Religion und Weltanschauung – Ein Begriffspaar in Recht, Wissenschaft und Praxis
BLOG: Natur des Glaubens
Der deutsche Begriff der “Weltanschauung” hat nicht nur eine komplexe Entstehungsgeschichte, sondern wirkt sich auch bis in die Gegenwart hinein aus. So kennt das bundesdeutsche Religionsverfassungsrecht einerseits die Religionsgemeinschaften, andererseits aber auch die (nichtreligiösen) Weltanschauungsgemeinschaften, denen schon die Weimarer Reichsverfassung (WRV) die rechtliche Gleichstellung gewährte. In das Grundgesetz wurden diese Paragrafen übernommen, so dass beispielsweise heute “Die Humanisten Baden-Württemberg” nicht nur eine Körperschaft des öffentlichen Rechts sind, sondern auch Staatsleistungen erhalten. Und diese gehen, spannenderweise, noch auf ihre Zeit als “Freireligiöse Landesgemeinschaft” zurück – waren also eine Religionsgemeinschaft (KdÖR), bevor sie nun zu einer nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaft wurden! (Die Freireligiösen Baden haben diese Umwandlung übrigens nicht mitgemacht.)
Das “Problem” der Abgrenzung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften beschäftigt aber auch den Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst REMID, der ja immer wieder entscheiden muss, welche Gemeinschaften und Bewegungen zu listen und zu beschreiben wären. In einem lesenswerten Text thematisierte REMID-Blogger Christoph Wagenseil daher die Frage “Was ist eigentlich eine Weltanschauung?” und zitierte:
Auch in Berlin stellte sich diese Frage unlängst in interessanter Form, als Thomas Schimmel, Geschäftsführer der franziskanischen Initiative für interreligiösen und interkulturellen Dialog, auch nichtreligiöse Weltanschauungsgemeinschaften dazu einlud, eine Mitwirkung an der zunehmend besucherstarken “Langen Nacht der Religionen” zu prüfen.
Definitionen aus evolutionspsychologischer Perspektive
Auch im Falle dieser Begriffsdebatte bietet das wachsende Feld der interdisziplinären Evolutionsforschung recht einfache Lösungen: Eine Weltanschauung wäre demnach jede (individuell oder gemeinschaftlich formulierte) Welterzählung mit umfassendem (eben “weltweitem”) Wahrheitsanspruch. “Religiös” wäre eine Weltanschauung immer dann, wenn sie höhere Wesen (überempirische Akteure, supernatural agents) wie Gottheiten, Engel o.ä. enthielte.
Tatsächlich weisen im geschichtlichen wie auch heutigen Vergleich Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ein unterschiedliches organisatorisches und demografisches Potential auf.
Vor allem der moderne Humanismus spricht jedoch auch Nicht-Verbandsmitglieder stark an, wie der große – und wachsende! – Erfolg der humanistischen Lebenskunde im Stadtstaat Berlin aufzeigt.
Eines ist also sicher: Nicht nur Religionen, sondern auch Weltanschauungen werden zur Zukunft jeder freiheitlichen Gesellschaft gehören.
Weltanschauung hat auch viel mit kultureller Identität zu tun und die Religion ist in dieser Sicht nur Teil der kulturellen Identität:
Wenn sich Huntington mit Zivilisationen (und ihren Clashes) beschäftigt hat, dann hat er sich auch mit Weltanschauungen befasst. Huntington passt gut ins Bild, denn bei ihm geht es ja um den Begriff der Kinship, dem Gefühl der Verbundenheit, das Menschen der gleichen Zivilisation/Kultur/Religion empfinden. Huntington war davon überzeugt, dass nach dem Fall der alten weltanschaulichen Lager, die auf Ideologien beruhten (freier Westen gegenüber kollektivistischem Osten), nun ein Zeitalter anbricht, in dem die Zugehörigkeit zu einer Kultur/Zivilisation/Religion bestimmt auf welcher Seite man steht, wer der Freund und wer der Feind sei.
Ich denke schon, dass man damit einige Phänomene der jüngeren Zeit erklären kann. Für Russland beispielsweise gab es die Option sich mehr zum Westen hin oder mehr zum Osten hin zu orientieren. Die neuerdings aufgebrochenen Konfrontationen zwischen Russland und dem Westen haben nun Russland und China enger zusammenfinden lassen. In der Sicht von Huntington kann das letztlich nur funktionieren, wenn beide Zivilisationen ähnliche Weltanschauungen entwickeln, sich beide in gewissem Sinne verbrüdern.
Die Religion kann ebenfalls ein Bindeglied sein, das Unterschiede überbrückt und eine Zivilisation und gemeinsame Weltanschauung begründet. Ohne Islam beispielsweise gäbe es wohl unüberbrückbare Gegensätze zwischen einigen Staaten im Vorder- und Mittelasien.
Lieber @Martin Holzherr,
vielen Dank – über Ihren Kommentar habe ich gerne länger nachgedacht. Letztlich ergeben sich für mich die gleichen Einwände wie damals auch gegen Huntington: Zivilisationen und Kulturen sind längst nicht so einheitlich und abgegrenzt, wie behauptet.
Eine türkische Demokratin und ein türkischer Salafist mögen der gleichen Kultur bzw. Zivilisation angehören, aber gerade nicht der gleichen Weltanschauung. Ebenso habe ich gemeinsame Wurzeln mit Dresdner Pegida-Hatern, schäme mich jedoch für deren Hass, Angst und Verschwörungstheorien und finde mich schon in der Wertschätzung von Menschenrechten, Demokratie und Bildung ggf. eher an der Seite eines jüdischen Liberalen. Und mit einer afrikanischen Christin mag mich ggf. mehr verbinden als mit einem dumpfdeutschen Skinhead oder aggressiven “Null-Bock-“Punk.
Anders formuliert: Innerhalb jeder lebendigen Zivilisation sind sehr viele Weltanschauungen (& Religionen!) zu finden, jede “Essentialisierung” blendet das aus…
Ob man selber in seiner Weltanschauung im Rahmen der eigenen Zivilisation/Kultur bleibt spürt man meist sehr genau. Die Pegida-Weltanschauung gehört eben nicht dazu (sie gehört nicht zur Leitkultur). Ihre Antwort tendiert in die Richtung: Eine liberale Weltanschauung ist universell und Teil einer Weltzivilisation. Und zu der will ich dazugehören. Als es noch einen West- und eine Ostblock gab war diese Haltung noch weit mehr verbreitet als heute. Man sprach von der Freien Welt als Gegensatz zum Kollektivismus aber auch mit der Hoffnung, dass früher oder später die ganze Welt frei sein werde und die westlichen Werte teile. Heute wird dies häufig als westliche Arroganz gesehen, sogar und gerade von den Bewohnern des Westens selber. Damit hat der Kulturrelatiivsmus an Einfluss gewonnen und die früher als universell gedachten Menschenrechte werden nun von vielen unter einen Kulturvorbehalt gestellt oder gar als westliche Erfindung gesehen – als Erfindung, die im Westen gilt, nicht aber unbedingt auf der ganzen Welt.
Allerdings ist der Höhepunkt des Kulturrelativismus wohl schon vorbei. Es gibt wieder einen stärkeren Glauben an universelle Werte als noch vor kurzem.
Nun, Pegida & Co. beanspruchen aber ja gerade, für “das Volk” zu stehen, “das Abendland” (!) zu verteidigen u.ä. Dass es sich letztlich um eine angst- und hasserfüllte Minderheit handelt, ändert ja nichts an dem Befund, dass also “innerhalb” der Zivilisationen sehr verschiedene Weltanschauungen um Einfluss ringen. Und so schreibt z.B. Richard Herzinger in der WELT darüber, dass der “klassische” Liberalismus (der sich in Deutschland erst nach einer katastrophalen Niederlage durchsetzte!) – dem Sie und ich wohl beide nahestehen und für unverzichtbar halten – derzeit europaweit von Querfront-Populisten herausgefordert und bekämpft wird:
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article150134078/Wie-Europa-den-geschenkten-Liberalismus-austreibt.html
Diese Leute sehen eben nicht Menschen- und Grundrechte, Bildung, Aufklärung und Dialog als “wesentlich” für “unsere” Zivilisation, sondern z.B. Herkunft und “Blut”, Hautfarbe, Protektionismus u.v.m…
Zitat:; “Zivilisationen und Kulturen sind längst nicht so einheitlich und abgegrenzt, wie behauptet” und mit einer afrikanischen Christin mag mich ggf. mehr verbinden als mit einem dumpfdeutschen Skinhead was das Ideal eines Multikulturalismus heraufbeschwört, in dem jeder sich auswählen kann was er glaubt, welche Gesetze für ihn anwendbar sind, wem er verpflichtet ist und wem er Steuern zahlt. Menschen gleicher Weltanschauung würden dann eine virtuelle Gemeinschaft bilden, die nicht mehr an Grenzen gebunden wäre. Erinnert einen etwas an Star Wars wo unterschiedlichste Kreaturen friedlich nebeneinander leben.
Durch die Möglichkeit der globalen Kommunikation und des globalen Reisens ist so etwas eher ins Reich der Möglichkeiten gerückt. Wenn auch noch alle Landesgrenzen fallen würden und jeder wohnen könnten wo er wollte, kämen wir noch näher an dieses Ideal.
Doch funktionieren würde es heute nicht, denn die Unterschiede in den Lebensverhältnissen zwischen verschiedenen Ländern sind zu gross. Zudem beobachtet man heute in Europa eher eine Renationalisierung und eine Angst vor fremden Einflüssen.
Hmm, fast. Unter einem “Multikulturalismus” würde ich ein unverbundenes Nebeneinander von Kulturen verstehen – demnach würde mich gerade nichts mit der afrikanischen Christin verbinden und der dumpfdeutsche Skinhead wäre ebenso “Kulti”. Genau so ist es aber nicht gemeint: Ich glaube an bestimmte (demokratisch-liberale, christliche & wissenschaftliche) Werte und finde dadurch Gemeinsamkeiten auch mit Angehörigen anderer Kulturen und Religionen. Ebenso finde ich, dass es in jeder Gesellschaft eine gemeinsame Rechtsordnung und Sprache geben sollte – und also gerade keine Parallelgesellschaften. Statt Multi- wäre dies wohl eher als Interkulturalität zu bezeichnen, die Vielfalt solange achtet, solange das grundlegend Gemeinsame dabei auch gesucht und gepflegt wird.
@ Herr Dr. Blume :
Weltanschauungen sind Sichten auf die Welt, die außerhalb der Philosophie genau dann besondere Bedeutung gewinnen, wenn sie politologisch anleiten, was regelmäßig der Fall ist, und insbesondere den Anspruch haben (gerne auch: näherungsweise) zu komplettieren.
(Wenn in der BRD bspw. Weltanschauungen besonders geschützt werden, wird dies erkennbar dann problematisch, wenn diese gegen diejenigen Gesellschaftssysteme gerichtet sind, die den Ideen und Werten der Aufklärung folgend implementieren konnten; der Nationalsozialismus oder der Marxismus-Leninismus bspw. sind Weltanschauungen.
Ham’Se vielleicht ein Vortrags-Manuskript oder ein Transkript zur Hand? – Lesen geht oft schneller als sehen und hören.
MFG + schönen Sonntagabend noch,
Dr. W
@Michael Blume:
Interessant, dass in der Wissenschaft mit diesen Definitionen gearbeitet wird. Ich selbst finde schon lange, der angemessene Begriff für unser Grundrecht in Art. 4 GG (das ist übrigens die fundamentale Norm, nicht die von Ihnen genannten ins GG übernommenen Artikel der WRV) wäre “Weltanschauungsfreiheit”.
Und wenn sich die heutige “Religions”wissenschaft offensichtlich mit religiösen wie nichtreligiösen Weltanschauungen beschäftigt: Wann passt sie ihren Namen ihrem Forschungsgegenstand an und benennt sich in “Weltanschauungswissenschaft” um?
Nebenbei: Wie sind die Begrifflichkeiten eigentlich international? Sie bloggen doch auch auf Englisch, Herr Blume, wenn ich mich nicht irre. Mir würde nicht einmal eine direkte Übersetzung von “Weltanschauung” einfallen.
@Quercus
Nun, selbstverständlich sollten Religionswissenschaftler auch nichtreligiöse Weltanschauungen und Gemeinschaften kennen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten benennen können.
Auch im englischen Sprachgebrauch findet sich die deutsche “Weltanschauung”, ebenso “(secular) worldview” und “ideology”. Eine (nichtreligiöse) Weltanschauungsgemeinschaft wäre eine “secular community”, z.B. von “humanists” oder “naturalists”, die es – wenn auch notorisch demografisch schwach und also instabil – auch in der angelsächsischen Welt gibt.
Danke für die klugen Nachfragen! 🙂
Lieber Herr Blume,
ich habe schon mit großem Interesse viele Beiträge von Ihnen gelesen und bin bei meiner aktuellen Recherche zur Grenze zwischen Weltanschauung und Religion auch wieder auf einen Ihrer Artikel gestoßen. Erst einmal vielen Dank für die interessanten und öffentlich zugänglichen Beiträge. 🙂
Ich hätte eine Frage zur Einordnung einer konkreten Organisation, “The Satanic Temple”.
Dazu vielleicht erst einmal ein paar Links um eventuelle Missverständnisse auszuräumen:
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/45879
https://de.wikipedia.org/wiki/The_Satanic_Temple
https://thesatanictemple.com/faq/
In den Vereinigten Staaten tritt “The Satanic Temple” als Religionsgemeinschaft auf, was die Basis für den Großteil der politischen Arbeit ausmacht. Mein Eindruck ist jedoch, dass sie in Deutschland eher einer Weltanschauungsgemeinschaft entsprechen würden, da zwar gemeinsame Werte und Symbole genutzt werden, aber jeder Glaube an Übernatürliches abgelehnt wird. Der Gründer selbst bezeichnet sich als “Religious non-beliefer”, bezieht sich aber an dieser Stelle auch auf die Privilegien, die Religionsgemeinschaften haben.
Mich würde an dieser Stelle ihre Einschätzung interessieren. 🙂
Viele Grüße
Franziska G.
Liebe Frau G.,
vielen lieben Dank für Ihre Frage!
Tatsächlich folge ich der auf Darwin aufbauenden Definition, wonach sich Religion auf den Glauben an u überempirische Akteure (umgangssprachlich: höhere Wesen) definiere. Dabei ist die Selbstauskunft der Glaubenden entscheidend, denken wir z.B. an den Buddhismus, der auch überempirischen Akteuren “eigentlich” bestenfalls eine zeitlich befristete Ecistenz zugesteht.
Die erwähnte Gemeinschaft hätte also selbst das Recht zu bestimmen, ob sie als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft geführt werden möchte. (Eine religionspsychologische Analyse unter den Mitgliedern dürfte wohl auch eine individuell variable Mischung von Beidem ergeben.) Verfassungsrechtlich sind beide Organisationsformen in Deutschland ohnehin gleichgestellt, vgl. die Humanisten in Baden-Württemberg, KdÖR, die auf einen früheren Landesverband der Freireligiösen zurückgehen.
Ihnen herzliche Grüße und noch einen schönen Feiertag!