Warum das Bundesverfassungsgericht am Cannabisverbot festhält

Auch Richter mit anderen Meinungen müssen die Prohibition weiter durchsetzen. Wie könnten Alternativen aussehen?

Im ersten Teil berichtete ich von den 13 Verfahren an drei deutschen Amtsgerichten, in denen die Richterinnen und Richter das bestehende Verbot nicht mehr durchsetzen wollten. Im zweiten Teil beschäftigen wir uns jetzt genauer mit der Reaktion des Bundesverfassungsgerichts. Am Ende des Artikels kommen neue wissenschaftliche Befunde und ein alternativer Vorschlag an die Reihe.

Das Urteil

Für das neue Urteil vom Juni 2023 ist entscheidend, dass dem Gesetzgeber in der Demokratie ein großer Gestaltungs- und Ermessensspielraum zukommt. Darum prüft das Bundesverfassungsgericht die bestehende Rechtslage zurückhaltend. Weil außerdem das Urteil vom März 1994 in Sachen Cannabis immer noch maßgeblich ist, sei die Messlatte für die die Initiative der Amtsgerichte noch höher. Immerhin wollten diese Teile des Betäubungsmittelgesetzes als verfassungswidrig feststellen lassen.

Doch das ist ihnen nicht gelungen. In dem in weiten Teilen sehr formaljuristischen Urteil heißt es unter anderem, dass die Amtsrichter zu wenig Substanz geliefert hätten. Das heißt, sie hätten ihren Standpunkt nicht gut genug begründet. Insbesondere sei nicht hinreichend erörtert worden, warum die Faktenlage heute grundlegend anders als bei dem Urteil von 1994.

Der Gesetzgeber verfolge nämlich mit dem Betäubungsmittelgesetz einen legitimen Zweck, der die Einschränkung der Persönlichkeitsrechte rechtfertige. Dazu im Wortlaut:

“Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung vom 9. März 1994 dem Betäubungsmittelstrafrecht und der Einordnung von Cannabis als Betäubungsmittel mehrere Zwecke zuerkannt. Die Regelungen sollen die Gesundheit sowohl des Einzelnen als auch der Bevölkerung im Ganzen vor den von Cannabisprodukten ausgehenden Gefahren schützen und vor allem Jugendliche vor der Abhängigkeit von Betäubungsmitteln bewahren […] Außerdem soll das Betäubungsmittelstrafrecht das soziale Zusammenleben vor den Gefahren schützen, die von sozialschädlichen Wirkungen des Umgangs mit Drogen, auch des Umgangs mit der sogenannten weichen Droge Cannabis, ausgehen.”

2 BvL 3/20 (2023), Rn 78

Zur Gefährlichkeit von Cannabis heißt es dann:

“Zwar habe sich der Cannabiskonsum als weit weniger gefährlich erwiesen, als es der Gesetzgeber noch bei Erlass des Betäubungsmittelgesetzes angenommen habe. Die Annahme gänzlich fehlender Gefährlichkeit von Cannabis sei aber weiterhin ungesichert.”

2 BvL 3/20 (2023), Rn 79

Ich komme auf diesen Punkt gleich zurück. Interessant ist für unsere Zwecke noch, dass das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung des Verbots für die Suchtprävention, für den Jugendschutz und die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität hervorhebt.

Die Ungleichbehandlung von Cannabis einerseits und Alkohol sowie Nikotin andererseits sei dadurch gerechtfertigt, “dass der Gesetzgeber den Genuss von Alkohol wegen der herkömmlichen Konsumgewohnheiten in Deutschland und im europäischen Kulturkreis nicht effektiv unterbinden könne” (Rn. 102).

Kommentar

Wer schon immer einmal ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts lesen wollte, dem würde ich die vorliegende Entscheidung eher nicht empfehlen. Die 42 Seiten wirken nämlich in weiten Teilen wie ein juristisches Sprachspiel und behandeln beispielsweise die Frage, wie so eine Initiative von Gerichten begründet werden muss. (Eine lesenswertere Alternative wäre vielleicht ein Urteil über die Wirkung von Grundrechten in zivilrechtlichen Kontexten, beispielsweise Diskussionen in Internetforen.)

Dass die “Revolte der Richter” (Teil 1) demnach zu oberflächlich ist, sagt auch etwas über den Zustand der Hanflobby in Deutschland aus. Auf deren Materialien hatten sich die Amtsrichter nämlich gestützt:

Die Argumente über die geringe Gefährlichkeit von Cannabis und dessen Suchtpotenzial haben das Verfassungsgericht nicht überzeugt und sich auch nicht intensiv genug mit der geltenden Rechtsprechung auseinandergesetzt. Hierauf hätte man eine der namhafteren Anwaltskanzleien ansetzen können, um die juristischen “Hausaufgaben” besser zu machen. (Die muss man sich natürlich aber auch leisten können.)

Gerade erschienen: Das neue Buch von Stephan Schleim über psychische Gesundheit und Substanzkonsum. Hier können Sie es gratis downloaden.

In der Sache ist das Urteil von 2023 auf einer Linie mit der Entscheidung von 1994: Damit bleibt schon der Besitz von Substanzen, die in den Anlagen des Betäubungsmittelgesetzes genannt werden, im Prinzip verboten – auch bei “geringen Mengen”, die für Cannabis zwischen 6 und 15 Gramm variieren. Je nach Bundesland und den Umständen können Staatsanwaltschaften ein Verfahren einstellen und können Gerichte von einer Strafe absehen. Können heißt aber nicht müssen!

Wenn sich ein Gericht in so einem Fall gegen eine Strafe entscheidet, erfolgt nach meinem Verständnis trotzdem das Urteil “schuldig” und muss man die Anwalts- und Verfahrenskosten tragen. Wie unterschiedlich – manche würden sagen: willkürlich – das Vorgehen der Staatsanwaltschaften in den verschiedenen Bundesländern sein können, zeigt diese Übersicht des Deutschen Handverbandes.

Jugendschutz

Ein wichtiger Streitpunkt für die Rechtfertigung des Verbots bleibt der Jugendschutz. Dabei muss man wissen, dass laut einer Befragung im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung jeder zehnte Jugendliche schon einmal Cannabis konsumiert hat. Bei den 18- bis 25-Jährigen sind es sogar mehr als vier von zehn.

Heute liegen verschiedene Studien aus den USA vor, wo inzwischen Cannabis in mehreren Staaten legalisiert wurde. Demnach ist der Konsum unter Jugendlichen mehr oder weniger konstant geblieben (siehe z.B. Elliott & Adinoff, 2021; Hall & Lynskey, 2020). Dort ist die Prävalenz für die letzten 30 Tage mit – je nach Untersuchung – 10 bis 20 Prozent übrigens deutlich höher als in Deutschland. (Wohlgemerkt, in der genannten deutschen Untersuchung ging es um die Lebenszeitprävalenz, bei den Daten für die USA um den letzten Monat!)

Dabei muss man wissen, dass das Cannabis aus verbotenen Quellen regelmäßig mit Giftstoffen wie Blei, Glassplittern, Pflanzenschutzmitteln und Schimmel verunreinigt ist. Die Hersteller operieren ohnehin im Verbotenen und müssen sich daher nicht um Verbraucherschutz bemühen.

Mitunter sollen auch starke synthetische Drogen auf die Ware gesprüht werden, um deren Suchtpotenzial zu vergrößern. Dadurch werden die Folgen des Konsums aber unberechenbarer und die Mittel gefährlicher. Wegen der Kriminalisierung lassen sich gerade keine Qualitätsstandards durchsetzen. Solche Schäden sind also eine direkte Folge der Verbotspolitik.

Kriminalisierung

Das Argument der Verfassungsrichter, Cannabis habe keine “gänzlich fehlende Gefährlichkeit” (2 BvL 3/20, Rn 79), wirkt auf mich weltfremd: Ebenso könnte man Süßstoffe oder rotes Fleisch verbieten. Im Zusammenhang mit der neuen Risikoeinschätzung für den Süßmacher Aspartam meinte beispielsweise Jutta Hübner, Onkologin am Universitätsklinikum Jena, erst kürzlich: “Jede Substanz kann Krebs machen. Es ist immer eine Frage der Dosis.” Gerade wird vom Ernährungsminister ein Werbeverbot für Süßigkeiten geprüft, sofern sich die Reklame direkt an Kinder richtet.

Wenn das Bundesverfassungsgericht also den Nachweis erfordert, dass Cannabis überhaupt nicht gefährlich ist, erwartet es schier Unmögliches!

Auch der Hinweis, Alkohol gehöre stärker zu unserem Kulturkreis und lasse sich daher prinzipiell nicht verbieten, scheint mir fraglich. Wenn trotz des Verbots über 40 Prozent der jungen Erwachsenen schon einmal Cannabis konsumiert haben, stehen Sinn und Zweck der Prohibition als Präventionsmaßnahme infrage. Außerdem haben auch andere Mittel als Alkohol bei uns traditionelle Wurzeln (Die Droge als Instrument).

Ob man der Organisierten Kriminalität mit den Verboten effektiv begegnen kann oder ihr im Gegenteil erst einen lukrativen Markt garantiert, dürfte Ansichtssache sein. Die Gesetzgeber und die Justiz könnten aber stärker berücksichtigen, dass der Substanzkonsum die freie Entscheidung vieler Millionen Bürgerinnen und Bürger widerspiegelt. Und wer war nochmal Souverän im Staat? Neben Cannabis als populärster Substanz sind Kokain, Amphetamine (einschließlich Amphetamin/Speed, MDMA/Ecstasy, Methamphetamin/Crystal Meth) und in jüngerer Zeit wieder Psychedelika beliebt.

Ein Abhängigkeitspotenziel bestehe – bei Cannabis – übrigens für nur rund 9 Prozent der Konsumentinnen und Konsumenten (siehe z.B. Hall & Lynskey, 2020). Hierfür sei aber auch die Stärke des verwendeten Stoffs von Bedeutung, die sich, wie gesagt, unter den heutigen Umständen gerade nicht kontrollieren lässt.

Doppelte Benachteiligung

Zudem hängt das Suchtrisiko nicht nur von der Substanz selbst, sondern auch von psychosozialen Umständen ab. Beispielsweise konsumieren Menschen mit traumatischen Kindheitserfahrungen, insbesondere sexuellem Missbrauch, häufiger Drogen. Es kann aber nicht Aufgabe des Strafrechts sein, diejenigen, die schon durch schlechtere Umstände im Leben “gestraft” sind und ihr Leben (und insbesondere Leid) mit psychoaktiven Stoffen besser bewältigen wollen, noch einmal zu bestrafen.

In ähnlicher Weise bergen die unklaren Richtlinien für die Strafverfolgung die Gefahr eines “Klassenkampfs von oben”. Wer es überhaupt an die Universität und dann, mit einem guten bis sehr guten Examen in Jura, auf den Posten einer Richterin oder eines Staatsanwaltes schafft, stammt tendenziell eher aus privilegierten Verhältnissen.

Die im ersten Teil diskutierte Unklarheit mit der “geringen Menge” lässt der Justiz einen Spielraum, bei Betroffenen aus dem eigenen Milieu eher einmal ein Auge zuzudrücken, während man bei Personen aus unteren Schichten oder mit Migrationshintergrund härter vorgeht.

Die konkreten Beispiele aus den laufenden Gerichtsverfahren haben gezeigt, dass Drogenbesitz in der Vergangenheit oder Vorstrafen die Entscheidung, ein Verfahren einzustellen, beeinflussen. Eine solche Benachteiligung beginnt schon dann, wenn die Polizei aufgrund von Vorurteilen bei bestimmten Personen oder Gruppen stärker kontrolliert.

Dass aber Drogenkonsum in den Bereich der freien Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 GG) fällt, wird auch vom Bundesverfassungsgericht nicht bestritten. Dann wirkt es auf mich willkürlich, wenn Personen, von denen man sich das Bild als “Verbrecher” gemacht hat, in diesem Grundrecht stärker eingeschränkt werden. Dieser Aspekt scheint mir auch als verfassungsrechtlich problematisch, da alle als gleich vor dem Gesetz gelten.

Was ist überhaupt die Straftat?

Was mich zu meinem letzten und grundlegendsten Punkt bringt: Was ist hier überhaupt die Straftat? Die Verfassungsrichter räumen auch in ihrer neuen Entscheidung einmal mehr ein, dass die Gesundheitsrisiken eher gering sind – jedenfalls beim Gelegenheitskonsum.

Ein Verbot und das Strafrecht sind die schärfsten Mittel eines Rechtsstaats im modernen Sinn. Wie weit darf der Gesetzgeber dann gehen, um die Menschen vor sich selbst zu schützen?

Beispielsweise kann man sich auch selbst gefährden, indem man zu lange in der Sonne (oder im Sonnenstudio) liegt. Auch das Essen von rotem Fleisch und sogar Nachtschichten sind mit einem moderat erhöhten Krebsrisiko verbunden. Was ist mit dem Skifahren auf gefährlichen Pisten, Kampf- und Motorsport und so weiter?

Man denke auch an die vielen Kopfbälle professioneller Fußballer oder Schläge gegen den Kopf von Profiboxern. Dabei entstehen – oft schon beim Training – kleine neuronale Schäden. Diese können sich über viele Jahr hinweg zu neuronalen Erkrankungen aufaddieren. Bei solchen Krankheits- und Unfällen werden die Behandlungskosten oft von der Allgemeinheit getragen.

In einem liberalen Rechtsstaat gehen wir davon aus, dass Erwachsene die Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Risiko im Rahmen ihrer Persönlichkeitsentfaltung für sich selbst treffen und gerade nicht vom Gesetzgeber vorgeschrieben bekommen. Dabei lässt sich für Cannabis nach wie vor nicht sagen, wie gefährlich der Konsum wirklich ist:

Insbesondere bleibt offen, ob der Konsum psychosoziale Probleme verstärkt oder umgekehrt Menschen mit größeren psychosozialen Problemen mehr Drogen konsumieren. Wahrscheinlich gibt es hier eine Wechselwirkung in beide Richtungen. Dabei muss klar sein, dass illegale Cannabisprodukte von der Straße tendenziell schädlicher sind. Das ist ganz analog zur privaten Schnapsbrennerei zu Zeiten der Alkoholprohibition.

Zusammenfassung und Ausblick

Dem Bundesverfassungsgericht genügt es seit den 1990ern, dass sich juristisch eine mögliche verfassungskonforme Lesart des Cannabisverbots im Betäubungsmittelgesetz finden lässt. Dass es Ausnahmen für medizinischen Konsum und die Kann-Regeln bei geringen Mengen für den Eigenbedarf geht, soll die Verhältnismäßigkeit gewährleisten. Dafür, dass die Interpretation der “geringen Menge” in der Praxis zu Undeutlichkeiten und möglicher Willkür führt, sehen sich die Richter in Karlsruhe nicht zuständig.

Ich denke, dass man die Situation aufgrund neuer kriminologischer und wissenschaftlicher Daten auch anders sehen kann, vielleicht sogar muss: Insbesondere scheint das Verbot seine präventiven Zwecke im Sinne des Jugendschutzes und der Bekämpfung Organisierter Kriminalität nicht zu erreichen, während es Millionen von Gelegenheitskonsumenten potenziell kriminalisiert. In diesem Sinne ist die nicht ausreichend begründete Initiative der Amtsrichter eine verpasste Chance.

Ein internationales Forscherteam stellte erst vor Kurzem einen Zwölf-Punkte-Plan mit Empfehlungen für die Reduktion der Risiken des Cannabiskonsums vor (Fischer et al., 2022). Darunter fällt die Vermeidung hochpotenter Stoffe, die Reduktion der Häufigkeit des Konsums und dass man acht bis zwölf Stunden nach dem Konsum, abhängig von der Form (rauchen vs. essen), kein Kraftfahrzeug fährt oder Maschinen bedient.

Der Zugang zu sichereren Cannabisprodukten setzt aber eine kontrollierte Abgabe voraus und verträgt sich darum nicht mit einem allgemeinen Verbot.

Natürlich ist Cannabis kein Brokkoli, um ein Bonmot der früheren Drogenbeauftragten Daniela Ludwig (CDU) noch einmal zu zitieren. In diesem Sinne gilt: kein Konsum, kein Risiko. Wir nehmen aber in allen Lebensbereichen in Kauf, dass Erwachsene diese Abwägung selbst vornehmen. Und es bleibt eine Tatsache, dass für sehr viele Menschen der Substanzkonsum ein Weg ist, ihre Lebensziele zu erreichen (Serie über instrumentellen Konsum).

Hinweis: Ich bin kein Jurist und erteile die rechtlichen Informationen ohne Gewähr. Lassen Sie sich bei Interesse von einem Rechtsanwalt beraten. Persönlich habe ich lediglich von 1994 bis 1996 illegale Substanzen konsumiert (Cannabis).

Das könnte Sie auch interessieren:

Folgen Sie Stephan Schleim auf Twitter. Titelgrafik: Rex Medlen auf Pixabay.

Avatar-Foto

Die Diskussionen hier sind frei und werden grundsätzlich nicht moderiert. Gehen Sie respektvoll miteinander um, orientieren Sie sich am Thema der Blogbeiträge und vermeiden Sie Wiederholungen oder Monologe. Bei Zuwiderhandlung können Kommentare gekürzt, gelöscht und/oder die Diskussion gesperrt werden. Nähere Details finden Sie in "Über das Blog". Stephan Schleim ist studierter Philosoph und promovierter Kognitionswissenschaftler. Seit 2009 ist er an der Universität Groningen in den Niederlanden tätig, zurzeit als Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie.

6 Kommentare

  1. Hallo Herr Schleim,
    vielen Dank für den sachlichen Eintrag. Obwohl ich die aktuelle Regelung auch missbillige, fehlt mir ein Gedanke in İhren bisherigen Beiträgen:
    durch die Illegalität des (harmlosen, gelegentlichen, …) Konsums von Gras und Hasch haben junge Menschen die Gelegenheit einen Kick in doppelter Hinsicht zu bekommen. Rausch und vor allem der Reiz des Verbotenen! Legalisiert man das, legt man als Kiddy noch einen Gang zu, um wieder “was Böses” zu machen und gegen Regeln zu verstoßen.
    Mit der Legalisierung, also der Ausdehnung des Erlaubten, verschiebt man die Grenzen, über die sich junge Menschen hinwegsetzen wollen. Überspitzt: “wird halt gekokst, kiffen is ja erlaubt und langweilig”
    mit freundlichen Grüßen,
    Jartul

    PS: nur die Gedanken eines Mittvierzigers, mittlerweile spießiger Familienvater, der früher aber sehr gerne mit Körper und Geist “legale Grenzen überschritt” (und das alle Jubeljahre immer wieder mal versucht)

  2. @Jartul: Reiz des Verbotenen

    Das sagt man so – bei Cannabis denkt aber sowieso niemand (offen) daran, das für Minderjährige zugänglich zu machen. (Ich war damals 14 bis 16.)

    Wir haben damals auch keine Fliegenpilze gegessen, obwohl das verboten war. Der Drogenkonsum richtet sich wohl doch nach dem, was in einer bestimmten Szene so gebräuchlich ist; und das hängt auch mit den Hobbys zusammen. Wer z.B. viel auf Technopartys geht, konsumiert wohl eher Amphetamine, einschließlich MDMA/Ecstasy. Kokain soll in der Finanzwelt beliebt sein. Usw.

    Ich denke schon, dass man als Jugendlicher für Aufklärung erreichbar ist – wenn sie denn ehrlich ist. (Und in Zeiten des Internet und der Social Media haben diese Themen sowieso eine Eigendynamik; Foren für Interessierte gibt es doch genug.)

  3. Nochmal zu den Streckmitteln. Die synthetischen Cannabinoide werden in Pulverform mit Wasser angereichert und dann auf CBD-Blüten aufgetragen. Entweder werden die Knospen in ein Behälter getunkt oder die Flüssigkeit wird mit Airbrush-Pistolen aufgetragen. Das Risiko ist enorm.

    https://www.sucht-praevention.ch/cm_data/China-Gras_illegal_und_gefaehrlich_Tages-Anzeiger_online_200805.pdf

    Die Patienten glauben sie konsumierten augenscheinlich normales Cannabis. Finden sich die Patienten in unseren Kliniken als Notfallpatient ein, dann wird dort ein Bluttest (Drogentest) durchgeführt. Leider ist es so das sich natürliche Cannabinoide und synthetische Cannabinoide nur durch eine Probenanalyse der Substanz selbst unterscheiden lassen. Natürliche und synthetische Cannabinoide ordnen sich beide der chemischen Gruppe ”Cannabinoide” unter. Im Bluttest steht dann Cannabinoide positiv[x] aber nicht ob es synthetische oder natürliche waren, die konsumiert wurden. Da wir hier nicht differenzieren können, wissen wir nicht wie stark die synthetischen Cannabinoide bereits verbreitet sind (Monitoring). Fehldiagnosen sind viel häufiger an der Tagesordnung (Das Risiko von drogeninduzierten paranoiden Psychosen ist je nach Sorte des synthetischen Cannabinoides wesentlich höher). Diese Psychosen sind so stark ausgeprägt, dass oft überhöhte Diagnosen gestellt werden und beispielsweise die drogeninduzierte Psychose als ”Paranoide Schizophrenie” gebrandet wird. Kliniken neigen generell dazu höhere Diagnosen zu stellen um sicherzugehen das die Krankenkassen im Vorfeld genug Geld für die Therapiemaßnahmen überweisen. Ärzte haben außerdem einen Diagnosenzwang. Für die Aufnahme in der Klinik muss nämlich eine Diagnose gestellt werden. In der Regel werden diese falschen und zu hohen Diagnosen aber auch von den Ärzten mit ”muss noch differenzialdiagnostisch festgestellt werden” gekennzeichnet. In der Regel relativieren sich die falschen Diagnosen dann im weiteren Therapieverlauf.

    Es gibt in Deutschland keine zugelassenen Medikamente für die Unterstützung eines Cannabisentzuges. Für Krankheiten wie Psychosen oder Schizophrenien allerdings schon. Deshalb werden diese Diagnosen auch als Rechtfertigung für die Verschreibung dieser Medikamente genutzt. Der Hirnstoffwechsel wird bei diesen Patienten durch den Entzug dieser Cannabinoide stark belastet. Die zusätzliche Medikamentenvergabe führt dazu das der Hirnstoffwechsel völlig überlastet wird. Die oft bei Substanzstörungen eingesetzten SSRI-Medikamente führen bei solchen Patienten immer wieder zu einer nachhaltigen Dopamin Intoleranz. Das Rückfallrisiko für Psychosen wird durch diese viel zu schnell durchgeführte Pharmakotherapie wesentlich öfters beobachtet.

    Wer glaubt, wir könnten diesen Patienten gut helfen, der lügt. Wir müssen die oft noch sehr jungen Konsumenten wesentlich besser präventiv Schützen. Ohne Abstinenzdogma, das wir oft selbst mit dem Alkoholkonsum untergraben. Wir machen uns unglaubwürdig, wenn wir ”Drogen” verteufeln und Alkohol, der ein Zellgift ist einfach nicht als ”Droge” anerkennen. Ein großer Teil der Gesellschaft kaukelt sich eine Drogenjungfreulichkeit vor obwohl regelmäßig Alkohol oder Zigaretten konsumiert werden, die bei den wissenschaftlichen Risikobewertungen extrem negativ abschneiden.

    Der Staat macht sich faktisch mit der Ausführung strafbar. Er betreibt eine extreme Form der Nötigung und macht das Ausleben von existenziellen Grundrechten für die Konsumenten illegalisierten Substanzen unmöglich.

    Die Tatbestand der extremen Form der Nötigung rügt daher, dass Substanzstörungen verharmlost werden und suggeriert wird unsere Entzugstherapien wären realistisch. In der Regel scheitern die Entzugstherapien. Die Konsumenten müssen sich also zwischen einer permanenten Wiederholung einer nicht gewollten (wenn der Konsum teil des individuellen Lebensentwurfes ist) oder nicht funktionierenden (bei Therapieresistenzen) Entzugstherapie oder dem ausgeliefert seins in einem rechtsfreien Raum (Schwarzmarkt) entscheiden. Auf lange sich werden die Konsumenten dadurch seelisch und auch physisch zerstört. Die Krankheitsverläufe bei manisch depressiven (die nur ganz bestimmte Sorten und Dosierungen vertragen) werden durch die Kriminalisierung schlimmer da diese oft keine Möglichkeit der Sortenwahl haben und eigentlich bestimmte Sorten vermeiden würden. Angstpatienten und Patienten die unter paranoiden Phänomenen leiden werden durch die Kriminalisierung unglaublich negativ in ihrem Krankheitsverlauf beeinflusst.

    Der Schaden durch die Kriminalisierung ist übertrieben.

    Der Alkoholkonsum wird offen ausgelebt. Wir sehen wie die Menschen in Biergärten mit dem Konsum umgehen. In der Regel trinken die am Abend ein paar Bier und gehen dann friedlich nach hause. Diese positiven Konsumentenbeispiele gibt es in allen Substanzbereichen. Dadurch das sich die ”positiven Konsumenten” illegalisierter Substanzen allerdings verstecken müssen sehen viele diese positiven Konsumentenbeispiele nicht. Sie sehen dann immer nur jene, die total den Faden verlieren und sich durch ihre Psychosen e.t.c nicht mehr verstecken können. Dadurch entsteht der Eindruck das Menschen die MDMA, Kokain, Heroin oder Cannabis konsumieren viel stärker berauscht wären als alkoholisierte Konsumenten.

    Auch ist es so das viele Menschen nie etwas anderes Konsumiert haben als Alkohol, Nikotin, Kaffee oder Kopfschmerztabletten und sie die Wirkungen von Drogen gar nicht in Relation zu anderen Drogen stellen können. Die meisten Alkoholiker haben nie andere Drogen konsumiert, weil sie diese überschätzen und Angst davor haben. Hätten sie das aber mal gemacht, würde sie schnell merken das Alkohol im Vergleich zu anderen Substanzen wie ein Gift wirkt und nicht wie ein Rauschmittel.

    Mit richtig dosierten Heroin das frei von Streckmitteln ist können sie 100 Jahre alt werden (Zitat von Heino Stöver , Suchtforscher aus Frankfurt am Main).

    Bei Alkohol ist das nicht der Fall.

    In der Drogenpolitik geht es um ökonomische Lenkeffekte und nicht um den Gesundheitsschutz. Sätze wie jene von Markus Söder (Ministerpräsident in Bayern) ”Lasst mal die Finger vom Cannabis, bleibt mal lieber beim Weißbier” zeigen das deutlich auf. Hier wird agiert wie ein Drogendealer, der seine Konkurrenz vom Leibe halten will. Die Drogenpolitik ist so grotesk das man sie nicht mehr ernst nehmen kann.

    Viele Medien spielen seit Jahrzehnten das Spiel der ”gesprungenen Schallplatte”. Obwohl das Thema Cannabislegalisierung wissenschaftlich ausdiskutiert ist und Cannabis weltweit eine der am meisten auf seine Schädlichkeit untersuchten Substanz ist (um sie aus politischen Gründen illegal zu halten, würde gezielt danach gesucht) werden immer wieder Überschriften wie ”Cannabisfreigabe umstritten” oder ”Soll Cannabis legal werden?” gedruckt so als hätte es die Jahrelangen Diskussionen gar nicht gegeben. Auch werden die Menschenrechtsverletzungen um die es eigentlich bei der Legalisierungsforderung geht mit der Überschrift ”Gibt es ein Recht auf Rausch” extrem diffamiert. Als ginge es darum legal einen Joint zu rauchen. Es geht um minimalste Freiheitsrechte und ein Mindestmaß an Gerechtigkeit. Aber nicht mal das wird den Konsumenten zugesprochen. Die Argumente die gegen die Entkriminalisierung vorgebracht werden zeigen oft die paranoiden Tendenzen von konservativ eingestellten Menschen auf. Konservative Menschen gewinnen sie sehr leicht mit Angstmache. Das führt dazu das konservative Politiker extrem destruktive Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft tragen und selbst nie irgendwelche Konzepte erfinden und erdenken müssen. Das Unterlassen von CDU/CSU in den letzten 12 Jahren hat uns in vielen Bereichen wirklich extrem viel Probleme gemacht. Das ist unverantwortlich. Wir haben so viele Probleme und den CDU/CSU-Bossen fällt nicht mehr ein als eine Bratwurst in die Kamera zu halten. Es ist wirklich grotesk bis zum geht nicht mehr. Jedes Kindergartenkind hat mehr Verantwortungsbewusstsein als diese Wannabepolitiker.

  4. @Alex.B – den Vergleich zwischen Söder und einem Dealer, der gegen seine Konkurrenz wettert, fand ich sehr passend.
    Ich stimme ihnen auch beim Rest weitgehend zu; auch bei der Wut, die man raushört, kann ich mitgehen.

    Aber bei diesem Absatz hier hab ich Fragen, bzw. Einwände:
    Es gibt in Deutschland keine zugelassenen Medikamente für die Unterstützung eines Cannabisentzuges.
    Seit wann gibt es einen “Cannabisentzug”? Nein, den gibt es nicht. Leichte Entwöhnungserscheinungen, aber keinen “Entzug”, also eine Reaktion des Stoffwechsels darauf, dass nix nachkommt vom gewohnten Stoff.

    Für Krankheiten wie Psychosen oder Schizophrenien allerdings schon. Deshalb werden diese Diagnosen auch als Rechtfertigung für die Verschreibung dieser Medikamente genutzt.
    Nee, die gibt es wegen der festgestellten psychotische Reaktion.

    Der Hirnstoffwechsel wird bei diesen Patienten durch den Entzug dieser Cannabinoide stark belastet.
    Nein, denn es gibt definitiv keinen “Entzug”, den der Hirnstoffwechsel durchmachen müsste.
    Auch wenn das, was normalerweisse die Gewohnheit ausmacht, bei jemandem, der durchs Kiffen in eine Psychose gerutscht ist, sicher nochmal mehr reinhaut, verunsichert.
    Von einer Psychose kommt man halt nicht so schnell runter wie von einem Joint.

    Die zusätzliche Medikamentenvergabe führt dazu das der Hirnstoffwechsel völlig überlastet wird.
    Mag sein, aber dann nicht weil noch Cannabinoide abgebaut werden müssen.

    Die oft bei Substanzstörungen eingesetzten SSRI-Medikamente führen bei solchen Patienten immer wieder zu einer nachhaltigen Dopamin Intoleranz. Das Rückfallrisiko für Psychosen wird durch diese viel zu schnell durchgeführte Pharmakotherapie wesentlich öfters beobachtet.
    Das klingt interressant, aber nach den Unklarheiten vorher hättte ich da gerne einen Beleg für.
    Und: wenn das bemerkt wird, warum sollte dann nicht darauf reagiert werden können? (Sollen die alle erstmal nur Haldol (kein SSRI) bekommen oder wie verstehe ich das?)

    Ich kenne es aus dem Klinikalltag eher so, dass Ärzte zwar sehr allergisch auf “Beikonsum” reagieren, aber Patienten durchaus ein Mitspracherecht bei der (Dauer)Medikation einräumen.
    Ob eine Psychose überhaupt drogeninduziert ist oder nicht, steht ja recht schnell fest.

    Der Schaden durch die Kriminalisierung ist übertrieben.
    ??? Ernsthaft? Soll das nicht heißen, der Schaden wird durch die Kriminalisierung noch vergrößert?
    Jedenfalls verstehe ich den Rest so.
    (“Der Schaden wird mittels der Kriminalsisierung übertrieben” war gemeint, oder?)
    Eigentlich ist er gering, die Kriminalisierung übertreibt und vergrößert ihn aber.
    Das ist jedenfalls auch mein Eindruck.

  5. @Alex.B: Klinik & Verbote

    Danke für die Ergänzung aus der klinischen Perspektive (deren zweite Hälfte ich aufgrund der Länge nur noch überfliegen konnte).

    Wer sagt uns eigentlich, dass nur synthetische Cannabinoide auf das Gras gesprüht werden? Vielleicht sind es auch Opioide?

    Soweit ich das sehe, nimmt das Risiko des Substanzkonsums vor allem mit der Dosis zu. Wer sagte einmal: “Die Dosis macht das Gift.” Bei einem Verbot und fehlender Qualitätskontrolle ist es schwieriger, eine risikoarme Dosis zu konsumieren. Das hat in den Niederlanden 2007/2008 zum Verbot der “magic mushrooms” geführt. (Z.B. ließen sich die Mengen getrockneter und frischer Produkte einfach verwechseln, was zu großen Unterschieden bei der konsumierten Wirkstoffmenge führte.)

    Abgesehen von der Alkohol- und Pharmalobby, die durch weitere legale Drogen – warum ist Cannabis übrigens kein Genussmittel? – Konkurrenz bekommt, ist die Bekämpfung von Kriminalität auch ein traditionelles Argument der Konservativen. Und Kriminalität kann man nur bekämpfen, wie es sie gibt. Warum gibt es überhaupt Drogenkriminalität? Weil man Drogen verbietet. So schließt sich der Kreis. Und viele Wählerinnen und Wähler glauben das auch.

  6. @Stephan 20.07. 21:35

    „Und Kriminalität kann man nur bekämpfen, wie es sie gibt. Warum gibt es überhaupt Drogenkriminalität? Weil man Drogen verbietet. So schließt sich der Kreis.“

    Die meisten Drogensüchtigen wünschen sich wohl nichts mehr, als dass man sie einfach in Ruhe lassen würde. Und mir persönlich ist die Tabaksteuer auch eine erhebliche finanzielle Belastung. Wenigstens bin ich als Raucher vor unkontrollierten Beimischungen anderer Drogen relativ sicher. Und als Trinker vor Methanolgehalten.

    Paternalismus ist am Ende immer auch destruktiv.

Schreibe einen Kommentar