Depressionen: aus der Innenansicht

Erfahrung, Körper und soziales Umfeld. MENSCHEN-BILDER informiert.

Es geht hier im Blog schon seit vielen Jahren um psychische Gesundheit und psychische Störungen. Meist steht dabei eine theoretische Perspektive im Vordergrund:

Wie können wir unser “Seelenleben” beschreiben? Wie verstehen, wenn es uns einmal nicht so gut geht? Wie funktionieren Forschung und Wissenschaft hinter der Praxis? Wie das Gesundheitssystem und wie “ticken” seine Entscheidungsträger? Psyche oder Gehirn? Individuum oder Gesellschaft? Gene oder Umwelt? Und so weiter.

Diesmal will ich eine persönliche Erfahrung von Ende Juni bis Anfang August 2023 teilen. Das macht das Thema nicht nur anschaulicher. Wie wir sehen werden, lassen sich die theoretischen Aspekte auch auf die eigene Erfahrung beziehen – und umgekehrt das Persönliche mithilfe der Theorie besser einordnen. Dazu eine Chronologie.

Juni

Unser Sommersemester endet in den Niederlanden früher als in Deutschland: Anfang Juni hatte ich die letzten Vorlesungen und Seminare. Mitte Juni dann die Klausur. Anfang Juli folgt eine Wiederholungsklausur. Dann bleiben nur noch Bachelor- und Masterarbeiten zur Beurteilung.

Es ist kein Geheimnis, dass der Arbeitsdruck im Unterrichtswesen hoch ist. Auch bei uns stiegen die Studierendenzahlen jahrzehntelang lang viel stärker als die Finanzierung. Also müssen wir pro Euro und Personalstelle immer mehr “Kunden” versorgen.

Zum Teil lässt sich die Arbeit effizienter einrichten. Meist wird dieser Gewinn aber durch neue bürokratische Regeln oder die Umstellung auf neue Systeme sofort wieder aufgefressen. Wir verabschieden einen Kollegen nach mehreren Jahrzehnten in den Ruhestand: Er berichtet, dass das früher auch nicht besser war. Jetzt fotografiert er Vögel. Wohlauf!

Wie in vorherigen Jahren spüre ich gegen Semesterende, wie ich “leer laufe”. Ich werde ungeduldiger, reagiere gereizter, die Konzentration nimmt ab. Alles macht weniger Spaß und kostet mehr Mühe.

Ich will nicht, dass es wieder so schlimm wird wie letztes Jahr, als wir noch die Maßnahmen der Coronapandemie auffangen sollten: Da war ich mitunter so müde, dass es zwei-, dreimal im Straßenverkehr (auf dem Fahrrad) zu einer gefährlichen Situation kam. Auf einem Bahnhof in Amsterdam war ich sogar einmal für ein paar Sekunden eingeschlafen; auf einer Treppe.

Bei zwei Momenten mit Spitzenbelastung melde ich mich dieses Jahr einfach krank. Das sorgt sofort für Entspannung. Die Kollegen und Studierenden können auch mal eine Woche länger warten. Und auch nicht alles ist wirklich wichtig. “Nein” sagen will gelernt sein.

Im Endeffekt passiert dadurch: gar nichts. Vor zehn Jahren hätte ich mir das noch nicht erlaubt. Da hatte ich aber auch noch keine feste Stelle.

Aus der Balance

Ein persönlicher Moment Ende Juni ist mir in besonderer Erinnerung geblieben: Da saß ich zusammen mit den anderen ehrenamtlichen Helfern an einem Sonntagmorgen auf einem Boot im Amsterdamer Hafen. Wir unterstützen dort Tanzbegegnungen. Für mich ist das der große Ausgleich zur Bildschirmarbeit.

Unser Tanzboot im Hafen von Amsterdam: ein Ort zum Ausgleich

Wie jedes Mal, sagt am Anfang jeder im Team ein paar Worte, wie es ihm oder ihr geht. Ich teile mit der Runde, dass ich fühle, wie eine depressive Episode beginnt. (Es ist nicht das erste Mal.) Ich ergänze, dass es mir wichtig ist, aktiv zu bleiben.

Hinterher erzähle ich einer Freundin, wie ich beim Tanzen den Eindruck nicht loswurde, dass meine Füße schief auf dem Boden standen. Für uns Tänzerinnen und Tänze sind die Füße die Basis.

Ich kann keinen Unterschied sehen. Ich fühle mich aber von mir selbst entfremdet. Körperliche und psychische Balance hängen zusammen. Ich bin aus dem Gleichgewicht.

Juli

“Aktiv bleiben” ist leichter gesagt als getan: Durch das Wegfallen von Terminen und Verpflichtungen habe ich zwar weniger Stress. Andererseits verbringe ich dann aber (noch) mehr Zeit mit mir selbst. Ich versuche, mich weiter zu motivieren und Dinge zu tun, die mir Freude bereiten.

Aufgrund zunehmender Schlafprobleme wird das aber immer schwieriger. Anfangs sind es drei bis vier Nächte pro Woche, in denen ich nur drei bis vier Stunden schlafen kann. Dann liege ich wach und versuche ich, mich im Bett zu entspannen. Ich verbinde mich mit dem Atem.

Manchmal schlafe ich dann wieder ein. Dann geht es mir den Rest des Tages gut. Manchmal bleibe ich aber auch wach. Dann stehe ich vielleicht um 5, 6 oder 7 Uhr auf – und wird das Durchhalten tagsüber zum Kampf. Dazu kommen zunehmende Kopfschmerzen, Schwindel und Reizempfindlichkeit.

Im Laufe des Monats werden es dann fünf bis sechs, am Ende sogar sieben Nächte pro Woche, in denen ich nicht durchschlafen kann. Dazu kommen teils starke Rücken- und Nackenschmerzen, manchmal auch Bauchschmerzen.

An manchen Tagen liege ich fast nur noch auf dem Sofa. Ich lese viel. Wenn es besser geht, erledige ich ein paar kleinere Tätigkeiten für die Arbeit. Ab und zu schreibe ich etwas für meinen Blog.

Schreibtherapie

Wobei “etwas” ein interessanter Begriff ist: Im April/Mai habe ich hier wenig bis gar nichts veröffentlicht. Da gab es an der Uni einfach zu viel zu tun. Im Juni erschienen drei Artikel; im Juli dann acht.

Am 19. Juli kommt Erleichterung: Mein Buch über psychische Gesundheit und Substanzkonsum (open access) erscheint endlich. Endlich! Und wichtiger: Die Fehler, die sich beim Produktionsprozess hineingeschlichen haben, sind dem ersten Anschein nach behoben worden.

Ein bisschen Selbst-Promotion gibt mir auch etwas zu tun. Bei den letzten drei Büchern war der Weg bis zur Veröffentlichung leider schlauchend: Es dauerte lange. Die Kommunikation war teils von Missverständnissen geprägt. Es wurden Fehler gemacht und nicht immer ausgeräumt.

Das zog dann wiederum die Notwendigkeit zermürbender E-Mails nach sich. Eine Freude war das nicht. Und wie die meisten Buchautoren wissen: Man macht das nicht primär fürs Geld. Der umgerechnete Stundenlohn dürfte unter dem Mindestlohn liegen. Man macht es aus Leidenschaft. Dann tut es aber auch weh, wenn andere das Werk – wie ein Teil von einem selbst – schlecht behandeln.

Doch immerhin: Mit langem Atem erreicht man das Ziel. Ich habe viel zu viele Ideen für das nächste Buch, ach was, die nächsten Bücher! Ich erarbeite Konzepte (liegend auf dem Sofa) und ich denke, sie sind auch gut. Aber viel weiter als das komme ich nicht. Ich fühle mich leer.

Trennung

Überhaupt fühle ich, dass ich wieder (mehr) fühle. Mir fällt auf, dass ich im April bis Juni ziemlich abwesend war – oder jedenfalls einen bestimmten Teil nicht gefühlt habe und wahrscheinlich auch nicht fühlen wollte. Dieser hatte mit einer Trennung zu tun. Die Beziehung war tief, wunderschön, schnell – und endete so plötzlich wie schmerzhaft.

Ich erinnere mich jetzt an den Satz meiner Exfreundin bei einem unserer letzten Gespräche: “Mich wundert, dass du gar nicht wütend wirst.” Monate später stimme ich ihr zu: Ja, das war, angesichts der Dinge, die gesagt wurden, eigentlich komisch. Ich habe es wohl erst einmal verdrängt, wollte das Semester durchstehen.

Ich komme zwar rational immer wieder zum selben Ergebnis, dass wir nicht zusammenpassten – dass es sogar besser ist, nicht mehr mit ihr zusammen zu sein. Aber ich muss mir jetzt eingestehen, dass ich mich noch mit ihr verbunden fühle, ja, dass sie mir fehlt.

Mir gefällt es nicht. Aber ich kann nichts daran ändern. Ich denke oft an sie – und an die Zukunft, die wir nicht gemeinsam haben können. Die wir nie haben werden.

Der Gedanke, dass ich mit 43 nicht mehr ewig neu anfangen kann und man dann vielleicht auch als Mann allmählich vom Familien- und Kinderwunsch Abschied nehmen muss, tut mir sehr weh.

Ich nehme Kontakt mit ein paar alten Freunden und Bekannten auf. Es kommen ein paar Verabredungen zustande. Doch ich bleibe die meiste Zeit: müde. Und allein. (Musiktipp: NTO “Invisible – Piano Version”.)

Bei der bereits erwähnten Tanzgruppe entschuldige ich mich mehrmals dafür, später zu kommen. Einmal gelingt es mir gar nicht. Ich weiß, dass dieses Hobby ein zweischneidiges Schwert ist: Die Bewegungen und Begegnungen tun mir gut; es kommt aber auch immer wieder zu Hoffnungen und Enttäuschungen. Wie dem auch sei, mir fehlt jetzt die Energie.

August

Das besser werdende Wetter ist ein Hoffnungsschimmer. Nach lebensbedrohlichen Stürmen und vor allem viel Regen wird es allmählich wieder wärmer und scheint häufiger die Sonne.

Ich gestehe mir jetzt ein, dass ich trauere. Die Rückenschmerzen verschwinden nach und nach. Dafür spüre ich ein Drücken auf dem Brustkorb – und auch Schmerzen im Herzbereich.

Am Morgen des 4. August rufe ich darum beim Hausarzt an. Es kann ja nicht schaden, das einmal organisch abklären zu lassen. Typisch Niederlande: Mein Hausarzt ist im Urlaub – doch ich darf vier Tage später zur Assistenzärztin kommen. (Es war an einem Freitag).

Einen Tag später besuche ich den Instagram-Account meiner Exfreundin. Sie hat ihn jetzt auf “privat” geschaltet und man sieht nichts außer dem Profilfoto. Ich schließe das Browserfenster wieder.

Doch dann fällt mir der Internetlink auf, der auf ihrer Seite stand. Ich gehe noch einmal auf ihr Profil und klicke darauf. Vor mir öffnet sich ihr Reisetagebuch.

Ziellos

Ich lese. Und lese. Und lese. Alles an einem Stück. Von über zwei Monaten.

Sie schreibt von ihrer Trauer am Anfang. Auf dem Weg mit dem Fahrrad durch Deutschland wird sie einmal für eine Obdachlose gehalten, als sie sich im Supermarkt einen Joghurt kauft und diesen auf einer Bank isst. (Daneben steht zufällig ein Bierkasten.) Sie hat einen Unfall.

Aber nach einem Monat geht es ihr besser und gewinnt sie an Kraft. Sie hat 8,5 kg abgenommen und sieht gut aus. Sie reist ohne Ziel. Hat ihre Wohnung und ihre Arbeit aufgegeben und entscheidet jeden Tag spontan, wohin die Reise geht. Durch Deutschland, Belgien, Italien, zurück über Frankreich nach Großbritannien, wieder zurück über die Niederlande, Deutschland, Schweiz, Italien.

Im Anhänger hat sie ihr Zelt. Manchmal ist sie ganz allein in der wilden Natur, übernachtet an einem totlaufenden Weg. Ich lese von gefährlichen Bergtouren, Gewitter unterm Baum (Hinweis: bitte nicht tun!) und ihren Begegnungen mit anderen Menschen. Sie schreibt wunderschön.

Ich sehe aber auch: Mein Leben ist das nicht. Ich will Wurzeln schlagen; sie hat ihre abgerissen.

Ich habe meinen Frieden damit. Schließlich lösche ich ihre letzten Spuren von meinem Smartphone. Weil wir monatelang so viel miteinander geteilt haben, dauert der Löschvorgang eine ganze Weile. Ich schaue zu, wie sich der Fortschrittsbalken wie in Zeitlupe auf meinem Telefon bewegt.

Die folgende Nacht liege ich fast vollkommen wach. Es ist ein komischer Mischzustand aus Spannung und Entspannung.

Bei der Hausärztin

Am Dienstagmorgen ist es dann so weit. Auch am Vorabend habe ich wieder im Reisetagebuch gelesen. Die Nacht schlafe ich wohl nur von ca. 5:45 bis 6:30 Uhr. Dann sieht die Ärztin immerhin, wie müde ich bin, denke ich mir.

Beim Fahrradfahren gebe ich mir mühe, aufzupassen. Es sind keine zehn Minuten zur Arztpraxis und am Morgen während der Ferienzeit ist sonst wenig Verkehr auf den Straßen.

In der Praxis ist kein Personal zu sehen. Am Empfang steht nur ein Schild, dass man im Wartezimmer Platz nehmen soll, wenn man einen Termin hat. Ich warte.

Die Assistenzärztin holt mich schließlich ab. In Gedanken habe ich noch einmal die wichtigsten Punkte geordnet, die ich in den zehn, maximal 15 Minuten nennen will. Die Frau Mitte 30 hört mir zu und stellt ein paar Fragen. Typisch niederländisch ist die Rückfrage: “Und was erwarten Sie jetzt von mir?”

Depressive Episode

Sie klopft und hört mich ab. Mir soll Blut abgenommen werden. Dafür muss ich aber am nächsten Morgen wiederkommen. Sie meint, dass ihr nichts auffällt – und stellt dann einige Fragen zum psychischen Wohlbefinden. Im Kopf zähle ich die neun Symptome der “depressiven Episode” mit (siehe dazu die Tabelle hier). Ich hatte das zuhause schon zur Vorbereitung getan und komme gleich noch einmal darauf zurück.

Bei dem Punkt, ob ich traurig sei, erwidere ich: Ja schon – mit ziemlicher Sicherheit würde ich mich aber nach ein paar guten Nächten sehr viel besser fühlen. Das akzeptiert sie als Antwort und wechselt dann das Thema. Nichts gegen die “depressive Episode” – doch diesen folgenreichen Stempel muss ich nicht unbedingt in meiner Patientenakte haben.

Ich sage noch, dass ich erst einmal kein rezeptpflichtiges Schlafmittel will. Sie empfiehlt mir etwas aus der Drogerie, das ich später kaufe. Produkte für besseren Schlaf gibt es viele – und billig sind sie nicht. Ich bin wohl nicht der Einzige mit dem Problem.

Zum Schluss erkundige ich mich, ob es noch die Möglichkeit für ein psychotherapeutisches Gespräch gibt. Die gibt es. Ich bekomme einen Termin für Anfang September. (Hintergrund: In den Niederlanden haben viele Arztpraxen solche Therapieplätze für die “erste Hilfe”. Das hat den verlockenden Namen: POH-GGZ, praktijkondersteuner huisartsenzorg geestelijke gezondheidszorg.)

Ich denke, dass es nützlich wäre, noch einmal systemtherapeutisch auf mein Leben zu schauen. Die POH-GGZ kann mir dafür vielleicht einen Platz vermitteln. Ich hatte schon drei langfristige Psychotherapien: kognitive Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundiert und zuletzt Schematherapie. Zwei davon haben mir sehr geholfen.

Geerdet

Die Nacht danach schlafe ich sechs Stunden am Stück – vielleicht zum ersten Mal seit Ende Juni. Und auch die folgenden Nächte bleiben gut. Selbst wenn ich zwischendurch einmal aufwache, kann ich wieder einschlafen und fühle ich mich am nächsten Tag erholt.

Ich bin an zwei Tagen an einem Ausbildungsinstitut in Amsterdam für einen Kurs über Podcasts. (Bleiben Sie gespannt!) Die Aktivität und auch das Zusammensein mit anderen Menschen tun mir gut.

Insgesamt stehe ich diese Woche viermal auf der Tanzfläche. Meine Füße verbinden sich wieder stabil mit dem Boden. Ich fühle mich stark. Erst gestern schwinge ich eine 1,80m große Tanzprinzessin über meine Hüfte und in den blauen Himmel über uns. Sie lacht. Die Zuschauer staunen.

Ein perfekter Sommerabend am Amsterdamer Hafen, “het IJ”

War es das Durchleben der Emotionen? Der Besuch bei der Hausärztin? Waren es die Ausbildungstage? Die Begegnungen mit anderen Menschen? Das Schlafmittel aus der Drogerie? Ich weiß es nicht – und eigentlich ist es mir gerade auch egal. Ich freue mich, dass es mir wieder besser geht.

Das Reisetagebuch habe ich übrigens nicht mehr aufgeschlagen. Aber ich habe mich von meiner Exfreundin inspirieren lassen und werde demnächst für eine (kleinere) Fahrradtour in die alte Heimat Wiesbaden aufbrechen. Das sind rund 400km.

Fazit

Natürlich bin ich in dieser Geschichte befangen. Ich kann nicht aus mir heraustreten. Ebenso wenig kann aber eine Ärztin oder ein Hirnforscher in mich hineintreten.

Manche werden vielleicht reagieren, dass das keine “echte” Depression war. Dem möchte ich entgegnen, dass es eine Konvention ist, was wir als Depression auffassen. Bis in die frühen 1980er war die Diagnose, Klinikaufnahme und medikamentöse Behandlung den meist als “melancholische Depression” genannten schweren Fällen vorbehalten.

Dann wurden die Kriterien immer weiter aufgeweicht (siehe z.B. Horwitz, 2010; Shorter, 2009). Heute werden in Deutschland genug “Antidepressiva” verschrieben, um rund 5 Millionen Menschen Tag für Tag damit zu versorgen. Das Problem scheint dadurch nicht kleiner geworden zu sein.

Bio Psycho Sozial

Was ich hier beschrieb, war eine Kombination körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren. Dabei spielten natürlich auch das Nervensystem und insbesondere das Gehirn eine Rolle. Es ist aber nicht plausibel, hinter solchen Erscheinungen schlicht eine “Erkrankung des Gehirns” zu vermuten, wie es einige führende Psychiater immer noch behaupten.

Als Hausaufgabe und für die Diskussion möchte ich noch einen Gedanken mitgeben: Wie viele der neun Symptome der “depressiven Episode” (siehe die Tabelle hier) ließen sich schlicht durch eine Schlafstörung erklären?

Trotzdem schlussfolgerte zum Beispiel Professor Ulrich Hegerl von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe in diesem Podcast mit Harald Schmidt und der Komikerin Hazel Brugger, es müsse an der Schilddrüse liegen. Dabei hatte Brugger direkt vor ihrer schweren Depression nicht nur chronischen Stress, Überarbeitung und die plötzliche Leere durch die Coronapandemie wegzustecken, sondern auch die Geburt ihres Kindes: Das hinderte die ohnehin von Schlafstörungen geplagte Frau noch mehr am Schlafen.

An solchen Fällen sieht man meiner Meinung nach sehr deutlich die Gefahr, Menschen aus Sicht der Hirnforschung zu entmenschlichen, zu dehumanisieren und zu entsubjektivieren. MENSCHEN-BILDER steht dem seit 2007 konsequent entgegen.

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83 Kommentare

  1. Die Beschreibung zeigt wohl auch, dass solche Episoden von den meisten irgendwie durchgestanden werden – ohne dass Ärzte, Psychologen oder Psychiater etwas davon erfahren.

  2. @Holzherr: Das stimmt schon – trotzdem kann es nichts schaden, auch nach organischen Ursachen zu forschen. Die Perspektiven müssen einander nicht widersprechen; sie können einander ergänzen.

    Manche Leute stören sich aber auch an einer psychologischen Erklärung. Die rennen dann Jahrelang von Arzt zu Arzt, lassen ewig diagnostische Verfahren über sich ergehen. Daran verdienen die Fachärzte gut. Auch die Radiologen wollen ja ihre 400.000 bis 500.000 Euro im Jahr irgendwie verdienen.

    Das ist hier in den Niederlanden besser geregelt, finde ich. Da konzentriert man sich mehr auf das, was wirklich notwendig ist. Die Fachärzte haben auch keine Privatpraxen, sondern sind an Kliniken angestellt.

    Dafür bezahle ich dann (als überdurchschnittlicher Verdiener) noch keine 200 Euro pro Monat, einschl. Zusatzversicherungen. Für die Laboruntersuchung werde ich wohl 50-60 Euro extra bezahlen müssen.

  3. Zum Stichwort Tanzen gerade heute in den Nachrichten:

    Deutsche sitzen immer länger (Mit negativen Folgen für die Gesundheit.)

    “Auch beim subjektiven psychischen Wohlbefinden deuten die Ergebnisse auf einen beunruhigenden Trend hin: Bei etwa einem Viertel der Bundesbürger seien die Ergebnisse kritisch – so, dass man sie als ersten Hinweis für die Entwicklung einer Depression ansehen könne. Dabei könne gerade regelmäßige Bewegung mehr Wohlbefinden bringen.”

    Tja! Warum nicht einfach noch mehr “Antidepressiva” verschreiben? Oder gleich ins Trinkwasser mischen.

  4. @Stephan Schleim: Bewegung/Aktivität wirkt nachgewiesenermassen antidepressiv.
    Ich denke schon, dass der Lebensstil wichtig ist für die psychische Gesundheit. Aber auch die Art wie man mit Problemen umgeht. Und diese Art auf etwas zu reagieren hängt stark von der Kultur ab. Aber auch von der Erziehung (die ja auch Teil der Kultur ist).

  5. @Holzherr: Bewegung & Co.

    Ich würde lieber sagen, dass wir soziale Körperwesen sind. Die “antidepressive” Wirkung gab es sicher auch schon, bevor wir bestimmte Probleme “Depression” genannt haben.

    Es heißt, in nicht so verwestlichen Kulturen würden Menschen ihre “psychischen” Probleme eher noch als körperliche Probleme ausdrücken (z.B. Bauchschmerzen statt Trauer oder Angst). Ich wollte dem schon immer mal genauer nachgehen.

    Beim Tanzen hat man nicht nur die Bewegung. In der Regel tut man es zusammen. Für mich ist das jedenfalls Perfekt. Und eine frühere Studentin schickte mir vor Kurzem eine Arbeit zu, in der tanzen auf dem ersten Platz stand, wenn es um die Prävention von Depressionen ging. Muss ich mir auch mal näher anschauen.

  6. Sehr informativer Beitrag und irgendwie entdecke ich Parallelen zum eignen Leben.
    Schlafstörungen sind die Ursache und gleichzeitig auch die Folge eines falschen Lebenswandels.
    Wer zu viel arbeitet hat Dauerstress, weil man zu wenig Zeit für sich selber hat.

    Wenn man die Möglichkeit nutzt, Urlaub von sich selber zu nehmen, dann sollte man damit anfangen.
    1. Schritt: die gewohnte Kleidung wechseln. Lassen Sie ihre Tanzpartnerin ein neues Outfit für Sie aussuchen und reden Sie ihr nicht hinein. Sie sind dann ein anderer Mensch.

    2. Schritt : Verreisen Sie mit ihr für mindestens 4 Wochen und zwar nicht nach Norddeutschland, es muss schon Süddeutschland sein. Landschaft hat Einfluss auf das Wohlbefinden.

    (Ich war entsetzt nach dem Urlaub in Ostfriesland. Die Menschen dort sind wie angepasste Sklaven. Alle Häuser sind rot geklinkert, in keinem Garten wachsen Wildblumen , deprimierend, wenn Sie mich fragen )

    3. Wenn das nicht klappt, reisen Sie ihrer Ex nach , schnappen sie sich, was dann kommt überlassen Sie dem Zufall. Überhaupt , geben Sie dem Zufall eine Chance !

    (Unser Neffe hat es so gemacht und hat mit über 50 vor einem Monat seine ehemalige Jugendfreundin geheiratet)

  7. “Tja! Warum nicht einfach noch mehr “Antidepressiva” verschreiben? Oder gleich ins Trinkwasser mischen.”

    Naja, noch ist es ja nicht soweit. Jeder Einzelne entscheidet ja selbst, ob er zum Arzt geht oder nicht. Freilich leben wir in einer Zeit, wo Panik und Angst zu Marketingzwecken eingesetzt wird. Da muß man sich eine harte Schale zulegen. Am Ende beißen wir ohnehin alle ins Gras -also immer schön locker bleiben.

  8. @Neumann: Beziehungen & Reisen

    Danke für Ihre Tipps. Ich habe schon die Insel Terschelling (Westfriesland) und Mumbai (Indien) im Auge; aber lieber nicht allein.

    Mit der Tanzprinzessin von gestern würde ich auch ans Ende der Welt reisen. Doch aufgrund des Alters- und Weltenunterschieds würde sie mich wohl schnell für einen Spießer halten und mir würde ein Leben langweilig, das nur aus Blumenpflücken und Festivals besteht. Zudem schien sie sich ganz gut mit einem Mann um die 30 vom Typ “Viking” mit Muskelpaket und langem Zopf zu verstehen. Und das ist doch gut. 😉

    Meiner Exfreundin hinterher radeln? Nein, der Zug (oder das Rad) ist wirklich abgefahren. Das sind auch nicht meine Dimensionen: Sie hat schon viele Tausend km und fragen Sie nicht wie viele Höhenkilometer überwunden. Tatsächlich hatte sie bereits einen Bewunderer, der ihr bis nach Großbritannien folgte. So geht das, wenn man seine GPS-Daten online stellt.

    Wissen Sie, manchmal trifft man jemanden, mit dem man sich gleichzeitig wie + und – von Magneten anzieht – und dann doch wie +/+ und -/- abstößt. Das ist auf Dauer nicht auszuhalten. Es müsste auch viel passieren, bevor ich ihr wieder vertrauen könnte. Wir sind einfach nicht füreinander geschaffen. Wie ich sah, hat nun ein netter Italiener in den Bergen ein Auge auf sie geworfen. Und das ist doch gut. 😉

    Und für mich, dass ich jetzt schon seit einer Woche nicht mehr in ihr Tagebuch geschaut habe.

  9. @Hilsebein: Marketing & Mental Health

    Dieses Marketing – oder wie man es auch nennt: “Mental Health Awareness” – sollte der Entstigmatisierung psychischer Störungen dienen. Meines Wissens ist das bisher noch nicht eingetreten; das ist uns auch die Biologische Psychiatrie schuldig geblieben.

    Aus Sicht von Psychiatrie & Pharma-Industrie könnte denen nichts Besseres passieren: Es ist eigentlich Gratis-Werbung und der Markt wächst… und wächst… und wächst. Bald ist die Störung die Normalität, wenn wir da nicht schon längst sind. (Siehe dazu den Anfang von Kap. 2 in meinem Buch.)

  10. Lachen hilft, selbst wenn es das von anderen ist oder sogar in albernen Sitcoms aus der Konserve druntergemischt wurde. (…Studienlage?)

    Das ist natürlich Geschmackssache, aber hier ein paar Tips die sich für mich während depressiver Phasen bewährt haben — besser als in schlaflosen Nächten zu grübeln auf jeden Fall.
    Friends und Tool Time (dt. Hör mal wer da hämmert — ein bescheuerter Titel, die Serie ist gar nicht so dumm) im Nachtprogramm.

    Auch gut, weil wunderbar albern: Siegfried & Joy.

    Und für wissenschaftlich Interessierte: The Bad Ad Hoc Hypotheses contest (BAHFest).
    BAHFest-Beiträge sind recht heterogen, zwei Highlights:
    https://www.youtube.com/watch?v=IvOtUh8Avi8
    https://www.youtube.com/watch?v=ZZ_BtZ-5O60 (hier ist die Dolmetscherin für Gebärdensprache ziemlich gefordert.)

    > drei langfristige Psychotherapien … Zwei davon haben mir sehr geholfen
    Jetzt bin ich neugierig — welche waren das? (Könnte ja was für mich dabei sein.)

  11. Stephan Schleim,
    wie sich die Geschichten gleichen. Unser Neffe ist auch old school mit festen Wertvorstellungen und sie ein Bondgirl mit Chili im Blut. Und trotzdem hat sie bei seinem Heiratsantrag geweint. Bei mir hat sie laut gelacht, weil ich ihren Nerv getroffen habe.(nicht bei einem Heiratsantrag), das ist eine andere Geschichte.

    Was ich damit sagen will, Frauen sind anders, sie können sie weder psychologisch noch philosophisch ergründen. Und das ist gut so.
    Als Tipp: ein Mann darf sich fast alles erlauben, Frauen verzeihen fast alles, eines aber nicht, wenn der Mann schwächelt.

    ,

  12. @Wort: Psychotherapie

    Solche Entscheidungen sind sehr individuell und auch stark vom Einzelfall (einschließlich der aktuellen Situation) abhängig; und dazu kommen die großen Unterschiede zwischen den Therapeuten. Selbst meine Kollegen aus der Praxis sagen, dass nur ca. ein Drittel der Psychotherapeut*innen gut ist. Da muss man auch etwas Glück haben.

    Aber wenn Sie fragen: Um die 20 machte ich eine kognitive Verhaltenstherapie. Die hat mir überhaupt erst einmal geholfen, zu verstehen, was Gefühle sind und wie man sie ausdrückt. Das wurde bei uns “zuhause” nicht vermittelt; und auf dem Gymnasium sowieso nicht. Nach ca. eineinhalb Jahren hatten die Therapeutin und ich den Eindruck, damit mehr oder weniger alles erreicht zu haben.

    Mitte 30 war ich dann bei einer tiefenpsychologisch fundierten Therapeutin hier in den Niederlanden. Das war auch eine Empfehlung der Verhaltenstherapeutin gewesen, auf dem Gebiet weiterzumachen. Teils wegen der vielen arbeitsbedingten Umzüge habe ich das aber immer wieder verschoben.

    Ich denke, damals hatte ich vor allem Probleme durch akuten Stress, allein schon durch permanente Lärmbelästigung aus verschiedenen Quellen in meiner Wohnung. Die tiefenpsychologischen Verfahren haben den Stress dann noch vergrößert. Das führte zu unangenehmen Folgen. Und diese Therapeutin hat auch einige formale wie inhaltliche Fehler gemacht. Bezeichnenderweise gab sie mir in der letzten Sitzung, bevor ich abbrach, den Tipp, mir doch eine ruhigere Wohnung zu suchen. Da hatte sie dann schon ihre Leistungen für schlappe EUR 10.000 anbieten können, über deren Höhe wir uns dann auch noch streiten mussten. Im Endeffekt haben wir einen Vergleich geschlossen.

    Damit will ich aber nicht behaupten, dass tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie nicht wirkt. Wie gesagt, es hängt vom Einzelfall, der Situation und dem Therapeuten ab.

    Zuletzt machte ich dann noch eine Schematherapie, im Prinzip auch eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie, die meines Wissens in Deutschland v.a. in Freiburg weiterentwickelt wird. Diese Therapeutin (immer nur Frauen!) war wirklich sehr sorgfältig und gewissenhaft und das Verfahren hat mir geholfen, so manches besser “einzuordnen”. Zufälligerweise hatte ich den Platz kurz vor Beginn der Coronapandemie bekommen, was für diese Zeit in Isolation auch nicht ganz schlecht war.

    In Psychotherapie sitzt man i.d.R. in einer Eins-zu-eins-Situation. Bei einer Systemtherapie, die ich im Artikel ansprach, schaut man wohl noch einmal mehr auf die sozialen Beziehungen. Hier in den Niederlanden scheint das Verfahren recht populär zu sein; in Deutschland wurde es erst vor wenigen Jahren zugelassen. Mal schauen.

  13. @Neumann: Schwache Männer?

    … ein Mann darf sich fast alles erlauben, Frauen verzeihen fast alles, eines aber nicht, wenn der Mann schwächelt.

    Hmm, wie verhält sich das dazu, dass manche Frauen nun sagen, sie wollten einen Mann, der sich auch mal schwach und verletzlich zeigt? Ich weiß nicht, ob man das so allgemein sagen kann.

    Zudem drückt man Männer dann wieder in diese Ecke, in der sie ihre Gefühle unterdrücken müssen. Und was machen sie dann? Saufen, Drogen, Risiko – wenn auch das nicht mehr hilft, aggressiv werden oder ein Suizidversuch?

    Ich weiß nicht, ob das das Männerbild ist, das man weiter vermitteln sollte.

  14. Stephan Schleim,
    Lebensansichten sollte man nicht verallgemeinern. Da haben Sie Recht.
    Ich möchte meine Meinung als Anregung verstanden wissen .

    Nebenbei, Wir machen viele Gruppenreisen und dabei lernt man andere Menschen näher kennen. Und das Männerbild mit Saufen, Drogen Risiko , das stimmt so nicht, die meisten sind stabil, bei einer Gruppenreise nach Italien war die Hälfte seit 50 Jahren verheiratet und einige sogar 60 Jahre verheiratet. Ich gehöre zur 50iger Gruppe.

    Übrigens , Wiesbaden zähle ich zu den schönsten Großstädten in Deutschland.
    Was ich dort erlebt haben ist mit Zufall nicht mehr zu erklären.
    Und eher das Gegenteil von Depression.
    Jetzt ruft die Wirklichkeit.

  15. @Neumann: P.S. Schwäche

    Dann müsste ich übrigens meinen Blogbeitrag am besten sofort löschen.

    Dabei finde ich es gerade stark, wenn man sich traut, Schwächen zu zeigen; unterdrücken kann jeder, zur Not eben mit Hilfsmitteln.

    Und auch wenn man sie nicht zeigt, hat man sie doch: Selbst die Soldaten in der Ukraine, auf beiden Seiten, erfahren mit Sicherheit Angst; berechtigte (Todes-) Angst. Sie sind jetzt in einem Überlebensmodus und funktionieren in diesem Sinne (einige werden zusammenbrechen). Den psychologischen Preis dafür wird man erst langfristig sehen (Traumata etc.).

    Ach, und – ist WI wirklich eine Großstadt? 😉 Aber schön, dass Sie ihnen gefällt.

  16. Stephan Schleim,
    mit einer kleinen Korrektur meinerseits brauchen Sie Ihren Blog nicht zu löschen.
    Wenn man eine Schwäche eingesteht ,braucht es Mut und das akzeptieren die Frauen. Frauen wollen mutige Männer.
    Mit “schwächeln” meine ich sich vor der Verantwortung drücken , abhauen, wenn es im Streit ungemütlich wird. Einen Konflikt aushalten , Haltung bewahren.

    Nachtrag für die, die Wiesbaden zu ruhig finden. Frankfurt ist nahe. Und auch noch ein Essenstipp: Frankfurter Grüne Soß !

  17. Lieber Herr Schleim,
    vielen Dank für Ihren persönlichen Erfahrungsbericht – und vor allem für die kritische Perspektive auf den naiven Mainstream der Psychotherapie 😉 letztlich kommt es wohl weniger auf die Therapietechnik an als auf das Menschenbild, welches Behandler vertreten und vermitteln. Leider liegt darin auch das größte Problem…Die Aussagen von Dr. Hegerl sind wirklich abgehoben – und ebenso typisch.

    Interessant finde ich Ihre Aussage: „Nichts gegen die “depressive Episode” – doch diesen folgenreichen Stempel muss ich nicht unbedingt in meiner Patientenakte haben.
    Das ist sehr ehrlich geschrieben (Chapeau!) und trifft einen wichtigen Punkt: Stigmatisierung, selbst innerhalb der Fachmedizin. Alles andere als lustig. Doch die wenigsten haben die Möglichkeit, sich gegen diese Etikettierung zu entscheiden.

  18. @Philosophin: Stigmatisierung

    Nun ja, am Anfang jedes Monats werde ich auf dem Kontoauszug daran erinnert, dass ich mir bei Stress proaktiv Hilfe gesucht und das später ehrlich angegeben habe, anstatt z.B. meine Probleme im Suff zu ertränken: Ich darf darum nämlich mehr für meine Hypothek bezahlen. (Ich kann es mir bis auf Weiteres leisten; andere nicht.)

    Haben Sie das hier schon gesehen, mit Jim van Os? “Es gibt keine Schizophrenie”

    Einen schönen Blog haben Sie da, inhaltlich wie gestalterisch.

  19. P.S. Der Stand bei der Psychotherapieforschung…

    …scheint wohl zu sein, dass alle Verfahren irgendwie helfen, wenn die therapeutische Beziehung zwischen Therapeut*in und Klient*in stimmt. (Stichwort: “common factors”)

    Fast so, als hätten zwischenmenschliche Beziehungen einen heilenden Effekt?!

  20. Stephan Schleim
    Der Begriff Überlebensmodus ist anschaulich.
    auch im Sport gibt es eine ähnliche Erscheinung. Man nennt es “runners high”,
    Der Körper schüttet das Hormon Endorphin aus und für kurze Zeit erhöht sich die Leistungsfähigkeit gleichzeitig mit einem himmlischen Gefühl.
    Habe ich selbst schon erlebt.

    Nun könnte ich mir vorstellen, dass eine seelische Belastung einer Höchstleistung im Sport gleichkommt. Irgendwann ermüdet die Psyche und kann nur noch durch Willenskraft am Arbeiten gehalten werden.
    Die Überbelastung der Psyche hat negative Auswirkungen bezüglich Schlaf, Motivation und Gedanken, was man als Depression bezeichnet.
    Das ist meine Vorstellung von Depression.

    Und wenn das so ist, muss man die seelische Belastung verringern und das geht meistens eben nicht. Familiäre Probleme lassen sich nicht so leicht beseitigen.
    Wenn z. B. die Familienehre beschädigt worden ist, dann ist die Belastung des Familienoberhauptes so hoch, dass es zum Schlaganfall mit tödlichem Ausgang kommt. Auch schon erlebt.

    Ich schreibe das deshalb, weil in meiner familiären Umgebung zu viele Menschen an burn out leiden, zu viele Selbstmord begangen haben, zu viele in ihrer Lebensqualität eingeschränkt sind.

  21. @Stephan Schleim
    Danke für Ihre Offenheit. Ich zeige mich auch mal ‘schwach’.
    Die beschriebene Wirkung der Schematherapie war mir neu. CBT hatte ich probiert, aber eine massivste Angststörung machte das bewilligte Jahr lang eine echte VT-Arbeit unmöglich. (Dem Therapeuten werfe ich heute vor, dass er das nach einigen Wochen hätte begreifen und auf eine andere Behandlungsart hätte drängen müssen.)

    Eine Schematherapie war nach diesem verlorenen Jahr vom CBTler angedacht worden. Nach einschlägiger Lektüre empfand ich sie aber zu sehr als eine Art Drill oder Umerziehung. Um so erstaunter war ich über ihre Erfahrung.

    Tiefenpsychologische Arbeit dagegen war sehr hilfreich. Nach längerem Suchen (~5 AnalytikerInnen, zT mehrere Sitzungen; in D wurden damals von den Krankenkassen für psychoanalytische Therapie max. 7 probatorische Sitzungen pro Quartal und Analytiker*in ohne vorherige Bewilligung bezahlt) fand ich jemand der sehr gut passte. Zugelassen als Analytiker und Psychotherapeut, sehr erfahren (macht zB. Supervision in hiesigen Psychiatrien), ~15J älter als ich (näher dran an Zeitgeist und Erlebnissen, die meine Eltern sehr geprägt haben), mit besonderem Engagement im transgenerationalen Bereich (Traumata, Schuld, … der Vorfahren, bes. der Eltern, aber auch des ganzen Kollektivs: in D Krieg, Holocaust, Lagerhaft, Vertreibungen, …). Ohne spezielle Bindung an eine der klassischen Schulen (Freud, Jung, Adler, Ferenczi, …), dafür flexibles Jonglieren einschließlich neuere integrierender Ansätze (bes. Bion, … ).
    Das ist eine langsame aber sehr tiefgreifende Veränderung, Befreiung und Reifung der Persönlichkeit, die diese tiefenpsychologische Arbeit bewirkt.

    Vielleicht haben Sie mit Ihrer Therapeutin einfach nur Pech gehabt; mglw zahlen auch die Kassen in NL nicht die probatorischen Sitzungen? Der Aufwand, jemand passendes zu suchen, lohnt sich m.E. sehr.

    Beim Lesen fiel mir spontan zu Ihnen ein (bitte fühlen Sie sich nicht gedrängt, sich durch eine Antwort hierauf ‘nackig machen’ zu müssen!) die Hochsensitivität. Reizüberflutung und Unruhe wären dann immer ein Problem, das Leben muss entsprechend angepasst werden (Arbeitsplatz, Rückzugszeiten und -Räume). Außerdem, da Sie systemische Therapien erwähnten: Ein Blick auf mögliche transgenerationale Inhalte/Prägungen/Folgen könnte zusätzliche Klarheit bringen; mglw. gibt es eine emotionale Erstarrung, Betäubung und Nichtkommunikation der (groß)elterlichen Kriegsgeneration; das ist recht häufig in D.

    (Weiter gefasste Empfehlung: Isobel S, Goodyear M, Furness T, Foster K. Preventing intergenerational trauma transmission: A critical interpretive synthesis. J Clin Nurs. 2019. Sehr gut, weil sie a) ihrer Analyse nicht mit dem starren Rahmenwerk einer Meta-Analyse und Scoring-System die vorbestehenden Ansichten aufgezwungen haben und b) nicht durch den Tunnelblick der Anwender nur eines Therpieverfahrens eingeschränkt sind.)

    Da sich das Gespräch jetzt der Schizophrenie zuwendet, möchte ich hinweisen auf G. Roggendor, K. Rief: Schizophrenie — Ein Denkausbruch mit Folgen – eine Positivtheorie. Verlag Gisela Roggendorf 2006.
    Die Autorinnen beschreiben Schizophrenie als ein sozial hervorgerufenes Phänomen (auf Grundlage genetischer Vulnerabilität). Eine Überanpassung des Klein(st)kindes an Andere führt zu verminderter Entwicklung eines eigenen Selbstes, das sein Leben und seine Erfahrungen als die eigenen erleben kann. Daraus leiten die Autorinnen viele Symptome der Schizophrenie plausibel ab.

    Winnicott beschreibt etwas ähnliches hier.
    https://www.sas.upenn.edu/~cavitch/pdf-library/Winnicott_EgoDistortion.pdf

    (Die Begriffe True Self und False Self bei Winnicott sind etwas irreführend, wenn man die Beschreibung und Entwicklung liest. Ich vermute, er hat sie zuerst in seiner analytischen Arbeit mit Erwachsenen geprägt, die ihre Erfahrungen so formuliert haben dürften; später bei Beobachtungen in seiner pädiatrischen Arbeit hätte er treffendere Bezeichnungen wählen sollen. Dies ist aber spekulativ; ich habe keine Biographie gelesen. Dieser Autor
    https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1002/psaq.12159

    ($$) sieht es ähnlich:
    “My contention is that Winnicott’s clinical thinking and practice form the basis on which he constructed his theory of infant development in relation to the environment, as well as his important contributions on the birth and development of the self and the transitional area.”)

    Re fragile Männlichkeit: hat nicht kürzlich ein AfD-Funktionär behauptet, wenn man rechts wählt, “dann klappt’s auch mit der Freundin”? Michael Blume hat nebenan auch was dazu:
    https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/fuerchten-fragile-maenner-das-wasser-von-maennerfantasien-und-petromaskulinitaet/

  22. @Wort: Therapie

    Danke für Ihre Erklärung – die zeigt, wie vielschichtig die “Seele” und ihre Problematik sein kann.

    Wie ich in meinem Kommentar schon schrieb, leite ich aus einer einzelnen Erfahrung (N = 1) keine allgemeine Aussage ab. Im Übrigen hatte meine kognitive Verhaltenstherapeutin damals auch schon etwas tiefenpsychologisch gearbeitet. In der Praxis sind die Grenzen ja nicht so scharf, wie im Lehrbuch.

    Ich kenne durchaus Leute, die sich “hochsensitiv” nennen; die haben es in unserer heutigen Gesellschaft nicht unbedingt leicht. Zum Glück habe ich diese Problematik wirklich nur, wenn ich einige Nächte schlecht geschlafen habe. Im “Normalzustand” brauche ich sogar ein gewisses Maß an Reizen, weil ich mich sonst schnell langweile.

  23. @Schleim
    Stigmatisierung
    Ja, die lieben strukturellen Nachteile einer psychiatrischen Diagnose. Aber hey – dieses “private Schicksal” …teilen Sie mit vielen anderen Menschen 😉 Jetzt im Ernst: Was Sie beschreiben ist echt bitter. Ich wollte Ihnen mit meinem Kommentar übrigens echt keinen Vorwurf machen

    Mein Blog – Herzlichen Dank!!! ;-D

    Schizophrenie
    Okay, van Os spricht von Risikogenen, mir sagt die Interpretation von T. Fuchs mehr zu: existenzielle Vulnerabilität (Plessner, Gehlen etc.), klingt nicht so nach reiner Biologie 😉 …Grundsätzlich sind die Aussagen im Artikel gut gemeint.
    Was mir aufstößt, ist, dass die Problematik wieder im Individuum verortet wird. Ist das nicht ein neoliberalistisches Narrativ? Tatsächlich gibt es mehr diskussionswürdige Stellen im Text, aber das evtl. an passender Stelle ^^

    Psychotherapieforschung
    Ich habe auch den Eindruck, dass neben einem sozialen Netzwerk auch heilsame Begegnungen ein Schlüsselfaktor im ganzen Geschehen sind – Jaspers sprach innerhalb der Psychotherapie von existenzieller Kommunikation: der anfragenden, ebenbürtigen und offenen Haltung zum Du. Jedoch ist gerade die kaum zu finden (zumindest nach meiner persönlichen Erfahrung und den Berichten, die ich von anderen Betroffenen erhalte).

    Ob es nur die heilsame Begegnung braucht, stelle ich jetzt mal in Frage. Auch der Faktor Zeit wird viel zu sehr unterschätzt und könnte erst den notwendigen Freiraum zur “Heilung” eröffnen. Es soll ja durchaus Fälle geben, in denen eine depressive Phase von alleine endet. (aber auch wiederkehren kann, wenn man das Problem nicht angeht)

  24. @Philosophin: Zeit

    Fuchs ist immer eine gute Referenz. Haben Sie mitbekommen, dass er den Erich-Fromm-Preis verliehen bekam?

    Van Os habe ich gar nicht so individualisierend in Erinnerung. Die letzten Jahre hat er sich sehr der Religion zugewandt. Na ja.

    Ich würde nicht bestreiten, dass es “Risikogene” gibt. Sie erklären aber nur einen sehr kleinen Teil. Der mir größte bekannte Risikofaktor für “Schizophrenie” bleibt mit Abstand: Migration.

    Was ist mit Problemen, die man nicht “lösen” kann? Z.B. ohne versorgende Eltern aufgewachsen zu sein, kann man nicht einfach so wettmachen. Solche Wunden heilt auch nicht unbedingt die Zeit. Man muss damit leben. Irgendwie.

    P.S. Ich hatte Ihren Kommentar nicht als Kritik aufgefasst. Wieso denn?

  25. @ Inkognito-Philosophin:

    Jaspers sprach innerhalb der Psychotherapie von existenzieller Kommunikation: der anfragenden, ebenbürtigen und offenen Haltung zum Du. Jedoch ist gerade die kaum zu finden (zumindest nach meiner persönlichen Erfahrung und den Berichten, die ich von anderen Betroffenen erhalte).

    Psychiater wie Karl Jaspers oder Ronald Laing, die für einen ehrlichen Kontakt bereit und fähig waren, waren eben absolute Ausnahmen. Ein alter Freund nannte einen leitenden Psychologen einer großen Klinik immer “Mr. Hollywood” – eben da der Psychologe eine so große Maske im Kontakt mit Patienten trug dass es schon absurd wirkte.

    Übrigens, geile Homepage! Ich habe eben ca. 40 Minuten auf Ihrer Homepage gelesen, besonders die Profile zu den berühmten Kranken sind klasse.

  26. @ Inkognito-Philosophin

    “Jaspers sprach innerhalb der Psychotherapie von existenzieller Kommunikation: der anfragenden, ebenbürtigen und offenen Haltung zum Du. Jedoch ist gerade die kaum zu finden”

    Ich fand ein Du im Selbstgespräch. Ebenbürtiger und offener kann es meiner Meinung nach nicht zugehen.

  27. Ich kann hier leider nur über meine eigenen Beobachtungen an mir selbst schreiben.
    In den letzten 70 Jahren war ich praktisch ständig zu müde für praktisch alles,
    aber praktisch ständig fröhlich, zufrieden, und relativ ausgeglichen.
    Jede Art von Sport oder Arbeit war sehr unangenehm, erhöhte die Müdigkeit deutlich,
    und verringerte die Fröhlichkeit ein wenig.
    Notgedrungen musste ich volle 40 Jahre arbeiten, aber jetzt bin ich endlich in Pension.
    Ungefähr jede dritte Nacht habe ich Albträume, dass ich die Nacht durcharbeiten muss,
    oder dass ich stundenlang völlig erschöpft bergsteigen muss.
    Das Denken hat mich noch nie ermüdet, davon kommen auch unter anderem meine Science-Fiction-Kurzgeschichten.
    Meine Science-Fiction-Geschichten waren früher umso gewalttätiger, je mehr ich arbeiten musste.

  28. @Stephan Schleim
    Nö, ich bestreite Risikogene gar nicht, das wäre ja irre ^^ Allerdings will ich sie nicht als einzige Erklärung gelten lassen, das ist zu einseitig und wird der Vielfalt an menschlichen Seinsweisen nicht gerecht. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht sagen, da laufe ich offene Türen ein 😉

    Bzgl. van Os: Sorry, evtl. hab ich mich an einzelnen Formulierungen aufgehängt und die aus dem Kontext gerissen. Phrasen, wie „sich anpassen“, reizen mich ^^

    Bzgl. Zeit:
    ich will nichts pauschalisieren, das scheint nach meiner Erfahrung nicht der richtige Weg. Zeit allein heilt bestimmt nicht alle Wunden, ich meinte das vielmehr in Verbindung mit Therapie.
    Oder noch mal anders ausgedrückt: die beste Therapeuten-Patienten-Beziehung oder Interventionen bringen nichts für sich allein, wenn die restlichen Bedingungen, die ebenso mit dem Krankheitsgeschehen verflechtet sind, unverändert bleiben oder ignoriert werden.

    @Philipp
    Da haben Sie Recht, das waren damals schon Ausnahmeerscheinungen. Es ist nur unglaublich, wie die Lehren sang- und klanglos verpuffen. Zumindest, was die Praxis der Psychotherapie betrifft.

    Super Anekdote bzgl Psychiatern. Tatsächlich wirkt es so, als hätten manche Angst vor ihren Patienten.

    Herzlichen Dank für das Feedback zum Blog! ^^ Freut mich riesig!!!

    @Dietmar Hilsebein
    Sokrates bzw. Platon sprach vom Philosophieren als Selbstgespräch der Seele. Allerdings ist das nur eine Art oder eine Stufe davon. Kein Mensch ist eine Insel – der Austausch mit anderen entspricht einem tiefgreifenden Bedürfnis des Menschen.

    Nochmal Jaspers: „Ein einziges isoliertes Bewusstsein wäre ohne Mitteilung, ohne Frage und Antwort, daher ohne Selbstbewusstsein. (…) Es muss im anderen Ich sich wieder erkennen, um sich als Ich in der Selbstkommunikation gegenüberzustellen und um das Allgemeingültige zu fassen.”

  29. @Philipp, Philosophin: Therapeutische Persönlichkeiten

    Philipp und ich haben beide, denke ich, das Psychologiestudium von innen erlebt. Da gibt es genauso viele Menschen mit psychischen Problemen/Störungen, wie auch in der Gesamtbevölkerung, wenn nicht sogar mehr.

    Besonders suspekt sind mir diejenigen, die immer “anderen helfen” wollen, doch nicht auf den Gedanken kommen, erst einmal sich selbst zu helfen. Ich denke, dass es um eine kleine problematische Minderheit geht, doch auch die kann – auf den entsprechenden (Führungs-) Posten – großen Schaden anrichten.

    Ich könnte Ihnen da Geschichten über Psychiatrie-Direktoren erzählen – die sind leider zu ernst, um sie hier in die Kommentare schreiben zu können. Zum Glück gibt es heute zwar mehr Transparenz und Kontrolle als früher, doch bei weitem noch nicht genug.

    Früher waren die Psychiatrien ja nicht zufällig wie Kasernen angelegt, die “Irrenhäuser” weit außerhalb der Stadt, mit dem Direktor als eine Art Alleinherrscher an der Spitze. Da konnte man dann mit extremen “Therapieverfahren” experimentieren, wie Eiswasser-, Insulin- oder Elektroschocks usw.

    Do no harm.

  30. @Philosophin: Jetzt sind Sie aber in gewisser Weise meiner Frage ausgewichen: Was, wenn es für bestimmte Probleme/Erfahrungen/Schäden keine “Heilung” gibt?

  31. @Neumann: Frauen & Männer

    In meinem Bekanntenkreis ist Ihre Aussage

    Was ich damit sagen will, Frauen sind anders, sie können sie weder psychologisch noch philosophisch ergründen. Und das ist gut so. Als Tipp: ein Mann darf sich fast alles erlauben, Frauen verzeihen fast alles, eines aber nicht, wenn der Mann schwächelt.

    einigen Frauen (Mitte 20 bis Anfang 30) ganz schön auf die Nerven gegangen. Zu Ihrer Verteidigung gab ich zu bedenken, dass es hier wahrscheinlich einen bedeutenden Generationenunterschied gibt.

    Jedenfalls ist das heute nicht mehr so en vogue, mit “Frauen sind so”- und “Männer sind so”-Verallgemeinerungen zu hausieren. Frauen sind verschieden; Männer auch.

    Aber in einem Punkt könnte man weiterforschen: Auf der Tanzfläche wünscht sich meiner Erfahrung nach die große Mehrheit der Frauen einen Partner, der sie gut führt (mein Tipp an die Männer: Einmal die Rollen tauschen, das hat mir nach vielen Jahren die Augen geöffnet!); und in der Beziehung wohl die “starke Schulter zum Anlehnen”. Wo lehnt man sich als Mann an?!

  32. @Inkognito Philosophin – Was mir aufstößt, ist, dass die Problematik wieder im Individuum verortet wird. Ist das nicht ein neoliberalistisches Narrativ?
    Weil er es am Nicht -Vorhandensein eines “gesunden Selbst” festmacht?

    Aber wenn es stimmt, dass ein Kind, um “ein Erwachsener” zu werden, ein Selbst braucht, ist da doch gar kein Individuum, wenn dieses Selbst lernen musste, den (souveränen) Erwachsenen nicht zuzulassen – oder?
    Und dann kann es auch nicht in dem Sinne “neoloiberalistisch” sein – auch wenn es dem Narrativ natürlich Tür und Tor öffnet.

    (Ihren Blog hab ich grade erst entdeckt, da werde ich später noch drin stöbern.)

    @Stephan Schleim – Was ist mit Problemen, die man nicht “lösen” kann? Z.B. ohne versorgende Eltern aufgewachsen zu sein, kann man nicht einfach so wettmachen. Solche Wunden heilt auch nicht unbedingt die Zeit. Man muss damit leben. Irgendwie.
    Reparenting?
    Ist (für mich) Inhalt jeder Therapie, ich wüßte nicht, wie man als Behandler darum herum käme.
    Und: man muss ja auch die “versorgenden Eltern” loslassen können, weil man sonst kein Verständnis für “die Deppen um einen herum” haben kann.

    Den Ausführungen zum “Selbstgespräch” kann ich zwar zustimmen, aber da fehlt mir genau dieser Aspekt: diese innere Stimme wie ein wohlwollendes Elternteil in Frage stellen zu können, auf das es sich weiter entwickeln kann. Und so, wie Eltern ihre Kinder loslassen müssen (und ein spirituell interessierter Erwachsener seine Identifikationen), “wächst” auch die Instanz, mit der man sich in Gedanken unterhält, wenn man sie in Frage stellen kann.

    Und genau das ist auch, imA. die Antwort auf vermeintlich unheilbare (psychische) Krankheiten: es geht ja gar nicht um “Normalität”, sondern darum, sein Leid loszulassen und “das Leben” aushalten zu können.

    Ich hab inzwischen ziemlich lebhaften Kontakt zu meinem “inneren Kind” – ich finde es paradox, einerseits zu leiden und andererseits anzunehmen, diese Instanz sei “verloren” — wer leidet denn dann?
    Es geht nicht um “die Eltern” die vor langer Zeit was nicht geschnallt haben, es geht um´s Jetzt und dass man sich selbst beisteht. Bzw. dem Kind in sich selbst, das einen immer noch liebt und geliebt werden möchte.

    @Karl Bednarik – Ungefähr jede dritte Nacht habe ich Albträume, dass ich die Nacht durcharbeiten muss,
    oder dass ich stundenlang völlig erschöpft bergsteigen muss.

    Das ruft die Ergotherapeutin in mir auf den Plan (ich will nicht helfen, aber was vorschlagen. Sie sollen es nicht unbedingt so machen, aber über eine Rückmeldung wäre ich dankbar):
    Erzählen sie sich eine “Gute-Nacht-Geschichte”, die was damit zu tun hat, dass sie arbeiten sollen, die aber – irgendwie – gut ausgeht.
    Sei es, das sie´s endlich schaffen und zu einem Ende kommen, oder diesmal Spass dran haben, oder den Job einem andern geben können, den Job anlehnen, den Job verkacken und daran Spass haben, oder zumindest beim kraxeln die Aussicht genießen – irgendwas.
    Aber machen sie sich (ihrem Unterbewusstsein) klar, dass nicht “das Problem” das Problem ist, sondern dessen fehlende Lösung. (Bzw. in der Realität wäre es ja keine Lösung, wenn man nix mehr tun würde.)

    Aber diese “nicht-Lösung”, also dass sie ihre Ruhe wollen, ist ihr gutes Recht.
    (Ich persönlich finde ja seit Jahren, dass “Müßiggang” eine Kunst ist, die gelernt sein will.)

  33. Vorbemerkung: mein Kommunikationsstil im Netz ist leider wenig dialogisch, eher dozierend. Ich hoffe, dass trotzdem jemand einen Nutzen darin findet.
    —-

    Ich würde nicht bestreiten, dass es “Risikogene” gibt. Sie erklären aber nur einen sehr kleinen Teil. Der mir größte bekannte Risikofaktor für “Schizophrenie” bleibt mit Abstand: Migration.

    Wissen Sie mglw. neuere Statistiken? Mein Stand ist 2006; Roggendorf (^^ sorry, oben fehlte ein ‘f’) und Rief fanden keine auffälligen Auslöser, nur eine schwache Häufung nach Einberufung zum Militärdienst. Sie erklären das plausibel: Eine Situation des Zwangs zur Anpassung, von äußerer Organisation bis zum Schlafrhythmus besteht Fremdbestimmung statt der Möglichkeit, eigenen Impulsen und Bedürfnissen zu Folgen. Ein eh’ schon wenig starkes Ich (im Sinne von Winnicotts True Self) ist dann überlastet mit dem, was unverstanden in ihm selbst hier reagiert.

    Hier passt der psychoanalytische Ansatz von Bion, der versuchte die bisherigen Schulen zu integrieren. Er fand als Kern die Verwandlung von (in sich) Unverstandenem in Verstandenes und damit Handhabbares, indem Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten angeboten werden (“Mentalisierung”, bei Freud schon als “Wo Es ist soll Ich werden”). Im gesunden Leben geschieht dies in ausreichendem Mass durch Eltern und weiteres Umfeld, durch deren Reaktionen und Spiegelungen (“Dir ist kalt, oder?”, “Whoa, hast Du aber eine Wut!” — natürlich nicht ironisch!).

    Wo nötig, geht dies nachholend in Analyse/Therapie; hier darf der/die Behandelnde gerade nicht unpersönlich kalt-sachlich sein, sondern muss “mitschwingen” (ohne auszuagieren, die Therapeutische Abstinenz ist notwendig). Das scheint mir der gemeinsame Wirkfaktor aller Therapien zu sein, problemspezifisch angepasst je nach Therapieform.

    (Daher sind Wirksamkeitsstudien die auf die Therapieform fokussieren wenig nützlich, viel aufschlussreicher wären Erkenntnisse zu den Persönlichkeiten der Therapierenden und die Arten und Qualitäten der Interaktion, in Bezug auf Therapieerfolge.)

    Leider wählte Bion eine Etikettierung, die nicht sehr verständlich ist (“Alpha” und “Beta” Inhalte):
    “Bions Raster erinnert an eine mathematische Tabelle oder das Periodensystem der Elemente; doch es geht hier nicht um Quantifizierung, sondern um eine möglichst genaue Qualifizierung des psychoanalytischen Materials. Dabei verwendet Bion symbolische Begriffe und Abkürzungen. „Beta-Elemente“ etwa sind unverdaubare, rohe Körperzustande, die noch nicht mentalisiert sind, also Vorläufer von Gedanken. Sie gelangen in den Körper, die Wahrnehmung oder das Verhalten und manifestieren sich als psychosomatische Dysfunktionen, Verzerrungen und Halluzinationen oder symptomatische Handlungen. Demgegenüber sind „Alpha-Elemente“ emotionale Erfahrungen, die gedacht und geträumt werden können. Dabei ist der Säugling auf die Mutter angewiesen. Als „Container (C)“ übernimmt sie dessen Beta-Elemente, etwa die Todesfurcht, „entgiftet“ sie und gibt sie dem Säugling in erträglicher Form als Alpha-Elemente zurück. Sie wirkt also als „Alpha-Funktion“. Damit ist der psychische Prozess der Erlebnisverarbeitung gemeint. Wie er genau funktioniert, ist nicht bekannt, der Begriff dient Bion dazu, „die Lücken in meinem Wissen (…) zu füllen“. Klar ist: Auch Erinnern und Vergessen sind nur durch Alpha-Funktion möglich.”
    (https://www.aerzteblatt.de/archiv/229197/Wilfred-Bion-(1897-1979)-Mystiker-der-Psychoanalyse)

    Der Ausbruch der schizophrenen Episode ist aus dieser Perspektive ein Wechsel zum Navigieren in einer neuen Welt für die gültige Karten (“Alpha”) fehlen, nur getrieben und fehlorientiert durch “Beta”-Material.

    Migration als Auslöser würde in dasselbe Deutungsschema passen, insofern als hier die bisherige soziale und individuell zwischenmenschliche Resonanz und Spiegelung teilweise weggefallen ist. Die gelernten Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten gelten nicht mehr und in der neuen Kultur gibt es keine Elternfiguren die neue Deutungen erlernen lasssen, und neue passende Verhaltensweisen. Etwa das erotisch/sexuelle Beta, für das in einer liberalen, die Frauen nicht versteckenden Kultur kein respektvolles Alpha gebildet wurde (nicht, dass das nicht auch in unserer Kultur noch ein Problem wäre!).

    (So gesehen, sollten ankommende Migrierende verstreut individuell und persönlich betreut werden, statt sie in Lagern zusammenzufassen und zu verwalten, das ist kontraproduktiv.)

    In primitiveren Kulturen gibt es wenig Rückfälle nach schizophrenen Episoden, weil neue, auf die Besonderheit des Individuums eingehende Deutungen und Rollen zur Verfügung stehen und die Akzeptanz höher ist. Wer von einem Dämon besessen war ist nicht für immer ein schlecherer Mensch. Der Druck, eine Normalpersönlichkeit zu sein ist geringer, und zusätzliche Probleme durch Stigmatisierung sind geringer.

    > Nochmal Jaspers: „Ein einziges isoliertes Bewusstsein wäre ohne Mitteilung, ohne Frage und Antwort, daher ohne Selbstbewusstsein. (…) Es muss im anderen Ich sich wieder erkennen, um sich als Ich in der Selbstkommunikation gegenüberzustellen und um das Allgemeingültige zu fassen.”

    Jupp. Martin Buber wäre auch zu erwähnen.

    —-

    Zur Stigmatisierung Depressiver: Hier finde ich es sinnvoll zu unterscheiden zwischen sozialer Akzeptanz und beruflichem Makel. Der Arbeitgeber sieht die Kosten durch Arbeitsausfall; die Gesellschaft kann (je nach Subkultur) durchaus verständnisvoll sein. In den ersten Jahren nach Robert Enkes Suizid zB. konnte man mit dem Hinweis “Ja, so sieht Depression aus wenn man kein berühmter Torwart ist” die im Gespräch fühlbare Abwertung durchaus mildern bis beseitigen.

  34. Stephan Schleim,
    der Vorschlag mit dem Tanzen ist gut.
    Bei mir funktioniert das nicht, da ich mich nicht führen lasse. Ist wahrscheinlich ein Generationenproblem.
    Das Rollenverständnis hat sich sicher gewandelt. Aber nicht grundsätzlich. Zwei Generationen unter mir, also der Enkelgeneration gibt es auch eine klare Trennung. Das kann man bei Tanzveranstaltungen beobachten.
    Und auch schon bei den Kindern ist die Rollentrennung vorhanden. In Spanien hat man eine Umfrage bei 10jährigen gemacht. Was möchtest du werden ?
    Bei den Jungen haben 3/4 geantwortet: Stierkämpfer, bei den Mädchen hat über die Hälfte geantwortet: Prinzessin. Die älteren Mädchen geben als Antwort: Model.
    Hollywood ist sicher nicht unschuldig an dieser Entwicklung.
    wir waren vor ein paar Jahren bei einer Gipsy-Hochzeit in Irland. Die Kutsche war fast rund und aus durchsichtigem Kunststoff, 4 weiße Pferde davor und die Braut und die Braujtungfern in weißem Tüll. Kein Regisseur in Hollywood hätte das besser machen können. Das ist auch Realität! Das war ein Märchen in der Wirklichkeit. Ich erinnere mich jetzt noch lebhaft daran.
    Solche Erlebnisse hat man nicht alle Tage und das ist auch gut so.

  35. @Viktualia: Von dieser Innere-Kind-Arbeit hört man ja immer wieder; ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Ich denke, manche Dinge muss man auch einfach akzeptieren.

  36. @ Auf der Tanzfläche wünscht sich meiner Erfahrung nach die große Mehrheit der Frauen einen Partner, der sie gut führt
    Meine Güte, Jungs, wenn ich mich – als Frau – schon führen lasse, dann sollte auch was dabei rumkommen können.

    Frau will nicht “geführt werden”, sie will, wenn sie die Führung abgibt, nicht ins straucheln kommen.

    Wie jeder normale Mensch.

    @Noch´n Wort – Danke für den link zu Bion und dessen Ideen zur “Mentalisierung”.

  37. @Neumann: Geschlechtsrollen

    Um sich führen zu lassen, muss man auch einmal loslassen; diese Erfahrung gönne ich jedem, wenigstens einmal im Leben.

    Hier bestreitet, glaube ich, niemand, dass es Geschlechtsrollen gibt. Aber auch aus den Vorlieben von Zehnjährigen kann man nicht darauf schließen, ob das angeboren ist oder nicht – denn auch die haben viele Jahre Rollenvorbilder, Fernsehen usw. hinter sich. Ich denke, dass so ein dualistisches Frau-Mann-Schema für Menschen mit niedrigerer Intelligenz (z.B. Kinder) einfacher zu verstehen ist und Orientierung bietet.

    Auch ich habe mitbekommen, dass in feministischen Diskussionen verboten wurde, Frauen mit der Farbe pink/rosa zu verbinden. #pinkstinks Und dann schaue man sich jetzt den weltweiten Erfolg des Barbie-Films an!

    Manchmal liegt es nicht nur daran, was man sagt, sondern auch wie: Die Feststellung, dass viele Jungen Stierkämpfer und Mädchen Prinzessinnen werden wollen, ist etwas anderes als die These, dass das “natürlich” ist oder sie es gar sollen.

  38. @Viktualia: Man (bzw. frau) tanz also, um “nicht ins Straucheln zu kommen”? Warum überzeugt mich das nicht? 🤔 🤭

    (Meiner Erfahrung nach tanzt man für ein schönes gemeinsames Erlebnis in einem sicheren Umfeld. Derjenige, der sich führen lässt, genießt die Zeit, einmal weniger Kontrolle zu haben bzw. haben zu müssen; manche schließen sogar die Augen. Dann kann man eben den Körper, die Musik, die Führung erfahren und alles loslassen. Daraus kann sogar eine extatische Einheitserfahrung entstehen, die “süchtig” macht.)

  39. @Stephan Schleim – inneres Kind
    (Als ich eben schrieb, war ihr Post noch nicht zu sehen.)

    Ich beziehe mich nicht (oder nur kaum) auf die Literatur zum Thema*, ich meine wirklich, dass es (innerlich) bei mir auf dem Schoss sitzt und mich anstrahlt.

    Und das seit ich akzeptiert habe, dass ich, wenn es mir schlecht geht und meine, “mich ändern zu müssen”, ich mich damit selbst im Stich lasse. (Ich muss ja nur die Situation ändern, ich bin ja grundsätzlich in Ordnung…)
    Mich zu trösten ist eine bedeutend bessere Art, mir meine Handlungsfähigkeit zu “beweisen”.
    Bzw. ich beweise mir nix, ich schaue nur hin und bin jedes einzelne Mal gerührt davon, wie ungebrochen diese “unschuldige Liebe” ist.

    (Ist ne lange Geschichte, die mit dem Suizid eines Kollegen begann, aber letztlich dazu führte, “abgespaltene Anteile” wieder zu integrieren, meine eigenen “Wurzeln” betrachten zu können.)
    ————————-
    * Kennen sie “Das Kind in mir will achtsam morden”? Karsten Dusse. Köstlich. Da werden beide Theorien (Achtsamkeit und inneres Kind) in einem Krimi verwurstet. Lesenswert.

  40. Stephan Schleim,
    Das Beispiel mit den Farben zeigt, dass Rollenbilder auch der Mode unterworfen sind.
    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Rosa die Farbe für männliche Babies und Hellblau für Mädchen. Jetzt ist es umgekehrt.

    Beim Verhalten von Kindern, die noch gar nicht mit Fernsehen in Berührung gekommen sind, sind biologische Unterschiede erkennbar. Bei Kindergeburtstagen mit Kleinkindern bis 5 Jahren sitzen die Mädchen in einer Ecke und ziehen ihre Puppen an.
    Bei den Jungen dagegen wird gekämpft und gestochen was das Zeug hält. Die haben einfach mehr “Kraft.” Das ist nicht bösartig, das ist ein Zeichen von vitaler Lebensfreude.

    Das Kämpfen und die Freude am Kämpfen scheint den Jungen angeboren.
    Deswegen sind auch Kampfsport und Kampfspiele bei den Jungen und Männern beliebt. Fußball ist unter anderem auch ein Kampfsport, offiziell nicht, wenn man aber ein Spiel miterlebt, dann wird dabei gekämpft und gefoult.
    Beim Eishockey wird das noch klarer. Bei einem Mannheimer Verein begrüßten die Zuschauer der Spieler Batscheck mit dem Ruf : Blut, Batscheck, Blut! Dann war die richtige Stimmung im Stadion.

  41. @Stephan Schleim – Tanzen
    Uppsala, ich hätte erwähnen sollen, dass ich auch unglaublich gerne tanze – aber keine “Standarttänze”, also paarweise.
    Ich genieße die Bewegung zur Musik, kann tanzend besser “polyphon hören”, also verschiedenen Stimmen folgen.

    Nein, frau möchte nicht (generell) geführt werden, sondern wenn ich mich auf wen einlasse, möchte ich nicht (während der Aktion) “verlassen” werden.

    Weder Männer noch Frauen wollen sich einem unsicheren Umfeld anvertrauen, das war mein Punkt.
    ————–
    Daraus kann sogar eine extatische Einheitserfahrung entstehen,
    Geht halt auch ohne Partner, dass ich mit der Musik eins bin, mein Körper ein Instrument ist.

  42. @Neumann: Das Thema der Geschlechtsrollen und woher sie kommen ist zu komplex und führt uns zu sehr vom Thema des Beitrags weg.

    P.S. Auch Fünfjährige haben fünf Jahre menschlicher Kultur hinter sich, mit i.d.R. Eltern, Freunden, Verwandten und Geschwistern, die Geschlechtsrollen ausdrücken.

  43. @Viktualia: Danke für die Erläuterung zum “inneren Kind” –

    jemanden, der sich bewusst gegen den Paartanz entschieden hat, braucht man wohl eher nicht zu dessen Vorzügen zu befragen.

    Aber wie dem auch sei: Allen das, was ihnen gefällt.

  44. Das Thema wer bin ich, welche Rolle spiele ich, spiele ich vielleicht die falsche Rolle, könnte auch eine Ursache für Depressionen sein. In Albanien haben früher Frauen sich als Männer verkleidet . Offiziell wurde das geduldet, wenn die Jungfrau dem Sex abgeschworen hat. Unter dem Begriff “Eingeschworene Jungfrau” findet man auch einen Beitrag in Wikipedia.
    Nur als Abschluss !

  45. @Stephan Schleim – jemanden, der sich bewusst gegen den Paartanz entschieden hat,
    Ich kann mir ja keinen Partner backen.
    Nee, ich habe mich eher für den “freien Tanz” entschieden als gegen irgendwas.

    Allerdings habe ich bei allem, was nach “Choreographie” riecht, zwei linke Füße.
    (Was ich am freien Tanz so liebe, ist das unmittelbare Reagieren meiner Muskeln auf mein Gehör. Ich gebe einen kleinen Impuls hinein, lasse den Rest der Bewegungen fließen und habe durch dieses “abwechseln” so etwas wie ein “größeres Ohr”, bin ein Teil der Musik.)

    Diese Unmittelbarkeit funktioniert halt nicht so gut, wenn man sich “bewusst bewegt”; zur Not könnte ich mich wohl auf die “Choreographie” (ist ja nicht wirklich eine, die genaue Reihenfolge der jeweiligen Schritte ist ja nicht festgelegt – darum führt ja auch einer) einlassen, aber dann “fließe” ich mit dem Partner und weniger (bzw. erst an zweiter Stelle) mit der Musik.

    Aber ich habe keine Entscheidung gegen den Paaartanz getroffen – grundsätzlich bin ich da “erlebnisoffen”.

  46. Hello again in die Runde 😉

    @Schleim
    Ich glaube nicht, dass es hier um eine Minderheit geht…sowohl in Bezug auf psychiatrische als auch psychotherapeutische Fachkräfte. Bei genaueren Recherchen ergibt sich das Bild, dass hier viel zu viel schief läuft – und ja klar, das deckt sich auch mit meiner persönlichen Erfahrung (nicht nur als Betroffene, sondern mittlerweile auch als Angehörige, Freundin etc).

    “Jetzt sind Sie aber in gewisser Weise meiner Frage ausgewichen: Was, wenn es für bestimmte Probleme/Erfahrungen/Schäden keine “Heilung” gibt?”
    Bin ich? Sollte keine Absicht sein. Sehe ich auch so, mit manchen Verletzungen muss man wohl leben lernen. Zwischenmenschliche Beziehungen scheinen dabei oft eine Rolle zu spielen. Die Frage ist zudem, was man als Heilung definiert. Es gibt hier ja keine Norm. “Damit leben lernen” würde ich bereits als eine persönliche Transformation bezeichnen.

    Ich bin allerdings der Meinung, dass Akzeptanz nicht immer angebracht ist. Gerade wenn gesellschaftliche Faktoren eine Rolle spielen. Das natürlich immer in Abhängigkeit vom individuellen Fall.

    Ganz andere Frage zwischendurch: Kennen Sie Matthew Ratcliffes Theorie der existenziellen Gefühle? Ähnlich Heideggers Befindlichkeiten oder Husserls Stimmungen. Oder ist Phänomenologie nicht so Ihr Ding? 😉 Ich muss mal in Ihrem Archiv wühlen.

    @Viktualia
    Was ist denn ein gesundes Selbst? Natürlich lässt sich hierüber schlecht ohne Kontext diskutieren. Es kommt immer auf den einzelnen Krankheitsfall an, da gebe ich Ihnen recht.
    Ein Kind ist bereits Individuum, aber in bestimmter Hinsicht vulnerabler. Ich würde da keinen qualitativen Unterschied machen, die Kindheit ist ja kein Konstrukt.

    Das innere Kind
    Ich halte davon wenig. Das ist wiederum ein Konstrukt – kann manchen helfen, muss aber nicht.

    @Noch’n Wort
    Die unpersönliche Haltung in der Psychiatrie/Psychotherapie wird von humanistischer Seite seit Jahrzehnten kritisiert, genau.

    Was meinen Sie mit primitivieren Kulturen? Kulturelle Vergleiche wirken auf mich oft irgendwie idealisierend. Salopp gesagt: In anderen Kulturen haben die Menschen andere Probleme, aber ob das “besser” ist…

    Stigmatisierung
    Untersuchungen ergeben allerdings immer noch eine breite Abneigung in der Öffentlichkeit gegenüber psychisch kranken Menschen. Aufklärung allein reicht nicht, der Schluss liegt nahe, dass der persönliche Kontakt mehr bringt als reine Informationsvermittlung.

  47. Was meinen Sie mit primitivieren Kulturen? Kulturelle Vergleiche wirken auf mich oft irgendwie idealisierend. Salopp gesagt: In anderen Kulturen haben die Menschen andere Probleme, aber ob das “besser” ist…

    Die Dimension primitiv—entwickelt ist für mich nicht dasselbe wie die Bewertungsdimension besser—schlechter. Sie sind orthogonal.

    Mit “primitiver” meine ich weniger komplexe Soziale Systeme die weniger große Kollektive organisieren und zusammenhalten können, sie nutzen weniger/einfachere Technologien, und, wenn Sie Stadien der Bewusstseinsentwicklung akzeptieren (z.B. Jean Gebser oder die spätere Synthese von Ken Wilber[*]), Kulturen deren Bewusstseinsformen denen früher in der Menschheitsgeschichte erschienenen gleichen, im Gegensatz zu den später aufgetretenen.

    [*]https://integraleuropeanconference.com/integral-theory/

    Sorry, bin zu müde für lange Erläuterungen.

  48. @ Inkognito-Philosophin:

    Sie haben zwar Stephan Schleim gefragt, aber ich antworte ebenfalls:

    Kennen Sie Matthew Ratcliffes Theorie der existenziellen Gefühle?

    Alle diesbezüglichen Paper von Ratcliffe habe ich gelesen und seine Bücher “Feelings of Being” sowie “Experiences of Depression” stehen bei mir im Regal. Besonders das Buch “Feelings of Being” ist sehr gut. “Experiences of Depression” fand ich zwar auch gut, aber klar schwächer. Er hat zwar das Erleben der Depression im zweiten Buch gut beschrieben, aber dennoch würde ich Feelings of Being an erster Stelle empfehlen. Vor einiger Zeit wurde auch das “Oxford Handbook of Phenomenological Psychopathology” publiziert. Tatsächlich habe ich mir die Mühe gemacht die über 1000 Seiten komplett zu lesen. Fazit: es lohnt sich nicht wirklich. Es gibt wirklich viele gute Paper und Bücher zur phänomenologischen Psychopathologie, aber viele Artikel im Oxford Handbook fand ich relativ schwach.

    Zu Ratcliffes existential feelings; er schreibt u.a.:
    “a feeling is a relation between body and world, rather than a perception of one in isolation”

    “bodily and worldly aspects of feeling do not respect a clear subject-object distinction.”

    Hier sieht man eben sofort die Beeinflussung durch Merleau-Ponty, Heidegger, etc.
    Was sich in einer wirklichen Depression ändert ist nicht der intentionale Bezug zu bestimmten oder einzelnen Phänomenen in der Welt, sondern die ganze erlebte Welt ansich, was er dann als existential change beschreibt.

    Das Journal Schizophrenia Bulletin publiziert übrigens regelmäßig sogenannte first-person accounts in denen Patienten (und manchmal Verwandte) selbst aus der Ersten-Person-Perspektive über ihre Erkrankung berichten, neben den ganzen “objektiven” Papern. Eventuell gibt es so etwas auch in anderen Journalen für die Depression.

  49. PS: übrigens zum Stellenwert der Subjektivität in der Psychiatrie und Wissenschaft (den Sie oben meiner Ansicht nach zu Recht etwas kritisiert haben, sofern ich Sie richtig verstanden habe):

    Hier findet man in der Praxis leider häufig zwei Extreme.
    1. Auf der einen Seite sehe ich z.B. relativ verbreitet den Neurowissenschaften dass man die Subjektivität nicht einmal mit der Pinzette anpackt, besonders im amerikanischen Raum, und Amerika dominiert nun einmal die Journale und damit die Wissenschaft. Im Gegenteil, es gibt sogar Paper die explizit beschreiben und Versuche angeben jegliche Subjektivität zu überwinden.

    2. Auf der anderen Seite sieht man leider aber auch bei bekannten gegenwärtigen Phänomenologen aus der Szene (ich nenne jetzt bewusst keine Namen) dass diese nicht bereit sind sich für die Wissenschaft und Empirie wirklich zu öffnen. Dort besteht dann manchmal die Angst dass die Empirie den eigenen vorgesetzten primären Status der Phänomenologie untergräbt (phenomenology comes first etc.). Es wird dann ebenfalls nicht wirklich möglich beide Seiten miteinander balanciert zu verbinden.

    Es ist also nicht so dass einfach die Wissenschaftler die “bösen” sind (Psychiatrie, Psychologie, Neurowissenschaften), sondern die Phänomenologen sind leider (mitunter) auch sehr dogmatisch und einseitig aufgestellt, auch wenn man sich öffentlich natürlich als “offen” verkauft und darstellt.

  50. Hallo Viktualia.
    Ich danke Ihnen für Ihre Vorschläge.
    Meine Träume sind realistische und detailgetreue Erinnerungen
    an frühere Ereignisse, die leider sehr oft vorgekommen sind.
    Nach dem Aufwachen bin ich immer sehr erleichtert,
    das das nur Erinnerungen an die Vergangenheit waren.
    Ich frage mich, ob es gut wäre, meine Erinnerungen abzuändern.
    Weil ich jetzt in Pension bin, ist mein Müßiggang realisierbar.
    Mit freundlichen Grüßen, Karl Bednarik.

  51. @Inkognito Philosophin –
    Was ist denn ein gesundes Selbst?
    Das Selbst ist, so gesehen – ein Konstrukt. Eine Abstraktion, die die Entwicklung “zum Menschen” erklären soll. Dem ich aber weder Gesundheit, noch Krankheit zugeschrieben hätte – ich bezog mich hierauf:
    Eine Überanpassung des Klein(st)kindes an Andere führt zu verminderter Entwicklung eines eigenen Selbstes, das sein Leben und seine Erfahrungen als die eigenen erleben kann.
    Da wird der Schaden als etwas beschrieben, das “dem Selbst” (dem Konstrukt) und nicht dem Menschen passiert – und ich glaube halt, dass es eher umgekehrt ist:
    Aber wenn es stimmt, dass ein Kind, um “ein Erwachsener” zu werden, ein Selbst braucht, ist da doch gar kein Individuum, wenn dieses Selbst lernen musste, den (souveränen) Erwachsenen nicht zuzulassen –

    Es gibt, mAn. nicht so etwas wie ein krankes Selbst, sondern nur kranke Leute. Deren “Selbst” dann durchaus Symptome produzieren kannn, (“die sich selbst ausdrücken”) die Aufschluss über Art und Ursache der Leiden des Betreffenden geben. (Das finde ich persönlich allerdings gesund.)

    Ich glaube nicht an ein “das Selbst”, ich glaube an “selber machen”; jedes Individuum hat eine ganz persönliche Art, Dinge zu tun, selbst zu machen.
    So wie “die Qualia” bei den Empfindungen fungiert das Selbst bei Handlung, denke ich.

    die Kindheit ist ja kein Konstrukt.
    Endlich sieht es mal eine(r)!
    (Mir scheint, dass zumindest die Tatsache einer Pubertät von vielen Konstruktivisten gar nicht wahrgenommen wird.)
    Aber den Zusammenhang kann ich nicht sehen – warum soll es deswegen keine qualitativen Unterschiede geben können?
    Was ist z.B. mit der kognitiven Entwicklung nach Piaget? Wenn mir ein 5 Jähriger erzählt, in seinem schmalen Glas sei mehr Inhalt als in meinem breiten, bin ich bereit, das zu tolerieren, bei einem Erwachsenen erwarte ich, dass er “Volumen” besser abstrahieren kann.
    (Die Wahrnehmung eines Kindes ist unmittelbarer, “Augenscheinbasierter”. Erwachsene haben einen anderen Zugang zur Realität, können anders abstrahieren.)

    Das innere Kind… Das ist wiederum ein Konstrukt…
    Jep. Meine Kleine hat (fast) jedesmal ne andere Frisur, ist mal winzig (und bedürftig) oder mal ein Wildfang – und das entspricht dann (jedesmal) ziemlich perfekt der Situation.
    Und neben dem Teil in mir, der darum Wasser in den Augen hat (weil es echt der größte Schatz überhaupt ist), bezieht sich ein eventueller “Glauben” nur eben auf diese Spiegelung der Situation, diese Konstruktionen (des Aktuellen).
    Natürlich bin ich nicht mit einer “kleinen Erweiterung meiner Person” gesegnet, sondern mit einer symbolhaften Erweiterung meiner Wahrnehmung.
    (Muss aber wirklich nicht was für jeden sein. Ich bin auch noch etwas erstaunt, weil es so plastisch ist.)

  52. @Karl Bednarik – Guten Morgen!

    Nach dem Aufwachen bin ich immer sehr erleichtert,
    Das freut mich zu hören.

    Ich frage mich, ob es gut wäre, meine Erinnerungen abzuändern.
    Naja, ich bin (Ergo)Therapeutin, von daher habe ich da wohl Beruflich bedingt eine Grundeinstellung, die diese Möglichkeit als etwas positives sieht.
    Abändern ist ja nicht austauschen.

    Aber ich will nicht manipulieren; nur einen Rahmen dafür gestalten, um “zu sich” zu kommen.

    Es wurde im Verlauf des Fadens erwähnt, dass wahrscheinlich egal ist, welche Methode in einer Therapie angewendet wird, es wirkt die Beziehung zwischen Therapeut und Patient.
    Das sehe ich auch so und gehe einen Schritt weiter: die Beziehung, die der Therapeut zu sich pflegt, wirkt auf die Beziehungsqualität der Therapie ein.
    So dass der Patient, innerhalb der Beziehung zum Therapeuten, die Beziehung zu sich selbst neu gestalten kann.

    Sprich, es geht um Beziehung, den Bezug, den eine Person zu sich hat, bzw. zu einem Geschehen (oder einer anderen Person) aufnimmt, bzw. aufnehmen kann.

    In dem Sinne würde dann auch eine “Gute Nacht Geschichte” auf den (vorhandenen) Bezug zwischen ihnen, @Karl Bednarik und ihrer “Vergangenheitsbewältigung” einwirken.

    Und – ich will nicht penetrant sein, aber gestern abend viel mir noch ein (da ich ja gerne mal den zweiten Schritt vor dem ersten mache – ) sie haben nicht zufällig ein altes Feierabendritual jetzt weggelassen, weil sie pensioniert sind?
    Die Frage hätte ich zuerst stellen sollen, sorry dafür.
    (Der Vollständigkeit halber, ich erwarte keine explizite Rückmeldung; sie sagen ja, sie kämen drauf klar.)

  53. @Inkognito-Philosophin: Ändern, Akzeptieren & (Liebe zur) Weisheit

    Womit wir wohl wieder bei der alten Weisheit wären: Ändere, was sich ändern lässt, akzeptiere den Rest – und habe die Weisheit, zwischen beidem unterscheiden zu können.

    Ich habe Matthew Ratcliffe tatsächlich über das animal emotionale-Forschungsprojekt, in dem ich promovierte, kennengelernt und mehrmals auch persönlich getroffen. Ohne mich im Detail damit beschäftigt zu haben: Ich halte die Phänomenologie zwar für eine wichtige Ergänzung bzw. Alternative – aber habe oft auch den Eindruck, dass das Wesentliche von Erfahrungen, Gefühlen oder Psychologie verlorengeht, sobald Philosophen darüber reden.

  54. @Philipp, Philosophin: Phänomenologie & Psychopathologie

    Philipp, ich wusste gar nicht, dass du so in Phänomenologie belesen bist!

    Aber wenn ich “Erleben der Depression” höre, stellen sich bei mir schon die Nackenhaare auf: Als ob es das Erleben der Depression gäbe, wo man anhand der DSM-Kriterien allein schon 227 Arten von Depression unterscheiden kann (womit noch nichts über Schwere und Kontinuität der Symptome, geschweige denn der Erfahrung gesagt ist).

    Hier komme ich auf das generelle Problem, die (Erlebnis-) Realität in Worten auszudrücken. Die Tanzerfahrung ist beispielsweise für mich gerade darum so schön, weil sie nicht sprachlich vermittelt ist, sondern direkte Tanzerfahrung.

    In der Psychologie (auch in den USA) gibt es durchaus eine Renaissance der qualitativen Methoden. Mitunter wirkt das auf mich aber (auch ich nenne keine Namen) wie eine Quote für weniger talentierte Wissenschaftler*innen (frei nach dem Motto: Sobald man das Prädikat “qualitativ” darauf klebt, sind kritische Fragen nach der Qualität der Studie Tabu).

    Im Endeffekt sollte man pluralistisch arbeiten: Repräsentative Erhebungen in der Breite für Verallgemeinerungen und qualitative Ansätze zur Ergründung der Tiefe des Erlebens, gerne auch ergänzt durch biologische Verfahren, wenn das nutzt.

  55. @Philip

    Hier findet man in der Praxis leider häufig zwei Extreme.
    1. Auf der einen Seite sehe ich z.B. relativ verbreitet den Neurowissenschaften dass man die Subjektivität nicht einmal mit der Pinzette anpackt
    2. Auf der anderen Seite sieht man leider aber auch bei bekannten gegenwärtigen Phänomenologen aus der Szene (ich nenne jetzt bewusst keine Namen) dass diese nicht bereit sind sich für die Wissenschaft und Empirie wirklich zu öffnen.

    Wilber bot einen Ausweg aus diesem Dilemma: Vier Bereiche die jeweils unterschiedliche Wahrheitsansprüche haben, und deren Befunde nicht auf die eines anderen Bereiches reduzierbar sind (das wäre der Grundfehler bei 1. und 2.), aber korrelieren.

    https://spiraldynamics-integral.de/wp-content/uploads/2015/10/4quadranten.jpg

    Aus den Gegenüberstellungen von Individuum und Kollektiv, sowie von Subjektivität und Objektivität, ergeben sich seine “Quadranten”. Akzeptiert man, dass sie nicht aufeinander reduzierbar sind, und dass sie alle zu einem umfassenden Verstehen gehören, dann weitet sich der Blick, und die wenig substantiierten “Triumphe” der Biologischen Psychiatrie klingen genauso unüberzeugend wie das Beharren auf “nur (meine) empfundene Wirklichkeit zählt”.

  56. Hall0 Karl Benarik,
    wir kennen uns aus mathematisch-naturwissenschaftlichen blogs. Ich benutzte damals einen anderen Namen. Du bist doch der aus Wien ?

    Also etwas praktische Lebenshilfe gegen deine Träume. Gestern hatten wir einen Wasserschaden in der Küche. Ich holte also meinen Werkzeugkoffer speziell für Sanitär. Den habe ich vor etwa 13 Jahren neu zusammengestellt.
    Und was ist geschehen ? Ich hatte heute einen Traum, der sich vor 13 Jahren abgespielt haben könnte.
    Sonderbar. Meine Meinung, die Berührung des Werkzeugkoffers und dessen Geruch haben diesen Traum ausgelöst.

    Wenn du also immer wieder das Gleiche träumst, dann wechsle dein Bett, wechsle deine Tapeten, wechsle dein Umfeld. Nicht ohne Grund werden die meisten Ehescheidungen bei älteren Menschen von den Frauen eingeleitet. Die wollen einen “Tapetenwechsel”.

  57. @ Stephan:

    Aber wenn ich “Erleben der Depression” höre, stellen sich bei mir schon die Nackenhaare auf: Als ob es das Erleben der Depression gäbe, wo man anhand der DSM-Kriterien allein schon 227 Arten von Depression unterscheiden kann (womit noch nichts über Schwere und Kontinuität der Symptome, geschweige denn der Erfahrung gesagt ist).

    Dann muss ich mich präziser bzw. umfassender Ausdrücken.
    Mit “Erleben der Depression” meinte ich schlicht und einfach dass der Versuch dies in einer Phänomenologie philosophisch auszudrücken dem Autor gelungen ist. Dieser Versuch ist viel näher an das Erleben rangekommen als beispielsweise Diagnosekriterien und deren ganzen Klimbim aus einem ICD oder DSM.

    Natürlich kann man Dinge erleben die so extrem sind als dass sie nicht mehr über Sprache mitteilbar sind, sie sind sozusagen präverbal (oder wie auch immer man das nennen möchte). Auch ich habe Dinge erlebt die ich, egal wie weit ich aushole und wie gut ich es beschreiben mag, einem Menschen niemals fassbar machen könnte der nicht ähnlich extreme Erfahrungen gemacht hat. Es geht einfach nicht.

    Und selbst in der Phänomenologie wird sich ja über grundlegende Konzepte gestritten (Beispiel: gibt es ein minimal self dass immer vorhanden ist? Zahavi sagt ja, andere sagen nein). Es bleibt letztendlich eben Philosophie und unterliegt damit einer ständigen Diskussion und Weiterentwicklung.

  58. @Philipp + Schleim
    Danke für Ihr Feedback zu Ratcliffe. Ich halte die Ausführungen für vielversprechend, zumindest sind sie eine alternative Perspektive mit Mehrwert zu den gängigen Beschreibungen in der Psychopathologie.
    first-person accounts – Vielen Dank!

    Subjektivität
    Schon klar, dass es naiv wäre, die Naturwissenschaften abzuwerten und die Phänomenologie zu idealisieren. (Eine erkenntnistheoretische Kritik kenne ich zum Beispiel von Michael Mehrgardt) Extreme sind nie gut und es soll ja nicht ein Götze gegen den anderen ersetzt werden. Aber bei der Dominanz, die naturwissenschaftliche Perspektiven heutzutage in der öffentlichen (und der fachlichen) Wahrnehmung einnehmen, bräuchte es dringend ein Korrektiv.

    Ändern/Akzeptieren
    Jap, die Phänomenologie als Ergänzung, nicht als Ersatz. Übrigens habe ich sehr oft den Eindruck, dass Wesentliches verloren geht, wenn Fachleute (egal ob Philosophie oder Psychologie) über Betroffene sprechen (anstatt mit ihnen).

    “Erleben der Depression”
    Soviel ich im Kopf habe, wird von Seiten der Phänomenologie die Grenze der Sprache betont, genauso wie die eigene Perspektivität.

    “Im Endeffekt sollte man pluralistisch arbeiten”
    Absolut. Ich will das hier auch nicht weiter in die Länge ziehen.

    @Viktualia
    Ob das Selbst ein Konstrukt ist, kommt ganz darauf an, welchen Ansatz man wählt. Soviel mir bekannt ist, gibt es keine einheitliche Selbsttheorie. Es gibt allerdings philosophische Ansätze, die das Selbst nicht als Substanz/Instanz, sondern als Prozess bzw. ein Dazwischen betrachten.

    @Noch’n Wort
    trotz der späten Uhrzeit, vielen Dank für die Erklärung.
    Wilbers Transpersonales Selbst ist interessant. Auch Feldtheorien.

  59. @Philipp: Ratcliffe

    Eine phänomenologische Beschreibung der Depression muss meiner Meinung nach schon daran scheitern, dass es nicht die Depression gibt. Aber gut, ich habe sein Buch noch nicht gelesen und will mich bei Gelegenheit einmal darin vertiefen; lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen.

    Was wäre denn ein neutraler Maßstab für die Akkuratheit (Validität?) einer phänomenologischen Beschreibung? Dass die Mehrheit der Patienten mit der Diagnose X die Beschreibung P als Beschreibung einer X identifizieren? 😉

  60. @Philosophin: Korrektiv

    …bräuchte es dringend ein Korrektiv.

    Einer der Beiträge meiner Doktorarbeit, damals wohl noch etwas anfängerhaft geschrieben, lief darauf hinaus, dass wenn das Projekt der Biologischen Psychiatrie erfolgreich ist, sie sich eigentlich selbst abschafft, nämlich in der Neurologie aufnimmt (es gibt ja schon Zwischenkonstrukte wie die sogenannte “klinische Neurowissenschaft”)…

    …und jetzt schafft die Biologische Psychiatrie sich ja selbst ab; ich denke, der Anfang vom Ende war spätestens das Erscheinen des DSM-5 2013, als das vollständige Scheitern der Neurowissenschaft in der Psychiatrie öffentlich wurde.

  61. Hallo Viktualia.
    Weil ich ständig sehr müde bin, mache ich immer nur Tätigkeiten, zu
    denen ich gezwungen bin, und das möglichst selten und möglichst spät.
    Ich mache niemals Tätigkeiten, zu denen ich nicht gezwungen bin, wie zum
    Beispiel Rituale, oder Reisen, oder Zusammenkommen mit anderen Menschen.
    Als Einsiedler bin ich sehr zufrieden, leider hat mich früher
    meine Arbeit dabei gestört.
    Meine Art der Müdigkeit scheint sich von der Art der Müdigkeit
    von Herrn Schleim zu unterscheiden.
    Mit freundlichen Grüßen, Karl Bednarik.

  62. Hallo Neumann.
    Ja, ich bin aus Wien, und hier steht noch mehr:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Karl_Bednarik
    Ein Tapetenwechsel wäre viel anstrengender als einige Albträume.
    Außerdem vermute ich, dass meine unbewussten Denkvorgänge
    gut mit meinen bewussten Denkvorgängen übereinstimmen.
    Meine Albträume stellen vermutlich die übereinstimmende Meinung meiner
    unbewussten Denkvorgänge und meiner bewussten Denkvorgänge dar.
    Diese Übereinstimmung scheint die Ursache meiner Zufriedenheit zu sein.
    Mit freundlichen Grüßen, Karl Bednarik.

  63. @ Stephan:

    Eine phänomenologische Beschreibung der Depression muss meiner Meinung nach schon daran scheitern, dass es nicht die Depression gibt. Aber gut, ich habe sein Buch noch nicht gelesen und will mich bei Gelegenheit einmal darin vertiefen; lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen

    .

    Diese Kritik von dir hatte ich verstanden, finde sie aber überzogen. Warum?

    Wenn du mit diesem Anspruch an die Wissenschaft und Philosophie herangehst, dann dürften wir gar nichts mehr machen und könnten alle Nachhause gehen.

    Man schafft Modelle und Theorien von der Realität und diese Modelle und Theorien vereinfachen immer. Dann dürfte die Psychologie auch keine Modelle mehr erstellen, beispielsweise über Sozialverhalten der Menschen (Sozialpsychologie), da einzelne Menschen sich immer anders verhalten können als statistische Mittelwerte oder Intervalle.

    Natürlich gibt es nicht die Depression als Entität. Es gibt soviele Formen der Depression wie es depressive Menschen gibt. Aber man kann trotzdem einige Punkte zusammenfassen die vielleicht bei einigen oder gar vielen Menschen zutreffen. Natürlich ist das immer verallgemeinert und vereinfacht, aber das liegt in der Natur der Sache.

    Wenn ich ein Modell eines Kampfflugzeugs nachbaue, dann wird das Modell nie dem Original entsprechen, und das Modell wird immer an zig Punkten kritisierbar sein. Man müsste schon das Original selbst “nachbauen” oder erschaffen damit es nichts mehr zu kritisieren gäbe. Trotzdem kann man mit Modellen der Realtiät vielleicht was anfangen, auch wenn sie nie perfekt sind.

  64. Was wäre denn ein neutraler Maßstab für die Akkuratheit (Validität?) einer phänomenologischen Beschreibung? Dass die Mehrheit der Patienten mit der Diagnose X die Beschreibung P als Beschreibung einer X identifizieren?

    Es gibt ja inzwischen mehrere semi-quantitative Skalen für Psychopathologie die aus der phänomenologischen Psychopathologie stammen.

    Am bekanntesten (und ich meine es war die erste) ist EASE:
    https://easenet.dk/about-ease/ https://karger.com/psp/article-abstract/38/5/236/284503/EASE-Examination-of-Anomalous-Self-Experience?redirectedFrom=fulltext

    Es gibt noch mehrere. Wie gut die qualitativ abgecheckt/validiert sind weiß ich nicht, ich arbeite damit nicht. Ich sehe die Phänomenologie als gute Ergänzung die ihre eigene Daseinsberechtigung hat, eben auch für die Psychiatrie bzw. Psychopathologie, sowie auch für die Neurowissenschaften wenn es um das Thema des Bewusstseins bzw. Erlebens geht.

    Ich werde sie aber nicht verteidigen, da ich mit einigen grundlegenden Positionen dieser philosophischen Schule ohnehin nicht übereinstimme und mich deshalb sicher auch nicht als Phänomenologe bezeichnen würde.

  65. @Philipp: Modell & Realität

    Jetzt streiten (in einem positiven Sinn) wir uns meiner Meinung nach aber über einen anderen Punkt: dass Wissenschaft/Philosophie immer irgendwie sprachlich vermittelt ist; ja, dass Sprache schlechthin immer mittelbar und nicht unmittelbar ist.

    Ich würde unterschreiben, dass man mit einer phänomenologischen Beschreibung* bestimmter psychischer Vorgänge (einschließlich der sogenannten Störungen) bestimmte typische Merkmale herausarbeiten kann, die ein bestimmtes Verständnis (Hermeneutik) ermöglichen und idealerweise einen Nutzen haben (z.B., dass Betroffene selbst und/oder Angehörige sich “darin wiederfinden”).

    In meinem Willensfreiheits-Buch nannte ich das doch als Kriterien: dass man eine Beschreibung in einen größeren Sinnzusammenhang bringen kann, dass sie “funktioniert”/etwas nutzt… und gab es nicht noch ein drittes Kriterium? Verdammt, muss ich wohl mal beim Schleim nachlesen. 😉

    * analog auch für qualitative Forschung

  66. @all: Trauma & “Antidepressiva” – da wir kürzlich Jim van Os erwähnten

    Er teilte gerade auf Twitter einen (niederländischen; aber vielleicht funktionieren die Online-Übersetzungen ganz gut?) Artikel über sechs Mythen über Traumata. Daraus zwei Zitate:

    Um normal funktionieren zu können, haben Menschen die Neigung, schmerzhafte Dinge in den Hintergrund zu verdrängen. Oft funktioniert das ganz gut. Verdrängen ist aber nicht dasselbe wie Neutralisieren. Ein anderes Ereignis kann dieses Trauma wieder hervorrufen, manchmal Jahre später, mit den entsprechenden Folgen.

    Aber dem Löwenanteil der Menschen bringen sie [“Antidepressiva”, St. S.] nichts: Sie erzeugen vor allem Nebenwirkungen und Abhängigkeit. Die Schwelle, um diese Mittel zu verschreiben, müsste wirklich viel höher liegen.

  67. Das nachfolgende hier ist nur ein Versuch einer Selbstbewertung.
    Ich habe keine Ahnung, was das nun bedeuten soll.
    (Meine Beiträge stehen hier immer in den Klammern darunter.)
    Kriterien für Depressionen, nach DSM-5:
    1. depressive Verstimmung, bei Kindern oder Jugendlichen
    möglicherweise eine reizbare Stimmung;
    (Leider wird hier nicht erklärt, was eine depressive Verstimmung ist.)
    (Ich hatte schon immer ein hohes Wohlbefinden.)
    (Auch als Kind war ich viel zu müde, um reizbar zu sein.)
    2. auffälliger Verlust des Interesses oder der Freude an Aktivitäten;
    (Ich hatte garantiert noch niemals Freude an körperlichen Aktivitäten.)
    3. signifikanter Gewichtsverlust ohne Diät oder eine Gewichtszunahme;
    (Ich war und bin immer noch zu müde, um viel zu essen.)
    (Aber dafür bewege ich mich auch wenig. Deshalb ist mein Gewicht konstant.)
    (Glücklicherweise gibt es jetzt endlich die lange erhoffte Trinknahrung.)
    4. Schlaflosigkeit oder zu viel Schlaf;
    (Viel Schlaf war mir immer angenehm. Im Alter benötigt man etwas weniger.)
    5. übertriebener Bewegungsdrang oder Trägheit;
    (Trägheit ist zutreffend. Bewegungsdrang war nie vorhanden.)
    6. Müdigkeit oder Verlust von Energie;
    (Müdigkeit ist zutreffend. Energie war nie vorhanden.)
    7. Gefühl der Wertlosigkeit oder übertriebene Schuldgefühle;
    (Ich hatte schon immer ein hohes Selbstwertgefühl.)
    (Dass Trägheit eine Sünde sein soll, das ist ein kultureller Trick.)
    (Ich wurde aber atheistisch erzogen. Jetzt bin ich Agnostiker.)
    8. Konzentrationsschwierigkeiten oder Entscheidungslosigkeit;
    (Beides trifft nicht zu. Ich kann ganze Tage und Nächte durchprogrammieren.)
    9. wiederholte Gedanken an den Tod oder ein Selbstmordversuch.
    (Niemals. Ich wäre schon seit meiner Kindheit gerne biologisch unsterblich.)

  68. @Bednarik: Klingt für mich nicht nach einer depressiven Symptomatik.

    (Mit “depressiver Verstimmung” meint man wohl vor allem Traurigkeit, Niedergeschlagenheit…)

  69. @ Stephan:

    Ich würde unterschreiben, dass man mit einer phänomenologischen Beschreibung* bestimmter psychischer Vorgänge (einschließlich der sogenannten Störungen) bestimmte typische Merkmale herausarbeiten kann, die ein bestimmtes Verständnis (Hermeneutik) ermöglichen und idealerweise einen Nutzen haben (z.B., dass Betroffene selbst und/oder Angehörige sich “darin wiederfinden”).

    Das freut mich zu lesen. Wobei viele Vertreter der Meinung sind dass die Phänomenologie über deskriptive Beschreibungen hinausgeht und auch Erklärungen bieten kann (wie das Aussehen soll führt über dein Blogthema hier hinaus).

    Ferner hast du natürlich Recht dass auch die phänomenologische Psychopathologie nicht das Erleben jedes Betroffenen korrekt beschreibt. Sie nutzt selbst Konzepte, wie beispielsweise die self disturbance als core Symptom der Schizophrenie (siehe die ganze Gruppe um J. Parnas herum), abstrahiert also und fällt in Modelle (wenn auch keine strikt empirischen Modelle).

    Vor einigen Jahren hatte ich mich an einem eigenen phänomenologischen Modell bzw. Artikel versucht den ich in dem Journal Psychopathology publiziert habe. Du glaubst nicht was das für lange Diskussionen mit den Gutachtern waren (das ging über zig DIN A4 Seiten) weil mein Modell nicht gänzlich zu ihren etablierten phänomenologischen Konzepten gepasst hat.

    Was ich damit sagen möchte: man möchte das Erleben erfassen, landet aber letztendlich doch in bestimmten Konzeptvorstellungen die dann verteidigt werden, da man persönlich glaubt dass das Erleben sich phänomenal doch eher wie X anstatt Y verhält.

  70. Karl Bednarik
    Du kokettierst mit deiner Müdigkeit. Das glaubt dir nur niemand. Wenn ich sehe, wie produktiv du bist, dann ist Zeus gegen Dich nur ein Prototyp.
    Übrigens die Modellzeichnung vom Sterlingmotor ist genial einfach, die versteht sogar ein Kind.
    Du entlarvst dich selbst, wenn du von “übertriebenem Bewegungsdrang sprichst.”
    Churchill hat es so gesagt “no sports”.
    Und Churchill war der erfolgreichste und am längsten “regierende” Politiker in England. Der kannte noch den Kaiser Wilhelm und der sprach mit Stalin und mit Adenauer.
    Und wenn du neben den Kurzgeschichten noch das Trommeln lernst, dann kannst du dich mit Richard Feynman vergleichen.
    Ich gebe dir den Titel ” der Kokette”.
    Nicht verwechseln mit Kokotte !

  71. @Philipp: “Verbalmasturbation”

    Bei solchen Reviews (ebenso wie bei manchen Publikationen) kann man sich schon fragen, ob es sich vor allem um “Verbalmasturbation” handelt (das Wort lernte ich einmal von einer Wissenschaftsredakteurin); Nietzsche machte in der Fröhlichen Wissenschaft schon einmal darauf aufmerksam, dass wir uns irgendwann mehr über die Worte streiten als die Dinge, die sie bezeichnen.

    “Was nutzt es?”, möchte ich fragen?

    Im Studium machten wir uns mitunter über diejenigen lustig, die eine Dissertation zur Fußnote einer Fußnote bei Immanuel Kant verfassten, die dann vor allem im Archiv verschwindet. Aber für wie viele Arbeiten in Fachzeitschriften gilt das ebenso? Man publiziert – fürs Publizieren.

    Beim Blog sehe ich immerhin, dass ich gelesen werde; und wir nähern uns hier den 35.000 Kommentaren. In diesem Sinne auch danke für deine sehr substanziellen Kommentare.

  72. Hallo Neumann.
    Ich schreibe es gerne noch einmal:
    Ich bin nur körperlich sehr müde, aber geistig ermüde ich nicht.
    Außerdem verteilen sich meine Leistungen auf mehr als 50 Jahre.
    Zum Beispiel ist meine Dichtegradienten-Elektrophorese aus dem Jahre 1972,
    und die Mikro-Roboter-Schrittmotor-Antriebe sind aus dem Jahre 1985.
    Wenn ich etwas baue, dann nur, um mir spätere Arbeit zu ersparen.
    Zum Beispiel die einfache Liege-Programmier-Vorrichtung Nr.: 3 von 2016:
    http://members.chello.at/karl.bednarik/DSCN0747.JPG
    Mit freundlichen Grüßen, Karl Bednarik.

  73. Karl Bednarik
    was du als müde bezeichnest, nennt der Volksmund “träge”.
    Dem Photo nach zu schließen gehörst du zu den Pyknikern.
    Hier ist die Beschreibung von google.
    Pykniker: mittelgroß, gedrungener Körperbau, Neigung zu Fettansatz, Brustkorb unten breiter als oben, kurzer Hals und breites Gesicht. Temperament behäbig, gemütlich, gutherzig, gesellig, heiter, bequem-zufrieden, lebhaft bis hitzig oder auch still und weich.
    Du bist also von der Natur bevorzugt, wenn es um das Risiko von burn out geht.

  74. Ich möchte noch auf einen Aspekt eingehen, der kaum in der Diskussion zum Thema Antidepressiva auftaucht, das sind die Menschen, die in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht sind.

    Bei meiner Suche nach einem Medikament (hier Methylphenidat) zur Linderung meiner depressiven Phasen war ich jetzt bei einem psychiatrisch orientierten MVZ. Dort war eine der ersten Fragen, warum ich keine Antidepressiva einnehmen würde.

    Nachdem ich der Psychotherapeutin meine negativen Erfahrungen und Einschätzungen erläutert hatte, wurde mir empfohlen, mich in eine geschlossene Einrichtung zu begeben, da man mich dort „sehr viel genauer und besser kontrolliert“ mit den entsprechenden Medikamenten behandeln könne.

    Durch meine Tätigkeiten im Bereich Sozialberatung habe ich ziemlich klare Vorstellungen davon, wie dort die Abläufe sind und ich habe auch die Befürchtung, dass eine freiwillige, befristete Aufnahme sich sehr schnell zwangsweise verlängern kann, wenn man nicht adäquat auf die Medikation reagiert oder sogar die Einnahme verweigert. Insbesondere wenn dann beispielsweise auch noch zusätzlich Anzeichen für eine “Selbstgefährdung” diagnostiziert werden.

    Aus persönlichen Gesprächen mit einer Telefonseelsorge-Mitarbeiterin weiß ich, dass dort etwa ein Viertel der Anrufe aus geschlossenen Einrichtungen stammen. Die Anrufenden beklagen sich hauptsächlich darüber, dass sie Niemanden hätten, mit dem sie ihre aktuellen externen Probleme besprechen könnten, sondern oftmals von den Mitarbeitenden der Anstalt sogar ermutigt wurden, ihre sozialen, finanziellen, beruflichen Ängste bei der TS abzuladen.

    Ich finde die Statistik nicht, aber es sind zumindest mehrere hunderttausend Menschen, die in deutschen geschlossenen Einrichtungen medikamentös nach Richtlinien behandelt werden, die zumindest sehr fragwürdig sind. Wobei es natürlich außer Frage steht, dass es Fälle gibt, bei denen eine Behandlung unter Freiheitsentzug sinnvoll und erforderlich ist.

    Und noch einen herzlichen Gruß an Karl B. Ich finde es einfach mutig, für Jemanden, der öffentlich aus seiner populärwissenschaftlichen Tätigkeit bekannt ist, seinen psychischen Zustand offen zu schildern.

    (Und der Begriff Pykniker stammt aus dem Schubladendenken des vorigen Jahrhunderts und hat nach meinem Verständnis einfach keine Relevanz für die heutige Diagnostik)

  75. @Kühn: psychiatrische Behandlung

    Es gibt solche Fälle, in denen Menschen in eine Behandlung in einer psychiatrischen Klinik einwilligen – und hinterher nur schwer wieder herauskommen (berühmt z.B.: Kaysen, “Girl, interrupted”).

    Wie häufig das vorkommt, weiß ich nicht. Die Kliniken haben sich aber in vielen Ländern verändert, insbesondere dank der sozialen Reformen seit den 1970ern. Sogenannte “Tageskliniken” versuchen sogar, die Patienten so gut wie möglich zu unterstützen, ohne dass sie darum ihr gewohntes Umfeld ganz verlassen müssten (am Abend und vielleicht sogar am ganzen Wochenende sind sie wieder zuhause).

    Ich wundere mich, dass Sie von einer “geschlossenen” Klinik sprechen. Das ist nach meinem Verständnis eine mit geschlossenen Türen und Zugangskontrollen, wo die Patientinnen und Patienten also nicht selbstständig heraus können. Diese sind meines Wissens für Härtefälle vorbehalten. Warum man schlicht zur individuellen Optimierung der Therapie in eine geschlossene Einrichtung müsste, erschließt sich mir nicht.

  76. P.S. In dem von mir gerade verlinkten (niederländischen) Artikel von Prof. Jim van Os wird genannt, wie der Neoliberalismus einen Großteil der Menschen einsam am Bildschirm (oder, gemäß Ihrem Beispiel, der Telefonseelsorge) überlässt.

    Man kann immer mit Schuldzuweisungen auf “das System” zeigen. Im Endeffekt sind es aber auch wir Menschen selbst, die diese Gesellschaft erzeugen – natürlich mit teils unterschiedlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten.

  77. Robert Kühn, Was die Begriffe angeht.
    nur mal zum Überdenken,
    die Brücken aus dem 19. Jahrhundert die stehen heute noch, die aus dem 20. Jahrhundert sind großteils einsturzgefährdet.

  78. @Schleim:

    Die Empfehlung wurde natürlich vor dem Hintergrund meiner Schilderung der depressiven Symptome ausgesprochen sowie der Anfrage meines Hausarztes zur Bewertung des von mir gewünschten Medikaments. Die Schilderung meiner negativen Erfahrungen mit Serotonin-erhöhenden Medikamenten hat dann zu dieser “dringenden Empfehlung” geführt, der ich aber aus persönlichen Gründen keinesfalls folgen werde.

  79. @Kühn: Das Verhalten mancher Ärztinnen und Ärzte, auf negative Reaktionen auf “Antidepressiva” mit noch höheren Dosierungen von “Antidepressiva” zu reagieren, ist meiner Meinung nach ein klarer Fall für die ärztliche Berufsgerichtsbarkeit.

  80. @ Stephan Schleim

    Sie schreiben selbst, das starke Arbeitsüberlastung und ein Trennungsproblem Ursache von üblicherweise als „depressiv“ geltenden Problemen sein können.

    Ablenkung, auch Hobbys und Ruhe scheinen übliche Strategien zur Bewältigung.

    Als auch „gelernter Informatiker“ könnten sie vielleicht meine nachstehende technische Sicht nachvollziehen, die z.B. auf ein „Taskproblem“ kombiniert mit einem „Energieproblem“ beruht.

    Praktisch alle Funktionsprobleme neuronaler Systeme dürften letztlich darauf hinauslaufen, dass Neuronen nicht korrekt „triggern“, aus welchen Gründen auch immer.

    Bei meinem Einstiegsjob als ehemaliger „Elektroniker“ war meine erste Aufgabe (um 1965), auftretende „funktionale Probleme“ einer noch in Entwicklung befindlichen komplexeren elektronischen Steuerung zu beheben.

    Die Systemdesigner hatten herausgefunden, dass die Probleme daran lagen, dass die elektrische „Betriebsspannung“ in bestimmten, sehr kleinen „Zeitschlitzen“ und an bestimmten Orten „zusammengebrochen“ ist und deshalb die partiellen Probleme auftraten. Die „Transistorschalter“ (entsprechen Neuronen) konnten einfach nicht korrekt „schalten“ und die „normalen Prozessabläufe“ waren „gestört“.

    Man musste, heute würde man sagen die „Tasksteuerung“, etwas umorganisieren um für eine „gleichmäßigere“ Energiezufuhr zu den Komponenten zu sorgen. Bestimmte „Assemblies“ (in der „Sprache“ vom Prof. Singer) mussten streng synchron aktiviert bleiben, andere „Assemblies“ konnten etwas (einige Millisekunden) später aktiviert werden, wann wieder mehr „Energie“ zur Verfügung stand, oder konnten allenfalls in einen anderen „Zeitschlitz verschoben“ werden.

    Das „Assembly“ Konzept, wie es W. Singer nennt, dass einerseits „zusammengehörige Verarbeitungsschritte“ (z.B. Signalverknüpfungen) zeitlich „nacheinander“, aber auch „zeitgleich“ an verschiedenen Orten „verteilt ablaufen“ können und auch noch eine strikte „Synchronisation“ erforderlich sein kann, gab es auch schon in der (alten Gatter) Elektronik. So gesehen drängt es sich auch für neuronale Systeme gleichsam auf…..

    „Oszillierende Objekte“, bis hin zu den „Gehirnwellen“, dürften bewirken dass die „Nutzsignale“ korrekt, (ähnlich wie beim „Schieberegister) durch das neuronale System „verschoben“ und dabei auch neuronal verknüpft werden. Einerseits in einzelnen lokalen „Assemblies“ aber auch in weit über das System verteilten „Assemblies“. Wobei „Gehirnwellen“ eine „Synchronisation“ bewirken, ähnlich wie ein Systemtakt in der Elektronik.

    Mich hat ein Forist darauf aufmerksam gemacht, dass in einem narkotisierten Gehirn (bei Affen), wenn geeignete externe Signale von einem „Hirnschrittmacher“ in bestimmte zentrale Bereiche eingespeist werden, sogar die Narkose abbricht und „besondere Signalaktivitäten“ entstehen und dabei so etwas wie „bewusste Handlungen“ beobachtet werden. Die Narkose aber wieder weitergeht, wenn die externen Signale aufhören.

    Ich will damit sagen, dass das Wissen über die „technischen Funktionen“ der Psyche sehr begrenzt ist. Andererseits sollte man aus Experimenten und aus so etwas wie „Mustervergleichen“ (z.B. im Zusammenhang mit der technischen „Signalverarbeitung“) zweckmäßige Sichtweisen erlangen.

    Die „Tasks“ können sozusagen nicht immer korrekt „abgearbeitet“ werden. Z.B. weil einerseits auch in „Ruhezeiten“ so etwas wie „Kummertasks“ aktiviert werden, oder „Vorsichttasks“ nicht oder zu spät aktiviert werden.

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