Cannabis im Zug: Die folgenreiche Fahrplanänderung

Eine tatsachenbasierte Kurzgeschichte über Drogenpolitik. Und was Staatsanwälte damit zu tun haben.

Neulich im Zug: Frau Müller hat ihren 20-jährigen Sohn Peter dazu überredet, einmal wieder zusammen einen Ausflug zu machen. Darum sind die beiden gerade in den ICE nach Berlin eingestiegen. Die Frau ist in Medizingeschichte promoviert und will sich im Museum der Charité die Ausstellung “Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst” anschauen.

Peter will spontan entscheiden, ob er dann mitkommt. Für ihn ist die Reise vor allem eine Gelegenheit, sich gratis – immerhin bezahlt seine Mutter die Fahrkarten – mit zwei alten Schulfreunden zu treffen, die dort jetzt Philosophie und Psychologie studieren. Als Überraschung hat er für die beiden etwas Gras im Gepäck, damit sie, “wie in alten Zeiten”, ein paar Joints rauchen und über Gott und die Welt reden können.

Der junge Mann fragt sich, ob seine Freunde durch ihre Studien schon sehr viel mehr wissen als er, der zur Orientierung “nur” in der Krankenpflege arbeitet, bis er weiß, was er wirklich aus seinem Leben machen will. Ihn verunsichert der Gedanke, dass er weiter in der Kleinstadt Baden-Württembergs lebt, in der er schon geboren wurde, während sie in der Hauptstadt Horizonte erweitern.

Von der Straße

Einen deutlichen Unterschied gib es jedenfalls in der Drogenszene. Während sie früher nur hin und wieder ein paar Joints geraucht haben, scheint man in Berlin ohne Probleme an alles Mögliche zu kommen. Auch harte Drogen, haben ihm seine Freunde erzählt, könne man im Prinzip so einfach bestellen wie eine Pizza.

Allerdings sei das nicht ungefährlich, da man nicht wirklich wisse, was einem die Dealer dann verkaufen. Das könne sich jetzt mit dem Drugchecking-Projekt für kostenlose und anonyme Drogentests ändern. Solche Möglichkeiten wurden lange Zeit als verbotene Beschaffung einer Gelegenheit zum Drogenkonsum (§ 29 BtMG, Abs. 1, Punkt 11) gesehen und darum in Deutschland nur zögerlich angeboten.

Peter hat kein Bedürfnis, “härtere” Drogen auszuprobieren. Er hörte allerdings, dass Gras und Haschisch von der Straße oft verunreinigt sind: Regelmäßig werden (unter anderem) Blei, Glassplitter, Pflanzenschutzmittel und Schimmel in den Stoffen gefunden, die eigentlich Naturprodukte sind.

Angeblich würden die kriminellen Hersteller ihre Produkte auch mit starken synthetischen Cannabinoiden vermischen. Das erhöhe das Risiko einer Abhängigkeit, führe also zu einer treueren Stammkundschaft. In ähnlicher Weise hat wohl die Tabaklobby über Jahrzehnte ihren Umsatz erhöht. Durch die Beimischung der starken Stoffe werden die Trips aber auch unberechenbarer und kann es häufiger zu psychischen Problemen wie Angst, Kontrollverlust oder in seltenen Fällen gar zu einer Psychose mit Wahnvorstellungen kommen.

Geringe Mengen

Manche Vorteile hat das Leben in der Kleinstadt, in der man aufgewachsen ist, dann eben doch: Peter und seine Freunde kennen schon seit Jahren jemanden, der zu Hause ein paar Cannabispflanzen züchtet. Von ihm bekamen sie hin und wieder ein paar Gramm, zu einem fairen Preis und gewissermaßen “in Bio-Qualität”. Der Bekannte lässt die nach Berlin gezogenen Jungen herzlich grüßen.

Weil Peter keinen Ärger mit der Justiz will, hat er sich im Internet über die Definition der “geringen Menge” für den unerlaubten Cannabisbesitz informiert. Diese beträgt in Baden-Württemberg, wo er abreist, 10 Gramm, in Berlin, seinem Ankunftsort, 15 Gramm. Um etwas Sicherheitsspielraum zu haben, hat er für sich und seine Freunde 9 Gramm abgewogen. Das Plastiktütchen mit dem Gras nimmt er in seiner Jackentasche mit. Wie in der Szene üblich, prangt darauf ein grünes Hanfblatt mit seiner charakteristischen, gezackten Form.

Frau Müller und ihr Sohn haben ein vertrauensvolles Verhältnis. Darum hat Peter ihr von dem Gras erzählt. Die Mutter findet den Drogenkonsum zwar nicht gut, weiß aber, dass die jungen Leute im Endeffekt das machen, was sie wollen. Solange sie es nicht übertreiben und die Risiken im Auge behalten, akzeptiert sie das Verhalten. Sie hat sich früher auch nicht immer an Regeln und Moralvorstellungen gehalten.

Immerhin dürfen Jugendliche in Deutschland schon ab 14 Jahren in Begleitung ihrer Eltern öffentlich Alkohol trinken. Das nennt man hierzulande “Jugendschutz” (§ 9 JuSchG, Abs. 2). Nichts ist ganz ohne Risiken. Wahrscheinlich handelt es sich auch nur um eine Phase und wird Peter irgendwann das Interesse an Cannabisprodukten wieder verlieren.

Hallo, Frau Staatsanwältin!

Kurz vor der Abfahrt des Zuges setzt sich Frau Fritz zu den beiden an den Tisch. Man kennt sich aus der Nachbarschaft. Sie arbeitet in einer nahegelegenen Stadt als Staatsanwältin und reist für eine Fortbildung nach Berlin. Das ist aber ein Zufall, dass man sich hier trifft. Schnell tauschen die beiden Frauen den neuesten Tratsch aus. Für Peter ist es eine willkommene Gelegenheit, sich in die virtuelle Welt seines Smartphones zurückzuziehen.

Frau Fritz ist neugierig, was Peter und seine Mutter in Berlin wollen. Frau Müller erzählt von der Ausstellung und Peter ergänzt, dass er mal wieder mit alten Schulfreunden “chillen” will, die jetzt dort studieren. Seine Mutter schaut ihn eindringlich an – und erklärt dann etwas genauer, was hier mit “chillen” gemeint ist. Ihr Sohn habe sich darüber informiert, was eine “geringe Menge” ist, und jetzt 9 Gramm Cannabis für sich und seine Freunde dabei.

Peter schreckt das kurz auf. Zwar ist es kein großes Geheimnis, dass er und andere hin und wieder kiffen. Und laut einer Befragung im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung haben über vier von zehn jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren und sogar jeder zehnte Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren schon einmal Cannabis konsumiert. An die große Glocke muss man seinen Konsum darum aber auch nicht hängen.

Ein größerer Anlass zur Sorge ist allerdings die ernste Miene, die die Nachbarin und Staatsanwältin Fritz nun zieht. Gesetz ist Gesetz. Und in Deutschland gilt das Legalitätsprinzip. Das heißt, dass Straftaten im Prinzip auch verfolgt werden müssen. Sie ist als Staatsanwältin zudem eine hohe Repräsentantin der Strafverfolgungsbehörden.

Belehrung

“Der Besitz von Cannabis ist in Deutschland immer noch verboten”, erklärt sie ihren Mitreisenden mit Nachdruck. “Ohne schriftliche Erlaubnis, beispielsweise für den medizinischen Verbrauch, wird er laut Betäubungsmittelgesetz mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft”, fährt sie fort (§ 29 BtMG, Abs. 1, Punkt 3). Peter versinkt sorgenvoll im Sitz. Seine Mutter kann es kaum glauben und vergisst eben, zu atmen.

Frau Fritz schaut sich kurz im Abteil um. Dort sitzen nur wenige andere Reisende und es ist unwahrscheinlich, dass jemand ihre Unterhaltung hört. Mit sanfterer Stimme erklärt sie jetzt, dass ein Gericht allerdings bei geringen Mengen für den Eigenbedarf von einer Bestrafung absehen kann (§ 29 BtMG, Abs. 5).

Auch den Staatsanwaltschaften hat der Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt, bei geringer Schuld und geringer Menge für den Eigenverbrauch von einer Strafverfolgung abzusehen (§ 31a BtMG, Abs. 1). Im Prinzip bleibt damit auch der Besitz von geringen Mengen verboten – und liegt das Gewähren einer Ausnahme im Ermessensspielraum der Staatsanwaltschaften und Gerichte.

Da Peter ihres Wissens nach noch nie Schwierigkeiten mit der Justiz gehabt habe, sehe sie unter den gegebenen Umständen von einer Verfolgung ab. Mit tadelndem Blick zur Mutter empfiehlt sie aber, in der Öffentlichkeit nicht über den Drogenbesitz zu sprechen, solange das Verbot gilt. Die Bundesregierung arbeite ja an einer entsprechenden Gesetzesänderung, die sich aber aufgrund internationaler und europäischer Abkommen als kompliziert erweise.

Während der Zug weiter über die Schienen rollt und einige Eisenbahnkilometer zurücklegt, entspannt sich die Sphäre allmählich. Peter beschäftigt sich wieder mit dem Smartphone. Seine Mutter liest einen Roman. Und Frau Fritz studiert ihr Unterrichtsmaterial für die Fortbildung in Berlin.

Überraschung im Gleis

Doch dann wird die Ruhe von einer Durchsage des Schaffners unterbrochen: “Sehr geehrte Fahrgäste, wegen eines Personenschadens wird unser Zug heute über Nürnberg umgeleitet. Dort gibt es einen außerplanmäßigen Halt. Informationen über Ihre Fahrgastrechte erhalten Sie auf bahn.de oder beim Zugpersonal.”

Frau Fritz kommentiert mit einem Seufzer: “Wahrscheinlich ist das ein Suizid. Ich musste auch schon zu solchen Unfällen. Kein schöner Anblick. Bis die Untersuchung abgeschlossen und alles aufgeräumt ist, dauert es mindestens drei Stunden. Insofern haben wir Glück. Und der arme Mensch, möge er in Frieden ruhen.”

Frau Müller erinnert sich kurz an die Anatomiestunden im Medizinstudium und vertieft sich dann wieder in ihren Roman. Peter appt seinen Freunden, dass sie jetzt schon über eine Stunde Verspätung haben. Tja, Reisen mit der Deutschen Bahn.

In Nürnberg wird das Abteil voller. Der umgeleitete ICE soll einen ausgefallenen Zug in den Norden de Republik auffangen. Darum haben die zusteigenden Fahrgäste alle keine gültige Reservierung. Durch die Menschen, die mit ihrem Gepäck hin und her laufen, wird es etwas unruhiger. Dann schallt es aus der Nähe: “Kollegin Fritz, nehmen Sie etwa auch an dem Lehrgang in Berlin teil?”

Die Stimme gehört Herrn Brüller, leitender Oberstaatsanwalt in einer bayerischen Großstadt. Frau Fritz bietet ihm den letzten freien Sitzplatz an dem Vierertisch an und stellt dem Kollegen ihre Nachbarn vor. Nach der Begrüßung überlegt Peter kurz, ob er die älteren Erwachsenen unter sich lassen und einen anderen Sitzplatz suchen soll. Das wäre aber wohl unhöflich.

Stattdessen springt er auf, um ein Skater-Magazin aus seinem Rucksack zu holen, den er in dem Gepäckfach über den Sitzen verstaut hat. In der Eile übersieht er die ältere Frau, die mit ihrem Rollkoffer auf der Suche nach einem freien Platz gerade an ihnen vorbeiziehen wollte. Die beiden stoßen zusammen. Der Frau passiert zum Glück nicht viel, doch Peter verliert kurz sein Gleichgewicht und muss sich hastig auf dem Tisch abstützen, um nicht auf seine Mitreisenden zu stürzen.

Fall mit Folgen

Das gelingt ihm zwar. Durch den Ruck fällt aber das Tütchen mit dem Gras auf den Tisch. Vor die Augen der beiden Staatsanwälte. Die Mutter vergisst wieder, zu atmen. Frau Fritz schlägt innerlich die Hände vor dem Kopf zusammen. Herr Brüller erkennt das typische Aussehen der Droge und nimmt das Tütchen an sich. Peter will dazwischenfahren, doch traut sich im letzten Moment nicht.

“Das ist aber keine geringe Menge!”, ruft Herr Brüller mit strengem Ton. Die Mutter will ihrem Sohn raten, nichts mehr zu sagen, doch aus Peter fährt es impulsiv heraus: “Doch, es sind nur 9 Gramm! Das habe ich extra im Internet nachgeschlagen.” Unerbittlich klärt Brüller ihn über seinen Irrtum auf: “In Bayern liegt die Obergrenze bei 6 Gramm. Und wir sind hier in Nürnberg. Ich verhafte Sie wegen Verstoßes gegen §29 Betäubungsmittelgesetz. Setzen Sie sich wieder hin, bis die Polizei da ist!”

Da der Zug gerade weiterfahren sollte, zieht Brüller die Notbremse. Mit seinem Mobiltelefon ruft er zwei Beamte der Bahnhofspolizei zu sich ins Abteil. Frau Müller kann nicht glauben, was da gerade passiert. Peter hat noch nicht verarbeitet, was das alles bedeutet. Er ein Drogenkrimineller? Frau Fritz kann nicht helfen. Gesetz ist Gesetz. Und es gilt das Legalitätsprinzip. Herr Brüller zeigt dem herbeieilenden Zugführer seinen Dienstausweis und erklärt ihm, dass sich die Weiterfahrt etwas verzögert.

Nach fünf Minuten, die Peter und seiner Mutter wie eine Ewigkeit vorkommen, holen eine Polizistin und ein Polizist sie ab. Herr Brüller erklärt die Formalitäten: Peter wird verhaftet und zur Polizeiwache mitgenommen. Seine Mutter darf, muss aber nicht mitkommen. Peters Gepäck wird auf weitere Drogen untersucht. Er dürfe die Aussage verweigern, doch seine Situation sehe schlecht aus. Wenn er kooperiere, könne er die Wache wahrscheinlich nach ein paar Stunden wieder verlassen. Doch das müssten die zuständigen Beamten vor Ort entscheiden.

Peter, seine Mutter und die beiden Polizisten verlassen den Zug. Beim Aussteigen hören sie noch die Durchsage: “Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund eines Polizeieinsatzes verzögert sich die Weiterreise um wenige Minuten. Es besteht keine Gefahr.” Frau Müller ruft ihren Mann an. Er müsse sofort nach Nürnberg kommen. Peter sei wegen Drogenbesitzes festgenommen worden.

Der Grasbauer

Auf der Polizeiwache geben alle den unfreiwilligen Gästen aus Baden-Württemberg zu verstehen, dass Drogenbesitz in Bayern kein Kavaliersdelikt sei. Wie man das in anderen Bundesländern sehe, interessiere hier nicht. In so einem schweren Fall müsse man zwingend Anklage erheben. Die Beweislage sei eindeutig. (Daran, dass einige ihrer Kollegen aus der Landeshauptstadt München dem Kokain zugeneigt waren, erinnern sie nicht.)

Peter wird allerdings auf die Möglichkeit der Strafmilderung oder sogar des Absehens von Strafe nach §31 BtMG hingewiesen: Falls er jetzt den Namen desjenigen verrät, bei dem er das Gras gekauft hat, würde sich das positiv auswirken. Die Entscheidung hierfür liege allerdings beim Gericht. Im für ihn günstigsten Falle bleibe es dann bei einer Eintragung in das länderübergreifende Verfahrensregister der Staatsanwaltschaften.

Andernfalls drohten bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe (§ 29 BtMG, Abs. 1, Punkt 3). Also? Peter bittet auf Anraten seiner Mutter darum, sich erst von einem Rechtsanwalt beraten zu lassen. Der Aufenthalt in Berlin fällt erst einmal aus.

Am Abend wundern sich zwei Studenten auf einer Berliner Dachterrasse, warum ihr Freund Peter nicht mehr auf Nachrichten reagiert. Das Geheimnis wird sich schon noch lüften, denken sie schließlich. Erst einmal drehen sie sich einen Joint und genießen die Farben des Sonnenuntergangs. Schon ganz schön “chill”, so ein Abend in Berlin.

Zum Weiterlesen:

Hinweis: Die Kurzgeschichte basiert zwar auf Tatsachen, doch die Handlung ist fiktiv. Der Autor ist kein Rechtsanwalt. Lassen Sie sich zu spezifischen Fragen von einer Fachfrau/einem Fachmann beraten. Folgen Sie Stephan Schleim auf Twitter. Titelgrafik: geralt auf Pixabay.

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16 Kommentare

  1. Die Behauptung aus den aktuell in D regierenden Parteien, sie würden für eine Liberalisierung des Cannabis-Konsums sorgen, war von vorneherein eine Unwahrheit. Insbesondere die Schaffung von Einrichtungen, in denen (unter staatlicher Kontrolle) Gras an Konsumenten abgegeben werden sollte, war und ist nach europäischem Recht nicht erlaubt.

    Und Deutschland war einer der Treiber, die, nach USamerikanischem Vorbild, jegliche “Förderung des Konsums” in der EU-Gesetzgebung verboten hatten. Das war den entsprechenden Politikern selbstverständlich bewusst, als sie während des Wahlkampfs diese erlogenen Versprechen abgegeben hatten, auf die viele Menschen hereingefallen sind.

    Die “Liberalisierung” ist also weniger einer geänderten Drogenpolitik, sondern eher der Überlastung von Polizei und Staatsanwälten geschuldet, die sich einfach überarbeitet fühlen.

  2. @Kühn: Politik

    …Schaffung von Einrichtungen, in denen (unter staatlicher Kontrolle) Gras an Konsumenten abgegeben werden sollte…

    Sie meinen so etwas wie Coffeeshops in den Niederlanden? 😉

    …erlogenen Versprechen…

    So kommen Sie von der “Unwahrheit” zur “Lüge”.

    Lauterbachs Aussagen waren vielleicht ungeschickt. Aber er ist kein Jurist. Mir war übrigens vorher auch nicht bewusst, wie komplex die rechtliche Lage ist: Dass man insbesondere in der EU nicht nur an die internationalen Verträge gebunden ist, die nun z.B. in Nordamerika gebrochen werden, sondern zudem an das Schengenabkommen, dass die Länder zur Bekämpfung der Drogen nach innen verpflichtet.

    Stellen Sie sich einmal vor, die Koalition würde Cannabis legalisieren, wie das angedacht war. Das ginge rein formal Schon. Dann könnten aber die anderen EU-Länder Deutschland wegen des Bruchs von EU-Recht verklagen (während man besser sein will, als die zerfallenden Rechtsstaaten Polen und Ungarn) und wahrscheinlich auch die Grenzen schließen. Das hätte für den Personen- und Warenverkehr verheerende Folgen!

    Mit anderen Worten: Wenn man mehrere Perspektiven einbezieht, ist der Gang der Dinge schon nachvollziehbar, und nicht unbedingt Ausdruck von Lügen oder Verschwörungen gegen die Wähler.

    Die “Liberalisierung” ist also weniger einer geänderten Drogenpolitik, sondern eher der Überlastung von Polizei und Staatsanwälten geschuldet, die sich einfach überarbeitet fühlen.

    Und die gestressten Justizbehörden haben wirklich die allerhöchste Priorität bei der Ampelkoalition? Das Argument würde man doch eher von der CDU erwarten, die wiederum harte Verbote durchsetzen will.

  3. Hallo Herr Schleim,

    ich möchte mich jetzt nicht in die Niederungen der Wahlversprechungen vor der letzten Bundestagswahl begeben, die entsprachen in vielen Bereichen (Klimakrise, soziale Ungleichheit, Artenverluste uvm.) nicht annähernd dem, was später umgesetzt wurde. Aber zum Thema “Liberalisierung in der Cannabis-Drogenpolitik” steht sogar im Koalitionsvertrag vom 7.12.23:

    „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein.“

    Diese Aussage ist nicht nur “vielleicht ungeschickt” sondern zeigt, dass die entsprechenden Politiker, bzw. ihre Berater, entweder keine Ahnung vom Europarecht haben, oder bewusst die Unwahrheit gesagt haben, um kritische Stimmen zu “sedieren”. Sie selbst haben in Ihrem o. a. Beitrag “Internationales Recht: …” bereits auf die Widersprüche zu internationalen Verträgen hingewiesen.

    Selbstverständlich sind die niederländischen Coffeeshops keine sinnvolle Alternative, da der Staat bei einem Konsum, der ohnehin sehr stark beschränkt ist, sozusagen nur ein Auge zudrückt. Die gesamte Kette von der Produktion, dem Transport, der Abgabe, dem Besitz bis zum Konsum befindet sich in einer rechtlichen Grauzone, die durchaus willkürlich gehandhabt werden kann, und damit auch keinerlei positive juristische oder auch soziale Perspektiven bietet.

    Ich she eher eine sinnvolle Entwicklung bspw. in Portugal, wo geringe Verstöße (Anbau und Besitz zum Eigenbedarf) nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden, sondern nur zu einem verpflichtenden Beratungsgespräch führen können.

    Aber auch dort ist man von der Gleichstellung der sog. weichen Drogen Cannabis und Alkohol noch sehr weit entfernt. Stellen Sie sich mal vor, dass jemand, der einmalig angetrunken in der Öffentlichkeit oder einer Feier angetroffen wurde, zu einem Beratungsgespräch bei einem Suchtberater antreten müsste. 😉

  4. @Kühn: Gutachten

    Die Ampelkoalition wurde 2021 gewählt; aus diesem Jahr stammt auch der Koalitionsvertrag.

    Das entsprechende Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags ist vom August 2022!

    Insofern kann man den Politikern hier mindestens Blauäugigkeit vorwerfen, ja. Wie man das weiter politisch deutet, sei jedem selbst überlassen.

    Dass man in den Niederlanden mit der Toleranzpolitik der 1970er Jahre und der “Hintertürproblematik” der organisierten Kriminalität eine gute Einnahmequelle beschert hat, sieht man heute kritisch. In ein paar Städten gibt es meines Wissens nun Pilotprojekte mit lizenziertem Anbau.

    In Portugal ist der Besitz meines Wissens stärker entkriminalisiert. Aber, vom Eigenanbau abgesehen, löst das nicht das Problem, wo man seine Cannabisprodukte legal kaufen kann, oder?

  5. Sorry wg. des Fehlers, selbstverständlich 2021 und nicht 2023.

    Im Prinzip wollte ich lediglich klarstellen, dass die Vermutung bzw. die Hoffnung vieler Menschen, dass bereits jetzt eine Liberalisierung des Cannabiskonsums in D stattfinden würde, (der Hintergrund zu Ihrer Story) keinerlei Basis hat.

    Zur erfolgreichen Drogenpolitik in Portugal (allerdings geht es um sämtliche illegale Drogen) ein arte-Beitrag (32 min.):

    https://www.youtube.com/watch?v=cCNI4rDpBxI

    Im Übrigen bin ich keineswegs dafür, Cannabis unkontrolliert freizugeben, sondern verlange lediglich, den Konsum ggü. der wesentlich gefährlicheren Droge Alkohol nicht weiterhin zu diskriminieren und den existierenden illegalen Drogenmarkt durch eine staatlich kontrollierte Abgabe auszutrocknen.

  6. @Kühn: Liberalisierung

    Danke für den Link. Cannabis-Clubs wären aber zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.

    Die Gefährlichkeit von Alkohol wird heute gerne übertrieben. Wie gefährlich ist Alkohol nun wirklich?

    Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner jüngsten Entscheidung (eigentlich wollte ich darüber schreiben) noch einmal unterstrichen, dass Alkohol aufgrund seiner traditionellen Bedeutung vom Gesetzgeber anders behandelt werden kann. Dazu in Kürze mehr.

    P.S. Meine Kurzgeschichte zielt darauf, die Willkür der “geringen Menge” aufzuzeigen – und noch einmal die Frage aufzuwerfen, worin hier eigentlich die Straftat besteht. (Und bis zu fünf Jahre Gefängnis für ein paar Gramm Gras – wirklich?!)

  7. “Legalitätsprinzip”
    Bei “Antragsdelikten” nur wenn auch ein Strafantrag gestellt wird, im Gegensatz zum “Offizialdelikt”, das verfolgt werden muß wenn die Staatsanwaltschaft Kenntnis erlangt über eine mögliche Straftat, unabhängig von einer Anzeige.
    Was hier vorliegt weiß ich nicht, aber der Staatsanwalt kann wohl auch selber einen Strafantrag stellen, wenn es kein anderer tut.
    Hört sich für mich aber an nach einem, der sich ein wenig breit machen wollte….
    Am Erfolg habe ich große Zweifel, keine Vorstrafen, die speziellen Rahmenbedingungen, der klar erkennbare Wille des Verhafteten, sich ans Gesetz zu halten, der nur durch Zufall ausgehebelt wurde…ales andere als eine Einstellung wäre ziemliche Willkür, wenn nicht schon in der Nähe der Rechtsbeugung.
    Das alles aber mit Vorsicht, ich bin kein Jurist, tue mich aber schwer mit der Vorstellung, daß hier nicht etwas geschieht, was völlig unverhältnismäßig ist.

  8. @DH: Antragsdelikte…

    …finden tendenziell eher im Privaten statt: Dabei gibt es solche, die nur auf Antrag verfolgt werden und solche, bei denen auch das öffentliche Interesse mitschwingt – jedenfalls das Interesse nach Vorstellung der Staatsanwaltschaft.

    Bei Verstößen gegen das BtMG geht es ja der Sache nach um das öffentliche Interesse (jedenfalls aus Sicht des Gesetzgebers).

    …tue mich aber schwer mit der Vorstellung, daß hier nicht etwas geschieht, was völlig unverhältnismäßig ist.

    Das ist der Sinn er Geschichte: Was ist hier die Straftat? Dann ist Strafe in jedem Fall unverhältnismäßig.

    Dass man sich in einem Bundesland damit herausreden kann, nur zufällig dorthin gekommen zu sein, kann ich mir eher nicht vorstellen.* Bei gutem Willen könnte ein Richter das vielleicht strafmildernd auslegen. Aber die Faktenlage lässt ja keinen Zweifel an der Erfüllung des Tatbestandes. Klar sollte aber auch sein, dass in so einem Fall nicht gleich die Höchststrafe verhängt wird.

    * Allerdings hat das BVerfG meiner Erinnerung nach schon in seinem 1994er-Urteil zu Cannabis kritisiert, dass sich die Praktiken zwischen den Bundesländern unterscheiden. Ein guter Anwalt könnte daraus ein Argument stricken. Ob es überzeugt, hängt vom Einzelfall ab.

  9. @Stephan Schleim
    “Dass man sich in einem Bundesland damit herausreden kann, nur zufällig dorthin gekommen zu sein, kann ich mir eher nicht vorstellen.* ”
    Denke schon, daß dieser Punkt wichtig ist, sonst machen die unterschiedlichen Mengen bei der Tolerierung keinen Sinn. Wenn jeder damit rechnen muß, durch einen unvorhersehbaren Zufall in Bayern zu landen, müßten die 6 Gramm bundesweit gelten (oder niedrigere falls ein anderes Bundesland niedrigere hat).
    So aber stellt sich die Frage wie ein Bürger seinen gesetzlichen Pflichten eigentlich nachkommen kann, muß er mit absonderlichen Zufällen rechnen?

    Etwas anderes wäre es, wenn solche Umleitungen öfter vorkommen und das jeder wissen muß, aber das scheint hier nicht vorzuliegen.
    Mit aller Vorsicht jetzt, aber meines Wissens gibt es so etwas wie den “Geist” eines Gesetzes, oder auch die Intention, die hinter einem Gesetz steht. Eine rein formaljuristische Auslegung ist sogar unzulässig, und die Intention der Rechtsnorm kann hier nur sein, daß jeder alles tun muß, um seinen Teil zur Einhaltung beizutragen, was dieser junge Mann umfänglich getan hat.
    Die Intention ist eindeutig nicht die Verfolgung von Leuten, die sich klar an das Gesetz halten wollten und einfach Pech hatten.
    Ich habe Zweifel, ob hier überhaupt eine Straftat vorliegt.

  10. @DH: Strafverfolgung

    Ich habe Zweifel, ob hier überhaupt eine Straftat vorliegt.

    Ihre guten Absichten in allen Ehren – doch daran besteht kein Zweifel, da das BtMG den Besitz von Substanzen laut den Anlagen, darunter Cannabis, unter Strafe stellt.

    Unter Umständen kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absehen. Das ist Gesetz, 1994 auch so vom Bundesverfassungsgericht bestätigt.

  11. @DH
    Da haben Sie schon recht, aber ein Bürger muß auch die Möglichkeit haben, sich an diese Gesetze zu halten, mit den Mittel die ihm zur Verfügung stehen.
    Was hätte der junge Mann denn tun sollen? Vorausgesetzt die Umleitung war nicht vorhersehbar, konnte er keinerlei Einfluß darauf ausüben, diese Straftat(?) zu vermeiden und das wäre doch eine Form der Willkür, oder übersehe ich irgendetwas? Kann man ein Entführungsopfer drankriegen weil es ins visumpflichtige Ausland entführt wurde, wegen unerlaubtem Grenzübertritt? (zugegeben, der Vergleich hinkt ein wenig….).
    Vielleicht ist es ja eine Straftat, und es gilt aber sowas wie ein entschuldigender Notstand (wie Juristen das ausdrücken weiß ich nicht).
    Denkbar wäre auch daß der “Schuldgehalt” nicht ausreicht für eine Verurteilung.

  12. @DH: Straftat

    Um die Straftat zu vermeiden – hätte der junge Mann das Cannabis nicht kaufen dürfen. 😉

    Nochmal: Die Frage ist nicht, ob es eine Straftat ist oder nicht. Die Frage ist, ob die Straftat verfolgt wird oder nicht. In Bayern muss über 6 Gramm verfolgt werden. Das folgt aus dem Legalitätsprinzip.

    Eigentlich wollte ich über die neue Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts schreiben, doch dann kam mir der Einfall für die Kurzgeschichte. Wahrscheinlich erscheint mein Artikel dann morgen. In dem Urteil wird aus der Vorlage eines Amtsgerichts zitiert, das das Cannabisverbot nicht mehr durchsetzen wollte. Das erschließt Ihnen vielleicht besser, wie das Gesetz “denkt”:

    Entgegen den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts seien bei geringen Mengen von Cannabis die Einstellungsrichtlinien der Länder noch immer uneinheitlich. Hinzu kämen unterschiedliche Strafverfolgungskulturen der Staatsanwaltschaften. Weil die Polizei ermittle, bis die Staatsanwaltschaft ihr Ermessen ausübe, wüssten Besitzer von Cannabis in geringen Mengen zum Eigenbedarf außerdem nicht, ob das sie betreffende Ermittlungsverfahren eingestellt werde. Die Angst der Beschuldigten vor straf-, berufs- und/oder aufenthaltsrechtlichen Folgen werde durch die vom Bundesverfassungsgericht propagierte prozessuale Lösung nicht vermieden.

    Der Amtsrichter kritisiert hier offen die (angebliche) Willkür zwischen den Bundesländern. Das Bundesverfassungsgericht lässt das, so viel sei vorweggenommen, aber nicht gelten: Dass von der Verfolgung abgesehen werden kann, nicht muss, genügt denen in Karlsruhe.

  13. @Stephan Schleim
    Ziemlich komplex aber auch interessant.
    Die Staatsanwaltschaft kann einstellen, muß aber nicht, aber meines Erachtens nicht willkürlich.
    In der Regel wird geduldet wenn keine Vorstrafen vorliegen, weder einschlägige noch anderweitige, und wenn es sich um ein erstmaliges Antreffen mit geduldeter Menge handelt. Wenn beides vorliegt, kann nicht willkürlich mal so und mal so entschieden werden, wegen des Grundsatzes der Gleichbehandlung.
    Duldung für alle vergleichbaren Fälle oder für keinen.

  14. @DH: Weisungen

    Die Staatsanwaltschaften sind (in Deutschland) an die Weisungen ihrer Justizministerien gebunden. Wie unterschiedlich deren Weisungen in dieser Sache sind, darüber informiert der Deutsche Hanfverband.

    Kurz gesagt: Manchmal bleibt es bei “Kann-Vorgaben”, manchmal gibt es “Soll-Vorgaben” (z.B. soll beim ersten Mal eingestellt werden) – und manchmal eine Kombination aus beidem. Es lebe die Eindeutigkeit!

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