Depressionen verstehen: am Beispiel von Hazel Bruggers Erfahrungen

Die Komikerin war bei Harald Schmidt und Prof. Ulrich Hegerl zu Gast. Jetzt ordnen wir ihre Schilderung ein.

Im ersten Teil dieser Serie beschäftigten wir uns mit dem Lebenswandel und den Erfahrungen der erfolgreichen Komikerin Hazel Brugger. Sie berichtete von bis zu 300 Auftritten im Jahr. In der Corona-Pandemie fielen diese und die damit einhergehenden Einkünfte plötzlich weg.

Nach einer Schwangerschaft und Geburt des Kindes, das nachts viel schrie und die ohnehin von Schlafstörungen geplagte Frau und junge Mutter weiter auszehrte, wollte Brugger an ihr Leistungsniveau von vor der Pandemie anknüpfen: Doch diesmal mit Nachholterminen – und Kind. Manchmal habe sie dann in der Garderobe oder im Taxi zu/von ihren Auftritten Milch abgepumpt, weil es nicht mehr anders ging.

Niedergeschlagenheit und Interessenverlust sind die beiden Wesensmerkmale von Depressionen, gehören aber auch zum Leben dazu. Wenn diese besonders schwer werden oder lange anhalten, ist ein Gang zum Psychotherapeuten oder einer Psychiaterin ratsam.

Im NDR-Podcast “Raus aus der Depression” berichtete Brugger, wie sie nach einer schweren depressiven Phase wieder zu Kräften kam. Dafür seien mehr “kontemplative Tätigkeiten” (wie spazieren, joggen und basteln) und eine Anpassung ihres Lebenswandels entscheidend gewesen. In diesem zweiten Teil wollen wir mit ihr gemeinsam über Depressionen reflektieren.

Geschichte & Kontext

Ich bin weder klinischer Psychologe noch Bruggers Therapeut. In letzterem Fall wäre ich auch zur Verschwiegenheit verpflichtet. Auch ziemen sich Ferndiagnosen nicht, insbesondere bei Personen des öffentlichen Lebens, wofür beispielsweise die Amerikanische Psychologenvereinigung (APA) die Goldwater-Regel aufstellte, benannt nach dem früheren Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater.

Doch die Komikerin entschied sich selbst dafür, ihre psychischen Probleme in der Öffentlichkeit zu präsentieren, kommentiert von Harald Schmidt und dem Psychiater Ulrich Hegerl. Mit Blick auf die Kulturgeschichte der Depression, erlaube ich mir nun ein paar einordnende Gedanken.

Denn auch wenn die psychischen Probleme, um die es hier geht, sehr ernst sein können, ja Menschen mitunter die ganze Lebenslust rauben, sollte man etwas über den Kontext von Depressionen wissen. Denn die Häufigkeit und Normalität, in der wir heute über das Störungsbild sprechen, begann erst nach 1980 mit der Einführung des psychiatrischen Diagnosehandbuchs DSM-III. Seitdem steigen auch die Psychopharmaka-Verschreibung steil an – bis heute mit zweifelhaftem Nutzen.

Wie hier an englischsprachigen Büchern gesehen werden kann, wurde die Diagnose “Depression” in der Form, wie wir sie heute kennen, erst nach 1980 ein verbreitetes Phänomen. Damit wird natürlich nicht bestritten, dass Menschen vorher schon ähnliche Probleme hatten (siehe dazu auch Schleim, 2022). Quelle: Google Ngram

Ursachen & Risikofaktoren

Mit dem Diagnosehandbuch von 1980 räumten die damals führenden Psychiater auch ein, die Ursachen psychischer Störungen nicht zu kennen. Damit löste man die älteren Freud’schen Theorien ab, die hierfür vor allem Eltern-Kind-Konflikte angeführt hatten. Streng genommen spricht man darum besser von “Risikofaktoren” als von “der Ursache” einer psychischen Störung.

Auf MENSCHEN-BILDER wurde dieses Thema schon einmal ausführlich für Depressionen besprochen:

Demnach sind es vor allem schwere Lebensereignisse (wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Traumata, Trennungen, Todesfälle, mitunter aber auch eine Geburt), die einer depressiven Problematik vorangehen. Je mehr man davon mitmacht, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit für die Störung. Dass biologische Faktoren hierbei auch eine Rolle spielen, ist geschenkt. In vielerlei Hinsicht haben manche Menschen eben eine höhere Widerstandsfähigkeit (Resilienz) als andere.

Der Beitrag der Gene zur depressiven Symptomatik lässt sich aufgrund der Daten von über einer Million Menschen inzwischen genau quantifizieren: Er beträgt zwischen 1,5 und 3,2 Prozent (Giangrande, Weber & Turkheimer, 2022). (Genauer gesagt bedeutet das nicht, dass Depressionen zu 1,5 bis 3,2 Prozent genetisch determiniert sind, wie es oft missverstand wird. Vielmehr lassen sich Unterschiede in der depressiven Symptomatik zwischen den Menschen zu 1,5 bis 3,2 Prozent durch Unterschiede ihrer Gene erklären. Aufgrund solcher ernüchternder Daten plädierte ich schon vor Jahren: Psychiatrie: Gebt das medizinische Modell endlich auf!)

Wie man es dreht und wendet, die Lebensumstände spielen eine, wahrscheinlich sogar die entscheidende Rolle. Jedenfalls sind keine größeren Risikofaktoren bekannt; auf der genetisch-biologischen Ebene findet man sie mmit Sicherheit nicht.

Und das können wir auch am Beispiel Hazel Bruggers nachvollziehen: extreme Aktivität, verstärkt durch Substanzkonsum und immer wieder neue “Kicks” bei gelungenen Shows. Und dann auf einmal: das Coronavirus, abgesagte Shows, wegfallen von Einkommensquellen und Anerkennung, dann die Schwangerschaft und ein schreiendes Baby, das einen stündlich aus dem Schlaf reißt.

Die meisten Menschen würden wohl schon früher ausbrennen. Übrigens könnte man die Probleme, die Brugger berichtet, allein schon durch den extremen Schlafentzug erklären. Nicht ohne Grund gilt dieser, wenn man ihm einem Menschen in Gefangenschaft zufügt, als Folter. “Andauernder Schlafentzug zählt zudem zur psychischen Folter, da er keine sichtbaren Spuren beim Betroffenen hinterlässt.”, heißt es beispielsweise in einem speziellen Bundestagsgutachten von 2020.

Leben auf der Überholspur

Hazel Brugger verlangte laut ihrer Schilderung viel von sich ab: Es musste so viel wie möglich, so schnell wie möglich erlebt und erreicht werden. Das abgebrochene Philosophiestudium war der Professorentochter (ihr Vater ist der Zürcher Neuropsychologe Peter Brugger) mit drei Staatsangehörigkeiten wahrscheinlich zu langweilig. Für ihre Karriere als Medienschaffende war es der Startschuss.

Dafür war ihr Leben dann von Extremen geprägt – und verlor sie das Gespür für sich selbst, wie sie es nun selbst sagt. Das gilt wohl vor allem für das Gespür ihrer Grenzen. Sie musste erst in eine Depression kommen, um den Wert “kontemplativer Tätigkeiten” schätzen zu lernen.

Dieser Wechsel von einem Extrem ins andere lässt einen auch an eine bipolare Störung denken. Diese ist von manischen und depressiven Episoden gekennzeichnet, die aufeinanderfolgen. Typische Merkmale für eine Manie sind dabei: übersteigertes Selbstvertrauen, reduziertes Schlafbedürfnis, übersteigerte Gesprächigkeit, starker Ideenreichtum oder Gedankenrasen, Ablenkbarkeit, starkes Streben nach immer neuen Zielen und Tätigkeiten mit einem großen Potenzial für schmerzhafte Konsequenzen (z.B. durch extremes Kaufverhalten oder sexuelle Eskapaden).

Eine diagnostische Entscheidung muss natürlich von einer klinischen Fachperson getroffen werden. Doch für die Behandlung, gerade dann, wenn man auf Medikamente setzt, gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen Depressionen und einer bipolaren Störung (auch bekannt als “unipolare Depression” gegenüber einer “manisch-depressiven Störung”).

Übrigens ist so ein Wechsel der Extreme und auch eine bipolare Störung bei Kunstschaffenden nicht unüblich (man denke an bedeutende Dichter wie Sylvia Plath). Leider beenden auffällig viele von ihnen vorzeitig ihr Leben. Brugger verweist im Podcast selbst auf die mehrfach preisgekrönte Sängerin Amy Winehouse, die im Alter von nur 27 Jahren an einer Kombination von Essstörung und extremem Alkoholkonsum starb.

Der psychiatrische Experte

Die vielen Witze und Lacher zum ernsthaften Thema “Depression” im Podcast – der ja ausdrücklich zur Aufklärung von Betroffnen gedacht ist – gefallen vielleicht nicht jedem. Andere wiederum mögen den beiden Komikern gerne zur Unterhaltung zuhören. Den Vogel schießt allerdings Prof. Ulrich Hegerl ab, wenn er die Folge am Ende wissenschaftlich-psychiatrisch kommentiert:

Seiner Meinung nach zeigt Bruggers Geschichte nämlich wieder einmal, dass Depression eine Frage der Veranlagung ist. Wie bitte? Überarbeitung, Stress, Schlafentzug, Coronapandemie, Geburt – das sind im Wesentlichen psychosoziale Faktoren und keine Frage der Veranlagung.

Doch Hegerl und seine Stiftung Deutsche Depressionshilfe fallen immer wieder damit auf, vor allem eine biologische Sichtweise auf psychische Störungen zu verbreiten. So kritisierten sie in einer großangelegten PR-Initiative schon 2017, dass die Deutschen die psychosozialen Faktoren überbewerten würden. Dabei stützen wissenschaftlichen Daten die psychosoziale Sicht seit Jahrzehnten: Der größte bekannte Risikofaktor für Depressionen sind und bleiben schwere Lebensereignisse!

Professor Hegerl scheint vor allem ideologisch zu argumentieren und Fakten, die seiner Sichtweise widersprechen, gar nicht mehr wahrzunehmen. Ganz ähnlich verbreitete er schon zuvor das Dogma, “Arbeit macht nicht depressiv!”, und berief sich dabei auf eine Studie des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. Wenn man diese liest, finden sich darin aber tatsächlich Hinweise auf Probleme am Arbeitsplatz und ihre Bedeutung für die psychische Gesundheit (etwa beim Mobbing).

Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe verbreitet auch den Standpunkt, Psychopharmaka gegen Depressionen würden nicht abhängig machen. Diejenigen, die trotzdem mit so einer Abhängigkeit zu kämpfen haben, können sich bei Hegerl und seinen Mitarbeitern bedanken. Da ich mich hier nicht ewig wiederholen will, sei noch einmal an die aussagekräftige ARD-Dokumentation Tabletten gegen Depressionen – helfen Antidepressiva? erinnert.

Darin wird nicht nur Hegerl vor laufender Kamera mit seinen finanziellen Verstrickungen zur Pharmaindustrie konfrontiert. So interessant wie traurig ist auch das Bekenntnis der Psychotherapeutin “Mary”, Klagen ihrer Patienten über Entzugserscheinungen beim Absetzen der Medikamente lange Zeit als Blödsinn abgetan zu haben. Jetzt will die Psychologin selbst ohne Psychopharmaka leben – schafft es wegen der Abhängigkeit aber nicht.

Zu verdanken sind diese wichtigen Informationen kritischen Wissenschaftlern wie beispielsweise Joanna Moncrieff, Professorin für kritische Psychiatrie in London, und Michael P. Hengartner von der Fachhochschule in Zürich. Letzterer berichtete bei MENSCHEN-BILDER schon vor vielen Jahren über die systematischen Verzerrungen der pharmakologischen Studien (Antidepressiva: “Größtenteils nutzlos und potenziell schädlich”).

Was hilft?

Ich gönne jedem die Mittel, die ihr oder ihm helfen. Eine bahnbrechende Publikation von Moncrieff, Hengartner und anderen machte kürzlich aber noch einmal deutlich, dass die Serotonin-Hypothese der Depression nie mehr als Spekulation war. (Nebenbei: So habe ich es Anfang der 2000er Jahre auch in der Vorlesung zur Einführung in die klinische Psychologie an der Universität Mainz gelernt.) Den allermeisten Betroffenen wäre mit dem Verschreiben eines Placebos besser geholfen, da sie dann auch nicht mit Nebenwirkungen oder Entzugserscheinungen kämpfen müssten.

Eine depressive Episode geht auch ohne Behandlung meist nach vier bis neun Monaten von selbst wieder vorbei (Barlow, Durand & Hofmann, 2023, S. 213). Verglichen damit sind die häufigen Wartezeiten für eine Psychotherapie leider ernüchternd. Wenn Hegerl Depressionen aber als “saublöde Erkrankung im medizinischen Sinne” bezeichnet, drängt er die Patienten damit in eine passive Haltung, in der sie vor allem hoffen müssen, dass Psychiater irgendwann für sie die richtige Behandlung finden.

Dabei ist gerade bei diesem Störungsbild die Eigeninitiative so entscheidend: Auch wenn man völlig niedergeschlagen ist und (fast) nur noch im Bett liegen kann, sollte man seine Aktivitäten mit kleinen Schritten wieder aufbauen. Am Anfang könnte stehen, sich einfach einmal aufzusetzen; dann räumt man vielleicht das Zimmer auf; erledigt Einkäufe; bastelt etwas; macht einen Spaziergang. In diesem Sinne sind Hazel Bruggers Erfahrungen hilfreich.

Es mag spontan wie ein Witz klingen, wenn ihr Mann ihr in ihrer schweren Depression Lego-Bausätze schenkte. Doch in ähnlicher Weise hat sich in psychiatrischen Kliniken die Ergotherapie bewährt, in der die Patienten lernen, dass sie praktisch etwas bewirken können. Dazu passt die psychologische Theorie der Depression, die auf Selbstwirksamkeit zielt: die Erfahrung, Dinge unter Kontrolle zu haben und schaffen zu können.

Kurzum: Ein depressives Störungsbild bleibt in aller Regel nicht für die Ewigkeit. Daher muss die depressive Problematik nicht das Ende sein. Im Gegenteil bietet sie auch die Chance, sich selbst besser kennenlernen und sein Leben anders leben zu können. Wer ungute Gefühle einfach nur mit Drogen oder Medikamenten wegdrückt, wird diesen Lernschritt aber eher nicht tätigen.

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50 Kommentare

  1. @Stephan Schleim –
    hat sich in psychiatrischen Kliniken die Ergotherapie bewährt, in der die Patienten lernen, dass sie praktisch etwas bewirken können.
    Diese Formulierung finde ich (als Ergotherapeutin) seltsam.
    Ich bringe den Menschen doch nicht bei, “praktisch etwas zu bewirken” – selbst wenn sie nichts tun, bewirken sie doch etwas: sie bleiben in ihrer Depression.

    Ich kann zeigen, wie das, was man tut, bzw. wichtiger noch: wie man etwas tut, den eigenen Zustand beeinflusst.
    Also z.B. mit den Unterschied zwischen einem von mir zugewiesenen Werkstück und einem selbst gewählten arbeiten, auch wenn die eigene Auswahl (im Akutfall) natürlich schwerer fällt. (Oder ich gebe etwas vor und rege “eigene Abweichungen” an.)

    “Bewirken” tut ja auch, wenn etwas nicht klappt; es geht also darum, Grenzen zu erweitern – nach außen, indem man sich mehr und mehr zutraut, aber auch nach innen, indem man sich nicht nur daran misst, Erfolg zu haben, sondern daran, wie man damit umgeht. Ob man sich selbst die Stange halten kann oder überhaupt sieht, wenn man sich selber runter zieht.

    (Es kann auch “therapeutisch wertvoll” sein, einfach zuzuschauen und “Teil der Gruppe” zu sein, ohne etwas beizutragen. Selbst für Depressive ist es schwer, nichts zu tun. Dies einfach mal zu dürfen kann schon einiges bewirken – auch wenn das eher eine “paradoxe Intervention” ist.)

    Am Anfang könnte stehen, sich einfach einmal aufzusetzen; dann räumt man vielleicht das Zimmer auf; erledigt Einkäufe; bastelt etwas; macht einen Spaziergang.
    Warum listen sie Basteln nach Einkaufen? Und auch nach dem Aufräumen des Zimmers? Das ist doch beides extrem viel schwerer, nicht nur überhaupt komplexer, sondern auch mit erheblichen “psychozozialen” Umständen behaftet.
    Was “basteln” (meist) nicht ist (bzw. man kann wählen, in welchem Maße, bzw. hat Chancen darauf, etwas “ideales” kreieren zu können.) Das ist doch gerade der Vorteil des “Bastelns”, dass es, wie bei Kindern das Spiel, Lernräume ohne Risiken eröffnet.

    Natürlich habe ich als Ergo da einen Bias, aber bei mir käme das Basteln/Werken unmittelbar nach dem “Aufsetzen”. (Ohne akute körperliche Beschwerden könnte natürlich auch das Spazieren noch vor dem Basteln kommen, aber diverse (“Bastel”)Techniken kann man auch, wenn man im Bett sitzt.)

    Wann “Einkaufen” eine sinnvolle Übung darstellt würde ich von Ausmaß der sozialen Ängste abhängig machen (und dem jeweiligen Laden, ob Bank oder Wochemmarkt) und Aufräumen davon, wie lange es unterblieb – Blumen, die noch leben zu gießen ist etwas völlig anderes als seine Papiere in Ordnung zu bringen.

    die Erfahrung, Dinge unter Kontrolle zu haben und schaffen zu können.
    Ergotherapie hat – mit dem “Umweg” des Bastelns/der Erfahrung der eigenen Handlungsfähigkeit – viel damit zu tun, die “eigene Schrittgröße” bestimmen zu können.

    Man kann nicht lernen “alles zu schaffen” – aber man kann lernen, damit umzugehen und herausfinden, was einem dabei hilft.
    Es geht weniger darum, “sich aufzusetzen”, als darum, den Einfluss der “eigenen Haltung” zu erkennen – bzw. praktisch zu erfahren.

  2. @Viktualia: Warum habe ich XY geschrieben und nicht YX – weil mir das beim Schreiben eben so in den Sinn kam. Das hier ist ausdrücklich kein wissenschaftliches Review-Paper über die optimale Wirksamkeit von Ergotherapie.

    In der Kürze liegt oftmals die Würze. Ich muss mich erkältungsbedingt nun sowieso zurückhalten.

  3. An die Fachfrau
    Gute Laune ist ansteckend, sagt man,
    ist jetzt eine depressive Verstimmung auch ansteckend ?

    Und wenn es stimmt, dass die Ursachen einer Depression weniger auf der medizinischen Ebene zu suchen sind, sondern nur ein Fehlen an Lebensfreude, die wiederum den widrigen Lebensumständen anzulasten sind, dann könnte man auch eine Spasstherapie ins Auge fassen.

    Gibt es das schon ?
    Der Grund für die seltsame Frage. Eine unserer Nachbarinnen leidet/litt an einer Depression, sie konnte jede Nacht nur drei Stunden schlafen. Jetzt haben sich ihre Lebensumstände radikal verändert. Und ……es zeigt sich auch eine Veränderung in ihrer Persönlichkeit zum Positiven.

  4. @Neumann: Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die “medizinische Ebene” wurde so ausgedehnt, dass heute mehr oder weniger jedes Problem ein medizinisches Problem sein kann, sogar der Streit mit den Nachbarn.

    P.S. Und z.B. Lach-Yoga gibt’s doch schon.

  5. Stephan Schleim,
    Wenn die PR-Abteilungen erst mal die Pille gegen/für Nachbarn erfinden, dann wird ihre Befürchtung wahr.

  6. Ich meine die Erfahrungen und Probleme der erfolgreichen Komikerin Hazel Brugger sind zwar typisch für ihre Berufsgruppe, weniger für „Normalos“. Ich habe einen Verwandten, der muss hauptberuflich mittels zahlreicher Kundenkontakte Aufträge für bestimmte technische Anlagen an Land ziehen. Nebenbei ist er „Alleinunterhalter“ und hat zahlreiche Auftritte im Jahr.

    Dann kam Corona und wegen plötzlich fehlender Einkünfte und auch Kontakte, war diese „Berufsgruppe“ extrem mehr betroffen als „Normalos“. Aber das sind eigentlich keine typischen „Alltagsdepressionen“.

    Zitat: „Niedergeschlagenheit und Interessenverlust sind die beiden Wesensmerkmale von Depressionen, gehören aber auch zum Leben dazu.“

    Das scheinen eher typisch Merkmale für die „üblichen“ Depressionen.

    Mein Vater lebte hauptsächlich für seinen Beruf . Die Pension war ein Problem, da er keine Hobbys hatte und auch noch eine Schilddrüsengeschichte (Kropf OP). Beide Eltern hatten ein größeres „Psychologisches Einfühlungsvermögen“, meine Mutter eher noch mehr. Sie versuchte „Urlaubsreisen“ recht erfolgreich zu einem wichtigen Gesprächsthema zu machen.

    Im höheren Alter (ab 75) litt mein Vater unter „Altersdepression“. Für mich ein wichtiger Grund mir Hobbys zuzulegen, damit mir so etwas wie meinem Vater ja nicht geschehen kann. Außerdem habe ich immer wieder, wie es Psychologen raten, eigentlich recht erfolgreich „kleine Momente des Glücks“ gesucht und auch gefunden.

    Im Beruf kam es immer darauf an, ein möglichst kooperatives Betriebsklima zu schaffen. „Absurde Psychospiele“ (E. Berne) sofort zu durchschauen und möglichst „humorvoll“, in Österreich sagt man mit „Wiener Schmäh“, den Dingen einen anderen „Schwung“ zu geben. Den meisten war schnell klar, wir haben es selber in der Hand, ein „Paradies“ zu schaffen oder eine „Hölle“….

    Manchen war dies zu „oberflächlich“, sie gaben sich lieber ihren Depressionen hin.

    Eine wichtige Ursache für Depressionen dürfte sein, dass man sich einfach „problematische Denk- und Verhaltensmuster einlernt“. Das können natürlich auch Eltern-Kind-Konflikte, aber auch andere „psychische Transaktionen“ mit oder ohne „körperlicher oder genetischer Beteiligung“ sein.

    Schwere Lebensereignisse (wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Traumata, Trennungen, Todesfälle, mitunter aber auch eine Geburt), können einer depressiven Problematik vorangehen.

    Das offensichtlich auch eine höhere Widerstandsfähigkeit (Resilienz) eine wichtige Rolle spielt, scheint klar.

    Das medizinische Modell aufzugeben, scheint nicht leicht. Es ist einfach zu verlockend, sich im Bedarfsfall einige Tabletten „hinein zu werfen“. ….

    Es fragt sich, ob genetisch-biologische Faktoren, besonders bei der Resilienz eine Rolle spielen? Es gibt einfach „starke“ oder „schwache“ Typen?

  7. @Hauptartikel

    „Überarbeitung, Stress, Schlafentzug, Coronapandemie, Geburt – das sind im Wesentlichen psychosoziale Faktoren und keine Frage der Veranlagung.“

    Und dann kommt der Stress der Erkrankung selbst, der Diagnose und eventuell einer Einweisung noch obendrauf. Hier werden oft stressmäßige Kipppunkte überschritten, die dann das Krankheitsbild erst komplett machen.

    Man muss sich dann erst langsam ins Leben zurückkämpfen. Erstmal mit der Situation in der Klinik klarkommen, dann zuhause den Scherbenhaufen in Wohnsituation, Arbeitslosigkeit und ausgedünntem sozialen Umfeldes aufräumen, und dann kann man auch gucken, wie man sich eine Fortsetzung des eigenen Lebens gestalten kann. In relativer Armut leben gehört jetzt meistens dazu, ob hier überhaupt noch berufliche Perspektiven da sind, bleibt dazu oft weiter fraglich.

    Gelingt es nicht mehr, auf dem 1. Arbeitsmarkt irgendwas zu finden, muss man damit dann auch erstmal klarkommen. Viele alte Freunde werden das nicht mehr mitmachen, man muss dann letztlich gucken, dass man neue Kontakte hinbekommt. Und die Tage irgendwie mit genug Aktivitäten angehen können. Hier können Kontaktstellen, Tagesstätten oder Behindertenwerkstätten durchaus helfen. Da hat man nicht nur Struktur, da kann man auch neue Freunde finden.

  8. Stephan Schleim
    10.07.2023, 15:26 Uhr

    Aus meiner Sicht wäre eine Pille gegen Dummheit, Ignoranz und Überheblichkeit wesentlich dringlicher, als Kombipräparat.

  9. Karl Maier

    ich stimme Ihnen zu einhundert Prozent zu!!! Ich finde es immer außerordentlich problematisch, wenn sich Theoretiker über ein Thema auslassen, als wüßten Sie Bescheid.

    [Sie können hier gerne Erfahrungen teilen oder argumentieren; unbegründete Vorurteile behalten Sie besser für sich. S. Schleim]

  10. @ T. Jeckenburger
    Der Begriff „Kipppunkt“ gefällt mir. Das ist der Moment, wenn ein Mensch nicht mehr arbeiten kann.
    Ich habe da einen ehemaligen Vorgesetzten von mir in Erinnerung,
    Ein korrekter Mensch, überkorrekt, zwanghaft genau, pflichtbesessen, ein workaholic in Neudeutsch.

    Mir war klar, das geht nicht lange gut. Und einmal, wo er sich wieder eine neue Arbeit für uns ausgedacht hatte, da ist mir der Kragen geplatzt und ich habe ihm meine Meinung dazu gesagt.
    Da hat er sich eine zeitlang zurückgenommen. Und einen Monat später hat er gefehlt. Eine Woche , alle waren froh, aber er kam zurück mit den Worten : „Ohne Medikamente hätte ich das nicht geschafft „

    Das passt jetzt nicht ganz in das Schema von Herr Schleim, aber es war so.
    Dieser Vorgesetzte war so willensstark, und auch belastbar, der erzählte uns, dass er bis nachts um 2 arbeitet. Ich glaube, mit dem Medikament hat er den Kipppunkt verschoben.

  11. Ich möchte gerne kurz meine Erfahrungen als Angehöriger eines depressiven Familienmitglieds mitteilen. Bisher war jede depressive Phase anders, aber meistens haben Psychopharmaka geholfen, bzw. waren das einzige was die Depression durchbrochen hat. In der Familiengeschichte der depressiven Person haben alle Vorfahren, Depressionen gehabt teilweise mit Suizied. Diese persönliche Erfahrung widerspricht deutlich ihrer Behauptung die genetische Komponente hätte keinen großen Einfluss und Psychopharmaka würden nicht helfen. Grade bei Menschen die mit Gesprächstherapie nicht weiter kommen oder die eine sehr schwere depressive Phase haben können moderne Medikamente helfen. Zumindest helfen für andere Therapieformen wieder empfänglich zu werden.

  12. @Neumann: “Ohne Medikamente…”

    Das habe ich vor bald zehn Jahren auch einmal gedacht, in einer Psychotherapie, in der viel schief ging. Aber das ist eine lange Geschichte, die ich vielleicht ein anderes Mal erzähle.

    Jedenfalls hatte ich mich von dieser Psychotherapeutin – entgegen meiner Überzeugungen – zu EMDR überreden lassen (“Das wird dir mit Sicherheit helfen!”). Meine Bedingung war, dass wir das durch einen vertrauenswürdigen Psychiater begleiten lassen. Mir ging’s durch EMDR dann aber zu schlecht und die Therapeutin wollte von unserer vorherigen Vereinbarung nichts mehr wissen.

    Wie dem auch sei: Hinterher wusste ich, dass ich es auch ohne Medikamente geschafft habe. Der Verlauf der Geschehnisse bestärkte mich in meiner Vermutung, dass ich vor allem etwas gegen den extremen Stress tun musste. Diese Psychotherapeutin war aber auf die Behandlung alter Traumata spezialisiert. Tja. (Und EMDR hat im Gegenteil den Stress noch einmal stark erhöht.)

  13. @Zielisch: Familien & Erfahrungen

    Ich schreibe hier aus der wissenschaftlichen und theoretischen Sicht und kann (und will) nichts über Ihre Familiensituation aussagen. Fakt ist aber:

    1. Die Psychopharmaka wirken nicht spezifisch antidepressiv – und selbst wenn man die überwiegend von der Pharmaindustrie selbst finanzierten und kontrollierten “wissenschaftlichen” Studien ernst nehmen will, sind die gefundenen Unterschiede zwischen den Gruppen (Medikament vs. Placebo) in der Regel unterhalb der klinischen Relevanz.

    2. Familiäre Häufung allein ist kein Beleg für genetisch/biologische Ursachen, weil Familien sich gerade dadurch auszeichnen, dass man zusammenlebt. (Auch schlechte Lebensverhältnisse und Traumata können psychosozial weitergegeben werden.)

    3. Diese Diskussion ist jahrzehntealt und die Daten und Argumente liegen lange auf dem Tisch. Wer weiter an die Wirkung dieser Medikamente glauben will, der soll das tun. Wer auch andere Sichtweisen berücksichtigen will, doch die Studien nicht selbst lesen und verstehen kann, findet inzwischen mehr als genug Dokumentationen (eine hatte ich hier verlinkt).

    Alles Gute in jedem Fall Ihnen und Ihren angehörigen!

  14. Ich leide an endogenen, schweren Depressionen und nehme seitdem SSRI und Lithium. Meine 1. kam mit 12! Die letzte schwere mit 40. Ohne die “bösen”
    Psychopharmaka hätte ich vielleicht schon aufgegeben.

  15. Ich denke, die Wahrheit liegt in einem breiten Spektrum in der Mitte. Zum einen glaube ich “Depression ist nicht Depression”.
    Wie oft habe ich mich schon erwischt, mir ein Bild übers Leben zu machen, andere Leute zu beurteilen, völlig überzeugt, um mit fortschreitender Lebenserfahrung eingestehen zu müssen, ich hatte meine Mitmenschen und deren Umstände falsch eingeschätzt. Weil das Leben unzählige Variationen bereithält.
    Daher finde ich eine pauschale Aussage für alle eher schwierig. Gut ist es bestimmt, sich als Patient über diverse Möglichkeiten zu informieren und viel auszuprobieren. Was dem einen hilft (z.Bsp. EDMR), hilft dem anderen noch lange nicht. Und ein Bewusstsein im Umgang mit Tabletten zu haben und deren abhängig machende Wirkung zu kennen.
    Sie sind letztendlich ein Werkzeug im großen Werkzeugschrank der Psychotherapie.

  16. @Wagner: endogene vs. exogene Depression

    Das klingt schwer. Tun Sie, was Ihnen hilft. Dafür alles Gute.

    Falls Sie meine Meinung dazu interessiert, können Sie noch das Folgende lesen:

    Den Versuch, “von innen” und “von außen” (mit Fachwörtern: endogene vs. exogene) verursachte Depressionen voneinander zu unterscheiden, gab es seit Jahrzehnten. Diese Unterscheidung hat sich bisher aber weder in der Forschung noch in der praktischen Medizin offiziell durchgesetzt und findet sich daher auch nicht in den Diagnosehandbüchern (ICD oder DSM).

    Ich habe gerade einmal nachgeschlagen. Im (inzwischen veralteten) ICD-10 findet sich z.B. dieser Hinweis: “Die schwereren Formen der wiederholt auftretenden depressiven Störung (F33.2 und F33.3) haben viel mit den älteren Begriffen wie manisch-depressive Depression, Melancholie, vitale Depression und endogene Depression gemeinsam.” (ICD-10, F33) Das verdeutlicht, wie vage diese Kategorien sind.

    Bei allen psychischen Störungen spielen immer Körper (damit auch die Biologie) und Umwelt eine Rolle. Um von einer “von innen” verursachten Depression sprechen zu können, müsste man erst einmal wissen, was die Ursache ist. Von seltenen Fällen abgesehen – das Beispiel der Schilddrüsenfehlfunktion hatte ich im ersten Teil besprochen –, kennt man die Ursachen aber nicht.

    Falls Sie Alternativen berücksichtigen wollen, könnten Sie eine weitere Meinung einholen, z.B. von einem Psychiater/einer Psychiaterin, die auch Psychotherapie anbietet. In der erwähnten ARD-Dokumentation wurde zum Beispiel auch eine Klinik vorgestellt, die parallel verschiedene Ansätze anbietet. Die Wartezeiten sind wahrscheinlich lang – aber Ihr Vorteil ist, dass Sie ja schon eine Behandlung haben.

  17. @Simone: Konsens?

    Als harmoniebedürftiger Mensch würde ich das, was Sie schreiben, gerne als Schlusswort stehen lassen. Aber mit Blick auf den Stand der Forschung bin ich mit einem “alle haben etwas recht” nicht ganz zufrieden.

    Ziel von Wissenschaft es es nun einmal, “pauschale Aussage für alle” zu treffen. Und der Sinn und Zwecke dieser diagnostischen Handbücher ist es, Diagnosen zu geben, die das therapeutische Handeln leiten. Wir scheinen beide darin übereinzustimmen, dass im Endeffekt jede Depression anders sein kann; im ersten Teil verwies ich auf die 227 möglichen Depressionsformen nach DSM-5 (bei ADHS sind es übrigens über 100.000!).

    Wenn es so klar wäre, was Depressionen sind, gäbe es nicht so viele Überschneidungen mit, auf der einen Seite, Angststörungen und, auf der anderen, Schizophrenie. (Nebenbei: Ich gehe davon aus, dass wir die Abschaffung der Diagnose Schizophrenie noch miterleben werden.) Will heißen: Fachleute haben im Einzelfall andere Ansichten darüber, was für ein Problem ein Patient/eine Patientin hat – und die vergebenen Diagnosen können einen großen Unterschied machen!

    Der heute herrschende Ansatz scheint doch nicht so gut zu funktionieren. Seit den 1980ern hat sich die Verschreibung der Psychopharmaka verfielfacht, ein Ende ist nicht in Sicht – ohne dass die psychischen Probleme in der Gesellschaft abzunehmen scheinen. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Auch die Anzahl der Störungen hat sich vervielfacht: Emil Kraepelin, auf den man sich 1980 bei der Einführung des DSM-III berief, hatte selbst nur zwei unterschieden: Dementia praecox und manisch-depressives Irresein.

    Das ist doch alles schon sehr vage, für ein Feld, das sich gerne so wissenschaftlich gibt. In diesem Sinne: Über die verschiedenen Alternativen und ihre Vor- und Nachteile sollte man Bescheid wissen. Dass man dann als Patient/Patientin eine informierte Entscheidung treffen soll und muss, wo zudem die zur Verfügung stehenden Behandlungsplätze rar sind, ist eine große Herausforderung.

  18. Zum Versuch, Depressionen mit Strom (tDCS) zu behandeln: Gerade heute im Presse-Ticker – kaum zu glauben, dass die wissenschaftlichen Standards in der Neuropsychiatrie immer noch nicht besser sind.

    Zwei größere und in angesehenen Fachzeitschriften veröffentlichte Studien hatten einen positiven Effekt nachgewiesen. Jetzt hat ein Team von Forschenden unter Leitung von Prof. Dr. Frank Padberg aus der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des LMU Klinikums München in einer qualitativ hochwertigen, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Studie das Verfahren erneut überprüft.

    “Und wir haben durchgehend keine Wirkung auf die depressive Symptomatik gefunden”, sagt Dr. Gerrit Burkhardt vom Center for Non-Invasive Brain Stimulation Munich-Augsburg (CNBSMA), das zur Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie gehört. […]

    Die Studie ist gerade in The Lancet erschienen, einer hochrangigen Fachzeitschrift. “Veröffentlichungen von Negativergebnissen sind oft für Ärzt:innen ähnlich wichtig wie Wirksamkeitsnachweise, werden aber weiterhin häufig nicht publiziert oder nur mit geringer Sichtbarkeit”, sagt Gerrit Burkhardt.

    Tja, publish or perish – so funktioniert die Wissenschaft seit Jahrzehnten und produziert in vielen Fällen wertlose Studien. (Dazu zähle ich die Arbeit der Münchner Psychiater ausdrücklich nicht.)

  19. MMn muss man auch erwähnen, dass die Flucht/Ablenkung aus der Situation, die die Depression verstärkt, wichtig ist: in meinem Bekanntenkreis habe ich mehrere Beispiele: eine Person flüchtet in den Sport, um der Situation zu entkommen, eine in Computerspiele, eine andere entwickelt eine Essstörung, um zu gefallen. Bei mir persönlich war es Arbeit und ein Hobby, um nicht zu Hause bei meinem narzisstischen Ehemann sein zu müssen. Mit der Trennung war auch meine Depression (fast) über Nacht weg.

  20. @Wölfin: Bewältigung

    Danke für Ihre Beispiele. Bewältigungsstrategien (engl. “coping”) gehen meistens nur eine Weile gut, weil sie das grundlegende Problem nicht beheben. (In der benachbarten Diskussion über Psychedelika ging es gerade um das Beispiel, dass Menschen Drogen konsumieren, um negative Gefühle bzw. einen mangelnden Selbstwert zu unterdrücken).

    Ihre Liste macht auch deutlich, dass Diagnosen wie “Essstörung” oder, seit Kurzem, “Computerspielsucht“, problematisch sein können, weil sie den Coping-Mechanismus behandeln und nicht das zugrundeliegende Problem. (Tatsächlich erzählte mir eine persönlich seit vielen Jahren Betroffene erst letzte Woche davon, dass Essstörungen Coping sein können.)

    Doch aufgepasst, laut den Jüngern der Gehirn-Hypothese der Depression war nicht Ihr Mann narzisstisch, sondern Ihr Gehirn “kaputt”. Tja, wem soll man da glauben?!

  21. Vor 12 Jahren bin ich an einer sehr schweren Depression erkrankt. Unsere Kinder waren damals 6,9 und 10 Jahre alt. Wir sind selbstständig, die Katastrophe wuchs täglich. Da war nichts mehr mit spazieren gehen, im Bett aufsitzen, basten, einkaufen etc. Ich litt unter furchtbaren Panikattacken, lief schreiend durchs Haus und sah nur noch den Ausweg Suizid. Ich kam in eine geschlossene Station, verbrachte 8 Monate in völliger Verzweiflung. Das Wunder geschah: Ich wurde gesund. Medikamente haben mich erst mal in die Lage gebracht, überhaupt eine Therapie beginnen zu können. Seit 11 Jahren nehme ich eine Minimaldosis eines Antidepressivums, inzwischen hat sich herausgestellt, dass in meiner Herkunftsfamilie schon mind 3 Menschen Suizid begangen haben. Ich war 3 Jahre in ambulanter Psychotherapie und habe unglaublich viel gelernt. Ich bin jeden Tag dankbar, dass ich wieder gesund bin, meine Familie ist glücklich, und es ist nicht wahr, dass Psychopharmaka nicht helfen. Es ist nicht einfach, das passende zu finden, aber Gott sei Dank hatte ich in der 2.Klinik sehr gute Ärzte, die mich kompetent und liebevoll behandelt haben. Es ist auch nicht wahr, dass diese Medis abhängig machen. Vor ca 6 Jahren habe ich mit meinem Psychiater zusammen das Medikament ausgeschlichen, das muss ganz ganz langsam und unter ärztlicher Kontrolle geschehen. Ich hatte keinerlei körperliche oder psychische Beschwerden und lebte einige Monate ohne das Antidepressivums. Aus heiterem Himmel begannen dann die leider bekannten Symptome, ich habe auf der Stelle mein Medikament wieder genommen und bin jeden Tag dankbar, dass ich mein fröhliches Leben wieder habe. Ich lasse regelmäßig EKG und Blutwerte checken, alles bestens, ich werde nie mehr absetzen.

  22. Ein Aspekt fehlt mir hier noch: Die Einnahme der “Pille” zur Verhütung führt als mögliche Nebenwirkung ” Depressionen”. Diese ist bei einer guten Freundin eingetreten und nach Absetzen der “Pille” sofort wieder verschwunden. Durch diese sehr gängige Verhütungsmethode halte ich viele ( junge) Frauen für gefährdet.

  23. @Bräuninger: Abhängigkeit

    Danke für das Teilen Ihrer Erfahrung. Andere Menschen haben andere Erfahrungen. Ich schreibe hier über das, was sich wissenschaftlich zum Thema aussagen lässt.

    In einem Punkt muss ich Ihnen ausdrücklich widersprechen:

    Es ist auch nicht wahr, dass diese Medis abhängig machen.

    Das sehen viele inzwischen anders – und viele haben das auch am eigenen Leib erfahren. Entsprechende Belege finden Sie in den Haupttexten oben.

    Die Tatsache, dass Sie die Substanz (wie übrigens Hazel Brugger es auch berichtet) in kleinen Schritten abbauen mussten, belegt gerade die Abhängigkeit.

  24. @Demuth: Hormone & Depressionen

    In der ersten Generation wurde die Pille als Mittel zur Emanzipation, in der zweiten als Mittel zur Unterdrückung, in der dritten als Mittel zur Selbstverbesserung (vgl. das sozialwissenschaftlich gestützte Buch “Die Pille und Ich”) gesehen – und jetzt vermehrt als Gesundheitsproblem?

    Dazu gestern in den Medien: Weil weniger Frauen verhüten, steigt die Anzahl der Abtreibungen.

    Aber was halten Sie davon, dass neben (langer) Trauer nun auch vermehrt Probleme um die Menstruation herum als “Erkrankung im medizinischen Sinn” gesehen werden, die natürlich wiederum medikamentös behandelt werden sollen?

  25. Sehr geehrter Herr Schleim,

    Ich benötige keine 2. Meinung. Ich kenne viele, die es jahrelang ohne Medikamente versucht hatten. Aber doch erst mit grschafft haben. Glauben Sie dass man auch alle psychischen Krankheiten ohne Medikamente behandeln kann? Ich denke sie beharren auf Ihrer Ansicht und sind doch kein Psychiater und lassen keine andere Sicht zu.

    Mit freundlichen Grüßen
    Sabine Wagner

  26. @Wagner: Forschung

    Stimmt. Ich bin kein Psychiater. Wollte auch nie einer werden. Ebensowenig Psychotherapeut. (Allerdings sind unter den >5.000 Psychologen, die ich inzwischen ausgebildet habe, auch zahlreiche Therapeut*innen. Mit einigen halte ich Kontakt.)

    Sehr wohl habe ich in mehreren psychiatrischen Universitätskliniken geforscht, waren und sind unter meinen Bekannten viele Psychiater. Vielleicht habe ich deshalb einen neutraleren Blick als andere? Weil ich nicht an die Spielregeln des Systems gebunden bin? Wo man zum Beispiel vom Klinikdirektor vor allen zur Sau gemacht wird, wenn man dessen lukratives Geschäftsmodell kritisiert?

    Man kann sich auch die kruden Irrtümer der Psychiatrie anschauen (so wie Eiswasserschocktherapie, Insulinschocktherapie, Frontalhirnzerstörungstherapie usw.), die alle in ihrer Zeit viele Anhänger hatten. Und für die Medien fanden sich immer ein paar Patienten, die darauf schwörten.

    Ich kann mich hier inhaltlich mit Leuten unterhalten. Ich habe auch gar nichts gegen Medikamente, wenn sie Krankheitsursachen bekämpfen. Die sogenannten Antidepressiva (ein vielfach unpassender Name) tun das nachweislich nicht. Wer trotzden etwas Anderes glauben will, dem steht das frei. Wissenschaftlich ist das aber nicht. Das räumen nun auch immer mehr Psychiater ein. Quellen finden sich in den Haupttexten oben.

    Ich habe hier kein anderes Interesse, als korrekt zu informieren – und Menschen ein Stückchen Subjektivität (man könnte auch sagen: Seele) zurückzugeben.

  27. P.S. In den Niederlanden spricht man inzwischen schon von Hormonphobie, weil jüngere Frauen von Influencern auf Instagram und TikTok von den Vorteilen eines “natürlichen Lebens” und der Schädlichkeit der Pille überzeugt werden.

    In der Praxis installieren sie dann eine App, um ihre fruchtbaren Tage darzustellen, und/oder kombinieren das mit der Temperaturmethode. Im Ergebnis sei das, so der Artikel, um den Faktor 230(!) unzuverlässiger als eine Hormonspirale. Ein Gynäkologieprofessor meint, das funktioniere als Methode für das Wunschkind, jedoch eher nicht zur Verhütung.

    Eine junge Frau sagte, sie wolle “ein Leben ohne Hormone”. Dann empfiehlt sich vielleicht der Umzug in einen Roboterkörper?

    (Nein, im Ernst. Verhütung ist natürlich eine ganz individuelle Entscheidung. Aber wem die Absurdität nicht auffällt, dass wir immer mehr Aufmerksamkeit auf die Gesundheit richten, und im Ergebnis kränker sind denn je [das war noch vor Corona], dem kann ich mit Logik auch nicht mehr helfen.)

  28. Hormonophobie”
    Natürlich ist ein “Leben ohne Hormone” so unsinnig wie ein “Apfel ohne Chemie”.

    Aber als Frau, die bei ihrem Apfel die kurzkettigen Kohlenhydrate von den Pektinen unterscheiden kann (und die Wechseljahre hinter sich hat), kann ich nachvollziehen, dass frau ihrem Körper nicht jahrelang eine Schwangerschaft vormachen will, nur um nicht schwanger zu werden.

    Ich habe das Zeug zweimal in meinem Leben für je zwei Monate genommen (mit 16 und Mitte 30) und keine Katastrophe, die ich jemals erlebte, kommt dem “negativen Gefühl” (es war eher ein nicht fühlen) gleich, dass ich in dieser Zeit hatte.

    Während ich auf der anderen Seite zwar nie schwanger wurde, aber – selbst bei Frauen – oft auf Unverständnis stiess, wenn ich wußte, wann mein Eisprung war. (Das kann frau fühlen, wenn sie sich kennt, das tun die meisten aber nicht.)

    Ja, es ist absurd.
    Aber das Absurde ist halt, dass wir Gesundheit nicht als etwas “eigenes” sondern nur durch “Abwesenheit von Krankheit” definieren wollen, statt uns zu fragen, was für eine Qualität diese “Einsicht”, diese Übernahme der Verantwortung für sich selbst, denn überhaupt bringen würde.

    (Wobei die Pille eigentlich ein schlechtes Beispiel ist, weil Schwangerschaft ja keine Krankheit ist. Auch wenn deren Vorspiegelung über den Umweg des Körpers für die weibliche Psyche sehr anstrengend sein kann.)

    Aber das Abwerten einer Symptombekämpfung (bei Depresssion) ist aus naturwissenschaftlicher Sicht genauso fragwürdig wie aus der esoterischen: der Mensch ist nicht dazu gemacht, alles auszuhalten, “Linderung der Beschwerden” kann durchaus heilsam sein.
    Wie bei allem kommt es darauf an, dass es im Kontext Sinn macht.
    Medikamente, die den Betroffenen den Spielraum verschaffen, sich selbst helfen zu können, sind durchaus vernünftig, finde ich.

  29. @Viktualia: Symptombekämpfung

    Ich persönlich nehme Medikamente vor allem dann, wenn damit eine Krankheitsursache bekämpft wird. Ergo greife ich auch nur als letztes Mittel zu Schmerzmitteln. Ergo nehme ich nur selten Medikamente. (Auch das Oxycodon bei der Gallenblasenentzündung, mit dem mich der Hausarzt wochenlang bis hin zur Operation versorgen wollte, nahm ich nicht. Vielleicht wäre ich davon abhängig geworden? Ich lag halt tagelang mit Schmerzen flach, 24h/Tag.* Diese Tage hatten auch etwas Schönes, weil ich so dicht bei mir selbst war.)

    Meiner Erinnerung nach habe ich mehrmals geschrieben, dass alle das tun/nehmen sollen, was ihnen hilft. Wenn man eine depressive Symptomatik mit “Antidepressiva” (irreführender Name) behandelt, a) könnte man in den meisten Fällen mit einem Placebo denselben Effekt erzielen (bloß ohne Nebenwirkungen und Abhängigkeit) und b) sollte man schon so ehrlich sein, es auch nur als Symptom- und nicht ursächliche Behandlung darzustellen. Daran halten sich viele Ärzte aber nicht. Im Gegenteil erzählen sie immer noch Hokuspokus über Gehirnbotenstoffe, vor allem Serotonin, obwohl das nie mehr als eine Hypothese war, die man endlich als widerlegt ansehen sollte.

    So viel sollte einem ein humanistisches Menschenbild schon wert sein.

    * Eine Ausnahme war eine Oxycodon in der Notaufnahme, die ich aber eher nahm, um das Personal zu beruhigen. Die störten sich schon daran, wenn ich im Bett z.B. in die Kindhaltung (Yoga) ging, um den Schmerz zu ertragen. Als guter Patient muss man wohl regungslos auf dem Rücken liegen. Dass einem der Stoff das Denken vernebelte, gefiel mir aber nicht.

  30. @S. Schleim:
    Eine gewisse Wirkung haben Psychopharmaka ja gewiss. Vermutlich auch über eine Placebowirkung hinaus.

    Aber Sie finden die Risiken der Medis zu hoch, also das “Kosten-Nutzen”-Verhältnis sehr schlecht, oder?

  31. @Stephan Schleim, no front, aber diese Geschichte mit der “Symptombekämpfung” ist, in der Form (weil es “keine Ursache bekämpfe”) in meinen Augen schlicht Unsinn, esoterischer Quark.

    Ein Körper ist ein Ganzes und wenn man eine Heilung unterstützen will, kann es durchaus Sinn machen, diesem Körper die Arbeit, die er mit dem “Symptom” (also der Krankheit) hat, zu erleichtern.

    Natürlich sollte in diese Rechnung auch einfließen, wie viel Arbeit der Körper mit der Symptomlindernden Substanz hat – aber das geschieht selten, wenn so “argumentiert” wird.

    Man könnte eine “Symptombekämpfung” auch unter dem Aspekt verstehen, dass damit dem Körper die Möglichkeit gegeben wird, die Ursache selbst zu bekämpfen.

    Wenn jemand in einen Nagel tritt, entfernt man nicht nur den Nagel (“Ursache”), sondern desinfiziert die Wunde auch, damit keine “Symptome” einer Verunreinigung auftreten.
    Sollte man da warten, bis die Bakterien, die evtl. am Nagel hafteten, tatsächlich eine Infektion “verursacht” haben?

    Wenn ich das richtig verstanden habe, ist nicht belegt, dass Serotonin nichts mit dem Hirnstoffwechsel bei Depression zu tun habe – allein die Verabreichungsform scheint noch verbesserungsfähig.

    Und natürlich ist es extrem individuell, ob man Schmerzlinderung und die damit verbundene verringerte Reaktionsfähigkeit als “lindernd” – oder bedrohlich – empfindet.
    (Ich hatte mal einen Zahnarzt der es als bedrohlich empfand, dass ich vor dem Bohren keine Betäubung nahm. Er hatte Angst, ich würde ihn beißen. Ich meinerseits habe mehr Angst davor, mir nach der Behandlung in die betäubte Backe zu beißen als vor der Minute Schmerz beim Bohren.)

  32. @Simone: Psychopharmaka

    Alle möglichen Mittel wirken auf unsere psychischen Prozesse. (Darüber in Kürze ein neues Buch von mir.) Wenn Sie zu wenig essen, werden Sie irgendwann die Symptome einer Unterzuckerung spüren (die übrigens auch durch Stimulanzien wie Amphetamin/Speed, Methylphenidat/Ritalin, Kokain… “behandelt” werden können – manche machen das tatsächlich zum Abnehmen). Darum ist Hunger aber keine psychische Störung und Zucker hier kein Medikament zur Behandlung einer Krankheit im medizinischen Sinn.

    Der Punkt ist, dass die sogenannten Antidepressiva (irreführender Name) nicht spezifisch antidepressiv wirken. Das hat Michael Hengartner, der noch tiefer in die Wissenschaft eingestiegen ist, hier schon vor Jahren allgemein verständlich formuliert (Teil 1, Teil 2). In Felix Haslers (Bekannter von mir und früher Neuropharmakologe) Buch über Neuromythen konnte man das schon vor zehn Jahren lesen.

    Die jetzt so beliebten Psychedelika wirken übrigens auch primär über Serotonin; abhängig von den Erwartungen, der Dosierung und Umgebung aber ganz unterschiedlich. Und viele trinken auch mal ein Bierchen gegen Stress, Nervosität, Ängstlichkeit usw. (Ich auch.)

    Selbst wenn man sich die von der Pharmaindustrie finanzierten Studien kritisch anschaut, ist der Effekt von “Antidepressiva”, sofern überhaupt noch einer übrig bleibt, nicht mehr klinisch relevant. Das ist jetzt auch schon vor vielen Jahren ans Licht gekommen, zum Teil durch die Auswertung von Daten, die die Pharma-Unternehmen unter Verschluss halten wollten. Wichtig: Solche statistischen Daten lassen sich nicht auf den Einzelfall übertragen.

    Wer’s immer noch nicht glauben will, dem kann man wohl am besten mit David Healy, Pharmakologe und Psychoatrieprofessor, antworten: Lasst sie halt Prozac essen. (“Let Them Eat Prozac”, 2006).

    Ärztinnen und Ärzte müssen ihre Patienten korrekt informieren, damit diese informierte Entscheidungen treffen können.

  33. @Viktualia: Schmerz

    In 99,9% der Menschheitsgeschichte haben wir es auch ohne Opiate geschafft. Ich hätte freilich eine andere Entscheidung getroffen, wenn ich mich z.B. um Kinder hätte kümmern müssen.

    Die Begründung, Schmerzen seien eine behandlungsbedürftige Erkrankung und die Mittel machten nicht abhängig, hat seit den 1990ern allein in den USA über eine halbe Million(!) Menschen ins Grab gebracht – und täglich werden es mehr. Das ist kein Spaß. Die Leute, die daran gut verdient haben, haben rechtzeitig ein paar Milliarden in Offshore-Länder gebracht, wo es ihnen die US-Behörden nicht mehr abnehmen können.

    Die jetzt gezahlte und erst im Mai vom Berufungsgericht bestätigte Schadenszahlung in Höhe von 5-6 Milliarden US-Dollar läuft auf rund 10.000 Dollar pro Menschenleben hinaus. Wenn man das Leid der (noch lebenden) Abhängigen und Angehörigen hinzurechnet, ist es sogar noch weniger pro Leben. (Und ca. alle 25 Minuten wird dort ein Opiat-abhängiges Baby geboren.)

    Wer Symptome lindern lassen will, soll das tun. Ich nannte es gerade eine persönliche Entscheidung. Das ist dann Palliativmedizin. Es führt aber in die Irre, jetzt Heilung, Schmerzlinderung und Prävention miteinander zu vermischen.

  34. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist nicht belegt, dass Serotonin nichts mit dem Hirnstoffwechsel bei Depression zu tun habe – allein die Verabreichungsform scheint noch verbesserungsfähig.

    Nein, das haben Sie nicht richtig verstanden. Die Beweislast ist auch umgekehrt: Wer die Serotoninhypothese vertritt, muss sie belegen können. Das klappt nun schon seit den 1990ern nicht.

    Die Studie, die ich hier immer wieder zitiere, hat das vor einem Jahr noch einmal gut sichtbar zusammengefasst. Wie schon x-mal erklärt und teils auch verlinkt, gibt es auf dieser Grundlage auch für Laien verständliche Artikel in Nachrichtenmedien, Dokumentationen usw.

  35. @Viktualia 15.07. 13:12

    „Ein Körper ist ein Ganzes und wenn man eine Heilung unterstützen will, kann es durchaus Sinn machen, diesem Körper die Arbeit, die er mit dem “Symptom” (also der Krankheit) hat, zu erleichtern.“

    Das ist jetzt wirklich erhellend. Gerade handfeste psychische Krankheiten gehen meistens mit einer dicken Überlastung einher. Insbesondere, wenn sie neben den sozialen Auswirkungen mit einer Einweisung verbunden sind. Das ganze System kann jetzt jede Erleichterung sehr gut gebrauchen.

    Selbst wenn die Antidepressiva reine Legende sind, so helfen sie u.U. dennoch ganz wesentlich. Allein die Legende kann reichen, dass man mal Pause macht, und nicht mehr nach dem eigenen Denkfehler sucht, sondern dem Medikament Zeit gibt, zu heilen. Auch wenn es am Ende nur genau diese Ruhe ist, die heilsam ist.

    „Natürlich sollte in diese Rechnung auch einfließen, wie viel Arbeit der Körper mit der Symptomlindernden Substanz hat – aber das geschieht selten, wenn so “argumentiert” wird.“

    Das wird wohl vor allem relevant, wenn das Medikament abhängig macht. Wobei es den Pharmafirmen wohl besonders hilft, wenn die Medikamente jahrelang eingenommen werden. Insbesondere wären Psychedelika wirtschaftlich ziemlich uninteressant, die werden nur einmal oder höchstens ein paar mal eingenommen.

  36. P.S. Prävention

    Das Beispiel mit der Wundbehandlung widerspricht Ihrem Standpunkt und stützt meinen: Man macht das ja nicht nur, um sich besser zu fühlen; im Gegenteil tut es meist weh (wie ich gerade wieder spüren durfte, weil ich mir in den neuen Schuhen eine Blase gelaufen habe).

    Man macht das, um einer Infektion (z.B. mit Bakterien, Viren, Pilzen) vorzubeugen; die Wundreinigung beseitigt also potenzielle Krankheitsursachen.

  37. @Tobias: Behandlung

    Selbst wenn die Antidepressiva reine Legende sind, so helfen sie u.U. dennoch ganz wesentlich. Allein die Legende kann reichen, dass man mal Pause macht, und nicht mehr nach dem eigenen Denkfehler sucht, sondern dem Medikament Zeit gibt, zu heilen. Auch wenn es am Ende nur genau diese Ruhe ist, die heilsam ist.

    Dem kann ich teils zustimmen; aber dann wäre es doch geboten, ein Placebo zu geben – oder meinetwegen ein “homöopathisches” Mittel, was aufs Selbe hinauskommt.

    Viele psychiatrische Patienten (vielleicht mit Ausnahme der Zwangseinweisungen) sind für jede Form von Aufmerksamkeit dankbar und fühlen sich allein dadurch schon besser. Aber um diesen Effekt zu erzielen, sollte man meiner Meinung nach keine Mittel mit solchen Nebenwirkungen und Abhängigskeitspotenzial verschreiben.

  38. @Stefan 15.07. 14:16

    „Aber um diesen Effekt zu erzielen, sollte man meiner Meinung nach keine Mittel mit solchen Nebenwirkungen und Abhängigskeitspotenzial verschreiben.“

    In der Tat, wundert es mich auch sehr, welche Hammermittel hier teilweise benutzt werden. Vermutlich wäre mit harmloseren Mitteln den Meisten mehr geholfen.

  39. @Tobias: Versuch & Irrtum

    Vor allem ist das oft auch nicht mehr evidenzbasiert, was da in Klinken passiert, sondern reiner “Versuch & Irrtum”, mit teils abenteuerlichen Dosierungen und Kombinationen von Präparaten, die so nie wissenschaftlich untersucht wurden.

    Wenn depressive Episoden meist nach vier bis neun Monaten von selbst wieder verschwinden, auch ohne Behandlung, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Patient/die Patientin dann denkt, dass die Medikation, die man dann zufällig erhält, die Lösung ist. Und dann wird sie über viele Jahre immer weiter genommen, auch wenn das wissenschaftlich nie so angedacht war.

    Aber mehrere Akteure verdienen gut daran – und die Patienten sind zufrieden, bis die Probleme irgendwann vielleicht wieder größer werden.

  40. @Stephan Schleim – wir reden ein wenig aneinander vorbei.

    Wir sind uns alle einig, dass weniger von “diesen Hämmern” angebracht wären.

    Und eigentlich bin ich ja diejenige, die sich Wurzelbehandlungen ohne Betäubung machen lässt – aber dann irgendwann merkte, dass ich, wenn ich da ein Prinzip draus mache, übers Ziel hinausschieße.

    Eigentlich wehre ich mich hauptsächlich gegen die Aussage mit der “Symptombekämpfung”. Es dürfte bekannt sein, dass dies ein Schlagwort aus der Esoterik-Szene ist (gegen “die Autorität der Schulmedizin”) und die These hinkt; sie hat nichts mit Heilung oder halt realem Genesen zu tun.

    Bezogen auf Depression gilt das für mein Gefühl auch – nur kommt da hinzu, dass die “eigentlichen Ursachen” noch viel mehr im Dunkeln liegen als in der Somatik.

    Wer die Serotoninhypothese vertritt, muss sie belegen können
    Nee, Moment, da liegt das Missverständliche. Ich will das Zeug ja nicht verkaufen (und höchstens in Form von Pilzen anwenden), aber ich habe doch richtig verstanden, dass es (“an sich”) wirkt. Die Verkäufer haben nur noch kein Produkt, mit dem es Verbraucher:innen auch nutzen könnte, was sie (zu Recht) bemängeln.

    Es hier geht also um den Unterschied zwischen “Serotonin wirkt” (als körpereigener Stoff) und “Störungen im Serotoninhaushalt beheben”. Ersteres wäre so was wie “nicht depressiv”/funktional und ist belegt, denke ich. (Es gibt einen “Serotoninhaushalt”.) Während zweiteres (bislang) nicht geleistet wurde wie versprochen, da steht der Beleg also inzwischen aus.

    Oder?
    (Ich mache keine Aussage über Medikamente, sondern über Wirkung. Wirken Placebos nicht auch auf den Serotoninhaushalt? Bzw. die Pilze.)
    —————–
    Darum ist Hunger aber keine psychische Störung und Zucker hier kein Medikament zur Behandlung einer Krankheit im medizinischen Sinn.
    Oh, da springt der Erbsenzähler in mir im Dreieck. Kein Wunder, dass es zwischen uns zu Missverständnissen kommt – Zucker ist doch ein klasssisches “Wohlstandsgift”. Früher waren “Bonbons” eine Möglichkeit, z.B. die Wirkstoffe von Thymian gegen Husten schneller in die Blutbahn zu bekommen.

    Für mich, bzw. mein “Wertesystem” also etwas, bei dem “die Dosis macht das Gift” eine Rolle spielt; da die Wirkung (Heilung oder Beeinträchtigung) innerhalb “normaler”, also alltäglicher Dosierungen auftreten kann.

    Und “A hungry man is an angry man” ist ja wohl Tatsache – also Hunger ist (neben Schlafmangel) eines der ersten Mittel jemanden psychisch zu zermürben.

    Mich irritiert ihr Fazit, @Stephan Schleim. Genau da habe ich doch in der Hand, wie ich “Störungen” einordne.
    Ja, man sollte sich an Evidenz und nicht dem Gefühl orientieren und weder Selbstdiagnosen noch allen Rezepturen trauen – aber Hunger und Zucker?
    Die gehören (für mich) “auf die andere Seite der Grenze”.
    Bei “Zucker” fängt “medizinische Wirkung” an (als isoliertes Kohlenhydrat) und bei (chronischem) Hunger steigt das Potential für pychische/geistige Beeinträchtigungen. Ab da wird es dann ziemlich schnell pathologisch.
    Das kommt bei ihrem Fazit irgendwie zu kurz für mein Gefühl.
    (Rückmeldung aus Verbrauchersicht; ich nehme nicht an, dass sie das als Autor grundsätzlich falsch einschätzen; im Gegenteil betrachte ich es als ne Art verrutschten Warnhinweis. No front.)
    ——————–
    @Tobias Jeckenburger – Das ist jetzt wirklich erhellend.
    Dankeschön, hat mich gefreut.

    P.S.: @Stephan Schleim – die Wundreinigung beseitigt also potenzielle Krankheitsursachen.
    Ja, man muss nicht auf Symptome warten – man muss sie aber auch nicht alle aushalten, wenn sie da sind. Sie verursachen ja auch was; ich finds halt unlogisch. Wenn die Intervention selbst keinen (größeren) Schaden anrichtet – so what?

  41. @Viktualia: Abwägungen

    Das sind individuelle Abwägungen: Für eine rein symptomatische Behandlung will ich, so lange es sich vermeiden lässt, eben keinen “vernebelten Geist” (Opioide) oder Übergewicht, sexuelle Funktionsstörung, emotionale Stumpfheit (SSRIs) riskieren.

    Und in meinem konkreten Fall: Wäre ich dem Schmerzplan meines Hausarztes (der die Gallenblasenentzündung übrigens nicht richtig diagnostizierte; die Ärztin in der Notaufnahme drei Tage später schon) gefolgt, wäre a) ich drei bis vier Wochen lang “high” auf Opioiden gewesen, b) danach vielleicht Medikamentenabhängig gewesen und c) hätte mir am Ende der Wartezeit für die Operation (insgesamt ca. sechs bis sieben Wochen) der Chirurg vielleicht gesagt, dass er jetzt nicht den Gallenstein entfernen könne, weil durch die (unbehandelte) Entzündung (= ursächlich) das Risiko für Komplikationen zu groß wäre und d) hätte ich wohl noch einmal drei bis vier Wochen warten müssen.

    Reine Symptombehandlungen können gefährlich sein, weil sie nichts an der Ursache ändern.

    Und man kann auch mal 72 Stunden in Schmerzen liegen und sich über jeden Atemzug freuen, den man wieder geschafft hat. So what? Es war für mich eine existenzielle Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Wenn man die Schmerzen nicht wegdrückt, sind sie weniger schlimm; und dem Hausarzt habe ich auch verziehen. Wahrscheinlich ist das wieder alles “Esoterik-Quatsch” – ändert aber nichts an der Tatsache, dass z.B. meditierende Menschen oft weniger Schmerzmittel brauchen.

  42. @Stephan Schleim – Reine Symptombehandlungen können gefährlich sein, weil sie nichts an der Ursache ändern.
    Natürlich, vollkommen richtig.
    Mein Punkt ist aber, dass man daraus nicht ableiten könne, Symptombehandlungen seien generell was schlechtes.

    individuelle Abwägungen: – guter Punkt.
    Da wäre also zum Einen die erfolgte (oder eben nicht erfolgte) Diagnose und zum Anderen die individuelle Empfindung der Begleiterscheinungen.

    Und falls gewünscht ist, diese zu mildern, ist natürlich die Auswirkung einer solchen Intervention zu prüfen.
    Neben der Behandlung der Ursache (wenn denn eine Diagnose vorliegt).

    Für sich selbst die Entscheidung zu treffen, Schmerzen aushalten zu wollen ist legitim – aber wenn das generalisiert wird, will ich eine anständige Begründung sehen, als Prinzip taugt das nix.

    Es macht keinen Sinn, “Symptome” sind ja ihrerseits auch immer Ursache von “Arbeit für den Körper”, denn sie müssen ja bewältigt werden.

    meditierende Menschen
    Wie gesagt, auch ich kenne mich damit aus Schmerzen zu bewältigen. Und ich habe festgestellt, dass es auch da ein Übermaß gibt – ich kann auch zu gut aushalten und damit meinem Körper, meiner Heilung im Weg stehen.

    Ja, “reine Symptombekämpfung” kommt vor und ist schlecht.
    Das war aber nicht mein Punkt.

    Da die Ursachen einer Depression im Dunkeln (des Serotonishaushaltes und des “Settings”) liegen, bleiben halt nur die Symptome, insofern bleibe ich bei meinem Widerspruch.
    Auch wenn ich mich gerne gegen die Gabe “dieser Hämmer” abgrenzen würde.

    Interessanter fände ich zum Beispiel, ob bei Depressiven die Gabe von Placebos eventuell überdurchschnittlich gut hilft.

    Ich bin fasziniert davon, wie viele Menschen das Gefühl haben, Homöopathie würde ihnen helfen – auch wenn es nicht ursächlich heilt, kann das gemeinsame Betrachten eines Problems eine Art Auswirkung haben, eine “Kraft verleihen”, um die Fokussierung auf eine Besserung zu stärken.

    Ich glaube nicht, dass Homöopathie wirkt, aber ich könnte mir vorstellen, dass diese “Kraft”/Ausrichtung über den Serotoninhaushalt funktioniert.
    (Es wäre eine Art paradoxe Intervention, das ausnutzen zu wollen – aber interessant. Eine Art Reliquienhandel auf Krankenschein.)

    @Tobias Jeckenburger – mein Pendant zu dem hier: Insbesondere wären Psychedelika wirtschaftlich ziemlich uninteressant, Sie haben da völlig Recht, fürchte ich.

  43. @Viktualia: Alternativen

    Was “gut” und was “schlecht” ist, das ist von Person zu Person und Situation zu Situation verschieden; ich wollte hier ein paar Alternativen aufzeigen. Man kann durchaus aber mit Blick auf den zunehmenden Medikamentenmangel darüber nachdenken, ob die heutige Verschreibungspraxis der Königsweg ist. (Für die Pharmaindustrie ist er freilich sehr profitabel; und für die Ärzteschaft bequem.)

    Vor wenigen Jahren begegnete ich auf einem Yoga-Urlaub mal einer Lehrerin, die war so um die 50. Bei einem Abendessen saßen wir nebeneinander und erzählte sie mir, dass sie seit dem Ende ihres Studiums, also so um die Mitte 20, “Antidepressiva” (irreführender Name) nahm – also schon seit ca. einem Vierteljahrhundert.

    Ich musste mir auf die Zunge beißen, um sie nicht mit meiner Meinung zu konfrontieren (siehe meine Texte). Mir fiel aber das negative Selbstbild der Frau auf – und dass sie sich permanent überarbeitete. Nun kam sie in ein Alter, in dem sie nicht mehr so viele Überstunden machen konnte, wie früher.

    Hier haben wir das Psychosoziale vor uns auf dem Tablett liegen: Der Wechsel vom Studium in die Arbeit ist für viele Menschen eine Herausforderung. Da kann man schon einmal mit Ängstlichkeit und Selbstzweifeln zu tun haben. Dazu kommt die strukturelle Ausbeutung von Lehrpersonal: Hier in den Niederlanden arbeiten sehr viele offiziell nur vier Tage die Woche, inoffiziell aber doch fünf, um ihren Beruf gut zu machen.

    Dass man nach so vielen Jahren nicht mal ihre negativen Denkmuster (der Art: “Ich bin nicht gut genug.”) und ihren Hang zur Selbstausbeutung untersuchte – das wären typische Themen einer Psychotherapie. Mich macht das traurig, wenn ich sehe, dass jemand ein halbes Jahrhundert so lebt. (Bei so einer Konstellation könnte ich mir noch am ehesten vorstellen, dass Psychedelika helfen.)

    Tja, stattdessen hatte man ihr das Hohelied vom Serotonin erzählt – und sie das auch nie hinterfragt. Ein Vierteljahrhundert lang.

  44. @Stephan Schleim, wir reden immer noch aneinander vorbei.

    Was “gut” und was “schlecht” ist, das ist von Person zu Person und Situation zu Situation verschieden
    Ja, aber es geht um ihre Behauptung, Symptombekämpfung wäre generell negativ.

    Die Bekämpfung eines Symptoms sollte natürlich nicht nur gegen seine Nebenwirkung hin abgewogen werden, sondern auch auf seine Nützlichkeit, rsp. Sinnhaftigkeit insgesamt.

    Was sie nur indirekt andeuten, möchte ich hier mal klar aussprechen: sie hielten in dem Fall wohl eine Kündigung für etwas “heilsames”.

    Aber auch wenn diese Lehrerin damit “geheilt”, oder zumindest sorgloser gewesen wäre – würden sie das wirklich als “Ursachenbekämpfung” bezeichnen?
    Nicht wirklich, oder?

    Eigentlich hätte es, in einer Therapie, darum gehen müssen, dass ihr Selbstbewusstsein so sehr gestärkt würde, dass sie den Job schafft – und dann “aus freien Stücken” gehen könne, nicht wahr?

    Und darüber, ob dieser Job heutzutage überhaupt mit “normalem Verstand” zu schaffen ist, haben wir noch gar nicht geredet (das “Psychozoziale” beinhaltet ja auch die Frage, wie gesund es ist, in offensichtlich kranken Zuständen bestehen zu können.)

    Herr Schleim, mein Fazit wäre da eher, dass wir neben besseren Medikamenten auch mehr alternative Arbeitszeitmodelle brauchen; egal, ob wir die Arbeitswelt als Ursache oder unsere Reaktion darauf als Symptom betrachten.

    Und: Nein, Psychedelika sind genauso (wie eine “normale” gute Therapie) davon abhängig, ob es möglich ist, die gewonnenen Erkenntnisse auch umzusetzen, sie zu leben.
    Und da sich durch ihre Einnahme nur die Innenwelt – nicht aber die Außenwelt – ändert, blieben die Probleme (“äußere Ursachen”) genau gleich.
    So wie bei den herkömmlichen Medikamenten.

    (Wie in den ollen 70ern wäre dann die Frage, ob Psilocybin im Trinkwassser Sinn macht…)

    Langsam habe ich den Eindruck, für sie ist “Therapie” etwas, das glücklich machen soll. Ich halte Therapie eher für einen Weg, nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit seiner Umwelt klar zu kommen.

    Das mit dem “Gücklich sein” ergibt sich daraus, sein Unglück aushalten – und bewältigen – zu können, ist aber auf gar keinen Fall Selbstzweck. “Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen.”

    (Es mag als Teilbereich gelten: der Frieden mit mir selbst ermöglicht einen Zugang zu meinem inneren Kind, dessen Lächeln mich “Glück” empfinden lässt. Aber das ist generell unabhängig von der äußeren Situation. Jedenfalls in meiner Erfahrung.)

  45. @Viktualia: Lösungen

    Wie ich schon sagte: Symptombekämpfung ist eine individuelle Abwägung – das setzt aber voraus, die Leute ehrlich zu informieren, und keine Märchen über kaputte Gehirne usw. zu erzählen.

    Den Fall der Lehrerin vermag ich nicht aufzulösen. Wahrscheinlich hätte es ihr geholfen, den Umfang ihrer Tätigkeiten zu reduzieren, zur Not mit Krankschreibung (in den Niederlanden muss der Arbeitgeber dann bis zu zwei Jahre weiterzahlen, wobei der Lohn gestaffelt reduziert werden kann). Und warum kann ein Berufswechsel keine ursächliche Behandlung sein? In er Sozialpsychiatrie ist das ein bewährter Ansatz, jemandem ein Umfeld zu suchen oder zu schaffen, in dem er/sie besser funktioniert.

    Der Wunsch nach Veränderung muss aber von jemandem selbst kommen.

  46. @Viktualia 16.07. 07:59

    „Eigentlich hätte es, in einer Therapie, darum gehen müssen, dass ihr Selbstbewusstsein so sehr gestärkt würde, dass sie den Job schafft – und dann “aus freien Stücken” gehen könne, nicht wahr?“

    Wenn es denn der Traumjob ist, vielleicht. Aber auch hier macht die Dosis das Gift. Der schönste Job der Welt wird zum Alptraum, wenn er zum 16-Stundentag entartet. So manch ein erfolgreicher Musiker macht diese Erfahrung.

    Normal ist der Job eh kein Supertraum, kann gerne gewechselt und vor allem reduziert werden.

    Wenn es einfach zuviel ist, gesteht man sich das doch einfach ein. Wir kriegen keine Extrapunkte vom Schicksal, wenn wir leistungsfähiger sind. Unser kulturelles Leistungswettrennen muss niemand mitmachen, der bei Verstand ist.

    „Das mit dem “Gücklich sein” ergibt sich daraus, sein Unglück aushalten – und bewältigen – zu können, ist aber auf gar keinen Fall Selbstzweck. “Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen.”“

    Ich weiß nicht, ich bin schon ganz gerne auch mal Guter Dinge. Und sehe zu, dass meine Angelegenheiten funktionieren. Ich halse mir vor allem auch keine langweiligen oder sinnlosen Geschäftigkeiten auf. Ich überlege mir als Künstler meine Kulturbeiträge, und das Ergebnis trägt mich dann auch.

    Reines, von allem unabhängiges Glücklichsein steht nie zur Disposition, weil wir immer untrennbar mit unserem eigenem Leben verbunden sind. Aber als Anzustrebendes sehe ich das Glück selbst durchaus, keinesfalls nur als Nebenwirkung von Erfolg. Gerade der Erfolg ist oft recht schnell erreicht, und es geht hier gar nicht mehr so richtig ohne richtige Verschwendung weiter. Insbesondere wenn eine hohe Leistungsfähigkeit auf handfesten Egoismus trifft.

    Wenn man denn keinen Traumjob hat, ist man vermutlich gut beraten, wenn man nur so viel Geld verdient, wie man wirklich braucht, und sich darüber hinaus um Dinge kümmert, die anderen Sinn machen. Zumindest, wenn man etwas Praktikables findet.

    @Stephan 16.07. 17:47

    „In er Sozialpsychiatrie ist das ein bewährter Ansatz, jemandem ein Umfeld zu suchen oder zu schaffen, in dem er/sie besser funktioniert.“

    Was dann am Ende das Wichtigste überhaupt ist. Kaum jemand mit einer handfesten psychischen Erkrankung kann in den üblichen Hamsterrädern weitermachen. Behindertenwerkstätten, Tagesstätten, öfter mal ein Teilzeitjob sind noch zu schaffen. Und wenn der Einzelne lernt, ein Miteinander zu gestalten, dann kann auch das sehr helfen, dass sich Kontakte gut entwickeln, und man weniger alleine ist.

    Beides kann man auch therapeutisch gut unterstützen, indem der Mensch erkennt, was er nicht mehr kann, aber eben dennoch kann. Und lernen, wie man vernünftig miteinander umgeht, ist die Basis, ein florierendes soziales Umfeld herzustellen.

    „Wie ich schon sagte: Symptombekämpfung ist eine individuelle Abwägung – das setzt aber voraus, die Leute ehrlich zu informieren, und keine Märchen über kaputte Gehirne usw. zu erzählen.“

    Die aktuelle persönliche Krise ist meist irgendwann überwunden. Die Frage ist eben, wie kann ich weiterleben, und auch mal Glück finden. Das eigene Belastungsmaß zu erkennen, ist unumgänglich. Aber wenn man eingeredet bekommt, dass man gehirnkränker ist, als es tatsächlich der Fall ist, ist das nicht gut. Sehr oft ist die wirkliche Erkrankung nur in der Krise ziemlich maßgeblich, wenn es später wieder besser geht, funktioniert das Meiste wieder.

    Was eben gar nicht heißen muss, dass man ein normales Arbeitspensum schafft. Auf dem richtigen Belastungsniveau kann man viele Jahre sehr stabil sein, und das, was man an Verstand braucht, kann man auch leisten. Den Rest macht dann oft das Betreute Wohnen.

  47. @Tobias: bessere Umgebung

    Du erwähnst harte, hoffentlich aber auch eher seltene Fälle.

    Ich dachte auch an so etwas, jemandem, der schnell überreizt wird, zum Beispiel einen stillen Arbeitsplatz zu finden.

  48. Ich hatte selbst schwerste Depressionen, aus denen ich mich ohne ärztliche oder medikamentöse Hilfe, nur durch Selbstwahrnehmung und Erkenntnis der Wahrheit herausarbeitete. Hier – https://www.academia.edu/88153640/Gottes_verpasste_Chancen_ – habe ich meine wesentl. Ursachen dafür benannt.
    Ich empfinde heute meine Depressionen als einen großen Segen, weil sie mich aus einem sonst wahrscheinlich recht oberflächlich verlaufendem Leben zu tiefen Einsichten und wahrer Erfüllung gebracht haben: https://manfredreichelt.wordpress.com/2017/03/24/511/ (Dieser Blog ist eine Fundgrube für ein erfülltes Leben.) “Wie ich mich entschloss…Glückshormone zu produzieren” (ab S. 28): https://repository.globethics.net/bitstream/handle/20.500.12424/4268729/Ursprung_und_Ziel_Wie_die_Evolution_weit%20%281%29.pdf?sequence=1&isAllowed=y

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