen starken psychedelischen ‘Trip’ erlebt hat.“

    Die Weite möglicher Erfahrungen legt dieses nahe, unbedingt.

    „Nur fragt sie in diesem Ignoranten-Klima von Wissenschaft, Politik, Kommerz und Medien, in dem wir alle bis zum Hals drin stecken, eben keiner.“

    Vielleicht mangelt es wirklich einfach nur an engerer Zusammenarbeit der Fachgebiete? Neurowissenschaft, Pharmaforschung, psychiatrische Praxis, Psychologie, Soziologie, Philosophie und Religionswissenschaft sind alle mehr mit sich als miteinander beschäftigt. Und jetzt kommt noch KI und damit Informatik dazu.

    Der Depressive selbst muss selber sehen wo er dabei bleibt.

    Die Zerteilung des Wissens sollte vielleicht mal reduziert werden? Es könnte sein, dass das uns wirklich weiter bringt. Vielleicht schafft das am Ende erst die KI. Dem könnten wir dann einfach folgen.

  56. @ Philipp

    Die metaphysischen Probleme aus der Vergangenheit der Philosophiegeschichte sehe ich fast genau wie Sie. Mir reicht es, einer Problemlösung möglichst nahezu kommen und eine möglichst „realistische“ Sicht. Wegen der begrenzten „Denkressourcen“ kann man Problemlösung nur näher kommen. Auch das „Depressionsproblem“ kann man nur annähernd lösen, entweder mit Medikamenten oder Therapie.

    Mir ist aufgefallen, dass die Technik, besonders die Informatiker eine (auch „metaphysische“) „Grenze nach der Anderen“ niedergerissen haben.

    Eine Maschine wird niemals: Rechnen können, Gleichungen lösen, Information verarbeiten, Stimmen erkennen und den Text schreiben, Schach oder Go spielen, KI Aufgaben lösen,….

    Sogar der Programmierer eines Schachprogramms wurde haushoch vom eigenen Programm „geschlagen“….

    Ich meine, man kann die „Metaphysik“ auch ganz locker sehen. Als „alter 68er“ bin ich für die „Freiheit des Denkens“ und ich mag keine „Grenzschranken“ im Hirn.

  57. @Belzagor, Philipp: Erfahrung & Erkenntnis

    Es ist das alte erkenntnistheoretische Problem, wie man von der (inneren) Erfahrung auf Erkenntnis über die (äußere) Welt schließt.

    Wenn man insbesondere von psychedelischen Erfahrungen spricht, sollte man sich einmal mit den Mystikern beschäftigen: Die haben nämlich nicht nur mit asketischen Übungen oder extatischem Tanz (z.B. Sufis) “Gott” gesucht, sondern tatsächlich auch vor Ewigkeiten schon Psychedelika verwendet.

    Wichtig ist eben die Deutung solcher Erfahrungen, die immer in einem bestimmten psychosozialen Kontext geschieht. Und das ist eine der Sachen, die mich im Kontakt mit Leuten wie Belzagor oder Sunflower hier schon etwas nervt: Man bewirbt seine Wundermittelchen (wie Psilocybin) – hat aber nicht einmal die Geschichte des eigenen “Fachs” vor Augen; und Geschichte gibt es da genug, seit über 2000 Jahren (z.B. die Schamanen).

    Aber na ja, man kann es ihnen auch nicht wirklich vorwerfen, wenn man sieht, wie z.B. namhafte Hirnforscher mit (Prof. Dr. vor dem Namen) die Geschichte ihres Fachs nur lückenhaft kennen – und dann z.B. die alten Argumente zur Willensfreiheit aus dem 19. Jahrhundert immer wieder neu daherbeten. 🤷🏻‍♂️

    P.S. Das Narrativ zwischen Psychedelika- und Determinismus-Jüngern ähnelt sich auch insofern, als beide sich einbilden, “gegen den Mainstream” die Fackelt der Erkenntnis hochzuhalten. Manchmal ist’s halt so: Je weniger man weiß, desto bahnbrechender kommen einem die eigenen Allgemeinplätze vor.

  58. @ Stephan Schleim 16.09.2023, 03:59 Uhr

    Mir ist schon klar, dass die Juristen ein (künstliches) „Konstrukt“ brauchen, um einen offensichtlich schwer schizophrenen Mörder in die Psychiatrie und nicht in den Knast zu bringen.

    Aber immerhin habe ich die „bösartige“ Vermutung, dass so mancher „Mörder“, besser seine Verteidiger, mit dem Konstrukt des „freien Willen“ eine „psychologische Hintertür“ (nicht für „Jedermann“) gefunden haben….

    Dieses „Konstrukt“ beruht auf „philosophischen Überlegungen“, die vorsichtig formuliert, nicht immer durch wissenschaftliche, womöglich neuere Erkenntnisse, gedeckt sind.

    Mir persönlich sind die ersten Zweifel am wirklich „freien Willen“ in einem „ganz anderen“ (eher „emotionalen“) Zusammenhang gekommen. Eigentlich könnte man es „Wahn“ bezeichnen und damit ist es wieder „wissenschaftlich“.

    Klar ist mir auch, dass sehr realistisch (und auch „technisch“) denkende Wissenschaftler (aus dem Medizinbereich) Probleme bekommen, wenn sie ein „Sakrileg“ begehen, sich womöglich an der Philosophie (und am „Geschäft“ der Gerichtspsychiater) „versündigen“……

  59. @Elektroniker: forensische Psychiatrie (nicht wirklich das Thema hier)

    Fall A: Mörder, 100% schuldfähig, Strafe Lebenslang, in Deutschland max. 25 Jahre Gefängnis, bei guter Führung evtl. nach 15 Jahren frei*

    Fall B: Mörder, aufgrund einer psychischen Störung eingeschränkt verantwortlich (und schuldfähig), wahrscheinlich Gefängnisstrafe (zum Abbüßen der Strafe) zuzüglich zeitlich unbeschränkter(!) Sicherungsverwahrung** in einer forensischen Psychiatrie, also meist einer Spezialklinik in einem Gefängnis

    * je nach Einzelfall kann in auch in dieser Situation eine Sicherungsverwahrung verhängt werden, wenn man ein großes Risiko für die Öffentlichkeit darstellt

    ** im Einklang mit den Menschenrechten muss dann regelmäßig untersucht werden, ob man noch gefährlich ist, in Deutschland meines Wissens jährlich, in den Niederlanden alle zwei Jahre; man muss also die Psychiater davon überzeugen, kein psychopathischer Mörder mehr zu sein

  60. @Stephan Schleim

    Welchen Dunning Kruger Stohmann wollen Sie denn jetzt hier aufbauen, von wegen wir wüssten von der Geschichte des Psychedelika-Thema nichts, und würden uns deshalb unberechtig für Pioniere und Revolutionäre halten? Nach der Lektüre von mehr als 50 Büchern allein in den letzten 10 Jahren, und ungezählte andere seit den frühen 90ern fühle ich mich da nicht angesprochen.

    Die ganze Debatte dreht sich im Kern um das genau Gegenteil: ich kann nur für mich sprechen, aber ich kritisiere primär das Faktum, dass unsere moderne Politik, Wissenschaft, Medizin und nicht zuletzt das ganze hyper-materialistische sozial-mediale Umfeld, das wir inzwischen für ‘alternativlos’ halten, all das vergessen hat, ignoriert, oder sogar durch entsprechende faktenbefreite Narrative bis hin zu strengen Verboten unterdrückt, was die Menschheit auf nahezu allen Kontinenten in der jüngeren oder längeren Vergangenheit über das Thema ‘Bewusstseinsveränderung’ im weiteren Sinne bereits wusste!

    Und Sie sind doch nachher wieder der Erste, der schon die Studien aus den 50ern zu LSD etc. anzweifelt, weil sie nicht unseren heutigen Standards entsprechen. Standards, die aber sowas wie die US-amerikanische Opioid Krise in keinster Weise verhindert haben. Die nicht verhindert haben, dass David Nutt von seiner Regierung geschasst wurde, nur weil er die Wahrheit gesagt hat. Und die auch so einen Beschiss wie den Ricaurte-Fall, der heute noch den Ruf von MDMA beschädigt, nicht verhindert haben. Aber dann mit ‘Schamanen’ kommen. Gehts noch?

    Nein lieber Herr Schleim: ‘wir’ lehnen uns nicht als Unwissende zu weit aus dem Fenster. Andersherum wird ein Schuh draus: die Allgemeinheit wird dumm gehalten und lässt sich gern dumm halten – und was mich an Ihnen stört ist, dass es sie irgendwie ständig zu jucken scheint, Leuten wie mir, die diese Desinformation kritisieren, die definitiv mehr Ahnung, und vor allem eigene Erfahrungen haben, die Ihnen grundsätzlich fehlen, ans Bein zu pinkeln. Und das lächerlicherweise, obwohl wir eigentlich auf derselben Seite sind.

  61. @Geht’s noch, Belzagor? Ich bin konsistent für eine Dekriminalisierung von Substanzkonsum und neutrale wissenschaftliche Studien; David Nutt kenne, schätze und zitiere ich. Ich sehe auch große Probleme in den vorherrschenden gesellschaftlichen Entwicklungen.

    Ich kritisiere aber eben auch die Heilsversprechen der naiven Psychedelika-Jünger. Ob ich Sie in dieses Lager zählen muss oder nicht, ist mir nicht ganz klar. Ich versuche seit Monaten (Jahren?), mir einen Reim auf Ihren Standpunkt zu machen.

    Übrigens konsumieren junge Leute doch häufig Psychedelika. Erst kürzlich sah ich eine Studie über den Psilocybin-Konsum auf Amsterdamer Schulen. Inwiefern macht das die Welt/die Gesellschaft nun besser? Inwiefern geht es diesen Menschen psychisch wesentlich besser? Inwiefern ist das, was wir heute sehen, wesentlich anders als die Erfahrungen der 1950er bis 1970er? Wenn Sie mir auf diese Fragen kurz und bündig antworten, ohne beleidigend zu werden, würde ich mich freuen.

  62. @Stephan Schleim

    “Wenn Sie mir auf diese Fragen kurz und bündig antworten, ohne beleidigend zu werden, würde ich mich freuen.”

    Ne, ‘kurz und bündig’ is nich. Oder müssen sie hier für jedes Byte extra zahlen?

    Darauf hat doch erst neulich ‘Sunflower’ ausführlich geantwortet – lesen sie nochmal seinen/ihren Abschnitt: “2. Jemand hat mal sinngemäß gesagt: “In einer kranken Welt kann niemand dauerhaft gesund bleiben”.

    Ich würde aber noch einen viel wichtigeren Aspekt rein bringen: dass Jugendliche oder junge Erwachsene (sie beziehen sich ja auf den Gebrauch an Schulen) nicht automatisch und von sich aus ein Mittel bzw. ‘Werkzeug’, das ein grosses Potential für charakterliche Bildung und weitreichenden gesellschaftlichen Wandel hat, auch in diesem Sinne einsetzen – ist doch eigentlich eine Binsenweisheit. Bis Ende zwanzig neigt man doch notorisch zu Mißbrauch und Überteibung und ‘just for fun’ Motiven, wenn man keine Anleitung und Führung und positive Vorbilder hat. Das es auch anders geht sieht man doch wunderbar im Vereins-Sport, wo diese Anleitung und diese Vorbilder gut funktionieren!
    Aber wo sollen die ausgerechnet beim Thema ‘Drogen’ herkommen, wo die Öffentlichkeit nicht mal bei den erlaubten Substanzen als Vorbild dienen kann (das Oktoberfest lässt grüssen …), und Eltern auf dem Standpunkt stehen: ‘mit diesem Thema befasse ich mich erst inhaltlich, wenn mein Kind konkret in der Schei**e steckt – vorher reichen Verbote’.

    Weshalb war Albert Hofmann denn so strikt dagegen, dass ‘sein’ LSD von T. Leary wie Bonbons an Studenten etc. verteilt wurde? Weshalb hat Hofmann gebetsmühlenartig gesagt, dass er einen wirklich sinnvollen Einsatz vor allem in einem eher ‘rituellen’ Rahmen sieht? Weshalb hat Huxley in ‘Eiland’ beschrieben, wie die Kinder in der SCHULE ab einem gewissen Alter den Umgang mit ‘Moksha’ lernen?

    Aber genau davon, von einer ‘Einbettung’ der Bewusstseinserweiterung in das Erwachsenwerden und die Kultur allgemein sind wir doch MEILENWEIT entfernt. Da ändert dann auch eine Pseudo-Legalisierung, wie die anstehende von Cannabis nullkommagarnichts. Solang es da nicht – pointiert formuliert – ein Schulfach gibt, wo der Lehrer mit seinen Schülern zusammen kifft, und dann anschliessend die Effekte analysiert und diskutiert – halte ich solche Dauer-Kriteleien wie Sie sie auch mehrfach fomuliert haben von wegen ‘ich sehe nicht dass sich durch Drogen-Konsum die Menschen und die Welt bessern’ o.ä. für schlicht naiv, unangebracht und schlicht UNFAIR!

    Aber das ist das alte 3-stufige Muster:

    1. Jemand schlägt eine radikale neue Problemlösung vor

    2. Die Konservativen sind prinzipiell gegen alles Neue und jegliche ‘Experimente’, sehen nur Gefahren und reagieren mit Verboten und Diskreditierung, und legen jedem Nachweis, dass es funktionieren könnte, sämtliche möglichen Steine in den Weg.
    Exkurs:
    Ist doch JETZT auch bei der Herangehensweise der Medizin mit ihren lachhaft unterbesetzten und unterfinanzierten Studien nicht anders – das ist doch mehr Alibi, da graust es doch den Verantwortlichen in den obersten Hierarchien davor, dass da tatsächlich was Revolutionäres rauskommen könnte! Oder wie war das jahrzehntelang bei Cannabis? Da hiess es: ‘Cannabis ist verboten, weil es keine Studien gibt, die seine Unbedenklichkeit nachweisen. Und weshalb macht man keine Studien? Na weil es verboten ist!’ Und das ist kein Scherz – so wurde akademisch so lang ich denken kann argumentiert, und die Forschung schämt sich nicht mal dafür … !

    3. über kurz oder lang heisst es dann: seht ihr die vorgeschlagene Lösung klappt ja gar nicht!

    Na so ne Überraschung … !

  63. @Stephan Schleim

    … ach und übrigens … wenn man politisch nicht deutlich rechts von der Mitte liegt und in dieser Hinsicht genug kulturelle Bildung und geschichts-politisches Interesse verfügbar hat, dann gibt man heutzutage in aller Regel zu, dass ‘die 68er’ trotz ihre ‘flaws’ so gut wie alle massgeblichen sozialen Veränderungen angestossen haben, die man heute für unverzichtbar hält: Pazifismus bzw. Abkehr vom Militarismus, Feminismus, ökologisches Bewusstsein, you-name-it, wie es sich ab den 70ern entwickelt hat, haben ihre Ursprung – jetzt ganz stark sein – ganz sicher zu einem nicht geringen Teil dem Hofmann’schen ‘Wunder-Elixier’ etc. zu verdanken! Vielleicht mal wieder ‘Hair’ anschauen?
    Dafür reicht einfache Logik, um drauf zu kommen, dass das ‘Establishment’ ganz sicher nicht so panisch reagiert hätte, wenn dort KEIN Welt- und gesellschaftsveränderndes Potential drin gesteckt hätte. Darüber mal nachgedacht?
    Die Hippies haben viel Mist gemacht – schliesslich trifft auf sie ja auch das zu, was ich oben über die unter 30-jährigen geschrieben hab. ABER: dass das Potential nicht gesellschaftlich aufgegriffen, sondern sogar militant und mit geradezu absurder Härte (Nixon’s ‘war on drugs’) bekämpft und unterdrückt wurde SAGT NICHTS DARÜBER AUS, DASS DIESES POTENTIAL NICHT EXISTIERT!

  64. @Belzagor: Und wieder eine verpasste Chance, anstatt konkret eine positive Vision zu formulieren, sich an altem Kram und den ewig selben Plattitüden (Leary, Oktoberfest etc.) abzuarbeiten; schade!

    Bestätigt halt meinen Eindruck, dass das Thema doch nicht so viel Substanz hat, wie die Belzagoren, Sonnenblumen dieser Welt und einige meiner Studierenden gerne behaupten.

  65. @Stephan Schleim

    Womit sie mal wieder ihre typische Kehrwendung vollzogen hab, die mich hier schon mal in die Flucht geschlagen hat: statt mit dem vielen Material, das man ihnen anbietet, was Konstruktives anzufangen, wieseln sie sich schnell aus der Diskussion, indem sie sich an Details aufhalten, und die VISION komplett übersehen oder ignorieren – sonst müssten Sie sich ja näher damit befassen, und dazu haben Sie keine Zeit oder keine Lust. Aber ist ja auch irgendwie verständlich, dass sie es als Lehrender nicht gern zugeben, wie wenig Impact sie in diesem gesellschaftlichen Klima auf so ein essentielles Thema haben. Da ist es doch viel einfacher, das Thema selbst systematisch zu verwässern und anzuzweifeln (und das ohne signifikante first hand Erfahrung wohlgemerkt!).

    Sie haben eine Frage gestellt, und ich hab sie besser beantwortet, als das jeder andere hier könnte: Dass es nämlich heute natürlich NICHT besser ist, als in den 50ern und 70ern, ja gar nicht besser sein KANN, weil die Kräfte, die das damals schon verhindert haben heute nach wie vor am Werk sind. Und diese Kräfte verhindern genau die VISION, die ich formuliert habe: dass es ohne Einbindung in Erziehung, Schule und Kultur NICHT GEHT – man sich also gerade in einer Position wie ihrer nicht um diese Verantwortung herum drücken sollte, hier mal etwas deutlicher und ‘unbequemer’ zu werden.
    Nein: es liegt nicht an falschen oder übertriebenen ‘Heilsversprechen’ der Psychedelika-Fans wie mir, sondern an der Ignoranz der breiten Bevölkerung (die aber natürlich gewollt ist), und insbesondere an der Hasenfüßigkeit – oder besser: der Feigheit und Überheblichkeit der Verantwortlichen, die nicht mal den Ar*** in der Hose haben, bestimmte Erfahrungen erst mal selbst zu machen, bevor sie sich darüber eine Meinung erlauben (man schaut nicht durchs Fernrohr – man ‘WEISS’ ja, dass es da nichts zu sehen gibt).

    Aber: solche Aussagen sind ihnen ja alle zu emotional und nicht dünnblütig akademisch genug – da lässt man das breite und tiefe Wissens-Fundament, das ich mir dazu seit 35 Jahren erarbeitet habe, lieber unten den Tisch fallen, und hält sich an der ‘Form’ auf. Altes Prinzip. Schon lange durchschaut. Weil es ja Nutt übrigens auch so viel gebracht hat, inhaltlich fundiert, sachlich und auf wissenschaftlicher Grundlage zu argumentieren …
    Nochmal nein: alle jene die meinen man kann Vorurteile, Ignoranz und Borniertheit nur mit ‘Sachlichkeit’ bekämpfen sind hoffnungslos naiv. In dieser Welt kann gegen dumme, destruktive EMOTIONEN nur ebenfalls EMOTIONAL Stellung bezogen werden. Man muss ‘Stimmung machen’ – sonst lockt man keinen Hund hinter dem Ofen vor.

    Wo sind eigentlich all die Wissenschaftler und Ärzte etc. die seit den 70ern mit öffentlichkeitswirksamen Protesten, Petitionen und durch ‘Vitamin B’ etc. den Finger in der Wunde belassen haben, wieso eigentlich die Politik ein internationales ‘Forschungsverbot’ aussprechen kann, das in dieser Radikalität (und sachlichen Unbegründetheit) in der Neuzeit beispiellos ist? (Diese Einschätzung stammt übrigens auch von Nutt!) Diese Wissenschafter und Ärzte GIBT ES NICHT, weil sie zu feige waren und sich lieber in der Inzucht des akademischen Betriebs den schlanken Fuss und ‘Karriere’ gemacht haben. Und die wenigen, die dazu charakterlich nicht in der Lage waren sind dann in den ‘therapeutischen Untergrund’ gegangen, haben mit LSD, Pilzen, MDMA etc. einfach ihrem Gewissen entsprechend weiter Patienten behandelt und hier viel Gutes bewirkt (‘The Secret Chief’, Leo Zeff ein Begriff?). Was man inzwischen alles, lesen und aus erster Hand von Betroffenen hören kann, wenn man es wirklich wissen will.

    Das was sie hier mit Leuten wie mir und anderen veranstalten ist nicht ‘Schattenboxen’, sondern ‘Fake-Tennis’: Sie spielen Bälle übers Netz, bei denen sie gar nicht drauf vorbereitet sind, das ein angemessener ‘Return’ zurück kommt. Sie drehen sich stattdessen gleich um – und wenn der Ball sie dann in den Nacken trifft, dann sind sie auch noch beleidigt.
    Das zwischen uns keine vernünftige Debatte zustande kommt liegt zum Teil an mir. Soviel Selbstkritik dürfen Sie mir zutrauen. Aber ein dickes Stück der Verantwortung dafür liegt auch in ihrer Spielhälfte.

    Freut mich übrigens, dass wohl auch einige Ihrer Studierenden hier anders drauf sind. Sie dürfen denen gern meine Mailadresse weitergeben …

  66. @Belzagor: Dass Sie nicht einfach mal sachlich übers Thema diskutieren können, ohne persönlich zu werden (siehe dazu auch die Diskussionsregeln), bestätigt meinen negativen Eindruck von den Psychedelika-Jüngern.

  67. P.S. Ich lese gerade im Artikel meines akademischen Bekannten Mike Jay, der die Kulturgeschichte der Psychedelika kennt wie kein Zweiter, dass der ach so progressive LSD-Papst Timothy Leary u.a. meinte, Homosexualität mit LSD “behandeln” zu können. Oh weia!

    Nein, es gibt nun ja schon >130 Jahre Forschung mit Psychdelika (am Anfang: Meskalin). Dass es keine Wundermittel sind, wissen wir längst; und sehen wir auch an den schrägen Einwürfen ihrer Jünger*innen hier in der Diskussion.

    Wie ich wiederholt behauptete und die wissenschaftlichen Studien nahelegen, scheinen sie aber ein Potenzial in der Psychotherapie zu haben, insbesondere bei der Behandlung traumatischer Erinnerungen. Der Rest dürfte wohl als “Unterhaltung” anzusehen sein. Aber wenn man sonst nichts zu tun hat im Leben………

  68. @Belzagor 18.09. 13:41 / 15:57

    „alle massgeblichen sozialen Veränderungen angestossen haben, die man heute für unverzichtbar hält: Pazifismus bzw. Abkehr vom Militarismus, Feminismus, ökologisches Bewusstsein, you-name-it, wie es sich ab den 70ern entwickelt hat,..“

    Ist ja nun ein Argument.

    „Und diese Kräfte verhindern genau die VISION, die ich formuliert habe: dass es ohne Einbindung in Erziehung, Schule und Kultur NICHT GEHT“

    Offenbar ging es bei den 68ern. Die kranke Gesellschaft ist denn so mächtig jetzt auch wieder nicht. Man kann mit Psychedelika offenbar wachsen, wenn man es richtig anstellt, auch unter Verboten.

    Ich mag keinen Paternalismus, ich halte von Verboten hier nur sehr wenig. Als Wundermittel kenne ich entsprechende Substanzen aber auch nicht. Muss man sicher im richtigen Rahmen verwenden, dann wirds offenbar besser. Am besten in der richtigen Gesellschaft, nur gibt es die eben noch nicht.

    Vielleicht kommt hier ja irgendwann ein Kipppunkt?

    Ich weiß auch nicht recht, ob hier einerseits auch drogenlose spirituelle Erfahrungen schon sehr viel weiter führen, und andererseits befürchte ich, dass sehr viele Menschen auch mit einschlägigen Drogenerfahrungen eben nicht nachhaltig in neue Welten eingehen. Und nur etwas Unterhaltung dabei finden.

    Interessant genug allerdings ist es, hier mal wirklich intensiv in alle Richtungen zu forschen, wobei ja auch offenbar die Risiken so gering sind, dass hier ein Verbot wirklich nicht nachvollziehbar ist.

  69. Psychedelika werden seit >100 Jahren von Wissenschaftlern erforscht (siehe z.B. Kurt Beringer, 1927, Der Meskalinrausch: Seine Geschichte und Erscheinungsweise für eine Zusammenfassung).

    Die Kritik an der Prohibition & so, geschenkt!

    Aber wenn man nach >100 Jahren nicht einmal drei starke Punkte machen kann, warum dieser Ansatz ein Paradigmenwechsel sein soll, dann a) hat der Ansatz eben doch keine Substanz oder b) hat man ein gewaltiges Kommunikationsproblem. Da helfen wohl auch keine Drogen.

    (Übrigens ging es in diesem Beitrag um Antidepressiva, nicht Psychedelika.)

  70. @Stephan 19.09. 10:12

    „Aber wenn man nach >100 Jahren nicht einmal drei starke Punkte machen kann, warum dieser Ansatz ein Paradigmenwechsel sein soll,..“

    Ob jetzt Psychedelika bei psychischen Problemen helfen ist das eine. Das andere wäre die Abkehr vom Militarismus, der Feminismus, und ein ökologisches Bewusstsein. Wenn hier Psychedelika ein Faktor waren, dann ist das eine eher soziale Wirkung.

    Mehr Spiritualität kann schon in diese Richtung gehen, würde ich sagen.

  71. @ Elektroniker:

    Mir ist aufgefallen, dass die Technik, besonders die Informatiker eine (auch „metaphysische“) „Grenze nach der Anderen“ niedergerissen haben.

    Ich meine, man kann die „Metaphysik“ auch ganz locker sehen. Als „alter 68er“ bin ich für die „Freiheit des Denkens“ und ich mag keine „Grenzschranken“ im Hirn.

    Ich kam selbst von der Philosophie (nicht als Berufsphilosoph, sondern aus Interesse) zur Neurowissenschaft; daher bin ich für die Philosophie nach wie vor offen und halte sie für bestimmte Bereiche auch für notwendig. Als ich dann mit fMRI anfing zu arbeiten wurde mir relativ schnell klar dass:
    – Fragestellungen wie sie in der Philosophie häufig gestellt werden über Neuroimaging nicht beantwortbar sind;
    – Man andere Fragen stellen muss (weniger abstrakte sondern konkrete) und man über die Beantwortung dieser Fragen auf neue Ideen kommt;
    – und so die Probleme theoretisch eventuell ganz anders angeht.

    Wie ich bereits weiter oben schrieb: Sie können sich bei Interesse ja mal beispielsweise eine fMRI Software downloaden und damit spielen um einen Eindruck zu bekommen: beispielsweise AFNI (einfach bei google eingeben). Dort sind auch kleine Datensätze ab Werk mit dabei. Freie Datensätze findet man z.B. bei openfmri oder beim human connectome project.

    Bezüglich Informatik und Programmierung: 95% meiner Zeit verbringe ich mit der Programmierung in Python. Die Daten der fMRI scans extrahiere ich in Textdateien (sind ja nur Zahlenwerte) und lade sie dann zur Analyse in Python. Wenn Sie nur einmal das bedenken wird Ihnen wahrscheinlich klar wie absurd es ist damit Fragen in der Art und Weise wie sie einige Philosophen konstruieren beantworten zu wollen. Aus diesen häufig sehr abstrakten Ideen lässt sich nicht einmal eine konkret überprüfare Hypothese ableiten. Deshalb muss man zwangsweise konkret werden: klare Fragen stellen, kleine Brötchen backen, und diese dann experimentell überprüfen. Aber selbst diese “kleinen Brötchen” sind in der Praxis schon extrem viel Arbeit.

  72. @Philipp 20.09. 05:35

    „Aber selbst diese “kleinen Brötchen” sind in der Praxis schon extrem viel Arbeit.“

    Lohnt es sich dennoch? Mehr zeitliche und räumliche Auflösung vermehrt noch den Aufwand, aber auch die Erkenntnisse. Will man die Details wirklich verstehen, muss man wohl noch runter auf die konkrete Verschaltung der Nervenzellen. Einmal ganz lokal und ganz kleinräumig, und dann die ganzen Verbindungen, die ja etliche Zentimeter quer durch das ganze Gehirn verlaufen.

    Und hier hat man dann auch nur die Daten, das dann wirklich mit der Funktionalität und den zu beobachtenden psychologischen Fakten zu verbinden, ist jetzt noch nicht automatisch mitgegeben. In einer Aufnahme zu sehen, was der untersuchte Mensch jetzt selber sieht, wäre letztlich ein Ziel. Ob das überhaupt möglich ist, könnte derzeit unklar sein.

  73. @ Philipp

    Ihr Fachgebiet finde ich sehr interessant. Nicht nur dass Sie, wie beim Röntgen, verschiedene Strukturen erkennen können, sondern auch chemische und elektrische Aktivitäten.

    Mich würde interessieren, ob Sie aus den „Zahlenwerten“, typische „Zahlenmuster“ „herausrechnen“ könnten, die besondere, sehr kleine und dynamische elektrische/chemische “Prozessmuster” abbilden?

    Es wäre interessant, ob in diesem Sinne zunächst einmal, zumindest starke Empfindungen/Gefühle lokalisiert und mehr oder weniger grob erkannt werden könnten.

    Zumindest Orgasmusempfindungen. Die könnten sich bei Mensch und Tier ähnlich verhalten. Wenn derartige Empfindungen erst einmal möglichst zuverlässig an verschiedenen Stellen exakt lokalisiert werden können, könnte man zunächst, z.B. mittels Biopsie, die Biochemie in den Zellen und danach könnten Physiker/Chemiker das molekulare Geschehen erklären. Auch wenn Neuroimaging nicht direkt zur Messung taugt, es könnten zumindest die Strukturen lokalisiert werden.

    Vielleicht gibt es typische chemisch analysierbare, messbare Systematiken, die mit Empfindungen/Gefühlen korrelieren? In der Folge könnten immer bessere Analysemethoden entwickelt werden.

    Nach und nach könnten die Methoden immer mehr verfeinert werden, so dass auch häufige Erkrankungen wie z.B. Depressionen exakt verschiedenen Kategorien zugeordnet werden können.

    Vielleicht können Physiker, z.B. durch besondere Modulationsverfahren der Felder, besondere Dynamiken generieren, um mittels Neuroimaging zusätzliche, möglichst relevante Daten zu generieren?

  74. @ Elektroniker:

    Mich würde interessieren, ob Sie aus den „Zahlenwerten“, typische „Zahlenmuster“ „herausrechnen“ könnten, die besondere, sehr kleine und dynamische elektrische/chemische “Prozessmuster” abbilden?

    Mit fMRI BOLD misst man eine Veränderung des Sauerstoffgehalts in den Kapillaren bzw. (deren Summation zu einem Signal) des Gehirns. Es wird also kein elektrophysiologisches Signal gemessen (wie im EEG). Natürlich ist das BOLD Signal neurovaskulär gekoppelt und korreliert besonders gut mit den sogenannten local field potentials (LFPs) von postsynaptischen Dendriten der Elektrophysiologie.

    In unmittelbarer Nähe zu jedem Neuron findet sich eine Kapillare. Wie passen die überhaupt ins Gehirn? Ganz einfach: die kleinsten Kapillaren sind vom Durchmesser kleiner als die roten Blutkörperchen; damit letztere überhaupt durch die Kapillaren passen müssen die Blutkörperchen gedehnt, gestreckt oder verbogen werden.
    Ferner fließen durch das Gehirn ca. 750ml Blut pro Minute. Das ist eine Basis dafür dass wir Veränderungen der neuronalen Aktivität indirekt über Veränderungen des Sauerstoffsgehalt des Bluts im Gehirn messen können. Dieses Signal ist aber von Natur aus langsam.

    Wenn Sie eine sehr hohe räumliche und bessere zeitliche Auflösung des Gehirns mit fMRI anstreben können Sie nur Teile bzw. einzelne Bereiche (statt das gesamte Gehirn) messen. Damit müssen pro Scan weniger Voxel gemessen werden. Deshalb lassen sich kleinere Voxel nehmen (höhere Auflösung) sowie ein schnellerer Scanvorgang (höhere sampling rate, d.h. mehr Datenpunkte pro Zeiteinheit). Dies wird z.B. bei “Layer fMRI” angewendet. Wenn Sie nach layer fmri googeln finden Sie interessante Studien bezüglich Ihrer Frage und es ist überraschend was dann mit fMRI doch so möglich ist.

    Nach und nach könnten die Methoden immer mehr verfeinert werden, so dass auch häufige Erkrankungen wie z.B. Depressionen exakt verschiedenen Kategorien zugeordnet werden können.
    Vielleicht können Physiker, z.B. durch besondere Modulationsverfahren der Felder, besondere Dynamiken generieren, um mittels Neuroimaging zusätzliche, möglichst relevante Daten zu generieren?

    Die Veränderungen im Gehirn bei psychiatrischen Erkrankungen sind subtiler. Große Veränderungen die einen sofort ins Gesicht springen sieht man bei Veränderungen des Bewusstseins, also z.B. Wachzustand vs. Schlaf, oder Wachzustand vs. Anesthesie. Aus der Physik kamen beispielsweise mathematische Verfahren die zur Analyse der Daten genutzt werden.

  75. @ Jeckenburger:

    Lohnt es sich dennoch? Mehr zeitliche und räumliche Auflösung vermehrt noch den Aufwand, aber auch die Erkenntnisse. Will man die Details wirklich verstehen, muss man wohl noch runter auf die konkrete Verschaltung der Nervenzellen. Einmal ganz lokal und ganz kleinräumig, und dann die ganzen Verbindungen, die ja etliche Zentimeter quer durch das ganze Gehirn verlaufen.

    Für die konkrete Verschaltung von Neuronen sind die Elektrophysiologen etc. verantwortlich, das ist dann außerhalb des Bereichs von Neuroimaging.
    Im Bereich des Neuroimaging interessiert es bis auf Spezialfälle eigentlich nicht wie das Signal in einem einzelnen Voxel aussieht. Häufig untersucht man ja Regionen.

    In diesen Regionen berechnet mann dann automatisiert über ein Skript für jeden Voxel eine Messvariable und nimmt danach beispielsweise den Mittelwert über alle Ergebnisse (d.h. für alle Voxel bzw. über alle Voxel hinweg), oder man berechnet alternativ eine gemittelte time-series bzw. ein gemitteltes Signal (ebenfalls über alle Voxel der Region) und berechnet dann die Variable basierend auf diesem gemittelten Signal. Die Ergebnisse beider Methoden können stark voneinander abweichen, welche Methode besser ist hängt von mehreren Faktoren ab. Ist auch nur ein Beispiel wie man es machen kann.

  76. @Philipp 21.09. 23:32

    „Für die konkrete Verschaltung von Neuronen sind die Elektrophysiologen etc. verantwortlich, das ist dann außerhalb des Bereichs von Neuroimaging.“

    Will man wirklich verstehen, was da genau wie funktioniert, dann braucht man die Elektrophysiologen aber wohl auch.

    „Im Bereich des Neuroimaging interessiert es bis auf Spezialfälle eigentlich nicht wie das Signal in einem einzelnen Voxel aussieht. Häufig untersucht man ja Regionen.“

    Dennoch würde mich die Höhe der Auflösung interessieren. Wie klein können die Voxel sein, und bei welcher zeitlichen Auflösung?

  77. @ Jeckenburger:

    Dennoch würde mich die Höhe der Auflösung interessieren. Wie klein können die Voxel sein, und bei welcher zeitlichen Auflösung?

    Allgemein sind die Voxel bei fMRI (funktionellen Aufnahmen) größer als bei MRI (anatomischen/strukturellen Aufnahmen). Warum ist das so? Die Antwort ist ganz einfach: um sinnvolle Aussagen über die Dynamik der Gehirnaktivität zu machen müssen wir ausreichend schnell Datenpunkte erheben, d.h. 300, 500 oder 1000 mal den gleichen Voxel über die Zeit hinweg scannen. Der Scanner scant aber die Voxel nacheinander durch; d.h. mehr und kleinere Voxel benötigen mehr Scanzeit. Für einen anatomischen Scan benötigen wir nicht mehrere Datenpunkte, deshalb kann eine anatomische Aufnahme Minuten dauern und kleine Voxel (hohe Auflösung) sind möglich.

    Nun zu Ihrer Frage:
    Bei 3 Tesla können die Voxel für eine fMRI Aufnahme 3x3x3 mm groß sein.
    Bei 7 Tesla können die Voxel für eine fMRI Aufnahme 1.6×1.6×1.6 mm groß sein.
    Das typische Werte (+-) die man häufig für einen kompletten Gehirnscan hat.

    Ein Scanner mit mehr Tesla hat nicht nur Vorteile sondern auch Nachteile, da verschiedene Noisequellen (also verschiedene Störfaktoren) mit Erhöhung der Feldstärke ebenfalls ansteigen. (Das ist ein langes Thema.)

    Scangeschwindigkeiten bei fMRI heute liegen ungefähr im Bereich 0.7 – 2.5 Sekunden. Beispiel: Wenn sie mit einer Frequenz von 1 Hz aufnehmen, also 1 Datenpunkt pro Sekunde erheben pro Voxel, dann liegt der nutzbare Frequenzbereich der Daten bei ungefähr 0.01 – 0.5 Hz.

    Sie können auch auf 0.008 Hz oder tiefer gehen, aber darunter kommen sie in Noisebereiche. Die maximal nutzbare Frequenz ist immer die Hälfte der Aufnahmegeschwindigkeit (“sampling rate”), also bei 1 Hz Aufnahmegeschwindigkeit wäre bei 0.5 Hz schluss. Deshalb scannen sie mit fMRI nur im infra-slow Frequenzbereich. Die Atmung des Menschen fällt mit ca. 0.3 Hz an; d.h. sie müssen die Atmung während des Scanvorgangs via Gürtel aufnehmen sodass sie die Atmung aus dem Signal herausregressieren können (und am besten auch die Herzfrequen via Fingerclip), oder sie nutzen andere Verfahren um die Atmung aus dem Signal zu löschen. Tun Sie dies nicht, so beträgt die maximal nutzbare Frequenz eher 0.1 oder 0.2 Hz (statt 0.5 Hz wie in diesem Beispiel, da sie sonst eine Oscillation bzw. erhöhte Power im Signal um den Bereich 0.3 Hz aufgrund der Atmung haben). D.h. sie hätten dann einen Ausschlag im Signal der nur ein Artefakt der Atmung ist, aber alle Messungen beeinflussen würde.

    Eine höhere zeitliche Auflösung bringt am Ende nicht mehr super viel, denn das BOLD Signal ist von Natur aus langsam und bereits 1 Hz Aufnahmegeschwindigkeit (sampling rate) reichen um das Signal ordentlich zu erfassen.

    Das BOLD Signal beginnt ca. 1-3 Sekunden nach der neuronalen Aktivität zu steigen, erreicht nach ca. 6-8 Sekunden seine Spitze, und braucht dann ca. 13-20 Sekunden um wieder auf die Baseline zurückzukehren.

    Das bedeutet dass selbst wenn sie mit 1000 Hz aufnehmen könnten, jetzt als rein übertriebenes Beispiel genommen, dann würden sie nur das ohnehin langsame BOLD Signal “smoother” oder “glatter” aufnehmen als mit 1 oder 2 Hz. Die Limitierung ist hier also die Natur des Signals selbst.

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