Eine fantastische Mythenwelt auf Fundamenten des Mittelalters. Winter is coming von Carolyne Larrington zum Game of Thrones von G.R.R. Martin

Heute, genau heute ist es also so weit. Die deutsche WELT-Tageszeitung fand die Schlagzeile zum Amtstantritt des US-Präsidenten Donald Trump: “Der Winter kommt”. Nicht nur Fans des Liedes von Eis und Feuer bzw. der Game of Thrones-Serie nach George R.R. Martin verstanden die Anspielung sofort: Die Zivilisation mit all ihren internen Streitigkeiten wird von einer viel größeren Gefahr heimgesucht. Wie zuvor nur noch J.R.R. Tolkien hat Martin durch fantastische Werke Begriffe und Assoziationen unserer Kultur geprägt!

Woher aber rührt die enorme Wucht von G.R.R. Martins Buchserie, die schließlich auch in eine erfolgreiche Fernsehserie mündete? Wie Tolkien hatte Martin eine komplexe Welt mit verschiedenen Völkern, Kulturen, Sprachen und – hierbei sogar über seinen Vorgänger hinausgehend – Religionen geschaffen. Doch während sich Tolkien seine Welt Mittelerde (deutsch) bzw. Midgard (englisch) in mühsamen Konstruktionen schuf, bediente sich Martin in den reichen und prallen Geschichten- und Mythenschätzen des europäischen Mittelalters!

Genau diese Spuren verfolgt das Werk der britischen Literaturwissenschaftlerin Carolyne Larrington. Für die deutsche Übersetzung ihres Werkes behielt der Verlag dabei auch gleich den selbsterklärenden Titel in englischer Sprache bei: “Winter is coming. Die mittelalterliche Welt von Game of Thrones” (Theiss 2016, EUR 19,95).

Mit erkennbarer Freude taucht Prof. Larrington – selbstverständlich von den Herzlanden aus erschaudernd in den Norden schauend – in die fantastische Welt von Martin ein, vor allem in die Kontinente Westeros und Essos. Originell sind dabei ihre rabenförmigen Spoiler-Warnungen für jene, die noch nicht alle verfügbaren Bücher oder Staffeln gesehen haben. Doch vor allem wagt es Larrington, dem “Geheimrezept” von GoT zu folgen: Der Lebendigkeit seiner Schauplätze, Konstellationen und vor allem auch Charaktere und Religionen.

Denn hier hat Martin nicht nur sein Handwerkszeug von Tolkien gelernt, sondern diesen auch mutig weiterentwickelt: Während Tolkien mühsam Gegegenheiten vor allem aus den Philologien (den Schrift- und Sprachwissenschaften) erschuf, suchte sich der Autor von GoT einfach ansprechende Motive aus der realen Geschichte samt den Mythenschätzen des Mittelalters und der frühen Neuzeit zusammen – beginnend bei den englischen Rosenkriegen des 15. Jahrhunderts zwischen den Häusern York (GoT: Stark) und Lancaster (GoT: Lannister). Weiter geht es über mittelalterliche Ehrvorstellungen, Wolfs- und Drachenmythen, Wikinger- und Mongolenstürme bis hin zu Architekturen und den Rollen von Schriftgelehrten.

Darüber hinaus aber schuf Martin einen ganzen Kosmos unterschiedlicher Religionen, die insbesondere verschiedene Aspekte des mittelalterlichen Christentums aufgreifen und kritisch-spannend umsetzen. So erinnert beispielsweise die “Hauptreligion” der Sieben – eigentlich eine Siebenheit – an die christliche Dreifaltigkeit, ebenso aber auch der feurig-missionarische “Herr des Lichts” an dessen monotheistischen Feuereifer und selbst noch im Kult des ertrunkenen Gottes tauchen Elemente von Taufe, Tod und Wiedergeburt auf.

In gleich mehreren Interviews hat Martin die Bedeutung von Religion(en) für seine fantastische Welt herausgestrichen, hier sah er die hauptsächliche Schwäche von Tolkiens “Herr der Ringe”, der seine reiche, religiöse Mythenwelt kaum mit der Hauptgeschichte verknüpfte.

So ist Larringtons Schwäche auch zugleich ihre Stärke: Da sie sich an den Landschaften der fantastischen Welt statt an Themen orientiert, springt sie Kapitel für Kapitel zwischen den verschiedenen Bezugswelten, aus denen sich Martin “bediente”. Ein roter Faden im Sinne eines durchgehenden Motivs ergibt sich dadurch nicht – sondern eher das Staunen darüber, wie tief Martin unsere Vergangenheit durchgraben und wie mutig er daraus Schätze geborgen und bearbeitet hat. Der Autorin ist wiederum die Freude an den Bezügen anzumerken; oft muss sie sich richtig aus den Wissensgebieten losreißen, aus denen sich Martin bediente. Wo Frau auch hingreift – sie bekommt reale Hintergünde des Mittelalters zu fassen, die oft auch durch Namen und Symbole klar als solche identifiziert sind. Martin lässt die Leserin, den Leser nicht nur mitfühlen, sondern auch entschlüsselnd “mitspielen”.

So bringt “Winter is coming” nicht nur die Herzen eingefleischter Fans zum schnelleren Schlagen, sondern vermag auch historisch und wissenschaftlich Interessierte zu fesseln. Noch Generationen von Forscherinnen und Forschern werden an diesem Werk studieren und beschreiben können, wie aus dem Humus der realen Welt eine besonders “tiefe” Fantastik erwachsen konnte. “Winter is coming” gehört in entsprechend gut sortierte Bibliotheken! Bei mir hat es schon jetzt einen Ehrenplatz und ich ertappe mich dabei, immer wieder auch einfach versonnen darin zu stöbern. Wessos und Essos sind zum Erwandern da…

Ein eBook zur ewigen Faszination der Fantastik.

Und wer noch ein wenig über das mythologische Weltenschöpfen nachsinnen möchte, den darf ich auf den Deutschlandfunk vom Sonntag, 22.1., 8:35 Uhr verweisen. Hier wird eine neue Radioproduktion von mir zu J.R.R. Tolkien ausgestrahlt. Denn solange wir leben und kämpfen, haben die Mächte der Dunkelheit nicht gesiegt…

Ein Buchregal zur Erforschung der Fantastik. Foto: Michael Blume

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

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