Ist Borderline doch keine Persönlichkeitsstörung? Experten ziehen überraschendes Fazit

Psychiater bezeichnen “Borderline-Persönlichkeitsstörung” jetzt als “toxischen Term”. Die Zeitschrift der Britischen Königlichen Gesellschaft für Medizin berichtet

Ein gestörtes Selbstbild, starke Stimmungsschwankungen, Impulsivität, instabile Beziehungen, vielleicht sogar Selbstverletzung – ja, wer denkt dabei nicht gleich an die Borderline-Persönlichkeitsstörung? Der Begriff “Borderline” ist inzwischen – wie so viele andere aus der Welt der klinischen Psychologie – in die Alltagssprache eingesickert:

Man fühlt sich heute “depressiv” (niedergeschlagen?), ist etwas “autistisch” (unempathisch?) oder findet eine Idee “schizophren” (zwiespältig?). Diese Sprache dokumentiert die Normalisierung klinisch-psychologischen Denkens in unserer Gesellschaft.

Manchmal nicht ganz man selbst? Grafik: geralt auf Pixabay.

Wenn es aber nach Roger Mulder von der Universität Otago (Neuseeland) und Peter Tyrer vom Imperial College London geht, ist das bald anders. Ihr Fazit in einer neuen Publikation könnte nämlich kaum deutlicher sein: “Borderline-Persönlichkeitsstörung: Eine zweifelhafte Bezeichnung, die nicht von der Wissenschaft gestützt wird und aufgegeben werden sollte.

Damit knüpfen die Experten an eine kritische Denkweise an, die die Diagnose von Persönlichkeitsstörungen (dazu hier auf MENSCHEN-BILDER: “Es geht nicht ganz ohne soziale Normen”) und insbesondere Borderline für äußerst problematisch hält. Schon in den frühen 1990ern warnte George E. Vaillant von der Dartmouth Medical School davor, Menschen als “Borderliner” abzustempeln. Die Diagnose verrate vielmehr etwas über den emotionalen Zustand des Psychotherapeuten(!) als des Patienten.

Wissenschaftlich-philosophische Argumente

Natürlich bestreitet niemand, dass es Menschen mit den eingangs genannten extremen Gefühlen und Verhaltensweisen gibt. Aber wie hier bei MENSCHEN-BILDER und meinem eigenen Ansatz zu psychischen Störungen üblich, wollen wir streng zwischen einem Phänomen und dessen “Namen” (Bezeichnung, Wort, Klassifikation) unterscheiden.

Und dafür, die Bezeichnung “Borderline” aufzugeben, führen Mulder und Tyrer wichtige Argumente an; zwei erfahrene Experten, die übrigens für die Weltgesundheitsorganisation am Klassifikationssystem für Persönlichkeitsstörungen mitgewirkt haben.

Sie erinnern zunächst daran, dass die Diagnose vor über 60 Jahren aufkam, als Psychoanalytiker nach einer Bezeichnung für Probleme an der Grenze zwischen Neurose und Psychose suchten, die man möglicherweise psychotherapeutisch behandeln könnte. Die drei Hauptmerkmale instabile Stimmung, unbeständige Beziehungen und gestörtes Verhalten könnten, so Mulder und Tyrer, allerdings auch durch chronische Schlafprobleme ausgelöst werden. Außerdem passe das wechselhafte Auftreten der sogenannten Borderliner nicht dazu, dass Persönlichkeitsstörungen über die Zeit stabile Eigenschaften beschreiben.

Zudem seien alle Versuche gescheitert, Borderline mithilfe der weitverbreiteten Instrumente zur Messung von Persönlichkeit – wie der sogenannten Big Five – einzuordnen. (Zur Erinnerung: Das Fünf-Faktoren-Modell besteht aus Offenheit, Neurotizismus, Extraversion, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit.) “Wenn Borderline eine echte Persönlichkeitsstörung wäre, würde sie nicht außerhalb dieses Systems fallen”, argumentieren die beiden Psychiater.

Damit sei natürlich nicht gesagt, dass Personen, die bisher diese Diagnose bekamen, nicht andere, teils schwere psychische Probleme hätten. Diese würden sich aber meist mit anderen Persönlichkeitsstörungen oder Störungsbildern wie ADHS, bipolare Störung oder anderen Gefühlsstörungen überschneiden.

Die Arbeitsgruppen für das ICD-10 und ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation hätten sich darum auch gegen die Kategorie Borderline ausgesprochen, doch damit nicht gegen “mächtige Lobbygruppen” durchsetzen können. (Gemeint ist hier wohl die Mehrheit der Psychotherapeuten und Psychiater, die an der etablierten Begrifflichkeit festhalten will.)

Praxis: Und für die Patient*innen?

Wenn aus theoretischer Sicht so wenig für die Borderline-Persönlichkeitsstörung spricht, wie verhält es sich dann mit der Praxis? Ist die umstrittene Diagnose vielleicht wenigstens in dem Sinne nützlich, dass sie den Betroffenen eine bessere Therapie ermöglicht?

Auch hier kommen Mulder und Tyrer zu einem kritischen Ergebnis: Wenn man nämlich von der heute etablierten klinischen Redeweise über “Borderliner” absehe, blieben im Grunde nur allgemeine Methoden zur Reduktion von Stress und psychischem Leid übrig. Von diesen würden aber im Prinzip alle psychologisch-psychiatrischen Patienten profitieren – von denen im Fall von “Borderline” übrigens rund 80 Prozent weiblich sind.

Wenn es laut den Fachleuten keine spezifische Therapie gegen die fragliche Persönlichkeitsstörung gibt, sieht es dann vielleicht mit psychopharmakologischen Behandlungen besser aus? Das Ergebnis einer neuen Meta-Analyse durch die unabhängige Cochrane-Stiftung fiel jedoch ernüchternd aus.

Dennoch verschreibt man den Betroffenen oft Psychopharmaka, mitunter verschiedene Wirkstoffe durcheinander. Die Situation erinnert damit an die Forschung und Praxis zur Behandlung von Depressionen (Depressionen: Kommen die Fakten endlich ans Licht?).

Stigmatisierung

Falls sich beim Lesen dieses Artikels ein negatives Gefühl ausbreitet, muss ich Sie leider vorwarnen, dass das größte Problem überhaupt erst noch kommt: Was macht nämlich die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung mit den Betroffenen? Und mit denjenigen, die ihnen helfen sollen?

Mulder und Tyrer schreiben dazu, dass die Klassifikation selbst einer der größten Gründe für die Stigmatisierung der Patientinnen und Patienten ist. Und stärker noch: “Klinische Experten sind die größten Übeltäter dabei, ein Stigma zu fördern – und bei dem darauffolgenden Ärger, den das provoziert.” Ein anschauliches Beispiel hierfür sind verdrehte Augen sowie andere Mimik und Gestik oder eine Bemerkung wie “schon wieder eine Borderlinerin” durch Fachpersonal, das den Betroffenen eigentlich helfen soll.

Auch mir haben im Gespräch Betroffene mehrfach bestätigt, dass sie nach einer solchen Diagnose kaum noch ernst genommen wurden. Was passiert wohl, wenn sie daraufhin impulsiv und emotional reagieren? Natürlich ist das aus Sicht vieler Expertinnen und Experten dann nur eine Bestätigung dafür, dass die vorangegangene Diagnose stimmte.

Das wäre aber ein Kreislauf, aus dem man kaum mehr herauskommt – zumal dann, wenn man ernsthafte psychische Probleme hat. Ich selbst kann heute nur noch müde lächeln, wenn ich zum x-ten Mal von einem Psychiater oder einer Psychologin den Satz höre, man müsse etwas gegen die Stigmatisierung psychisch-psychiatrischer Patienten tun. Ja, warum fangen sie dann nicht gleich bei sich selbst damit an?

Das Etikett “Borderline-Persönlichkeitsstörung” kann noch auf ganz andere Art und Weise negative Konsequenzen haben. Mulder und Tyrer führen aus, dass man dann Probleme und Symptome, die auf andere Störungen oder Krankheiten hinweisen könnten, mitunter weniger ernst nimmt. “Das bestätigt die Sichtweise, dass die Diagnose von Borderline in zunehmender Weise zur Ausgrenzung verwendet wird; das führt nur dazu, dass die Betroffenen sich zunehmend entfremdet und ärgerlich fühlen”, so die beiden Psychiater.

Pragmatismus: Wessen Nutzen?

Man darf bei dieser Thematik nicht vergessen, dass die Klassifikation psychischer Störungen pragmatischer Art ist. Die beiden Fachleute, die daran auf höchster Ebene für die Weltgesundheitsorganisation mitgewirkt haben, wiesen bereits auf verschiedene Interessengruppen hin, die darauf Einfluss nehmen.

Aus philosophischer Sicht haben wir es hier eben nicht mit “Essenzen” zu tun, so wie beispielsweise ein Atom genau dann ein Goldatom ist, wenn es 79 Protonen hat. Wissenschaftstheoretiker wie der kürzlich verstorbene Ian Hacking (1936-10. Mai 2023) haben aufgezeigt, wie wissenschaftliche, klinische und andere institutionelle Faktoren mit den Erfahrungen der Patientinnen und Patienten interagieren. Wie in den Lebens- und Sozialwissenschaften üblich, kommt es zu zahlreichen Wechselwirkungen zwischen Beobachter und Beobachteten.

Das macht die Klinik und Forschung nicht willkürlich. Es erinnert uns aber daran, die Fachleute mit in die Gleichung aufzunehmen: Wie wirkt sich deren Denken und Handeln auf das Problem aus?

Dabei stellt sich auch die Frage, wessen Interessen das Gesundheitssystem im psychischen Bereich am ehesten dienen sollte: Dem der Forscherinnen und Forscher, der Psychiater, Psychologinnen, der Pharmafirmen oder der Patientinnen und Patienten?

Dass es in der Praxis vor allem um die Bedürfnisse der Patienten geht, ist gar nicht so offensichtlich. Beispielsweise kam er angesehene Depressionsforscher Corrado Barbui von der Universität Verona zum Ergebnis, dass die klinische Diagnose “Depression” eher formale Anforderungen erfüllt – nämlich mit Blick auf Rechenschaft und Kohärenz der Entscheidungen von Fachleuten.

Das heißt, dass auch Menschen mit einer depressiven Symptomatik – insbesondere negative Gefühle und/oder Antriebslosigkeit – nicht unbedingt mit einem psychologisch-psychiatrischen Etikett geholfen wird.

Ausblick

Mulder und Tyre schließen mit der konstruktiven Botschaft, wie Menschen mit der sogenannten Borderline-Problematik am besten geholfen werden könne: Bei leichten Fällen sei wahrscheinlich eine freiere Gruppentherapie am sinnvollsten; für diejenigen mit schwerer und auch unsozialer Problematik eigne sich eine individualisierte Therapie mit klar gezogenen Grenzen besser; bei Identitäts- und Dissoziationsproblematik könne sich die Therapie eher auf frühere Traumata konzentrieren.

Dieser letzte Punkt ist mir hier bei MENSCHEN-BILDER ganz besonders wichtig: Menschen mit schweren psychischen Problemen haben oft auch schwere traumatische Erlebnisse, Missbrauch und/oder Vernachlässigung durchgemacht. Deren individuelles Schicksal kann hinter einer Diagnose wie “Borderline-Persönlichkeitsstörung” schnell verschwinden.

Wenn Menschen mit diesem Hintergrund in der Jugend oder im Erwachsenenalter so ein schwerer Stempel aufgedrückt wird, der sie für Expertinnen und Experten als “schwierige Person” brandmarkt, werden sie möglicherweise zum zweiten Mal ausgegrenzt.

Wenn wir angeblich in so einer inklusiven und diversen Welt leben, warum kriegen dann förmlich alle mit abweichendem Verhalten oder anderen Erlebnissen ein psychologisch-psychiatrisches Etikett verordnet, um sie dann mit Psychotherapie und/oder Medikamenten an die gesellschaftliche Normalität anzupassen?

Natürlich ist es nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, wenn jemand beispielsweise Glassplitter oder Rasierklingen schluckt, wie es bei der hier beschriebenen Problematik in Extremfällen vorkommen kann. Aber nicht für alle Probleme gibt es eine einfache Lösung. Das erste medizinethische Prinzip ist und bleibt dennoch: Richte keinen Schaden an!

Das gilt auch für den Prozess der Diagnose. Laut den Fachleuten für Persönlichkeitsstörungen, Roger Mulder und Peter Tyrer, sollte die Kategorie Borderline darum als unwissenschaftlich und potenziell schädlich aufgegeben werden.

P.S. Stigmatisierung

Man sollte natürlich auch an die Seite des Klinikpersonals denken, das durch eine Borderline-Symptomatik hart auf die Probe gestellt werden kann. Die oben kritisierten Gesten und Ausdrucksweisen dienen dann vielleicht primär dazu, mit Stress umzugehen und auch mal Druck abzulassen.

Was wäre das aber wohl für eine Welt, in der man Menschen mit schlimmen Erlebnissen keine neue Identität in Form eines klinisch-psychologischen Etiketts überstülpt – sondern sie primär als das sieht: Als Menschen, die oft einfach das Pech hatten, in einer schädlichen Umgebung gelandet zu sein, in der sie viel Schlimmes erfuhren.

Das könnte Sie auch interessieren:

Originalpublikation: Mulder, R. & Tyrer, P. (2023). Borderline personality disorder: a spurious condition unsupported by science that should be abandoned. Journal of the Royal Society of Medicine, 116, 148-150.

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147 Kommentare

  1. Wenn Borderline keine Persönlichkeitsstörung mehr sein soll, müsste man doch auch begründen, warum etwa Narzissmus weiterhin eine Persönlichkeitsstörung bleiben soll. Was macht hier den Unterschied.

    Nun zu den einzelnen oben erwähnten Punkten:
    – wenn Borderline nicht mit dem Big Five Schema erfasst werden kann, muss man sich auch fragen ob das Big Five Schema überhaupt definiert, was eine Persönlichkeit ausmacht und zweitens muss man sich fragen ob die Definition einer Persönlichkeitsstörung fordert, dass man eine Definition von Persönlichkeit besitzt . Gemäss MDS-Manual gilt:

    Persönlichkeitsstörungen sind langanhaltende, tiefgreifende Muster des Denkens, der Wahrnehmung, der Reaktion und Bezugnahme, die dazu führen, dass die jeweilige Person stark darunter leidet und/oder ihr Lebensalltag beeinträchtigt wird.

    Das MDS-Manual kommt also ohne einen Begriff, ohne Definition von Persönlichkeit aus, um zu bestimmen, was eine Persönlichkeitsstörung ist.
    – Therapierbarkeit (Zitat): Ist die umstrittene Diagnose vielleicht wenigstens in dem Sinne nützlich, dass sie den Betroffenen eine bessere Therapie ermöglicht?
    Nun, wenn Borderline kaum therapierbar ist, spricht das doch gerade dafür, dass es eine Persönlichkeitsstörung ist. Denn eine Persönlichkeit lässt sich auch sonst kaum wegtherapieren. Das wird bereits durch den Begriff Persönlichkeit ausgedrückt, denn wir meinem mit Persönlichkeit das Wesen einer Person. Wenn das Wesen einer Person SozialEngineering oder PsychoEngineering zugänglich wäre, dann müssten wir gar nicht mehr von Persönlichkeit sprechen, sondern könnten analog zum „Lebensabschnittspartner“ von der Lebensabschnittspersönlichkeit sprechen.

  2. Was bitte ist ein EXPERTE und was ist eine PERSÖNLICHKEIT ? Ich habe in meiner Tätigkeit sehr viel mit Künstlern (Schriftsteller, Schlagersänger, Musiker etc.) gearbeitet. Auf sehr viele dieser Menschen würde ihre Bordeline Beschreibung passen ,allerdings mit der Ergänzung das diese von mir Genannten sehr kreativ waren/sind. Sehr wahrscheinlich würden diese “Bordeliner” dann die anderen PERSÖNLICHKEITEN als Bordeliner einordnen da diese ,durch Werbeindustrie und Medien ferngesteuert(maniupuliert) in ihren abartigen Leidenschaften anderen Götzen folgen und chaotisch den materiellen Werten, so wie gesellschaftlich einprogrammiert, folgen. Bei dem Begriff EXPERTE habe ich immer Probleme da man in den Medien solche Spezies täglich massenweise serviert bekommt und
    manche vor Eitelkeit und Selbstdarstellung triefen. Vielleicht könnte das auch eine (die) Persönlichkeitsstörung dieser egomanischen Gesellschaft sein ?

  3. Klingt nach der Diagnose, dass eine Frau immer dann ihre Tage hat, wenn sie sich verhält wie ein Mann, und ein Mann immer dann, wenn er seine Hysterie nicht in Politik sublimiert…

    Menschen neigen dazu, Autoritäten zu spiegeln, die Frage ist also, ob der Therapeut nicht erst die Krankheit auslöst, die er therapiert. Müsste man sich angucken. Doch die Zauberkraft, mit der Dracula seine Opfer hypnotisiert und zu seinen gehirngewaschenen Sklaven macht, gibt es tatsächlich, und der Schlüssel dazu heißt „Vertrauen“. Lustig wäre es, sich ein Pingpong-Spiel vorzustellen: Der Therapeut übt seinen Job aus, weil er nach Anerkennung und Nähe sucht, das gibt dem Patienten eine gewisse Autorität, ihn zu prägen. Er projiziert seine Neurosen auf den Arzt, der Arzt verstärkt sie, projiziert sie auf den Patienten, und so steigern sie sich in eine Art Folie à deux hinein… Hey, ist das nicht, wie eine Heilung erfolgt – indem man den Wahn des Patienten mit dem umweltkonformeren Wahn des Arztes synchronisiert?

    Objektiv betrachtet, gibt’s nur Systeme, die so lange funktionieren, bis sie zerbrechen. Wenn ein Patient nicht von sechs Leuten in einer Kiste ins Behandlungszimmer getragen wurde und der Therapeut eine Atmung feststellt, ist er offensichtlich ein funktionierendes System, auch wenn die Atmung gebraucht wird, um genauso wirres Zeug wie der Rest der Menschheit aber eine atypisch personalisierte Variante davon in die Welt hinauszuschreien. Die zeigt nur, dass da ein Hirn drin ist, das offensichtlich gut genug funktioniert, um dem Patienten das Überleben in einem Biotop aus Couch, Kantine und Gummizelle zu ermöglichen. Anders gesagt, der Wahnsinnige ist nur so lange wahnsinnig, bis Sie ihm eine Klapse bauen, dadurch wird er zu einer gesunden, perfekt angepassten Variante an eine neue Umweltnische.

    Das Hirn besteht aus einem Bausatz von Standard-Klötzchen, die so zusammengepuzzelt werden, dass es irgendwie passt. Gut ist es nie, nur gut genug: Es ist eine eigene Welt, die zur Realität die gleiche Beziehung hat, wie Deutschland zum Rest der Menschheit – füttere mich durch, solange das klappt, lmaa, ich spiele nur mit mir selbst, bleib draußen, ich will von dir nix wissen. Wir können nur entscheiden, was wir als Störung ansehen, nicht herausfinden, was eine ist, denn für die Natur sind Schmerz und Leid genauso ein Standard-Klötzchen, wie alle anderen auch, und sie verbaut diejenigen, die gerade passen, so viele, wie’s gerade passt.

    Wäre schön, wenn sich die Einsicht durchsetzen würde, dass der Psychiater und -loge ein Hobbybastler ist, der an einem von Natur aus improvisierten und provisorischen Frankenstein-Gadget herumschraubt, das nicht für Perfektion vorgesehen ist, sondern nur dafür, eine Eintagsfliege so lange notdürftig am Ticken zu halten, bis sie ihre evolutionären Jobs erledigt hat und auf den Kompost kann. Wir sind Fließbandprodukte, Masse statt Klasse, Zahnräder, die nur zwei, drei Drehungen durchhalten müssen, bevor sie zerbrechen, denn Ersatz gibt’s genug. Auch unser Leben kann nur ein schnelles Flickwerk sein, ein Provisorium, das sich genauso gut an unseren Macken orientieren kann, wie wir an den Macken der Gesellschaft oder sonstiger jeweiliger Lebenswelt. Wie’s grad passt. Ikarus fliegt zur Sonne, Ikarus fällt, Stewardess Shrink macht die Sicherheitseinweisung, serviert die Cocktails und fragt, ob sie ein Kopfkissen bringen soll, während sie ihren eigenen Ikarus hinlegt, auf einer eigenen Flugbahn.

    Gesund ist man, wenn man in ein Leben kommt, das für einen selbst funktioniert. Auch wenn die Wände aus Gummi sind und man ohne seine täglich Spritze nicht leben kann – kann man ohne Wasser auch nicht, Gleiches in Grün. Gucken Sie also, dass der Patient halbwegs happy ist und keinem weh tut, passt schon.

  4. Paul S,
    Warst du noch nie verliebt ?
    Hast du schon einmal einen Baum gepflanzt ?
    Hast du schon einmal Verantwortung für andere Menschen übernommen ?
    Wenn nicht, dann bist du eine Künstliche Intelligenz.
    Anders kann ich mir diesen Satz nicht erklären.
    “Wir sind Fließbandprodukte, Masse statt Klasse, Zahnräder, die nur zwei, drei Drehungen durchhalten müssen, bevor sie zerbrechen, ”

    Zur Richtigstellung und damit du dein Persönlichkeitsmodul neu updaten kannst.
    Wir sind einzigartig. Wir sind für andere Menschen ein Bezugspunkt, ein Felsen in der Brandung des Lebens. Wir sind Halt und Vorbild und wenn wir viel Geld haben, dann sind wir auch als Erbonkel oder Erbtante interessant.

    Probier es aus. Kaufe dir eine ungewöhnliche Kappe oder einen Hut. Du wirst Nachahmer finden. Sei ein Trendsetter !

  5. Die bei „Borderline“ auftretenden Probleme sind für mich als ehemaligen Elektroniker interessant.

    Sie traten nämlich früher in „Gatter gesteuerten elektronischen Systemen“ (die eine gewisse Ähnlichkeit mit neuronalen Systemen hatten), in ähnlicher Form, gelegentlich auf.

    Die „Funktionsgruppen“ waren, auch aus Redundanz gründen, im System verteilt. Das ergab sich hauptsächlich wegen der Systementwicklung, weil die Systeme sozusagen evolutionär allmählich immer komplexer geworden sind.

    Wenn alles korrekt funktioniert, werden die Elemente durch elektrische Signale von den vorgelagerten Elementen „angesteuert“ (aktiviert) und das Prozessgeschehen „bewegt“ sich ähnlich wie eine „La-Ola-Welle“ selektiv über viele benötigte Systemkomponenten um die erforderlichen Funktionen zu generieren.

    Das neuronale System dürfte, anders als technische Systeme, sozusagen sehr viele „nur ungefähr gleiche Systemkomponenten parallel“ enthalten, die sozusagen „wechselweise“ aktiviert werden.

    Ein „Borderliner“ dürfte Pech haben, weil einerseits der Anteil „(eher weniger) problematischer Teilkomponenten“ höher sein dürfte als „normal“, die aber andererseits auch noch häufiger in das Prozessgeschehen „eingebunden“ werden als die „problemlosen Komponenten“. Beim “Normalo“ bewirkt dies womöglich charmante „Varianten (Launen)“ des „Handelnden“, beim Borderliner mitunter schwere „Auffälligkeiten“.

    Bei den “üblichen Problemfällen“ (der Psychiatrie) dürften einzelne „funktionale Komponenten“ stärker „Problem behaftet sein“ als beim „Borderliner“, aber eben nur wenige der verschieden „Funktionsgruppen“ betroffen sein. (Problem behaftet „umgeht“ den Begriff „Störung“, weil sowohl die “Hardware“, die „Software“, als auch die „Programmierung“ oder die „Umgebung“ kausal für das „Problem“ sein kann).

    Das Problem scheint sich aus der besonderen Funktionsweise des Gehirn zu ergeben, die noch nicht so richtig verstanden werden dürfe. Es dürfte allerdings ähnliche „Funktionsmuster“ wie z.B. (früher) in der Elektronik geben.

    Bei „Ausfall“ einzelner „Problemkomponenten“ hilft mitunter eine selektive chem. Blockierung von Komponenten oder ein „Umlernen“ durch Therapie. Das wird aber sehr komplex bis unmöglich wenn viele verschiedene Komponenten betroffen sind….

  6. Elektroniker,
    in interessanter Gedanke, eine Krankheit mit vielen Facetten als eine technische Störung anzusehen.
    Vielleicht steckt hinter allem eine Fehlsteuerung der Hormone, die solche schwerwiegenden Auswirkungen hat. 60 % der Betroffenen sollen mindestens einen Selbsttötungsversuch hinter sich haben.

    Zu den Begrifflichkeiten kann ich nichts beisteuern.Vielleicht sollte man von einem Syndrom sprechen.

  7. @Stefan Schleim – Ein anschauliches Beispiel hierfür sind verdrehte Augen sowie andere Mimik und Gestik oder eine Bemerkung wie “schon wieder eine Borderlinerin” durch Fachpersonal, das den Betroffenen eigentlich helfen soll.
    Kann ich aus der Praxis bestätigen. Und dann wird alles eingesammelt, was gefährden könnte (Zeitschriften, wegen der kleinen Metallteile in der Mitte der Seiten, Knopfbatterien, etc.) und alle anderen auf Station haben so nen Hals aufs Personal, dass sich für die Betroffenen leichter wer findet, der Rasierklingen schmuggelt. Ein ewiger Rattenschwanz.

    Ich habe Borderliner immer als Kunden empfunden, die ein absolut verlässliches Ohr für Ungerechtigkeiten haben.
    Wenn man klar kommunizieren kann, sind sie meiner Erfahrung nach extrem dankbar und so ehrlich, wie es ihnen möglich ist. Sie können ein klares (begründetes) Nein meistens auch deutlich besser vertragen/einordnen als jemand mit einer NPS, einer Schizophrenie oder jemand auf Entzug.
    Und – sie haben oft einen sehr feinen Sinn für Humor, was man in der Psychiatrie auch nicht bei allen Krankheitsbildern vorfindet.

    Mich hat ihr Artikel sehr gefreut, das sind gute Neuigkeiten!
    Ich habe mich schon länger gewundert, warum da nicht die frühen Traumata im Mittelpunkt stehen, die sie, meiner Erfahrung nach, alle haben.
    ————————–
    @Elektroniker – ich bin fasziniert von ihrer “Trefferquote” – “weil sowohl die “Hardware“, die „Software“, als auch die „Programmierung“ oder die „Umgebung“ kausal für das „Problem“ sein kann”.
    In meinen Augen: gut erkannt. (Auslöser für die Symptome, nicht für das ursprüngliche Trauma, das hab ich richtig verstanden, oder?)

    Das wird aber sehr komplex bis unmöglich wenn viele verschiedene Komponenten betroffen sind….
    Naja, in der Praxis ist es ja so, dass wir alle aus diesen “verschiedenen Komponenten” bestehen. Und man sie sowieso alle mit einbeziehen müsste, egal, wie viel “Betroffenheit” wo besteht.

    Herr Schleim (bzw. Mulder und Tyrer) beschreiben es ja auch schon: “Bei leichten Fällen sei wahrscheinlich eine freiere Gruppentherapie am sinnvollsten; für diejenigen mit schwerer und auch unsozialer Problematik eigne sich eine individualisierte Therapie mit klar gezogenen Grenzen besser; bei Identitäts- und Dissoziationsproblematik könne sich die Therapie eher auf frühere Traumata konzentrieren.”

  8. zu Elektroniker “normal”
    Was bitte ist “normal” bei Menschen ? Wenn sie mir diese Frage beantworten können schlage ich sie für den Nobelpreis vor. Wir alle unterliegen irgendwie Gefühlsschwankungen. Wer emotional stärker ausgeprägt ist als die “Normalen” hat damit mehr Probleme. Ich habe hier etwas gegen “Experten”. Dieser Begriff ist gesetzlich nicht geschützt und im Prinzip kann sich jede Toilettenfrau als Experte bezeichnen. Es ist nur die Frage ob sie dann diesen “normalen” Experten glauben der dann bei ihnen vielleicht Bordeline feststellt ,frei nach dem Mott: Fünf Diagnosen von drei Ärzten.

  9. @Holzherr: Narzissmus – Sie recherchieren doch so gerne. Vielleicht kommen Sie dann auf’s Ergebnis, dass sich die narzisstische Persönlichkeitsstörung vielleicht besser mithilfe der etablierten Persönlichkeitsmaße abbilden lässt? Meiner Erinnerung nach war aber trotzdem umstritten, ob das als Störung zu gelten hat.

    Und warum gibt es eigentlich keine manische Störung? Tja. Ein Schelm, wer denkt, dass sich in solchen Entscheidungen unsere herrschende Moral widerspiegelt.

  10. @Holzherr: Big Five – Ihr Argument schneidet aber in beide Richtungen. Das Fünf-Faktor-Modell ist eben besser validiert als die (angebliche) Borderline-Persönlichkeitsstörung.

    Meiner Erinnerung nach stand schon im Haupttext, dass stabile Merkmale eine Voraussetzung für Persönlichkeitsstörungen sind; und dass sich diese bei “Borderline” eher nicht finden lassen. Jetzt könnte man in einer philosophischen Stimmung sagen, da sei eben das Instabile das Stabile.

    Und dass die (fehlende) Behandelbarkeit etwas darüber aussagen soll ob etwas eine Persönlichkeitsstörung ist, wäre eher ein Reutlinger-Argument. Ihre Augenfarbe ist (höchstwahrscheinlich) ein stabiles Merkmal, doch keine Persönlichkeitsstörung. Siehe Unterschied: notwendige/hinreichende Bedingungen. Und allgemein gilt, wie immer: “Störung” ist halt ein normativer begriff.

  11. @Hakel: Grundlegendes Kriterium für alle psychischen Störungen ist ohnehin, dass es behandlungsbedürftiges psychisches Leid und/oder eine erhebliche funktionale Einschränkung gibt.

    Mit anderen Worten, wenn Ihre Freunde aus der Kunstwelt unter ihren psychischen Prozessen nicht zu sehr leiden und sie ihr Leben einigermaßen gut leben können, sollte man meiner Meinung nach keine Störung diagnostizieren – doch ich bin kein klinischer Psychologe.

  12. @Paul S: Ich kann Ihre vereinfachten, ja schon etwas einfältigen Gender-Stereotypen nicht nachvollziehen und versuche, hier ernsthaft über ein Thema zu diskutieren.

  13. @Viktualia: Ich hatte wohl ein paar Beziehungen mit Frauen, die einige dieser Merkmale aufwiesen, mal stärker, mal schwächer. Auch wenn das oft keine einfachen Beziehungen waren, führten sie oft zu so intensiven wie tiefen Erfahrungen, die ich nicht missen möchte. Ich wünsche ihnen allen das Beste. (Eine ist jetzt, übrigens, wie ich kürzlich sah, in einer Ausbildung zur Försterin, nachdem sie schon ein Studium in Neurowissenschaften abgeschlossen hat. Die viele Zeit in der Natur und mit den Tieren kann ich mir für sie sehr heilsam vorstellen. Zudem macht sie beeindruckende Tier- und Pflanzenfotos.)

    Und zur Therapie, da kenne ich mich in der Praxis zu wenig aus. Bei ein paar Leuten würde ich meinen, man sollte sie einfach mal zur Ruhe kommen lassen, so wie sich der Sand in einem Wasserglas irgendwann von selbst setzt, wenn man nicht ständig rührt.

    Haben Sie das Buch von Kaysen (Girl, interrupted!) gelesen? Ich habe es jahrelang im Unterricht verwendet.

  14. @ irgendwer 16.06.2023, 15:49 Uhr

    Zitat: „ein interessanter Gedanke, eine Krankheit mit vielen Facetten als eine technische Störung anzusehen.“

    Techniker, hauptsächlich Elektroniker, bezeichnen umgekehrt in ihrem sehr „anschaulichen“ Jargon technische Störungen mitunter mit Begriffen aus der Psychiatrie. Z.B. sprechen sie von „Hysterie“, wenn im Flugzeugcockpit Störlampen aufleuchten, obwohl keine „richtige Störung“ vorliegt.

    Ein Bohrautomat der wegen ein vom Programmierer „vergessenes Koma“ mit dem Bohrer die eigene Konsole angebohrt hat, so dass die Trümmer durch die ganze Fabrikhalle flogen, galt als „Schizophren“. ….

    Borderline dürfte eher „multifaktorielle“ Ursachen haben und deswegen schwer behandelbar sein.

    Andere neurologische Erkrankungen scheinen für einen Laien sehr schwer, aber nur wenige Tage Behandlung mit Medikamenten reichen mitunter und der Patient scheint praktisch wieder gesund.

  15. @ Viktualia 16.06.2023, 16:13 Uhr

    Zitat: “weil sowohl die “Hardware“, die „Software“, als auch die „Programmierung“ oder die „Umgebung“ kausal für das „Problem“ sein kann”.

    Ich habe versucht, mit modernen, allgemein recht gut bekannten Begriffen aus der Informatik die Funktion, als auch Probleme beschreiben zu können.

    Die Begriffe sind nicht nur für die Beschreibung von Symptomen gedacht, sondern auch dazu die Funktionen besser zu verstehen, oder die Ursachen von Problemen besser formulieren zu können.

    Ein „Trauma“ z.B. wurde sozusagen „gelernt wie Software“. „Lernen“ ist so etwas wie „automatisches Programmieren“, allerdings so, dass auf „traumatische Information“ ein besonders „guter Daten Zugriff“ möglich ist. Diese „Software“ kann immer wieder von „Erinnerungsmustern aktiviert“ werden, so dass andere, zweckmäßigere „Denkmuster“, nicht aktiviert werden können. Das kann einerseits Schutzmechanismen auslösen, aber auch hinderlich sein, wie es sich mit Traumata eben verhält.

    Meiner Meinung nach werden „Programmmuster“ (für die Informationsverarbeitung) in hauptsächlich „baumartigen Strukturen“ (im Sinne der Informatik) „abgebildet“.

    Andererseits werden die „Bewusstseinsmuster“ auf flächigen Strukturen „abgebildet“. (Mental fields nach Libet).

    Derartiges kann man aber nur mit Informatik/Elektronik Background nachvollziehen.

    Baumartige Strukturen sind „hierarchisch“, bedeutet dass „Traumata“ vermutlich vorzugsweise mit „höherer Priorität abgearbeitet“ werden.

    Zitat: „Das wird aber sehr komplex bis unmöglich wenn viele verschiedene Komponenten betroffen sind….“

    Damit habe ich ganz allgemein gemeint, dass z.B. mehrere Körper Organe aus den bekannten Gründen schwieriger zu behandeln sind als ein einziges Organ. Bestimmte Medikamente können gleichzeitig manchen Organen nutzen und anderen Organen schaden.

    Im Gehirn spielen auch „strukturierte Bereiche“ eine Rolle. Bedeutet, aus Heilungsgründen können „Bereiche“ mit Medikamenten selektiv „blockiert“ oder „aktiviert“ werden. Bzw. bei Therapien können durch Training neue zusätzliche Strukturen gebildet werden, die sozusagen überwiegend den Job der problematischen Strukturen übernehmen.

    Auch hier ist naheliegend, dass einzelne Bereiche besser zu behandeln sind, als mehrere verteilte Bereiche.

    Ich kann zwar die Behandlungskonzepte mit den Methoden der Elektronik/Informatik nachvollziehen, weiß aber nichts über die Zweckmäßigkeit der Behandlungsstrategien und deren Vor- und Nachteile.

  16. @Stephan Schleim (Zitat): „Meiner Erinnerung nach stand schon im Haupttext, dass stabile Merkmale eine Voraussetzung für Persönlichkeitsstörungen sind; und dass sich diese bei “Borderline” eher nicht finden lassen.“
    Doch. Borderliner haben stabil das Gefühl der inneren Leere. [Nein, das stimmt so nicht. S. Schleim]
    Gemäss MDS MANUAL gilt:

    Persönlichkeitsmerkmale stellen Denk-, Wahrnehmungs-, Reaktions- und Beziehungsmuster dar, die im Laufe der Zeit relativ stabil sind.

    Persönlichkeitsstörungen bestehen, wenn diese Merkmale so ausgeprägt, starr und unanpassungsfähig werden, dass sie die Arbeit und/oder das zwischenmenschliche Funktionieren beeinträchtigen. Diese sozialen Fehlanpassungen können bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen und bei ihren Mitmenschen erhebliche Belastungen verursachen. Für Menschen mit Persönlichkeitsstörungen (im Gegensatz zu vielen anderen, die eine Beratung suchen) ist die Not, die durch die Folgen ihres sozial maladaptiven Verhaltens verursacht wird, in der Regel der Grund, warum sie eine Behandlung suchen, und nicht das Unbehagen mit ihren eigenen Gedanken und Gefühlen. Daher müssen Kliniker den Patienten zunächst helfen zu erkennen, dass ihre Persönlichkeitsmerkmale die Wurzel des Problems sind.

    DSM-5 gruppiert die 10 Arten von Persönlichkeitsstörungen in 3 Cluster (A, B und C), basierend auf ähnlichen Eigenschaften.

    Borderline: Innere Leere, instabile Beziehungen und emotionale Fehlregulation

    Fazit: Bei Borderline sind wie bei anderen Persönlichkeitsstörungen das Gefühl der Identität und die zwischenmenschlichen Beziehungen gestört. Eine Therapie ist möglich, allerdings meist (nur) auf Verhaltensebene ohne wirkliche Persönlichkeitsänderung.

  17. Borderline: Innere Leere, instabile Beziehungen und emotionale Fehlregulation
    Fazit: Bei Borderline sind wie bei anderen Persönlichkeitsstörungen das Gefühl der Identität und die zwischenmenschlichen Beziehungen gestört.
    Eine Therapie ist möglich, allerdings meist (nur) auf Verhaltensebene ohne wirkliche Persönlichkeitsänderung.

    Puh, was für ein eklatanter Widerspruch – und ich wette, keiner merkts.
    (@Martin Holzherr, das ist jetzt nicht als Kritik an ihnen, ihren Worten oder dem MDS Manual gedacht.)
    Aber mir geht es um das Fazit, bei dem ich einen heftigen Widerspruch zum Artikel, wie auch zur Realität sehe.

    Ich habe da ein Verständnisproblem – das Vorhandensein einer “innere Leere” mit daraus resultierender “fehlender Identität” ist eigentlich die Voraussetzung zum Ändern einer Persönlichkeit.
    Jedenfalls bei gesunden, erwachsenen, selbständigen Menschen.
    Die müssen sich, wenn eine Änderung der Persönlichkeit gewollt ist, auch erst “leeren”, dann ihre Identität “ablegen” (nicht mehr an sie glauben) und können erst dann etwas neues zulassen.

    Das sollten wir doch spätestens aus den Drogenexperimenten gelernt haben, dass “Festhalten an der Persönlichkeit” und “Füllen der inneren Leere” die Zivilisationsübel sind, die uns davon abhalten, so etwas wie “Freiheit” (im verantwortlichen Sinne) ausleben zu können. Davon, “individuelle Persönlichkeit” zu entwickeln.

    Was dem “Fazit” völlig fehlt ist “der Sinn” – mal in einem gesunden, mal in einem verwundeten Kontext. (Da geht es um das Funktionieren des Menschen, nicht um seine Entwicklung.)

    Es gibt eine “spirituelle Leere” und eine, die der reine Horror ist, nichtsdestotrotz ist Leere leer.

    Borderliner blicken halt, da sie durch diverse Traumata gelernt haben, dem Braten nicht zu trauen, hinter die Fassade und haben dadurch im Guten wie im Schlechten weniger Halt.

    Wenn ich als Therapeutin nicht “die Person ändern” will, sondern weiß, was “Orientierung geben” eigentlich bedeutet, ist da natürlich eine “Persönlichkeitsänderung” – im Sinne einer eigenen Persönlichkeit, bzw. Stabilisierung – möglich.
    (Himmelherrgottsackzement!)

    “Orientierung geben” sollte dabei auf Persönlichkeitsrechte bezogen sein und nicht auf das Funktionieren in einer dysfunktionalen Gesellschaft – that´s the trick.
    (Sorry, natürlich ist es nicht so einfach, da dieser “Trick” recht komplex ist. Aber es ist auch keine Atomphysik.)
    —————————-
    So einen rant muss ich erläutern: ich habe 5 Jahre Geschlossene und 10 Jahre Ambulanz gemacht und war immer froh, als Ergotherapeutin “nix mit Diagnose am Hut” zu haben, ich behandle, ich diagnostiziere nicht.

    Natürlich verlasse ich mich auf die Kompetenz der Diagnostik, aber ich darf, bzw. soll diese ja ändern.

    Als Therapeutin habe ich keine “gleichberechtigte” Beziehung zu meinem Schützling, sondern eine Fürsorgepflicht; ich diene, ich herrsche nicht.
    Und mit diesem instinktiv nährenden Ansatz bin ich ziemlich weit gekommen; ich habe mir diesen Raum genommen, um von den Kunden lernen zu können.
    ————————–
    @Elektroniker – ihr “Baum” kommt mir vor, als würde der Stamm seine Äste und diese die Blätter nicht kennen – ist in ihrem Bild Platz dafür, dass diese Strukturen miteinander interagieren?
    Das “Angst/Sicherheit/Neugier” da im Kernholz sitzt und sich durch die ganze Struktur zieht? (Von den Wurzeln bis in die Blattadern?)

    Medikamente verschaffen Zeit; würde man das, was sie erledigen, “zu Fuß” machen müssen, wäre man überlastet. Man schafft in dieser Zeit aber nicht so viel an “der Persönlichkeit”.

    “Schutzmechanismen” – das ist “das Wesen psychischer Krankheit” (finde ich), dass Schutzmechanismen nur im jeweiligen Kontext schützen.
    Es ist genau dieser “Schutz”, der die Krankheit (das Symptom) ausmacht, der Glaube, diesen Schutz nötig zu haben.
    (Ich hoffe, das war nicht zu kurz gefasst; gibt es für so etwas auch eine Parallele in der Elektronik?)
    ———-
    @Stephan Schleim: nein, das Buch habe ich nicht gelesen, aber gegoogelt; klingt interessant, wenn auch uralt. In einigen “Theorien” konnte ich mich wiederfinden: dass sich z.B. “psychische Krankheiten” aus normalen Reaktionen, die überschießen oder nicht gelenkt werden können, zusammen setzen.

  18. @ Viktualia 17.06.2023, 08:03 Uhr

    Ich finde es sehr interessant, mit einer Person diskutieren zu dürfen, die „direkt an der Front“ arbeitet.

    Zitat: „Borderline: Innere Leere, instabile Beziehungen und emotionale Fehlregulation
    Fazit: Bei Borderline sind wie bei anderen Persönlichkeitsstörungen das Gefühl der Identität und die zwischenmenschlichen Beziehungen gestört. ……
    Persönlichkeitsänderung.

    Puh, was für ein eklatanter Widerspruch – und ich wette, keiner merkts.“

    Dass Sie da einen Widerspruch sehen, scheint völlig logisch.

    Allerdings dürfte es sich so verhalten, dass man zwar eine innere Leere „fühlt“, aber in Wirklichkeit ist „das Gehirn vollgemüllt“ mit „Gedanken der Leere“ („abgebildet“ auf Strukturen aus Neuronen und Synapsen) die dem Bewusstsein eine innere Leere nur „vorgaukeln“. Das ist bei Psychiatriepatienten oft ein Problem, dass sie sich „Gedanken einbilden“ die eben nicht wirklich real sind. Der Begriff „Abbildung“ kommt aus der Mathematik/Informatik, bitte dort googeln.

    Das Problem ist nur, man kann diese Strukturen die sich nun einmal fehlerhaft, aus welchen Gründen auch immer, gebildet haben, nicht einfach mit der „Zange“ abscheiden. Bei den sehr alten technischen Strukturen konnte man sehr wohl fehlerhafte Strukturen die „der Lehrjunge“ eingebaut hat, einfach mit der Zange herausschneiden und neue einbauen. Im Computer kann man sie „löschen“ und neu „einspeichern“.

    Im Gehirn kann man diese „Gedankengänge“ (Signale) entweder mit Medikamenten blockieren, was oft „funktioniert“ , oder Therapeuten versuchen im Gespräch oder Training neue Strukturen aufzubauen. Wenn ein Patient besonderes Glück, hat „zerfallen“ die alten Synapsen oder werden inaktiv und der Patient wird „die blödsinnigen Gedankengänge“ wieder endgültig los.

    Wichtig sind möglichst viele neue, erweiterte Strukturen, was Sie mit Ihrem Training bewirken….
    Lernen, neu Programmieren, ist immer „Strukturerweiterung“.

    Es ist in der Tat so, dass die „Baumstrukturen“ zusätzlich sozusagen „interagieren“. Techniker sagen, sie sind zusätzlich „vermascht“. Damit können in der Psychologie die wichtigen Assoziationen realisiert werden. Aus „falschen Assoziationen“ können die Psychologen wichtige Schlüsse ziehen („Psycho Test“).

    Die „Bedeutung“ der „Strukturen“ können normalerweise nur Informatiker/Netzwerktechniker so richtig nachvollziehen.

    “Angst/Sicherheit/Neugier” sind so etwas wie „Gefühle“. Die werden zwar, technisch gesehen, vermutlich „informell“ in den „Strukturen konstruiert“, dürften aber auf „flachen mental fields“ im Bewusstsein „angezeigt werden, wie technische Informationen oder Landschaftsbilder im Fernseher.

    Ich kann leider keine eindeutigen Aussagen darüber machen, ob die „Empfindungssensorik“ nur in flachen, oder auch in räumlichen Strukturen vorhanden sind. Dann gäbe es sozusagen „Zuordnungsprobleme“. Aber z.B. der vage Begriff „Magengefühl“ könnte darauf hindeuten, dass Sensorzellen auch etwas „unstrukturiert“ lokalisiert sein könnten. Normalerweise will ein Techniker immer genau wissen, wo sich ein bestimmter Sensor befindet. Für das „Bewusstsein“ ist das auch extrem wichtig, sonst könnte jemand vermuten, er hätte sich einen „Nagel eingetreten“, obwohl er „einen Schlag auf den Kopf“ bekam.

    Über die „optimale Kombination“ von Medikamenten/Therapie kann ich nichts aussagen.

    In der Elektronik gibt es auch „Schutzmechanismen“, z.B. ganz banale „Sicherungen“ um das Netz davor zu schützen durch Kurzschlüsse abzubrennen, oder mittels besonderer Einrichtungen vor Blitzeinschlägen zu sichern. Aber auch nach Möglichkeit Menschen vor Stromschlägen zu schützen.

  19. @Holzherr: Borderline & Instabilität

    Borderliner haben stabil das Gefühl der inneren Leere.

    Nein, das stimmt so nicht – und ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Sie die Komplexität des Themas nicht verstanden haben.

    Korrekt ist, dass ein “chronisches Gefühl innerer Leere” ein diagnostisches Kriterium für die sogenannte Borderline-Persönlichkeitsstörung laut DSM-5/5-TR ist. Es ist aber eben nur ein Kriterium, mehr auch nicht.

    Das DSM nennt neun Kriterien, von denen mindestens fünf seit dem jungen Erwachsenenalter vorliegen müssen (das habe ich für Sie gerade noch einmal selbst im DSM nachgeschlagen).

    Das heißt also, dass weder alle Personen mit einer Borderline-Diagnose “innere Leere” spüren, noch alle Menschen mit dem Gefühl von “innerer Leere” die Diagnose bekommen.

  20. Im Einklang mit der hier geschilderten Sichtweise kommt auch diese wissenschaftliche Studie zu einem eindeutigen Fazit:

    …analyses reveal that borderline criteria do not form a separate construct and are indissociable from negative affectivity. Furthermore, borderline adds nothing to the remaining domains when it comes to predict [personal disorder] severity. The borderline pattern appears as largely superfluous and even misguiding, unless their criteria are properly integrated within the structure of personality pathology.

    Gutiérrez, F., Aluja, A., Ruiz Rodríguez, J., Peri, J. M., Gárriz, M., Garcia, L. F., … & Calvo, N. (2022). Borderline, where are you? A psychometric approach to the personality domains in the International Classification of Diseases, 11th Revision (ICD-11). Personality Disorders: Theory, Research, and Treatment.

  21. @Elektroniker – mit einer Person diskutieren zu dürfen, die „direkt an der Front“ arbeitet.
    Öhm, da haben sie aber echt Glück, wäre ich Betroffene (Borderlinerin), hätte ich jetzt einen enormen Hals auf sie, weil sie “mir” einen Wahn unterstellen. Formal gesehen.

    Tatsächlich haben sie leider immer noch nicht so richtig den Unterschied zwischen “Empfindung” und “Gefühl” begriffen, also dem, was von den Nervenbahnen transportiert wird und dem “Abbild” (also unseren erklärenden Konstrukten.)

    (Btw: “Der Begriff „Abbildung“ kommt aus der Mathematik/Informatik, bitte dort googeln.” – Was für ein “frommer Wunsch” – wie soll ich das denn schaffen? Glauben sie echt, das hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Bild_(Mathematik) würde mir viel sagen können?
    Aber ich trenne zwischen Wort und Bedeutung, meinen sie so was?)

    Mit “Leere” meine ich wirklich Leere, nicht Assoziationen; Unglaube, nicht Erläuterungen. Ein Borderliner bildet sich keine Gedanken ein (das wäre ein Wahn), er hat negative Gefühle, weil ihm/ihr der Bezug fehlt. Der Bezug zu sich selbst, bzw. zu der Umgebung. Und das ist eine Hölle.
    Außer, man ist ein spirituell interessierter Mensch, dann ist es “der Weg zum Himmelreich”.
    Tja, blöd gelaufen mit der “Ambivalenz”.

    oder Therapeuten versuchen im Gespräch oder Training neue Strukturen aufzubauen.
    Wenn ich als Therapeutin mit “Bezug” arbeite, greife ich dabei auf das Archaischste überhaupt zurück, ihr “neu” kann ich also nicht wirklich auf die Strukturen beziehen.

    Der Mensch hat einen Bezug, eine Beziehung zu sich selbst und nimmt zu anderen Bezug auf, tritt in Beziehung. Habe ich als Thera eine gute Beziehung zu mir (selbst), kann ich (in der therapeutischen Beziehung zum Patienten) dessen Beziehung zu sich selbst verbessern.
    Bzw. der Patient verbessert, meine Hände sind da gebunden, ich kann nur anregen.

    “Angst/Sicherheit/Neugier” sind so etwas wie „Gefühle“.
    Hmm, nicht nicht, aber auch nicht so. Die drei sind “die Mutter aller Gefühle”, das Kernholz.
    Es sind die “Grundfunktionen” der Amygdala: https://de.wikipedia.org/wiki/Amygdala

    Und wenn ich sie mit den “Sicherungen” (als quasi einzigen “Schutz”) richtig verstanden habe (bzw. ich darin richtig gehe, dass eine Sicherung festlegt, bei wieviel Watt die Sicherung rausfliegt), wird dort in der Amygdala (sozusagen) festgelegt, wie viel Watt das bei dem jeweiligen Individuum sind.
    (Nach einem traumatischen Erlebnis, z.B. im Krieg, fliegt ihre Sicherung bei bestimmten Geräuschen eher raus und sie sitzen zitternd in der Ecke.
    Während “gefestigte Charaktere” mit ihrer “Resilienz” so etwas wie eine bessere Isolierung um die (Strom) Leitung haben (oder dickeres Kupfer?); die “Handlungsfähigkeit” bleibt erhalten.)

    Sensorzellen” ? Siehe oben, das ist ein Konstrukt von ihnen, weil sie immer noch nicht “wissen”, dass in diesen Leitungen (immer/nur) “Strom” fließt.

    Ich brauche aber noch ein Welchen, bis ich ihnen das übersetzen kann, weil mein “Bild” vom Unterschied zwischen (ihrem) “flach und Baum” noch Lücken hat. (“Bauchgefühl” hat da nur sehr indirekt mit zu tun. Aber es geht schon darum, wie man “sich wahrnimmt”.)

  22. @Stephan Schleim @Martin Holzherr
    “Innere Leere” – Wenn die so “stabil” wäre, gäbe es ja gar keinen Grund mehr für die emotionale Instabilität, die mit der Hoffnung einhergeht, diese Leere durch Bezug zu anderen zu füllen.
    (Was , in meinen Augen, nur daran scheitert, dass der “Bezug zu sich selbst” vorzugehen hat.)
    ——————
    Wie gesagt, ich beurteile das nicht als Diagnostiker, sondern aus der Praxis;
    und gerade die “innere Leere” mit ihrer Ambivalenz ermöglicht mir als Person den Zugang zu Borderlinern, bzw. dem Thema das Beitrags.

  23. @Viktualia: Spüren

    Danke fürs Einbringen Ihrer Praxiserfahrungen; um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass ich hier in der Regel aus theoretisch-praktischer Perspektive schreibe.

    Wenn wir also einmal die eher fachliche Frage weglassen, wie gut sich eine Kategorie wie BPS begründen lässt, können wir versuchen zu verstehen, was eine Erfahrung wie die der “inneren Leere” bedeutet.

    Anstatt groß über Sinn & Wesen der Welt zu philosophieren, stelle ich mir zum Beispiel vor, dass jemand mit schweren traumatischen Erfahrungen diesen Teil von sich selbst abspaltet (Dissoziation), um 1) diese psychischen Schmerzen nicht spüren zu müssen und 2) wenigstens einigermaßen im Alltag funktionieren zu können, worauf in unserer Gesellschaft so großer Druck liegt.

    Dazu kommt, dass jemand, der in traumatisierenden Verhältnissen aufwächst, vielleicht niemals vermittelt bekam, sich selbst zu spüren. Für die “Täter” hat das den Vorteil, dass das Ausmaß ihrer Taten an/in den “Opfern” unsichtbar (eigentlich: unfühlbar) wird: Mit anderen Worten, wenn man den Anderen als “Ding” behandelt und der-/diejenige sich dann wirklich wie ein “Ding” verhält, dann fällt (so stelle ich es mir vor) auch die Hemmschwelle, dem Anderen Schlimme Dinge anzutun.

    Diese Abspaltung/Dissoziation könnte auch erklären, warum diese Menschen sich so “leicht” (und mitunter massiv) selbst verletzen können – weil sie eben den Schmerz gar nicht spüren. Die Verletzungen tun sie nicht dem erfahrenen Selbst an, sondern dem “Ding” eigener Körper, den sie gar nicht spüren.

    Und wenn man nichts spürt, was spürt man dann? Innere Leere?

    Ich werde manchmal auf meine Narben angesprochen. Für mich sind es Erinnerungen daran, Menschen nicht als “Dinge” behandeln zu wollen. Wer gut schaut, sieht, wie sich diese Themen durch inzwischen 15+ Jahre MENSCHEN-BILDER ziehen. Wenn ich als Professor Studierende auf eine Note reduzieren muss, ist das für mich schon hart an der Grenze zur Verdinglichung.

  24. @Hauptartikel

    „..sondern sie primär als das sieht: Als Menschen, die oft einfach das Pech hatten, in einer schädlichen Umgebung gelandet zu sein, in der sie viel Schlimmes erfuhren.“

    Das hat mir auch durchaus weiterführendes Potenzial, mit unnormalen Menschen vernünftig umzugehen. Wobei es vielleicht gar nicht so um die Störungen geht, die schlimme Erfahrungen verursachen können, sondern die prekäre Situation, in die man geraten kann, wenn man mal aus dem Rahmen gefallen ist.

    Mit einer psychiatrischen Diagnose ist oft der Partner, die Arbeit, das Geld und das soziale Umfeld und öfter auch der eigene Glaube weg. Damit muss man erstmal klar kommen, die eigenen Störungen sind dem gegenüber womöglich recht unwesentlich.

    Eine stationäre Unterbringung kann dann auch noch eine Herausforderung werden, mit der man auch erstmal irgendwie klar kommen muss. Das alles ist selbst wieder traumatisch.

    Der Mensch ist so leicht nicht von seiner aktuellen Umgebung zu trennen. Hier ist ziemlich viel Resilienz gefragt. Unter Anderem muss man sich ein erfüllendes Leben ohne Erwerbsarbeit aufbauen, und mit dem Pluralismus klar kommen, der in der lokalen Psychoszene vorherrscht.

  25. @Tobias: Wer entscheidet, wer “normale” (und damit auch “unnormale”) Menschen sind? Solche Begriffe gerne in Anführungszeichen.

    Partner, Arbeit, Geld… und vielleicht auch die Kinder weg.

    Do no harm.

  26. P.S. @all: Ich hatte einen kurzen E-Mail-Austausch mit Peter Tyrer, einem der Autoren des Artikels. Er verwies mich gerade (14:10 Uhr) auf einen einschlägigen Überblicksartikel aus dem Jahr 2019. Darin findet sich zur “Entwicklung” des Borderline-Konzepts im ICD-10 und ICD-11:

    Despite this lack of evidence—the diagnosis [also Borderline-Persönlichkeitsstörung] was created only by an expert committee—the concept of borderline personality disorder has a strong clinical attraction. Although borderline is clearly a heterogeneous diagnosis, there are attractions in having a diagnosis for all seasons. (Tyrer et al., 2019, p. 494)

    Das klingt für mich nach einer Kategorie, in die man Patientinnen und Patienten stopfen kann, bei denen man sonst nicht weiß, wie man sie bezeichnen soll (“diagnosis for all seasons”).

    Ist das der Sinn und Zweck klinisch-therapeutischer Arbeit?

    Diese Beschreibung bestätigt den wichtigen Punkt, der hier über die Jahre immer wieder gemacht wurde: Die klinisch-diagnostischen Kategorien spiegeln i.d.R. keine natürlich-objektiven Fakten wider, sondern sind komplexe psychosoziale Konstrukte, bei denen soziale Normen und die Interessen von Fachleuten eine erhebliche Bedeutung spielen.

  27. Interessant, interessant,
    als Laie findet man sich in einem Wald von Begriffen wieder. Ist eine Persönlichkeitsstörung eine Verniedlichung einer Neurose/Psychose oder die Beschreibung eines „unerwünschten „ Verhaltens.

    Interessant zu wissen wäre, wie Psychotherapeuten solche Menschen nennen, wenn sich also ein junges Mädchen die Arme anritzt, ist die verrückt, ist die krank, leidet die nur, ist auffälliges Verhalten temporär, dem Alter geschuldet oder ist das ein bleibender Wesenszug.

  28. @Stephan Schleim – “aus theoretisch-praktischer Perspektive schreibe.”
    Der war gut – wenn ich nicht wüsste, dass sie unterrichten, stünde ich jetzt völlig auf dem Schlauch.

    Ich versuche mich mal an einer Antwort darauf, wie “Leere spüren” geht, auch wenn ich eher von der anderen, der spirituellen Seite, an die Sache herangehe.

    was eine Erfahrung wie die der “inneren Leere” bedeutet.
    Wie sie richtig beschrieben haben, bedeutet es zuerst einmal, dass wichtige Erfahrungen nicht gemacht werden. Dies könnte man als “Lücke” bezeichnen, diese fehlende Integration (wenn die Traumata früh geschehen.)

    Auch wenn stattdessen natürlich Reaktionsmöglichkeiten vorhanden sind, sind diese inadäquat, stammen aus Zeiten, wo es “normal” ist, abhängig zu sein.
    Man sieht nicht nur den anderen als Objekt, weil man selbst wie ein Objekt behandelt wurde, man ist wie ein Baby das sich noch mit der Mutter “verwechselt”, die Trennung zwischen Subjekt (selbst) und Objekt (nährende Mutter) ist – futsch.
    Wenn keiner “zum Lieben” (Mutter/Bezugsperson) da ist, ist da gar keiner mehr da, man selbst (das bedürftige Baby) auch nicht.

    (Ich habe nie einen dummen Borderliner getroffen, die waren alle ziemlich helle. Blöderweise merken sie also stellenweise sehr gut, was abgeht, ordnen es aber unzulänglich ein.)

    weil sie eben den Schmerz gar nicht spüren.
    Eigentlich kenne ich es so, dass der (innere) Schmerz vorher so groß ist, die Illusion, nicht mehr zu existieren, so überwältigend, dass es eine enorme Erleichterung ist, wenn es blutet, man also sieht, dass man lebt. (Nicht spürt, sieht. Fühlen tut man dann Erleichterung.)

    Und wenn man nichts spürt, was spürt man dann? Innere Leere?
    Angst.

    Man spürt die Leere nicht, man ist die Leere.
    Man hat keine Identität mehr und “spürt das”, also den fehlenden Bezug.

    Wenn ich als Therapeutin mit “liebendem Herzen” an so eine Situation herangehe, lasse ich meine Identität auch los, aber ich habe ja ein ganz anderes Konstrukt von “Identität” in mir und kann enorme Kraft aus dieser “Souveränität” ziehen, einfach, weil ich mich nicht beweisen muss.
    (Dies gilt für beide Möglichkeiten: die therapeutische Intervention und die private, meditative Erfahrung.
    Ich bin, sozusagen, auch ohne “Id” noch eine “Entität”; hab keine Angst, plötzlich zu verschwinden, nur weil ich mich grad mal nicht mit was bestimmtem identifiziere.)

    “Einfach da sein” – ich kann es nicht besser erklären, als dass es bei “Lachen und Weinen” ja auch so ist, dass sie der gleichen Quelle entspringen.
    ————————————-
    (Ich kann die Bemerkung mit ihren Narben nicht einordnen, ich nehme an, sie meinen eher “Selbstaufopferung” als Selbstverletzung, oder?
    Womit ich nicht auf eine Präzisierung drängen möchte, nur feed-back geben.)

    Und ein feed-back zur Benotung hab ich noch: brauche ich ja zum Glück nicht, aber die Frage, ob ich Menschen/Kunden bevorzuge, die ich mag, beantworte ich mit einem klaren “Ja!” Die ich mag, mag ich und die anderen bevorzuge ich noch mehr. Ich dreh den Quatsch einfach um, meine Gefühle zu unterlassen steht mir ja gar nicht frei.
    Ihnen würde ich daraus folgernd empfehlen, die Guten zu fordern und die Schlechteren zu fördern – und gut ist.

    Aber dieses “nicht werten” ist doch Eso-Quark und unserer Neurophysiologie nicht angemessen. Ein vernünftiges “Urteil” ist möglich – wenn wir uns unserer Wertungen bewusst sind.
    (Ich meine, das aus ihren Beiträgen über “Meditation” auch herauslesen zu können. “Werten” ist halt ne ziemlich basale Hirnfunktion, die schaltet man nicht so einfach ab.)

  29. Nochmal zur Diagnostik
    Ehrlich gesagt versteh ich den Aufreger gar nicht.
    Die Diagnostik in der Somatik ist halt “präziser”, gibt klarere Handlungsanweisungen, aber das ist doch kein Nachteil, sondern der Raum, in dem die (nicht medikamentöse) Therapie stattfinden kann.

    Ich habe meine Ausbildung Anfang der 90er gemacht und da war schon ziemlich klar, das Borderline “weder schizophren noch neurotisch” ist. Und Depression, bzw. Manisch-Depressiv auch nicht.
    (“Persönlichkeitsstörungen” waren da noch ziemlich neu.)

    Und weil “Frauen” in unserer Gesellschaft nicht so wirklich existieren (man sehe mir die Polemik nach), hat es den Afghanistan Konflikt gebraucht, um die Erkenntnisse über (psychische) Traumata bis in die Psychiatrie zu bringen. Wovon jetzt die Borderliner profitieren. (Dem Wissen über die Folgen von Traumatisierung auf die Persönlichkeit.)

    Aber ich persönlich lege keinerlei Wert darauf, dass die Diagnostik so genau wird wie in der Somatik – deren Genauigkeit bezieht sich ja auf die Erreger der Krankheit; während psychische Krankheiten, in meinen Augen, den Drang nach einem (noch unbekanntem) “eigenen Leben” repräsentieren.

  30. @ Viktualia 17.06.2023, 11:58 Uhr

    Ich habe beim Problem „innere Leere“ zu wenig differenziert. Es könnte Patienten geben, die immerzu äußern, sie fühlten eine große „innere Leere“ (oder „Depressionen“, als „Zwangsgedanken“, eventuell nach einer gescheiteren Therapie) unter der sie sehr leiden. Die habe ich gemeint.

    Es dürfte aber auch Patienten geben, die erst bei der Therapie mit ihrer „inneren Leere“ konfrontiert werden. Da wäre sie real.

    Ich habe den persönlichen Eindruck, dass „Gefühle“ letztlich auch nur (besondere) „Empfindungen“ sind.

    Mich würde die physikalische Realisierung der „Empfindungen“ interessieren, sonst kann ich mich zu diesem Thema nicht äußern.

    Es war keine gute Idee von mir, bezüglich dem Begriff „Abbildung“ auf Google zu verweisen. Sie sind auf die Mathematische Abstraktion gestoßen, mit der können „Normalos“ nichts anfangen.

    Für den „Hausgebrauch“ sagt der Begriff „Abbildung“ aus, dass z.B. ein Computer sozusagen über das Betriebsgeschehen genau Bescheid weiß. Man sagt, alles nötige Wissen, alle Prozesse sind im Computer „abgebildet“. Er „weiß“ sozusagen ganz genau, wo jede Ware gelagert ist, was sie kostet, wer sie bestellt hat, welches Lastauto mit welchem Fahrer sie zum Kunden befördert, oder auf welches Konto das Gehalt des Fahrers überwiesen wird. Der Computer steuert das Betriebsgeschehen mittels der Konzepte der Informationsverarbeitung. Realisiert wird das Geschehen durch das Personal und die Maschinen…. Derartiges nennt man „Abbildung der Realität“. Es verhält sich so ähnlich, wie ein Bild einer Landschaft eben nicht die Landschaft ist.

    Dass Menschen der Bezug zu sich selbst, bzw. zu der Umgebung fehlen kann, dass bestreite ich nicht. Dass das eine Hölle sein kann, kann ich erahnen. Nur habe ich persönlich, bislang relativ erfolgreich, auch mit vielen Psychotricks, die Probleme bewältigt.

    Auch wenn Sie bewährte „archaische Muster“ nutzen, für den Patienten sind es neue Strukturen die er künftig erfolgreich nutzen soll.

    Ich habe keine Zweifel an der Arbeit der Therapeuten.

    Mit den “Grundfunktionen” der Amygdala bin ich so halbwegs informiert. Nur interessieren mich weniger die Zusammenhänge, die jeder Psychologe/Therapeut ohnehin viel besser kennt als ich.

    Mich interessieren die Zusammenhänge mit den Konzepten der Informatik.

    Ihre Metapher über bestimmte „Schutz Gefühle“, „Traumata“, „Resilienz“, finde ich zutreffend. Auch gebe ich Ihnen recht, wenn Sie Gefühle sozusagen „wesentlich höher“ als ich und in der Hauptsache als ganz bestimmte unterschiedliche Empfindungen einordnen z.B. Freude, Überraschung, Wut, Traurigkeit, Angst, Ekel……

    Ich verwende den Begriff „Sensor“ für „Rezeptorzelle“, „Rezeptor“ oder auch Sinneszelle. Das ist ein Begriff auch aus der Biologie. (Bitte unterstrichenes Wort anklicken).

    Rezeptor

    „Flach“ bedeutet 2 Dimensional wie eine Filmleinwand.

    Beim Googeln unter „Baumstrukturen Informatik“ finden Sie gute Erklärungen in den „kurzen Fragen“ . Wenn man eine Frage anklickt, öffnen sich immer mehr passende Fragen und Antworten. Man bekommt zumindest einen Überblick. Wikipedia sollten Sie vorerst „überspringen“ ist am Anfang zu abstrakt.

  31. @Viktualia: Verständnis

    @Stephan Schleim – “aus theoretisch-praktischer Perspektive schreibe.”
    Der war gut – wenn ich nicht wüsste, dass sie unterrichten, stünde ich jetzt völlig auf dem Schlauch.

    Diese Bemerkung verstehe ich nicht. Was ich schrieb, war kein Witz. Ich bin nun einmal Philosoph/Theoretiker – und mir der Tatsache bewusst, dass das nur eine mögliche Perspektive ist unter vielen.

    Ich finde es schön, dass Sie hier mitdiskutieren. Ich habe auch den Eindruck, dass Sie etwas Wichtiges mitzuteilen haben. Aber es kostet mich zurzeit auch viel Energie, Ihre Gedankengänge nachzuvollziehen. (Nebenbei: Es war ein wirklich schweres Semester und ich habe die letzten Nächte 1, 5 und 8 Stunden geschlafen, war vorgestern von 6-21 und gestern von 6-23 Uhr für die Arbeit unterwegs.)

    Narben sind halt Narben. Mehr muss dazu nicht gesagt werden. 🤷🏻‍♂️

  32. @Viktualia, all: Bewertung

    Tatsächlich muss ich jetzt sogar aufpassen, was ich schreibe, denn ein gewiefter Student von heute kopiert das womöglich mit einer Beschwerde an unsere Examenskommission/die Direktion – und dann besteht Erklärungsbedarf.

    Aber allgemein sollte doch vorstellbar sein, dass man als Professor eine Klausur entwickeln könnte, bei der (nahezu) 100% oder (nahezu) 0% bestehen. Natürlich gibt es auch hier ein “normales” Maß (vielleicht 60-80%). In meiner Studienzeit war das noch nicht so, dass es überall eine Klausur geben muss. Und denken Sie sich einmal einen fairen Maßstab aus, der Jahr für Jahr 300-600 Studierenden gerecht wird.

    Vielleicht ist es schlicht eine bürokratische Regel, die besagt, dass ein Kurs mit 5 ECTS mit Klausur & Note abgeschlossen werden muss. Und ein strategischer Wunsch von Studierenden, die schon an die Bewerbung für den Masterplatz denken, die eine möglichst gute Note antizipieren – und gestresst werden, wenn sie die nicht kriegen.

  33. @Viktualia: Diagnose

    Sie haben ja schon klar gemacht, dass Sie die Diagnose nicht gestellt, sondern schlicht mit den Menschen gearbeitet haben…

    …trotzdem finde ich Ihren Standpunkt hier etwas naiv. Eine psychologisch-psychiatrische Diagnose kann erhebliche psychosoziale Folgen für die Person haben: Denken Sie an “Schizophrenie”, die beispielsweise Prof. Jim van Os als “vernichtende Diagnose” bezeichnete – und daher für deren Abschaffung plädierte.

    Kriegen Sie mal eine Verbeamtung (bsp. als Lehrer*in) mit der Diagnose “Schizophrenie” oder “Borderline Persönlichkeitsstörung”. Oder eine Lebens-/Arbeitsunfähigkeitsversicherung zu guten Konditionen. Oder überhaupt eine Hypothek für eine Eigentumswohnung. Mal abgesehen von der sozialen Stigmatisierung. (Wer will schon “einen Schizophrenen” oder “eine Borderlinerin” als Nachbar*in haben?) Da wundert mich die Zurückhaltung mancher, zum Psychiater oder zur Psychologin zu gehen, nicht – obwohl das wichtige Quellen für Hilfe sein können.

    Solche Etikette werden verdinglicht (reifiziert). Da ist es doch wichtig zu wissen, dass denen keine innere Realität (Essenz) entspricht, sondern eher die (Vor-) Urteile bestimmter, einflussreicher Fachleute.

    Hätten sich Leute wie Tyler & Co. bei der WHO durchsetzen können, würde es jetzt in vielen Ländern keine Borderline-Diagnose mehr geben.

  34. P.S. Das allgemeine Thema ist hier doch Basiswissen Soziologie: Noten, Diagnosen, Kaufverhalten (Kreditwürdigkeit) usw. werden uns in irgendwelchen Dossiers zugeordnet – und beeinflussen dann, wie verschiedene Institutionen (Arbeitgeber, Ärztinnen & Ärzte, Banken, Behörden, Versicherungen usw.) mit uns umgehen.

    Etwas kritisch sollte man darüber doch schon einmal nachdenken können.

  35. @ Stephan Schleim 17.06.2023, 14:34 Uhr

    Zitat: „Diese Beschreibung bestätigt den wichtigen Punkt, der hier über die Jahre immer wieder gemacht wurde: Die klinisch-diagnostischen Kategorien spiegeln i.d.R. keine natürlich-objektiven Fakten wider, sondern sind komplexe psychosoziale Konstrukte, bei denen soziale Normen und die Interessen von Fachleuten eine erhebliche Bedeutung spielen.“

    Genau das dürfte das Problem sein. Die Mediziner haben relativ objektive Grundlagen, von Blutwerten bis Gewebeproben oder CT, MRT Bilder usw.

    Die Psychologen sind hauptsächlich auf „Verhaltensmuster“ angewiesen. Da gibt es immer wieder „Ausreißer“ die einfach nicht in ein Konzept „hineinpassen“. Danach wird nach meiner nüchternen Beobachtung alles in Zweifel gezogen und immer wieder neu strukturiert.

    Das macht bei Außenstehenden keinen guten Eindruck.

    Letztlich beruht in der Psychologie praktisch alles auf „Muster“, wie auch in der KI. Da ergeben sich grundlegende Probleme.

    Im Sinne der Informatik gibt es in der Mathematik eindeutig und exakt „deklarierte Objekte“ und eindeutig „definierbare Verknüpfungen“ dieser „Objekte“.

    Derartiges an „Sicherheit“ gibt es bei den „Denkmustern“ die Psychologen „Denkprozessen“ zugrunde legen und „Muster“ die Informatiker ihren KI Systemen zugrunde legen, nicht.

    Das ist ein großes und grundsätzliches Problem mit dem die Wissenschaft künftig zu kämpfen haben wird, wenn sie vage Muster zum Ausgangspunkt ihrer Forschung nimmt.

    Weder die „Muster“ sind immer vollständig, eindeutig, allgemein akzeptiert, letztlich korrekt „deklariert“, noch entsprechen „neuronale Verknüpfungen“ exakt den Regeln der „strengen Logik“.

    Es gibt höchstens eine gewisse Übereinstimmung von mehr oder weniger „Mustermerkmalen“ oder deren Bedeutung. Menschen neigen dazu, hier „Wahrheiten“ erkennen zu wollen, was an sich aus psychologischen Gründen zweckmäßig erscheint. Selbst kleinste fehlende oder (noch) nicht auswertbare Merkmale können höchst Bedeutungsvoll sein, zu schweren „Denkfehlern“ führen, auch bei der KI.

    Früher war nur die „Weltscheibentheorie“ nachvollziehbar und akzeptiert, weil „Normalbürger“, nur einfach wahrnehm- und auswertbare „Muster“ korrekt interpretieren konnten.

    Anders als Wissenschaftler, die z.B. auch astronomische „Muster“ zusätzlich auswerten und interpretieren konnten. Letztlich wurde die “Kugeltheorie” auch von der Weltraumforschung bestätigt.

  36. @Elektroniker: Auch in der “somatischen” Medizin ist nicht alles 100% eindeutig. Meines Wissens wurden die Grenzwerte (Normen) für Diabetes angepasst. Nicht alles ist so deutlich, wie ein Knochenbruch – und auch hier wird es Grenzfälle geben (“angebrochen”). Und ja, wo beginnt die Demenz? Siehe auch: “mild cognitive impairment”.

    Kein Krankheitsbegriff lässt sich ohne Normen/Werturteile bilden. Das sollte doch seit Jahrzehnten deutlich sein. (Keine persönliche Kritik an Ihnen.)

  37. @Stephan Schleim – oh, da haben wir ja gleich zwei Missverständnisse, tut mir leid.

    “Theoretisch-Praktisch” – es war das reine Wortspiel gemeint, der sich aufhebende Gegensatz.
    Da ich wusste, dass sie lehren, konnte ich es gut darauf beziehen, dass sie damit ihre Perspektive meinen – ohne dieses Wissen hätte ich nur ein Fragezeichen gehabt.
    (Im Kontext von “um Missverständnisse zu vermeiden” fand ich das dann lustig.)

    Das andere ist ernster.
    Als erstes ausdrücklich: es ist (m)eine Meinung über Diagnostik, nicht über Patienten/Kunden/Schutzbefohlene; da ich damit gut arbeiten kann, ich schätze den Spielraum. (Würde ich auch als Vermieterin, Arbeitgeberin, Kollegin usw. so sehen können. Für meine Art von “Empowerment” der Betroffenen ist es nützlich.)

    Was sie, denke ich meinen, ist ja auch mehr das Stigma, als die (mögliche?) Präzision; ich meinte, wörtlich, die Handlungsanweisung, die eine somatische Diagnose bedeutet.
    Die “üblichen Kriterien” sind dort klarer, wie auch Elektroniker schön ausführt.

    Dass das Stigma kleiner wird, möchte ich auch, aber durch Heilung, nicht durch Benennung. (Daran könnte ich nicht glauben, also formuliere ich es auch nicht, auch wenn ich mich dann rechtfertigen muss.) Benennung i.S.v. Diagnostik, die ja nicht allein Sprachmacht ausmacht.

    Lieber @Stephan Schleim, lassen sie uns da einen Reset machen, das war mein “theoretisch praktisch”, weil mir präzisere Begriffe nichts nutzen würden, mehr nicht.
    Um das von hier aus auf die sozialen Aspekte für die Betroffenen zu beziehen, bräuchte ich wieder ne Tafel, das erspar ich uns für jetzt. (Erholen sie sich gut!)

    Aber vor allem: Entschuldigung dafür, dass ich diesen, ihnen wichtigen Aspekt, da völlig aus den Augen verloren habe.
    ———————————
    @Elektroniker, mir schwant, da sind ein, zwei Posts von mir an sie nie angekommen, also tatsächlich nie erschienen, in einem anderen Faden.

    (Schließe ich aus “Rezeptor”.)
    Ich hole das mit den Sinnen/Empfindungen ein andermal nach (wahrscheinlich kommt mit dem “Baum” erst “das Gefühl” hinein, schätze ich), guck mir vorher die “Baumstruktur Informatik” noch genauer an und dann schauen wir mal, wo das passt.
    (Das mit den “Empfindungen” mag subjektiv bleiben, aber so ein Rätsel i.S.v. “unbeschreiblich” ist es nun auch nicht.)

    “Auch wenn Sie bewährte „archaische Muster“ nutzen, für den Patienten sind es neue Strukturen die er künftig erfolgreich nutzen soll.”
    Moment, ich zaubere nicht mit meiner Liebe, ich nutze mein neurophysiologisches Wissen. Die “archaischen Strukturen” ermöglichen (oder verhindern) die Nutzung unserer Eigenschaften/”Strukturen”, darum geht es doch.

    Und einem guten Therapeuten muss man misstrauen können, sonst funktioniert das Ding nicht. (Also Sachen in Frage stellen können, Zweifel frei aussprechen dürfen. Das würde ich vielleicht als “den Zauber der Liebe” durchgehen lassen.)

  38. @Viktualia: Missverständnisse

    Tut mir leid: Es hätte natürlich theoretisch-philosophisch heißen müssen.

    Aber vielleicht stimmt’s in dem Sinne, dass ich ausgerechnet als Theoretischer Psychologe immer wieder für die praktische Relevanz des Fachs argumentiere!

    Stigma: Man kann das doch als Sowohl-als-auch sehen, nicht nur als Entweder-oder. Das heißt, das Stigma sollte, wegen sozialer Normen, erst gar nicht entstehen; und der Teil, der trotzdem aufkommt, kann durch die Therapie reduziert werden (weil dann idealerweise die Symptomatik weniger schlimm wird).

    Wir haben scheinbar unterschiedliche Perspektiven: Ich schaue eher auf die Gesellschaft, Sie auf’s Individuum (das Sie behandeln). Im Endeffekt sollten die Perspektiven aber komplementär sein – mit der nötigen Biologie dabei. Dann sind wir also wieder beim biopsychosozialen Modell.

  39. @Stephan Schleim – als Theoretischer Psychologe immer wieder für die praktische Relevanz des Fachs argumentiere!
    Genau. Ich hatte es auch wirklich nicht irgendwie abfällig gemeint.

    Mit etwas Abstand hatte ich das Gefühl, einfach noch nicht aus dem “subjektiven Modus” ausgestiegen zu sein, mit dem ich die Frage nach der Leere beantwortet hatte, dafür möchte ich mich nochmal entschuldigen.

    Mir ist dieses “Entweder/Oder” Denken ehrlich gesagt ziemlich zuwider (auf “Handlung” mag zutreffen, dass entweder dies geschieht oder jenes, beim Denken sollte es möglich sein, mehrere Alternativen durchzuspielen; das ist mir eigentlich sehr wichtig.)

    unterschiedliche Perspektiven
    Ja. Für mich ist dieses Stigma so dämlich, dass es mit den Betroffenen kaum etwas zu tun hat – aber natürlich haben sie, was die Auswirkungen durch die Gesellschaft betrifft, Recht.

    Ich habe meinen Kunden auch immer versucht zu vermitteln, dass sie, durch transparenten Umgang mit der Krankheit, die Gesellschaft weiter bringen als manch Manager bei einem großen Konzern. Und das glaube ich auch wirklich.

    In meine Augen entsteht dieses Stigma nicht, um “die Betroffenen zu benachteiligen”, sondern um den nicht ganz so Betroffenen vorzugaukeln, sie wären “gesund”.

    Und, last but not least: der Kontext war doch die reale Entwicklung bei Borderline/Persönlichkeitsstörung. Wenn die Diagnostik diese “Spektren” besser definiert, statt “neue Krankheitsbilder” zu benennen, finde ich das eine gute Entwicklung, mit der es sich in der Praxis arbeiten lässt.

    Und beim Diskutieren liegt es (mit “Spektrum” als Konzept) näher, die ganze Gesellschaft als etwas zu betrachten, bei dem jeder diesen Einfluss ausübt, ihm aber auch ausgeliefert ist.

    Ich schätze, ein Teil des Missverständnisses lag daran, dass diese Entstigmatisierung für mich ein Punkt ist, der vor allem auch die Gesellschaft gesünder macht. (In einem anderen “Tempo”, als ein Psychisch Kranker gesundet.)

    Das sind “unterschiedliche Ansichten”, aber durchaus kompatibel – hoffe ich.

  40. Viktualia
    nach ihrem Beitrag, dem man applaudieren kann, ist unsere gesamte Gesellschaft betroffen.
    Wie krank ist eine Gesellschaft, die zulässt dass Tiere gequält werden um Kosten einzusparen.
    Wie krank ist eine Gesellschaft, wenn in Altenheimen Menschen ans Bett gefesselt werden, weil das Personal nicht ausreicht.
    Wie krank ist eine Gesellschaft, wenn „Wohnen“ zum Luxus wird.

    Bösen Willen werde ich nicht unterstellen, es ist die Bequemlichkeit im Denken, die gefährlich ist.

  41. @ Viktualia 17.06.2023, 20:14 Uhr

    Zitat: „…..mir schwant, da sind ein, zwei Posts von mir an sie nie angekommen, also tatsächlich nie erschienen, in einem anderen Faden.“

    Ich vermute, Sie meinen den Blog „Das Bewusstsein – Ein fiktiver Dialog“. Da hat sich eine interessante Diskussion zwischen Ihnen, Philipp, KRichard, und mir entwickelt. Beiträge wurden angenommen aber nicht mehr veröffentlicht, plötzlich war er „tot“.

    Zitat: ….“Baum” erst “das Gefühl” hinein, schätze ich), guck mir vorher die “Baumstruktur Informatik” noch genauer an und dann schauen wir mal, wo das passt.“

    Ich fürchte, einen Zusammenhang mit „Gefühl“, werden Sie bei „Baumstrukturen“ nicht finden können. Diese „Baumstrukturen“ sind nur für die Informationsverarbeitung von großer Bedeutung.
    Sie „wirken“ aber völlig im Hintergrund. Der „normale“ Computernutzer merkt überhaupt nichts davon.

    Hätten die Mathematiker diese „Strukturen nicht entdeckt“ und man müsste z.B. nur „lineare“ Strukturen nützen, wie z.B. einen Text als lineare Folge von Buchstaben, wären Computer „quälend langsam“ besonders bei der Suche nach Informationen.

    „Baumstrukturen“ ermöglichen es z.B., aus großen Mengen von Informationen sehr schnell genau die „passende“ herauszufinden. Anschaulich: Man will aus den vielen „farbigen Bildpunkten“ im Auge z.B. herausfinden, dass die „Oma mit Ihrem Hund …“ vor einem steht….

    In der Informatik ist dies bereits möglich, man kennt die „Mechanismen“ ganz genau. In der Neurologie kann man sie „erahnen“ wenn man von der Funktion der Neuronen(gatter) ausgeht. Das ist normalerweise aber nur Menschen möglich, die im Umgang mit derartigen (technischen) Systemen möglichst von Jugend an, vertraut sind.

    „Umlernen“ ist sehr schwer, wenn das Denken bereits in bestimmten „gefestigten Bahnen“ verläuft…..

  42. @Elektroniker – Ja, der Blog „Das Bewusstsein – Ein fiktiver Dialog“ , obwohl ich das abgeschickt hatte, als er noch nicht “tot” war.
    (Hatte die “Sinnesleistungen” aufgedröselt, das, was ich unter “Empfindung” verstehe. Haut oder Muskeln funktionieren halt anders als Auge oder Ohr.)

    “Baumstruktur Informatik” hab ich gegoogelt – hmm, ja, grundsätzlich passt das, aber schauen sie mal hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Affektlogik, ich glaube, dabei treffen wir uns.

    Ausgangspunkt der Affektlogik ist die Erkenntnis, dass Fühlen (Affektivität) und Denken (Kognition oder Logik) in allen psychischen Leistungen regelhaft zusammenwirken.
    und
    Gleichzeitig erlebte Affekte, Kognitionen und Verhaltensweisen werden im Gedächtnis miteinander verbunden und durch Wiederholungen zunehmend stabilisiert. Diese Verknüpfungen speichern wesentliche Erfahrungen, die in ähnlichen Situationen immer wieder aktiviert werden, das heißt gewissermaßen als Matrix oder „Programm“ für künftiges Fühlen, Denken und Verhalten (abgekürzt „FDV-Programme“) funktionieren.
    und
    zum Beispiel eine „Logik der Angst“ ,eine „Logik der Wut“, eine „Logik der Liebe“, eine „Logik des Friedens“ oder des Kriegs.

    Wenn ich das richtig sehe, sind das die “Gatter”, die sie meinen.

    Bei allen Menschen unterschiedlich, aber auch bei allen aus den gleichen Elementen bestehend.

    „Umlernen“ ist sehr schwer, wenn das Denken bereits in bestimmten „gefestigten Bahnen“ verläuft…..
    Da haben sie natürlich Recht, aber es ist auch nicht unmöglich, bzw. oft ja der Grund, überhaupt zur Therapie zu gehen.
    Und wenn man einmal begreift, wie man sich selbst negativ beeinflusst, ist es ja schon eine positive Beeinflussung, das zu lassen; bzw. auf weiteres negatives Input (von anderen) nicht so leicht hereinzufallen.
    (Dann muss man sich z.B. mit seiner Wut auseinander setzen, statt wie vorher ausgebremst zu sein; nächster Schritt. Gute Therapeuten bereiten einen darauf vor und wissen, wie man mit diesen “Phänomenen” umgeht.)

    Aber es geht ja auch gar nicht darum, “sich zu ändern”, sondern mit Schutz und Trost konstruktiver umzugehen.
    (Jedenfalls bei dem, was ich unter “Therapie” verstehe.
    Ich meine keine manipulativen Techniken, die nur die Leistungsfähigkeit steigern oder erhalten sollen.)

  43. @Viktualia 18.06. 07:30

    „In meine Augen entsteht dieses Stigma nicht, um “die Betroffenen zu benachteiligen”, sondern um den nicht ganz so Betroffenen vorzugaukeln, sie wären “gesund”.“

    Wir haben es in der Tat mit Abgrenzung, aber auch mit Ausgrenzung zu tun. Die Abgrenzung wird gebraucht, um nicht in seinen eigenen psychischen Untiefen zur Beute des Wahnsinns zu werden. Und ohne die Ausgrenzung gerät der Leistungsgedanke in Gefahr.

    Wer nicht leistet, gehört eben normalerweise ausgegrenzt – hier braucht es besondere Gründe, dann als unbrauchbar gelten zu können. Um entsprechend kaputtgeschrieben von der eigentlichen Arbeitspflicht in Ruhe gelassen zu werden.

    Mein Knackpunkt ist hier, dass die Leistung sowieso völlig übertrieben wird. Und die Meisten weniger Leistung brauchen können, und gleichzeitig eine Überleistung das Weltklima schneller ruiniert, als unvermeidlich wäre. Nur etwas weniger Konsum und Arbeitsleistung könnte die Energiewende entscheidend beschleunigen.

    Derweil Psychisch Kranke gerne auch ein wenig arbeiten wollen, und öfter auch können. Wie auch einen Zuverdienst meist gut gebrauchen können. An dieser Stelle kommt eine Ausgrenzung wegen Minderleistung gar nicht gut.

    Die Abgrenzung wiederum ist auch eigentlich weniger nötig, als man meint. Wahnsinn ist normalerweise nicht ansteckend, wenngleich es durchaus wahnsinnige Massenbewegungen geben kann. In Religion und Ideologie etwa. Das ist aber was ganz anderes, als der persönliche Wahnsinn einzelner Unglücklicher.

    „Ich habe meinen Kunden auch immer versucht zu vermitteln, dass sie, durch transparenten Umgang mit der Krankheit, die Gesellschaft weiter bringen als manch Manager bei einem großen Konzern. Und das glaube ich auch wirklich.“

    Solche Ergotherapeuten sieht man sicher gerne. Sinnvoll insofern, dass man als Kunde wirklich auch Wahnsinn überwinden kann. Was dann auch Vorbild sein kann, wie man gemeinsamem Wahnsinn entkommen kann.

    „Wenn die Diagnostik diese “Spektren” besser definiert, statt “neue Krankheitsbilder” zu benennen, finde ich das eine gute Entwicklung, mit der es sich in der Praxis arbeiten lässt.“

    Insbesondere ist der realen Komplexität von jedem Einzelnen Rechnung zu tragen. Spektren zu beschreiben ist da näher dran, als Schubladen zu definieren, in die man die Menschen wegstecken kann.

  44. @Tobias Jeckenburger – Was dann auch Vorbild sein kann, wie man gemeinsamem Wahnsinn entkommen kann.
    Wenn ich eins in den Jahren in der Psychiatrie gelernt habe, dann dass nicht die Leute dorthin kommen, die vorher gerne mal auf dem Tisch getanzt haben.
    Sprich: die sicherste Art, dem “Wahn” zu entkommen, ist es ein wenig Verrücktheit in seinem Leben zuzulassen.

    Insbesondere ist der realen Komplexität von jedem Einzelnen Rechnung zu tragen.
    Ja. Mir ist mein Fettnäpfchen von gestern echt ein wenig peinlich – aber eigentlich gehe ich halt davon aus, dass diese “Heilung”, so sie möglich ist, alle betrifft, ganz unabhängig von der jetzigen Abgrenzung.
    (Also eine “optimale Diagnostik” nicht präziser die (psychischen) Krankheiten beschreibt, sondern den “normalen” Menschen mit seinen potentiellen Schwierigkeiten.)

    zur Beute des Wahnsinns zu werden.
    Ich hab viel mit Postkarten gearbeitet, mit Sprüchen drauf, und einer war: “Am Rande des Wahnsinns steht kein Geländer” – auf den ersten Blick lustig, aber eigentlich sehr “deep”.

    Mein Knackpunkt ist hier, dass die Leistung sowieso völlig übertrieben wird.
    Absolut. Und Verantwortung wird immer noch als ein “Privileg” einzelner betrachtet, das macht es noch schlimmer.

  45. @Viktualia 18.06. 13:14

    „Aber es geht ja auch gar nicht darum, “sich zu ändern”, sondern mit Schutz und Trost konstruktiver umzugehen.“

    Das ist wirklich wichtig. Ein Miteinander besser zu gestalten ist auch noch mal sehr hilfreich. Wie man etwa eine funktionierende WG hinbekommt, macht viel im Leben aus. Genauso wie man Paarbeziehungen so gestaltet, dass es es gut ist.

    Was aber auch noch wichtig werden kann, das ist die eigenen u.U. schwierigen Erfahrungen einfach nur vernünftig einzuordnen.

  46. @Viktualia 18.06. 14:57

    „Also eine “optimale Diagnostik” nicht präziser die (psychischen) Krankheiten beschreibt, sondern den “normalen” Menschen mit seinen potentiellen Schwierigkeiten.“

    In der Tat, was nützt es, den Wahnsinn genauer zu definieren, wenn keiner so recht weiß, wie man wirklich ohne ihn auskommt.

    „Und Verantwortung wird immer noch als ein “Privileg” einzelner betrachtet, das macht es noch schlimmer.“

    Eigentlich gar nicht psychologisch, sondern sehr lebenspraktisch, zu gucken, wie man so lebt, dass es auch insgesamt funktionieren kann.

  47. @Tobias Jeckenburger – was nützt es, den Wahnsinn genauer zu definieren, wenn keiner so recht weiß, wie man wirklich ohne ihn auskommt.

    Oh ja. Wie gesagt, ich arbeite gerne mit Sprüchen und einer meiner Favoriten dazu ist (von Tennesee Williams) “If you kill all my demons, my angels might die too”.

    Was aber auch noch wichtig werden kann, das ist die eigenen u.U. schwierigen Erfahrungen einfach nur vernünftig einzuordnen.
    Moment – wenn wir hier schon so tief in “die Praxis” eintauchen, möchte ich zu diesem Punkt anmerken, dass es normal ist, wenn derartige Erfahrungen immer mal wieder hochkommen.

    Und das ist auch gut so, weil es zeigt, dass dieses “Verarbeiten von” etwas organisches ist.
    “Therapie” ist keine Erfindung der Therapeuten, es ist eine reale Möglichkeit der Heilung.

    Je nachdem, wie die eigene Entwicklung dazwischen fortgeschritten ist, sorgt irgendetwas in uns dafür, dass auch derartige Erkenntnisse mitgenommen werden. (Ich meine jetzt nicht das ursprüngliche Trauma, sondern eben die Einordnung, die “mitwächst”.)
    So dass aus “Wut” (über eine Ungerechtigkeit) mit gestiegener Unabhängigkeit eine Art “Verständnis” (nicht für einen Täter, sondern die Umstände der Tat) werden kann, je nachdem, welche Strategien inzwischen zur Verfügung stehen.

    (Es gibt in der Traumatherapie Techniken, um Geschehen wie “in eine Kiste zu packen”, aber das ist ein Bild für “Schutz”, keine Beschreibung dessen, wie die Psyche arbeitet. Mein Eindruck ist eher, dass es der Psyche ums “Ganzsein” geht.
    Sobald einen die Geschichte nicht mehr überwältigt, braucht “die Kiste” kein Schloss mehr.)

    Es ist natürlich komplexer, aber wenn etwas hochkommt, muss man nicht automatisch darauf schließen, dass es vorher unzulänglich eingeordnet war.
    “Vernünftig” bezieht sich halt nur auf einen Zeitpunkt, nicht auf alle kommenden Möglichkeiten.
    (Irgendwie finde ich das grade wichtig, auch wenn es leicht o.t. geht.)

  48. @ Viktualia 18.06.2023, 13:14 Uhr

    Der Verweis auf den „Affektlogik Link“ war eine sehr gute Idee.

    Aus meiner Sicht (mit meiner „Halbbildung“ in Psychologie), finde ich alles sehr plausibel.

    An der Stelle wie „Matrix“ oder „Programm“ für künftiges Fühlen, Denken und Verhalten (abgekürzt „FDV-Programme“) funktionieren“, möchte ich einhaken.

    Es dürfte sich zwar genau so verhalten wie im Link, aber für mich gehört einerseits die „flache Matrix“ zur „Bewusstseinsanzeige“, oder den „mental fields“ wie es Libet formuliert hat.

    Andererseits das „Programm“ wird sozusagen in den Neuronen/Synapsen (Netzwerk aus Neuronen (ungefähr Gatter) und Synapsen) „abgearbeitet“.

    Diese Teilung ist zweckmäßig, um dem „Bewusstsein“ näher zu kommen. Was mir ein besonderes Anliegen ist. Man kann es „technisch“, abgesehen vom „Empfindungsphänomen“, recht „anschaulich“ erklären.

    „Bewusstsein“ ist sozusagen dasjenige, was auf den „mental fields realisiert“ wird.

    Sozusagen auf „flachen Datenfelder“, als eine Art „Matrix“. Bei einer „Matrix“ spielen nicht nur die „Elemente“, sondern auch deren „Stellung in der Matrix“ eine Rolle. Z.B. hier ein eingetretener Nagel auf der großen Zehe der „Körperhautmatrix“.

    Das „Programm“ wird im Netzwerk „realisiert“. Ein Neuron ist kein „echtes Gatter“ wie in der Informatik, sondern nur eine Art „qualifiziertes Gatter“, worauf ich schon öfter hingewiesen habe.

    Außerdem hat ein „elektronisches Gatter“ aus „technischen Gründen“ (Entkoppelung), „Gleichrichterfunktionen (Dioden) eingebaut“. Diese „Entkoppelungsfunktion“ erfolgt bei neuronalen Systemen in den Synapsen, die meines Wissens die „Ladungsträger“ von den Axonen nur in eine Richtung „durchlassen“.

    Informatiker würden formulieren, dass sich derartige Gatter auf „Maschinenebene“ befinden.
    Die Aussagen zur „Affektlogik“ befinden sich auf einer „höheren Ebene“, über der Maschinenebene, sozusagen der „Psychologenebene“.
    „Normalos“ denken auf der „Anwenderebene“.

    Der Input erfolgt von einer Matrix ausgehend und Output kann auf einer Matrix (wie auf einem Bildschirm, zur Anzeige gebracht werden) und gleichzeitig Input für eine weitere Verarbeitung sein.

    Der Handlungen ausführende Output steuert z.B. die Muskel an.

  49. @Viktualia 18.06. 16:17

    „Mein Eindruck ist eher, dass es der Psyche ums “Ganzsein” geht.“

    Alles was weiter führt eben?

    „Es ist natürlich komplexer, aber wenn etwas hochkommt, muss man nicht automatisch darauf schließen, dass es vorher unzulänglich eingeordnet war. “Vernünftig” bezieht sich halt nur auf einen Zeitpunkt, nicht auf alle kommenden Möglichkeiten.“

    Keine Frage. Interessant sind öfter auch die sehr schmerzhaften Erfahrungen. Und doch muss man immer gucken, was man sich zumuten kann. Und anderen.

    Und man kann sich auch gerne darauf konzentrieren, wo man sich mit auskennt, und wie man hiermit vorwärts kommt. Man muss dann eben keineswegs mit allem fertig werden, was sich auch einfach umgehen lässt. Eine Konzentration auf das gut zu Bewältigende kann weiter führen, als zu versuchen, mit allem klar zu kommen.

    Insbesondere muss man sich nicht auf jedes Risiko vorbereiten. Man muss die sicher gefährlichen Risiken einbeziehen, und kann darüber hinaus einfach auf sein Glück hoffen.

  50. @Elektroniker – “Affektlogik” – freut mich!
    Aber es geht hier ja nicht um “Bewusstsein”, sondern um Borderline als Persönlichkeitsstörung; ich möchte nicht allzu sehr vom Thema abweichen.

    Z.B. hier ein eingetretener Nagel auf der großen Zehe der „Körperhautmatrix“.
    Das würde einen Reflex auslösen, das Großhirn wird gar nicht nach seiner “Meinung” gefragt, der Reiz kreuzt die Mittellinie nicht und die Reaktion ist willkürlich. Andere Baustelle.

    (“Qualifiziertes Gatter” sagt mir gar nix, bitte um Erläuterung.)

    “Synapsen” Ja, gehen nur in eine Richtung, aber es gibt, je nach “Organ” (also z.B. bei allen Muskeln) eine Hin- und eine Rückleitung. (Und die Rindenfelder, wo verglichen wird bei allen “Sinnen”.)

    “Maschinenebene” – halt, sie lassen so was wie den Tonus, also den Grad der (Muskel)Anspannung völlig aus. Da ist keine solche Trennung, das existiert auch auf der “höheren” Ebene.
    Und das ist z.B. für einen dekompensierenden Borderliner existentiell.

    Es gibt ja nicht nur “die Bewegung”, jede Bewegung kann auf tausenderlei Arten ausgeführt werden: lässig, elegant, grob, fahrig, gewaltsam, konzentriert, spielerisch usw.

    Eigentlich wollte ich mit der Affektlogik darauf hinaus, wie so was wie ein “Tunnelblick” entstehen kann und dass das dann nicht die “ganze Persönlichkeit” ausmachen muss.

    Aber da muss ich wohl noch ein wenig drüber nachdenken um das rüber zu bringen.

  51. @Tobias Jeckenburger – Alles was weiter führt eben?
    Hmm, klingt nach Leistung, ich empfinde es eher als “immer weiter differenzierend und dabei nichts ausschließend”.
    (Wobei ich mit “nichts ausschließend” dem, was sie ansonsten geschrieben haben, nicht widersprechen möchte.)

    Ja, manchmal denk ich, Therapie ist die Kunst, die richtige Schrittgröße zu ermitteln.

    Man muss dann eben keineswegs mit allem fertig werden, was sich auch einfach umgehen lässt.
    Jep, “Nein” sagen können ist auch ganz wichtig; nicht nur das “Ja” zu sich selbst.
    (Aber “nein dazu sagen” ist etwas anders als es zu leugnen/auszuschließen.)

  52. @Elektroniker 18.06. 16:40

    „Der Input erfolgt von einer Matrix ausgehend und Output kann auf einer Matrix (wie auf einem Bildschirm, zur Anzeige gebracht werden) und gleichzeitig Input für eine weitere Verarbeitung sein. Der Handlungen ausführende Output steuert z.B. die Muskel an.“

    Wobei wir insgesamt vielleicht sehr viel mehr als nur Funktionalität sind. Nicht nur Erkenntnis, die erst auf der Ebene von Kultur wirklich Fahrt aufnimmt. Auch ein Sein, dass sehr viel mehr ist als Herumlaufen und Essensuchen. Die Welt, die wir hierbei miterleben, ist vielleicht das Eigentliche, um das es hier geht. Und eben der Mikrokosmos, der dabei unausweichlich mitentsteht, könnte das eigentliche Ziel der ganzen Veranstaltung sein.

    Womit dann auch die Mikrokosmen aller Tiere inclusive der längst verstorbenen Dinosaurier nicht weniger zum Sinn dieses Universums gehören, wie wir es auch sind.

    Und auch unsere Psychologie wäre sehr viel mehr als Funktionalität. Aus dieser Sicht sehen auch psychologische Schwierigkeiten etwas anders aus.

  53. Ist Borderline doch keine Persönlichkeitsstörung?

    Diese Frage geht stillschweigend davon aus, dass es Menschen ohne Persönlichkeitsstörung gibt, dass eine Grenzlinie ( “rote Linie” ) zu ziehen möglich sei zwischen “ja” und “nein”.
    Aus meiner Sicht ist jede menschliche Eigenschaft in der Bevölkerung normalverteilt, was bedeutet, dass fast alle mehr oder weniger gestört sind mit Ausnahme derer am äußersten Rand der “Nicht-Seite” der Verteilung – aber das wäre dann so selten wier ein IQ > 175.

  54. @ Viktualia 18.06.2023, 17:20 Uhr

    Ist mir auch schon aufgefallen, dass wir uns von „Borderline“ entfernen.

    Dass ein eingetretener Nagel auf der großen Zehe zuerst einen „Reflex“ auslöst, erst etwas später das „Gehirn“ reagiert, trifft meistens zu. Aber auch der Fall dass jemanden z.B. ein Stich in den Rücken gar nicht auffällt. Oder auch umgekehrt. Ich hatte einmal eine absurde Beobachtung gemacht, dass jemand ein sehr heißes Werkzeug angegriffen hat um damit zu arbeiten. Dem ist das erst nach einigen Sekunden aufgefallen. Er hat auch noch irgendwie „ungläubig geschaut“ weil er das nicht erwartet hat und erst dann das Werkzeug weggeworfen….

    Ein elektronisches Gatter triggert z.B. nur genau dann, wenn auf allen 5 Eingänge gleichzeitig ein Impuls auftritt. So verhält es sich in der strengen Computerlogik.

    Ein Neuron („qualifiziertes Gatter“, der Begriff stammt von mir) triggert z.B. dann, wenn auf möglichst vielen Eingänge möglichst gleichzeitig ein Impuls auftritt. So verhält es sich in der vagen „Neuronen Logik“. Das ist (salopp) der Grund, warum 3 Juristen zu 4 Rechtsmeinungen kommen können….

    Signale, z.B. Tonus, EKG Signale „laufen auf Maschinenebene“. Aber natürlich wird z.B. kein Sportler daran gehindert, sich eine „passende Uhr“ zuzulegen um z.B. Pulssignale beim Training zu berücksichtigen.

    „Fehlsteuerungen“ sind überall möglich. Die Neurologen/Psychiater versuchen eben, sie im korrekten Rahmen zu halten.

  55. @ Tobias Jeckenburger 18.06.2023, 17:48 Uhr

    Zitat: „Die Welt, die wir hierbei miterleben, ist vielleicht das Eigentliche, um das es hier geht. Und eben der Mikrokosmos, der dabei unausweichlich mitentsteht, könnte das eigentliche Ziel der ganzen Veranstaltung sein.“

    Das „ Ziel der ganzen Veranstaltung“ könnte sein, dass einerseits immer mehr (der theoretisch unendlich vielen) „Genvarianten“, bzw. „Memvarianten“ (so etwas ähnliches wie „Denkvarianten“) „gescannt und getestet“ werden, im Wettbewerb „interagieren“ und die Ressourcen nutzen.

    Werden die „Varianten“ immer schlechter, oder gehen die „Ressourcen“ aus, so endet die „Veranstaltung“…..

  56. @ Karl Maier 18.06.2023, 17:52 Uhr

    Womöglich läuft es ohnehin darauf hinaus, wie Sie es sehen.

    “Vegetarier” halten die “Fleischesser” für „gestört“ und umgekehrt. Die „Pazifisten“ die „Kriegslüstlinge“, die „Klimafolgen Gläubigen“ die „Klimafolgen Leugner“,…..

    Das zieht sich bei uns wie ein roter Faden durch die ganze Gesellschaft.

    Man könnte fast vermuten, hauptsächlich bei uns und in noch einigen anderen Ländern ist die Gesellschaft kollektiv verrückt geworden…. wieder einmal….

  57. @Elektroniker, was ist los?
    Nee, ich muss ihren Schlüssen ja fast ausnahmslos widersprechen, anscheinend hab ich sie mit der Affektlogik auf die falsche Spur gelockt.

    Ein Reflex landet schneller im Hirn, nicht “später”. (Seien sie so gut, vergessen sie die Affektlogik fürs erste und schauen sich das hier mal an: https://de.wikipedia.org/wiki/Reflexbogen_(Physiologie) (wird ihnen mindestens so gut gefallen) und behalten dabei bitte im Hinterkopf, dass das nicht normale Bewegungen, wie z.B. “zeichnen” (Hand-Auge Koordination) beschreibt, sondern halt “Reflexe”, automatisch, nicht bewusst ausgeführte Bewegung.)

    „Fehlsteuerungen“ sind überall möglich.
    Da sind wir, wenn auch indirekt, wieder beim Thema.
    NEIN – auf dieser körperlichen Ebene sind wir so etwas wie perfekt. (Natürlich gibt es neurologische und somatische Krankheiten (und Alter) aber deren “Management” ist anders.)

    Das ist, lieber @Elektroniker, auch der Punkt (schätze ich), den @Stephan Schleim einnimmt, wenn er über “komplexe psychosoziale Konstrukte, bei denen soziale Normen und die Interessen von Fachleuten eine erhebliche Bedeutung spielen.” spricht , bezüglich “Diagnosen” – es ist Interpretation, nicht Realität.
    Es mag da Fehler geben (eher “Fehlendes”), aber keine “Fehlsteuerung”. Da irren sie. (Also auch faktisch; “Irre” sind keine Fehler, Nerven boykottieren uns nicht. Ihr “KI-Faktor” ist Fiktion.)

    Unser Geist wohnt in einem Zuhause, das funktioniert. (Das lege ich jetzt nicht Herrn Schleim in den Mund, das ist eine Feststellung von mir.) Unser Körper funktioniert – in sich. (Die “Materialverwaltung”, wenn man so will.)
    Und psychische “Krankheiten” bedeuten, dass man “gesund sein will”, Heilung braucht; man hält nicht aus, nicht man selbst zu sein. (Mensch erkennt sich, er erkennt also Fehlendes.)
    Man erkennt es und leidet – so wie man sich freut, wenn man man selbst sein kann. (Ein Mensch gesundet, wenn er Zeit mit sich verbringen kann.)

    So gesehen sind die Normalen verrückter, weil sie nicht sehen, dass ihnen überhaupt was fehlt. (Naja, stark verkürzt, aber prinzipiell läuft es schon auf so was hinaus.)

    Wenn man deren Kompensation als “Fehlsteuerung” bezeichnen würde, ginge ich mit, aber das Ding hat schon einen Namen: “kognitive Dissonanz”, also dass man nachsteuert, um sich einzureden, alles wäre primel. Das Dumme ist, das so was funktioniert und “kultiviert” wird.

    (Und ich mochte Borderliner schon immer dafür, dass sie da weniger korrupt als “die Normalos” sind. Ein Glück, dass @Stephan Schleim neben Psychologie Philosophie lehrt und nicht Psychiatrie…)

    @Elektroniker, das mag verwirrend klingen, ich schätze, es geht (mir) darum, dass wir alle ein wenig verrückt sein können müssten, um wirklich eine “heile Welt” zu erreichen.
    (Und “erwachsen sein”, aber Verantwortung ist ein anderes Thema.)

    Es gibt kein “perfektes” System; perfekte Systeme entdecken und reparieren/heilen ihre “Fehler”.
    (Zitat, die Herkunft ist mir unbekannt.)

  58. @ Viktualia 18.06.2023, 21:13 Uhr

    Zitat: „Ein Reflex landet schneller im Hirn, nicht “später”.“

    Ich habe formuliert: „Dass ein eingetretener Nagel auf der großen Zehe zuerst einen „Reflex“ auslöst, erst etwas später das „Gehirn“ reagiert, trifft meistens zu.“

    Mit „etwas später das „Gehirn“ reagiert,“ habe ich natürlich eine „bewusste Reaktion“ vom Gehirn ausgehend gemeint. Z.B. dass man den Schuh auszieht, nachschaut….

    Dass es aber nicht immer zwingend so sein muss, darauf bin ich auch eingegangen: „Aber auch der (absurde) Fall dass jemanden z.B. ein Stich in den Rücken gar nicht auffällt. Oder auch umgekehrt. Ich hatte einmal eine absurde Beobachtung gemacht, dass jemand ein sehr heißes Werkzeug angegriffen hat um damit zu arbeiten. Dem ist das erst nach einigen Sekunden aufgefallen. Er hat auch noch irgendwie „ungläubig geschaut“ weil er das nicht erwartet hat und erst dann das Werkzeug weggeworfen….“

    Da kam die Reaktion eindeutig später. Der Betreffende konnte (mit seinem Bewusstsein) einfach nicht wahrhaben, dass das Werkzeug dass er schon oft in der Hand hatte, auf einmal sehr heiß war und er sich die Finger relativ stark verbrannt hatte….

    Der „Reflexbogen Link“ gefällt mir tatsächlich. Im Prinzip waren mir die Sachverhalte bekannt.

    Zitat: „Fehlsteuerungen“ sind überall möglich.

    Damit habe ich hauptsächlich allgemein „Bewegungsprobleme“, z.B. Tremor, besondere „zwanghafte“ Mimik oder Gestik gemeint. Der Betreffende „kann“ einfach nicht anders, obwohl er es möchte. Derartiges kann auch bei „Borderlinern“ vorkommen, vielleicht etwas „abgeschwächt“.

    Bei den meisten Menschen ist die „Steuerung der Bewegungen“ korrekt, gelegentlich „abweichend“ von der üblichen Norm, sozusagen „fehlerhaft“, nicht „fehlend“.

    Ich habe @Stephan Schleim, wenn er über “komplexe psychosoziale Konstrukte, bei denen soziale Normen und die Interessen von Fachleuten eine erhebliche Bedeutung spielen” spricht, so interpretiert, dass er, salopp formuliert meint, dass damit „Kassa gemacht werden soll“.

    Dass „Streichelpsychologen/Therapeuten“ einen besonderen, Patienten „schmeichelnden Jargon“ haben, ist allgemein bekannt….

    Zitat: „…. das mag verwirrend klingen, ich schätze, es geht (mir) darum, dass wir alle ein wenig verrückt sein können müssten, um wirklich eine “heile Welt” zu erreichen.
    (Und “erwachsen sein”, aber Verantwortung ist ein anderes Thema.)“

    Das „hat was auf sich“. Vermutlich nutzt man deswegen Drogen und Alkohol. Ich bin alt und ganz locker, vielleicht etwas zynisch geworden, habe Hobbys, ich brauche derartiges zum Glück nicht.

  59. @Elektroniker – Amen.
    O.K., ich gönne es ihnen.

    Trotzdem: wenn sie in einen Nagel treten, dann hüpfen sie zur Seite, bevor sie es merken, weil der “Reiz” buchstäblich erst danach in ihrem (Groß)Hirn ankommt.
    (Und zu dem Menschen mit dem Werkzeug: der muss total trockenen Finger gehabt haben, der Arme.)

    Fehlsteuerung: – Nochmal: Nein.
    Ein Tremor ist neurologisch und eine Mimik, die ihnen nicht gefällt, kann trotzdem Gründe haben, die soviel Sinn machen, dass man nicht von “Fehlsteuerung” reden kann,
    “Abweichend von der Norm” ist eben nicht automatisch “fehlerhaft” (im medizinischen Sinne.)

    “Kasse gemacht”
    Hab ich nicht ausgeschlossen, aber auch nicht gemeint.
    Nein, es geht darum, dass Diagnosen auch eine gesellschaftliche Funktion haben, die nix damit zu tun haben muss, die Leute gesund zu machen, bzw. dass sie überhaupt “krank” wären. Also kranker als “Normale”.

    (Zu den schmeichelnden Streichelpsychologen fällt mir nix ein, das nicht beleidigend wäre. Wollten sie mich ärgern, gar abwerten, oder ist es “nur” Ignoranz? Ist ihnen bewusst, wie menschenverachtend das klingt?)

  60. @ Viktualia 19.06.2023, 06:21 Uhr

    Diesmal kann ich fast alles nachvollziehen, sehe es so wie sie.

    Den Begriff „Streichelpsychologe“ habe ich von einem Bekannten, der sich mir gegenüber scherzhaft so bezeichnete und selber einer war.

    Allerdings menschenverachtend kann ich das nicht sehen. Ich finde es eigentlich ganz toll, dass es Menschen gibt, die sehr freundlich mit Mitmenschen umgehen, die einfach Pech haben und normalerweise keine „Streicheleinheiten“ in ihrem Leben zu erwarten haben.

    Ich entschuldige mich, wenn ich Sie beleidigt haben könnte, weil Sie es anders sehen.

  61. @Viktualia: “Krankheiten”

    Nichts für ungut, ich sah keine Notwendigkeit für eine Entschuldigung Ihrerseits.

    Ich selbst spreche lieber nicht von “Krankheiten”, da das eine verdinglichende (reifizierende) Redeweise ist für etwas, das viel mit sozialen Normen und psychischen Vorgängen zu tun hat, die sich alle ändern.

    Man müsste mal besser wissen, wie Menschen vor dem 20. Jahrhundert, bevor sich diese psychologisch-psychiatrische Sprache durchsetze, ihre Probleme wahrgenommen haben – und wie sie damit umgegangen sind.

    Es gibt natürlich Fortschritte, das will ich nicht leugnen; auf bestimmten Gebieten haben wir aber auch etwas zutiefst Menschliches verloren. Das gilt es hier bei MENSCHEN-BILDER herauszuarbeiten.

  62. @Viktualia, irgendwer: Individuum & Gesellschaft

    In meine Augen entsteht dieses Stigma nicht, um “die Betroffenen zu benachteiligen”, sondern um den nicht ganz so Betroffenen vorzugaukeln, sie wären “gesund”.

    Welche Funktion das vorhandene System für die Behandelnden erfüllt, sollte man auch einmal bedenken. Man sagt immer, man wolle den “psychisch Gestörten” helfen.

    Aber auf der anderen Seite verdienen die Behandelnden damit ihr Geld, sind sie in einer Machtposition – und bei ein paar, das vermute ich schon länger, mag vielleicht sogar eine Selbstaufwertung eine Rolle spielen, die dann entsteht, wenn man sich vor allem mit Menschen mit Problemen/Krankheiten/in Abhängigkeit umgibt.

    (Womit ich nicht bestreiten will, dass im psychosozialen Bereich viel Gutes und Wichtiges geschieht! Oft scheint es hier aber schlicht um eine funktionierende zwischenmenschliche Beziehung zu gehen, wie ja auch die Psychotherapieforschung nahelegt.)

  63. @Elektroniker – alles gut, lieben Dank für die Erläuterung, hab ich halt nicht raushören können.

    Und: nur weil man “lieb” zu anderen sein kann, wird es ja nicht unwichtig, auch ein klares “nein” geben zu können.

    Frauen (also weiblichen Therapeuten) wird oft unterstellt, “nur nett” sein zu können.
    (Zur Einordnung, damit sie nachvollziehen können, warum ich sie “verdächtigt” habe.)

    “Nein sagen können, ohne aus dem Kontakt zu gehen” ist halt auch sehr, sehr wichtig.

    Ich weiß ja nicht, wie ihr Bekannter sonst so drauf ist, aber es geht ja nicht ums “Schmeicheln”, sondern darum, sein Verständnis dafür zu zeigen, dass die Info (ein “nein”), die man als Therapeut rüberbringt, vom Kunden nicht automatisch mit heller Freude aufgenommen wird.
    “Normale Autoritäten” erwarten ja immer, dass man so was in Sekundenschnelle verdaut und sich sein “Ja, aber – ” spart.
    Gute Therapeuten haben das nicht nötig.

  64. @Maier: “dass es Menschen ohne Persönlichkeitsstörung gibt”

    Ja, guter Punkt – wo man die Grenze zieht, ist normativ-subjektiv.

    Fachleuten, wie dem hier erwähnten Tyrer, ist es zu verdanken, dass es im ICD-11 jetzt einen dimensionalen Ansatz gibt: Man erhebt erst die Schwere der Störung und ordnet sie dann im zweiten Schritt einem bestimmten Muster zu (wovon “Borderline” dann (immer noch) eins ist).

    Allgemein gilt wie immer: Leidet jemand erheblich (bzw. “klinisch signifikant”) und/oder ist dessen Funktionieren im Alltag erheblich eingeschränkt?

  65. @Stephan Schleim – Man müsste mal besser wissen, wie Menschen vor dem 20. Jahrhundert, bevor sich diese psychologisch-psychiatrische Sprache durchsetze, ihre Probleme wahrgenommen haben – und wie sie damit umgegangen sind.
    Da sagen sie was!
    Ich lese gerne und viel, schon immer. Und wenn ich mir – unter diesem Aspekt – Literatur des vorletzten Jahrhunderts anschaue, bin ich erstaunt darüber, wie “deep” die sind.

    Ob das Charles Dickens ist, Balzac oder Jane Austen; oder Edith Nesbit (Kinderbücher) selbst Wilkie Collins (also “früher Schund”, Mystery Kram) alle scheinen mir ein Menschenbild zu haben, wo es eher darum geht “richtig zu handeln”, als “richtig zu sein”.

    (Ich wollte mich nicht “unterordnen”, mit meiner Entschuldigung. Als ich begriff, wie “subjektiv” ich war, als ich das schrieb, war es mir halt peinlich.)

    Aber auf der anderen Seite verdienen die Behandelnden damit ihr Geld,
    Ich liebe es, damit zu spielen “Nein, bleiben sie sitzen; ich bekomme Geld dafür, sie sollen hier was für sich tun, nicht für mich!”

    Oder halt der “Beziehungsaspekt”: Ich bekomme Geld, die Kunden meine Liebe. (So wie man mich als “Basteltante” bezeichnen darf, bin ich auch stolz auf meinen Status als “Professionelle”.)

    Womit ich nicht (nur) meine Kreativität loben möchte, man muss halt wirklich was dafür tun, dass (vor allem neue) “Patienten” nicht vor lauter Ehrfurcht erstarren und den Mut finden, mal was in Frage zu stellen.

    “Mütter” (also frühe Vorbilder) die ihren Schutzbefohlenen “Mut zur Freiheit” machen, sind in unserer Gesellschaft nicht wirklich (Arche)typisch.

    Oder eine Autorität, die sich entschuldigt (was bin ich meinem Vater dankbar, dass er das konnte!) oder lobt, weil etwas einfach “schön” war, wenn ich mich z.B. um eine Person kümmern konnte und “die Gruppe” ohne mich klar kam.

    Therapeutische Beziehungen sind immer asymmetrisch. Es löst sich dadurch auf, dass ich “nicht herrsche, sondern diene”.
    (Naja, und dass ich Spaß daran habe, ich selbst zu sein.)

  66. @ Stephan Schleim 19.06.2023, 11:05 Uhr

    Zitat: „Man müsste mal besser wissen, wie Menschen vor dem 20. Jahrhundert, bevor sich diese psychologisch-psychiatrische Sprache durchsetze, ihre Probleme wahrgenommen haben – und wie sie damit umgegangen sind.“

    Das ist eine gute Frage. Ich kann sie zwar nicht als Betroffener beantworten, meine Familie war zum Glück vor derartigen Problemen verschont. Aber in der Umgebung konnte man sie beobachten.

    Meistens lief ein Kind aus einer betroffenen Familie (am Land) in eine Gaststädte mit Telefon und bat, die Rettung von der Psychiatrie zu rufen um z.B. ihre Tante abzuholen, die wieder „verrückt“ geworden war.

    Die Betroffenen waren mitunter in einem Raum (im Bauernhof) eingesperrt, weil sie „gefährlich“ waren. Z.B. weil sie immer wieder die Scheune anzünden wollten, jemanden, auch Kinder umbringen wollten, oder sich z.B. vom Teufel verfolgt fühlten.

    Manche haben sich selbst beschädigt, z.B. mit einer Hacke auf den Kopf geschlagen…. Andere wollte im Suff die „ganze Welt umbringen“ und wurden aggressiv.

    Ein Jugendlicher galt als eher sehr „leichter Fall“. Er hat sich mit der Zirkelspitze die Hand durchbohrt und er empfand Freude wenn die Spitze auf der anderen Seite der Hand herausragte….

    Ich kann keine statistischen Aussagen machen, aber es kam immer wieder z.B. zu Bränden mit vielen Opfern…..

    Das Verhalten hat man für eine Bösartigkeit gehalten, woran der Betreffende selbst „schuld“ war. Allenfalls hat man „zugestanden“ dass der „Teufel im Spiel“ war. Dann war das Problem, dass sich die Person, oder womöglich die Familie, „freiwillig und absichtlich“ mit dem Teufel „verbündet“ hätte.

    Es war für die Betroffenen eine große Erleichterung, als man als Grund eine „Krankheit gelten“ ließ.

    Das wurde von der „Bevölkerung“ oft strikt abgelehnt, weil Betroffene regelrecht „gehasst“ wurden.

    Ich meine, dass Medikamente und Sozialarbeit eigentlich eine starke Besserung der Situation gebracht haben.

  67. Worüber ärgert man sich mehr ? Über Borderline oder über eine Persönlichkeitsstörung. ? Wer sensibler ist, worüber muss man sich mehr Sorgen machen ?
    Und macht es einen Unterschied ob der Psychotherapeut eine Persönlichkeitsstörung versucht zu therapieren oder Borderline. ?

    Das wurde eingangs alles schon sehr gut dargestellt, der wichtigste Punkt kam am Ende, ist Borderline nur eine Beschreibung von Symptomen oder versteckt sich dahinter der eigentliche Grund ,ein schweres Trauma, das es aufzuklären gilt.
    So hätte Siegmund Freud gedacht.

  68. Sie sind ja selbst “borderline”.

    [Sehr eloquent. 😂 S. Schleim]

  69. @Stephan 19.06. 11:14

    „Allgemein gilt wie immer: Leidet jemand erheblich (bzw. “klinisch signifikant”) und/oder ist dessen Funktionieren im Alltag erheblich eingeschränkt?“

    Gute Idee, dass es zunächst mal hier drauf ankommt. Und dann kann man sich immer noch streiten, ob überhaupt ein Problem vorliegt. Manch ein Arbeitsloser will gar nicht arbeiten, und es soll sogar Obdachlose geben, die freiwillig so leben wollen.

    Der eine sucht gar keinen Partner, der andere leidet unendlich, wenn er keinen abbekommt.

    Der eine schafft keinen Schulabschluss, weil er minderbegabt ist, der andere ist nur faul.

    Der eine ist so ehrgeizig, dass er allen auf die Nerven geht, verdient dann aber auch das meiste Geld.

    Die Perspektive entscheidet öfter, wie eine Eigenschaft bewertet wird. Erst wenn hier wirklich ein Problem auch im Sinne der richtigen Perspektive vorliegt, macht es Sinn, nach der Kategorie des festgestellten Problems zu suchen.

    So mag dann auch Borderline in Einzelfällen gar kein Problem sein.

    Schwieriger wird es, wenn jemand aufgrund seiner Krankheit nicht einsehen kann, dass er krank ist. Oder wenn jemand seine Krankheit abstreitet, weil er keinen Bock hat, in die Klinik zu gehen.

  70. Stephan Schleim
    19.06.2023, 11:14 Uhr

    wo man die Grenze zieht, ist normativ-subjektiv

    Ja, man könnte es vielleicht auch ‘willkürlich’ nennen, oder?

    Wenn ich dazu mal etwas spotten darf, weil mir der Witz so spontan in den Sinn kam:

    Verkehrsnachrichten im Radio:
    “Achtung Autofahrer, auf der BAB xy kommt Ihnen zwischen A und B ein Falschfahrer [ früher: Geisterfahrer ] entgegen! Fahren Sie äußerst rechts und überholen Sie nicht!”

    Ein Autofahrer: “EIN Falschfahrer? Ach was, DUTZENDE, HUNDERTE!”

  71. @ Tobias Jeckenburger

    „Allgemein gilt wie immer: Leidet jemand erheblich (bzw. “klinisch signifikant”) und/oder ist dessen Funktionieren im Alltag erheblich eingeschränkt?“

    Gute Idee, dass es zunächst mal hier drauf ankommt. Und dann kann man sich immer noch streiten, ob überhaupt ein Problem vorliegt.

    Schwieriger wird es, wenn jemand aufgrund seiner Krankheit nicht einsehen kann, dass er krank ist. Oder wenn jemand seine Krankheit abstreitet, weil er keinen Bock hat, in die Klinik zu gehen.

    Die meisten Menschen auf denen die Diagnose (oder das Konstrukt) einer spezifischen Persönlichkeitstörung zutrifft begeben sich erst in eine Psychotherapie wenn sie stark leiden, z.B. durch einen bereits langen Leidensweg der dann durch durch eine (weitere) Lebenskrise auf die Spitze getrieben wird.

    Viele Menschen auf denen die Kriterien der Diagnose nach ICD oder DSM passen wissen nicht dass sie eben diese Kriterien erfüllen, woher sollten sie auch? Die waren mit der klinischen Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie nie in Kontakt.

    Ein ausreichend starker Leidensdruck bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen in der Psychotherapie, sei es ambulant oder stationär, liegt also ohnehin fast immer vor. Das Kriterium dass die Person selbst leidet bzw. dass so empfindet ist daher meist sowieso gegeben. Dazu muss eine Diagnose gegeben werden damit die Krankenkasse die Psychotherapie bezahlt; ohne geht es systembedingt nicht.

    Allgemein zu Borderline:
    Psychiatrische Diagnosen beruhen auf Konzepten die dann operationalisiert werden damit sie empirisch überhaupt erforschbar bzw. systematisch analysierbar sind. Deshalb sollte man solche Diagnosen philosophisch gesprochen natürlich nicht als wahre Entität oder so betrachten (Stephan Schleim hat das in seinem Beitrag hier so ähnlich gesagt).

    Früher oder später wird es auch keine Persönlichkeitsstörungen mehr im heutigen Sinne geben; Diagnosen kommen und gehen. Ich erinnere beispielsweise an die sadistische Persönlichkeitsstörung die es noch im DSM 3 gab und die dann später einfach gestrichen wurde.

  72. @Maier: Grenzziehung

    Man kann auch “willkürlich” sagen, sollte das aber nicht als “anything goes” missverstehen. Mein Vorschlag (“normativ-subjektiv”) ist, denke ich, besser, denn:

    Willkür die allgemein geltenden Maßstäbe, Gesetze, die Rechte, Interessen anderer missachtendes, an den eigenen Interessen ausgerichtetes und die eigene Macht nutzendes Handeln, Verhalten (Duden)

    Der Punkt ist hier ja gerade, dass die Psychologinnen und Psychiater die geltenden Maßstäbe selbst setzen.

  73. @Philipp: Leidensdruck

    Es ist zwar so – übrigens fast tautologisch –, dass Menschen, die zur Therapeutin gehen, i.d.R. einen Leidensdruck haben. Wesentliche Aufgabe des klinischen Experten ist es aber trotzdem, die Erheblichkeit bzw. Behandlungsbedürftigkeit (laut DSM “klinische Signifikanz”) des Leidens bzw. der funktionellen Einschränkung festzustellen. Dabei besteht natürlich ein Interessenkonflikt (denn wenn das Ergebnis positiv ausfällt, kann der Behandler mit der Behandlung Geld verdienen).

    Wenn man Leuten erzählt, dass z.B. Trauer eine Störung ist, dann rennen sie vielleicht zum Arzt/zur Therapeutin, weil sie denken, dass sie krank sind. (Lange, schwierige Diskussion, siehe jetzt z.B. Prolonged Grief Disorder.)

    P.S. Übrigens räumte Tebartz-van Elst hier im Gespräch ein, dass Persönlichkeitsstörungen zu häufig diagnostiziert werden, meiner Erinnerung nach etwa doppelt so häufig, wie es gerechtfertigt wäre: “Es geht nicht ganz ohne soziale Normen”

  74. Leidensdruck

    Ein Problem ist auch, dass nicht nur die betreffenden Personen persönlich einen Leidensdruck haben, sondern auch die „Umgebung“.

    Die Probleme die ich in meinem vorigen Beitrag in der Kindheit wahrgenommen habe, gibt es auch heutzutage und können fast überall geschehen.

    Eine Frau mit einer „Psychiatrischen Vorgeschichte“ heiratete in eine größere Familie ein und es ergaben sich Probleme. Die Familie versuchte alles „unter der Decke“ zu halten.

    Aber immerhin blieb es der Nachbarschaft, auch wegen der „plappernden Kinder“, nicht verborgen, dass hauptsächlich die alten Eltern in der Nacht regelrecht „Feuerwache“ (wie beim Militär) halten mussten, damit die Frau ihre Drohungen (Feuer zu legen) nicht realisieren konnte. Sie hat einfach die Medikamente abgesetzt, die ihr in der Psychiatrie verordnet wurden. Dort wurde sie eingeliefert, nachdem sie sich mit der Polizei angelegt hatte.

    Die Pointe: Sie hat ihren Mann „strengstens bestraft“ indem sie ihn verlassen hat……

  75. @Elektroniker: Leiden vs. Anderssein

    Es ist eine wichtige Lehre aus der Geschichte der Psychiatrie, Menschen nicht nur einfach zu Patienten zu machen, weil sie anders sind bzw. anderen “auf die Nerven gehen” (man erinnere sich z.B. an Homosexualität oder Hysterie oder Neurasthenie oder oder oder als psychische Störungen).

    Klar ist aber auch, dass bei manchen dieses Anderssein bzw. “auf die Nerven gehen” so weit gehen kann, dass es zu einer Bedrohung wird. Ob das dann ein Fall für die Justiz ist oder die Psychiatrie muss im Einzelfall abgewogen werden – und so geschieht es ja auch.

  76. P.S. Und bei dieser Abwägung spielt die Rationalität einer Person eine besondere Rolle: Das heißt, weiß sie, was richtig/falsch ist und kann sie nach dieser Einsicht handeln? (Sogenannte Einsichts- und Steuerungsfähigkeit)

    Das habe ich gerade erst im praktischen Teil meines Buchs Wissenschaft und Willensfreiheit noch einmal herausgearbeitet.

  77. Welches ich heute morgen vom Buchhändler geholt habe.
    Ich denke,ich sollte mich bei Ihnen wegen meiner Konfrontation im letzten Artikel bei Ihnen entschuldigen.
    Sie haben Mensch als Natur- und Kulturwesen aufgenommen.
    Damit ist die zweite Botschaft angekommen und es bedarf nicht eines Ausschlusses.
    Ich wünsche Ihnen und Ihrem blog weiterhin alles gute.
    Dass Natur UND Kultur biopsychosozial meint und verwoben ist,wird schon noch kommen!
    Alles Gute!

    [Ist gelesen. Ihnen auch alles Gute! S. Schleim]

  78. @Phillip 20.06. 09:02

    „Psychiatrische Diagnosen beruhen auf Konzepten die dann operationalisiert werden damit sie empirisch überhaupt erforschbar bzw. systematisch analysierbar sind. Deshalb sollte man solche Diagnosen philosophisch gesprochen natürlich nicht als wahre Entität oder so betrachten..“

    Nicht nur philosophisch, auch ganz praktisch sollte man hier keine wirklichen Entitäten für sich selber zuschreiben. Es genügt, die konkreten Symptome ernst zu nehmen, und die Medikamente und andere Hilfen anzunehmen. Derweil man dann mit dem arbeiten muss, was man hat. Das ist die eigene Person und das sind die eigenen Fähigkeiten, insbesondere das Miteinander zu gestalten.

    Dann kann man sich eher darauf konzentrieren, z.B. für eine Belastung zu sorgen, die weder zu viel noch zu wenig Anstrengung mit sich bringt. Und sich ein Umfeld suchen und ausbauen, indem man gut leben kann.

  79. Stephan Schleim
    20.06.2023, 09:19 Uhr

    Man kann auch “willkürlich” sagen

    Immer diese Definitionen, in denen wir uns verwickeln und dann so trefflich miteinander streiten können …

    Ich verstehe “willkürlich” als “willentlich gesetzt”, nicht durch “objektive” Zahlenwerte begründbar.
    Kleine Abschweifung:
    Mancherlei Grenzwerte zu schädlichen Substanzen beruhen auf ähnlichen opportunistischen Vorgehensweisen.

  80. @Maier: willkürlich…

    …ist auch nicht ganz falsch, mir aber nicht richtig genug.

    Es geht nämlich um “den Willen” bestimmter Fachleute, die diese Entscheidung treffen (nämlich: einflussreiche Psychiater bei der APA/DSM, WHO/ICD), wiederum in einem bestimmten sozio-kulturellen Kontext.

    * Noch präziser würde ich auf den reifizierenden Ausdruck “der Wille” verzichten und von Willensvorgängen sprechen, siehe mein neues Buch über Willensfreiheit.

  81. Was denn der Mensch sei. Dieser grundsätzliche Gedanke steht über jeder Ideologie über jeder Philosophie und über jeder Psychologie.
    Und die Sprache ist verräterisch.
    Mit dem Wort “willkürlich ” berührt man diesen Gedanken.
    Und man räumt dem Menschen Freiheit ein, wenn man den Begriff nicht genau definiert. In ihm steckt “Wille” und “Küren”, also mit Absicht auswählen.

    Und ohne Absicht sind wir bei den Normen angekommen.
    Goethe hat es so formuliert : Und alles Wollen ist letztlich nur ein Sollen.
    Und wieder ohne Absicht streifen wir den Einflussbereich der Religionen.

    Und mit diesem Hintergrund können wir endlich darüber nachdenken, was denn eine Persönlichkeit sei, und was ihrGegenteil sei.
    Und ob eine Persönlichkeitsstörungein Mangel an Persönlichkeit ist, ein Überangebot an Persönlichkeit oder eine deformierte Persönlichkeit, wenn wir dieses Wort als Wertbegriff auffassen.

  82. @Stephan 22.06. 10:32

    „Es geht nämlich um “den Willen” bestimmter Fachleute, die diese Entscheidung treffen…„

    Wenn denn dann der Chefarzt der Klinik mit dem Lamborghini vorfährt, lässt das vermuten, dass es ihm um die Leistungsfähigkeit des Menschen geht. Und ihm womöglich jedes Mittel recht ist, auch selber soviel Umsatz zu machen, wie es eben geht.

    @irgendwer 22.06. 11:10

    „Was denn der Mensch sei. Dieser grundsätzliche Gedanke steht über jeder Ideologie über jeder Philosophie und über jeder Psychologie.“

    Menschenbilder gibt es anscheinend soviele, wie es Menschen gibt. Und entsprechend sind Ideologie, Philosophie und Psychologie eigentlich persönlich zu sehen.

    Übergriffigkeiten sind hier dann auch markant. Wenn man anderen z.B. in mancher Beziehung das Existenzrecht abspricht. Oder Stigmata austeilt, die einen wissenschaftlichen Anstrich haben, und doch wenig Entsprechung in der Wirklichkeit der konkreten Menschen bieten, wenn man mal genauer hinsieht.

    „Und ob eine Persönlichkeitsstörung ein Mangel an Persönlichkeit ist, ein Überangebot an Persönlichkeit oder eine deformierte Persönlichkeit, wenn wir dieses Wort als Wertbegriff auffassen.“

    Klar kann man hier beobachten und kategorisieren. Die Frage ist nur, wieviel das dann auch hilft. Letztlich bleibt es eine Herausforderung, jeden anderen und jede Beziehung so zu gestalten, dass man ein menschliches Miteinander daraus machen kann. Öfter ist es aber das Praktikabelste, sich einfach aus dem Weg zu gehen.

    Erst wenn das nicht geht, dann kann es richtig schwierig werden. Gerade die Mitarbeiter in den psychiatrischen Kliniken haben hier öfter die Herausforderung, Menschen zu behandeln, die das gar nicht wollen, und auch die Patienten können hier oft nicht flüchten, und müssen sich mit den angebotenen Therapiemaßnahmen irgendwie arrangieren.

    Man muss jetzt davon ausgehen, das auch die medizinischen Konzepte auf eine hinreichende Machtposition ausgelegt sind, um in den Konfliktsituationen in den Kliniken irgendwie klar zu kommen.

  83. Tobias Jeckenburger,
    Zustimmung.
    Es geht auch darum, ob man den Begriff Persönlichkeitsstörung als herabsetzend ansieht. Wokeness scheint sich auch in der Psychatrie auszubreiten.

    Wieviel helfen solche Überlegungen. Die betroffenen Pflegekräfte, die machen ihre Arbeit wie bisher. In den Altenheimen werden die Renitenten am Bett festgeschnallt, obwohl das menschenunwürdig ist.

    Meine Meinung, wenn sich eine Borderlinerin die Unterame ritzt, dann ist das Gewalt gegen sich selbst, weil man sich anders nicht zu helfen weiß.
    Das Problem scheint die Gesellschaft selbst zu sein, die in ihren Anforderungen das menschliche Können überfordert.

  84. Stephan Schleim
    22.06.2023, 10:32 Uhr

    Fachleute

    Ich habe ganz bewusst das Wort “objektiv” so geschrieben. Ich bin auf meinem Fachgebiet auch Fachleut, weiß aber auch, wie oft das Subjekt dem Objekt bei einer Beurteilung und Bewertung in die Quere kommt, wie oft ein “Ermessensspielraum” im Sinne einer konsistenten Theorie genutzt wird. Ich werde immer dann misstrauisch, wenn der Maßstab nicht eine reproduzierbare Zahl, sondern die ( auch: mentale ) Daumenbreite eines Fachleut ist.

  85. @Tobias Jeckenburger – Gerade die Mitarbeiter in den psychiatrischen Kliniken haben hier öfter die Herausforderung, Menschen zu behandeln, die das gar nicht wollen, und auch die Patienten können hier oft nicht flüchten, und müssen sich mit den angebotenen Therapiemaßnahmen irgendwie arrangieren.
    Da möchte ich sie korrigieren:
    Entweder man ist freiwillig auf einer offene Station oder nicht ganz so freiwillig auf einer Geschlossenen.

    Auf der Offenen macht das beschriebene Szenario keinen Sinn, weil die Person ja “freiwillig” da ist, also bereit, die kompakte Therapie eines stationären Aufenthaltes mitzumachen.
    Und auf der Geschlossenen ist der Arbeitsauftrag “Entaktualisierung”; das Personal “darf” also alles bis auf einen Hungerstreik tolerieren (z.B. nicht waschen… Zwangsweise Verabreichung von Medikamenten ist zwar “Therapie”, wird aber gesondert entschieden, nicht im “Stationsalltag”.)

    Natürlich gibt es auch immer wieder “Professionelle”, die z.B. die Ergo als “Mittel zum Zweck” nehmen wollen, (praktisch wird das dann wahlweise als Strafe oder Belohnung eingesetzt) aber als Therapeutin muss ich mir das natürlich genauso wenig gefallen lassen wie als Kunde.

    Praktisch gibt es auch Konzepte wie “Bezugspflege”, dass jedem Kunden eine Schwester zugeteilt ist, damit Entscheidungen im Zusammenhang getroffen werden können.

    Möglicherweise meinten sie “Psychiatrische Einrichtungen” (nicht Kliniken), für Wohnheime kann ich hier nicht sprechen.

    Und: Plätze in geschlossenen Wohnheimen gibt es nicht (mehr) wirklich viele, die meisten sind offen. (Und die Psychiatrien plagen sich mit “Bewahrfällen”, das ist aber ein anderes Thema.)
    ——————-
    @Karl Maier – wenn der Maßstab nicht eine reproduzierbare Zahl, sondern die ( auch: mentale ) Daumenbreite eines Fachleut ist.
    Schönes Bild.
    Aber (als “Fachfrau für Ausnahmen” sprechend): Schön wäre, wenn sich das Wissen darüber durchsetzen würde, dass wir alle (Kunden, Personal und Wissenschaftler) subjektive Menschen sind, und der “mentale” Daumen als der eigene Daumen erkannt werden könnte.

    Dann wäre dessen “Breite” wieder ein Maßstab, den man wo anlegt und etwas misst, statt das man etwas hat, an das man glauben kann.

    (“Objektivität” besteht doch immer daraus, verschiedene (“subjektive”) Perspektiven einnehmen zu können, eine Art “Mehrdimensionaltät”, oder nicht?
    Als ob “reine Messwerte” für den damit traktierten nicht auch immer hochgradig “subjektiv” seien.)

  86. @ Tobias Jeckenburger:

    Nicht nur philosophisch, auch ganz praktisch sollte man hier keine wirklichen Entitäten für sich selber zuschreiben. Es genügt, die konkreten Symptome ernst zu nehmen, und die Medikamente und andere Hilfen anzunehmen. Derweil man dann mit dem arbeiten muss, was man hat. Das ist die eigene Person und das sind die eigenen Fähigkeiten, insbesondere das Miteinander zu gestalten.

    Das ist so einfach geschrieben bzw. gesagt. In der Realität ist es für einige Menschen mit Borderlinediagnose allerdings so dass die Diagnose Borderline beispielsweise als Anker dient ein mangelhaft ausgebildetes und wechselhaftes Selbstkonzept teilweise wieder zu stabilisieren.

    Eine nicht geringe Anzahl von Menschen mit Borderlinediagnose fehlt das was in der Philosophie “personal identity” genannt wird, also ein Selbstkonzept (Psychologie) das über die Zeit hinweg mehr oder weniger stabil ist und so eine Identität formt. Ziele, Präferenzen, Ansichten, etc. sind brüchig und können zu einem Selbstkonzept führen das fluktuiert, also keine stabile Identität über die Zeit hinweg aufbaut.

    Es gibt auch Menschen mit dieser Diagnose die es katastrophal fänden wenn man die Diagnose streichen würde, da sie glauben dass es diese Diagnose wie einen gebrochenen Arm “wirklich” gibt bzw. sie diese Diagnose “seien”. Wenn kein ausreichend entwickeltes Selbstkonzept vorhanden ist kann selbst eine “olle Diagnose” als Strohhalm dienen.

  87. @Tobias: Der Lamborghini des Chefarzts (habe selbst von solchen Beispielen gehört) symbolisiert für mich eher das Interesse am Kontostand – und dass sich das Gesundheitssystem (eigentlich: Krankheitssystem) dazu verwenden lässt, den eigenen Kontostand wesentlich zu erhöhen.

  88. @Philipp – die Realität eines gebrochenen Armes bezieht sich auf den Arm, nicht den Bruch – der Bruch heilt ja.

    Und sollte sich jemand mit “Diabetes” (willkürliches Beispiel) “identifizieren”, dürfte klar sein, dass es darum geht, dass es “gut eingestellte” und weniger gut eingestellte Diabetiker gibt – die Auswirkung einer Krankheit also davon abhängt, wie man damit umgeht.
    ———
    Eine Identität formt sich nicht durch das, womit man sich identifiziert, sonst könnte uns “Status” ja tatsächlich glücklich machen – tut er aber nicht.

    Wenn sich ein Borderliner nicht mit “Arm”, sondern mit “gebrochen” identifiziert, geht das eher in Richtung “Leere” (siehe oben), er benennt das Fehlen der Persönlichkeit, nicht sich als Person (insofern war ihr Schluss teilweise richtig).

    Nur besteht weder eine Persönlichkeit noch eine Identität daraus, sich an Worte zu ketten, bzw. im Glauben daran, sondern eher darin, mittels dieser (eigenen) “Entität” der Umwelt begegnen zu können.
    (Sie beschreiben “Glauben”, der aber nix nutzen kann. Eine “starre Identität” ist genauso nutzlos wie keine.)

    Ein “Ich” braucht ein “Selbst” (“Selbstbewusstsein”) um flexibel zu reagieren; das “Identitätskonzept” ist ein Konzept, kein Garant für irgendwas.
    (Natürlich ist “Selbstbewusstsein” auch nur ein Konzept, aber ein realistischeres als “die Identität”, denn die ist nur das, was wir glauben, nicht das, was “sich auseinander setzt”.)
    ———
    Was sie beschrieben haben ist, in meinen Augen, eher die “Pathologie des Normalen” – Machthaber, die meinen, aufgrund ihres “Status”, sei das, was sie tun “können”, auch legitim – selbst wenn es sich um einen Missbrauch ihrer Macht handelt.

    Aber mit “Borderlinern, die sich an dieser Diagnose festhalten” hat es nicht wirklich viel zu tun.
    Denen hilft es einfach, ein Konzept zu haben, in dem sie nicht die Ursache für ihr Leid sind; nicht der “Bruch”, sondern der Arm, auf den in einer Weise eingewirkt wurde, dass er erst wieder heilen muss, bevor er “normal” belastet werden kann.(Sie brauchen Zeit, damit ihr “Selbstbewusstsein” heilen kann – und die bekommen sie damit.)

    Ich hab gerade einen Til Lindemann vor Augen, dem man sein “lyrisches Ich” wegnimmt – und dann schaut, wie viel “Identität” noch da ist…
    Das Beispiel funktioniert aber auch mit einem Maaßen, der sich gecancelt fühlt, wenn er nicht mehr von jedem Verlag mit Kusshand genommen wird.

    Ich schätze, das Problem liegt auch darin, dass es in unserer Gesellschaft ganz allgemein an einem “gesunden Selbstkonzept” mangelt.
    ————
    No front, aber ihrem Gebrauch von “fluktuiert” muss ich dringend widersprechen. Bei dieser Wertung wäre “Gesundheit” ja nicht mal mehr theoretisch/philosophisch möglich.

  89. @Viktualia 23.06. 07:44

    „Entweder man ist freiwillig auf einer offene Station oder nicht ganz so freiwillig auf einer Geschlossenen.“

    Die Grenzen können hier auch fließend sein. Wer auf der Offenen nicht richtig mitmacht, kann auch wieder auf der Geschlossenen landen. Ein dickes Konfliktpotential bleibt, und das muss irgendwie bewältigt werden.

    „Möglicherweise meinten sie “Psychiatrische Einrichtungen” (nicht Kliniken), für Wohnheime kann ich hier nicht sprechen.“

    Ich dachte eher an Kliniken. Aber auch in Wohnheimen gibt es Konflikte, insbesondere können diese ihre Bewohner in die Klinik schicken, wenn sie meinen, dass das nötig ist. Und man kommt auch aus den Wohnheimen oft nicht leicht wieder heraus. Aus rein praktischen Gründen schon, dass man es nicht mehr schafft, sich eine eigenen Wohnung zu besorgen und eine Umzug zu organisieren.

    „Dann wäre dessen “Breite” wieder ein Maßstab, den man wo anlegt und etwas misst, statt das man etwas hat, an das man glauben kann.“

    Mehr Mut, sich auch an die eigenen Erfahrungen zu halten, tut allemal gut. Man hat seine spezielle Perspektive, und man darf auch mal was nicht ganz richtig sehen. So wachsen jedenfalls auch Selbstkonzepte.

    @Phillip 23.06. 08:40

    „Wenn kein ausreichend entwickeltes Selbstkonzept vorhanden ist kann selbst eine “olle Diagnose” als Strohhalm dienen.“

    Ein bisschen kann das helfen, ja. Dann hätte man ja doch ein Selbstkonzept, eben eins das die Diagnose vorschlägt. Wenn der Borderliner wirklich zu Selbstkonzepten unfähig ist, dann geht aber auch das nicht.

    Auf jeden Fall denke ich, dass die Diagnosen rein historisch schon nicht darauf konzipiert sind, den Patienten Selbstkonzepte zu liefern. Sondern einfach die Vielfältigkeit der real existierenden Störungen irgendwie fassen zu können. Was aktuell vor allem gegenüber den zahlenden Krankenkassen wichtig wird.

    Die Diagnosen können auch über die Jahre wechseln, und keinen stört das wirklich.

    @Viktualia 23.06. 09:46

    „Denen hilft es einfach, ein Konzept zu haben, in dem sie nicht die Ursache für ihr Leid sind;“

    Das kann vor allem helfen, sich zu entspannen, und nicht weiter nach dem eigenen „Denkfehler“ zu suchen. Man macht sich praktischerweise daran, ein vernünftiges Leben zu führen, und z.B. Angebote wie Tagesstätten oder Behindertenwerkstätten zu nutzen, die richtige Dosis von Aktivität, Anstrengung und Miteinander zu realisieren.

  90. Viktualia
    23.06.2023, 07:44 Uhr

    “reine Messwerte”

    Als “Subjekt mit dem Daumen” bin ich natürlich nur in begrenztem Ausmaß zu “objektiver” Betrachtung” befähigt.
    Daher bevorzuge ich es, dann etwas für “brauchbar” ( merke: nicht “wahr” ) zu halten, wenn Messwert A, gemessen mit Apparatur X von Person R, sich durch einen Bau von Apparatur Y von Person S innerhalb gewisser Fehlergrenzen als Messwert B ~ A reproduzieren lässt. Unabhängig davon, ob mir Messwert A ~ B nun “gefällt” oder nicht.
    Wenn man zu sehr davon abweicht gilt:
    “Pragmatisch geht die Welt zugrunde.”
    ( Ich möchte hier nicht alle Facetten des Begriffs “pragmatisch” durchdeklinieren. )

  91. @Karl Maier – was hat ihr “Beispiel” denn jetzt mit der Diagnostik psychischer Beschwerden zu tun?
    “Borderline als Persönlichkeitsstörung” bringt doch genau diese Reproduzierbarkeit.
    ——————
    @Tobias Jeckenburger – Wer auf der Offenen nicht richtig mitmacht, kann auch wieder auf der Geschlossenen landen.
    Ja – aber nicht “fließend”. Wer “nicht mitmacht” fliegt raus, weil man die Therapie selber machen muss, (es reicht nicht, sich “auf Station aufzuhalten”) – und wer dekompensiert, kommt zwar auf die Geschlossene, aber nicht, weil er “bestraft” wird, sondern zu seinem Schutz.
    Und nicht zur Therapie, sondern zur “Entaktualisierung”.
    Ich will darauf hinaus, dass auf der Geschlossenen in dem Sinne keine Therapie stattfindet. (Hab ich auch erst nach einigen Jahren Arbeit dort “gemerkt”.)
    Aber diese Form der “Stabilisierung” fällt nicht unter “spezifische Therapie”. (Da reicht es dann, wenn man sich auf der Station aufhält…)
    ——
    Aber auch in Wohnheimen gibt es Konflikte, insbesondere können diese ihre Bewohner in die Klinik schicken, wenn sie meinen, dass das nötig ist.
    Lach, das gilt auch vice versa, dass Bewohner sich einweisen lassen, statt ihre Probleme im Wohnheim zu lösen und es lieber mit dem Beistand des Personals der Klinik angehen.
    ———
    Es ging doch hier drum: Gerade die Mitarbeiter in den psychiatrischen Kliniken haben hier öfter die Herausforderung, Menschen zu behandeln, die das gar nicht wollen,
    Es fällt nicht unter “professionell” mit einer Behandlung anzufangen, zu der der Klient noch gar nicht bereit ist.
    Das geht dann vor – und wenn es nicht klappt, dann kann man – auch in der Psychiatrie – niemanden zu seinem Glück zwingen.

    (Ich will nicht leugnen, dass es vorkommt, aber ich lege großen Wert darauf, festzustellen, dass das dann eine “individuelle” und keine professionelle Entscheidung ist.)

  92. Viktualia
    23.06.2023, 15:42 Uhr

    Diagnostik psychischer Beschwerden

    Ich habe mich nicht über die Diagnostik psychischer Beschwerden ausgelassen, sondern über die Festsetzung einer Grenzline als “diesseits der Borderline” oder “jenseits der Borderline” als Persönlichkeitsstörung oder eben nicht.

  93. @Karl Maier – dann etwas für “brauchbar” ( merke: nicht “wahr” ) zu halten, wenn Messwert A, gemessen mit Apparatur X von Person R, sich durch einen Bau von Apparatur Y von Person S innerhalb gewisser Fehlergrenzen als Messwert B ~ A reproduzieren lässt. Unabhängig davon, ob mir Messwert A ~ B nun “gefällt” oder nicht. (Reden wir über eine Grenzlinie oder einen Torpfosten?)

    Diese “Grenze” (Borderline) ist keine Linie, sondern ein Bereich.
    Und dieser Bereich wurde jetzt den “Störungen der Persönlichkeit” zugeordnet.

    Damit ist diese Ungenauigkeit, die durch den Begriff “Grenze” entstand, doch aus der Rechnung raus.

    sondern über die Festsetzung einer Grenzline als “diesseits der Borderline” oder “jenseits der Borderline” als Persönlichkeitsstörung oder eben nicht.

    Kann ich nicht sehen. Im Gegenteil war es ja vorher irreführend, mit dem Begriff “Borderliner” eine “Grenze” nur zu Wahn und Neurose zu ziehen.
    Diese (semantische) Irreführung ist jetzt weg, es ist Teil der Persönlichkeit(sstörungen) und “die Rechnungen” (Anwendung von Maßstäben) damit objektiver.
    Es ist, tatsächlich, jetzt “reproduzierbarer”.

    Vielleicht heißt es auch in ein paar Jahren “Chronische PTBS” oder “Belastungsstörung aufgrund von negativer Einwirkung auf die Entwicklung” – je nachdem, wieviel wir bis dahin über Traumata wissen.

    (Wäre das nicht “Diagnostik” sondern Mengenlehre, ist Borderline jetzt Teilmenge innerhalb der größeren Menge der Persönlichkeitsstörungen.
    Vorher war es aber auch kein “Strich”/Grenze/Menge, sondern (ursprünglich) die Abgrenzung von Wahn und Neurose als den “Urmengen”.)

    Seitdem ist einiges passiert, (“Wahn” ist ja auch nicht mehr das, was es mal war) das Konzept “für Anwender” ist aber sowieso (i.m.A) eher dieses “wissen, was die Kollegen machen” (Orientierung über den Arbeitsauftrag), weniger ein auf den Klienten bezogenes “so ist es”.

    Was Vorteile bei der praktischen Arbeit bringen mag, aber nicht zur direkt zur Entstigmatisierung beiträgt…

  94. Viktualia
    23.06.2023, 21:18 Uhr

    Diese “Grenze” (Borderline) ist keine Linie, sondern ein Bereich.

    Das macht es nicht besser.
    Ich sehe “Persönlichkeit(sstörungen)” in der Gesellschaft in einer Art Normalverteilung ( Gaußverteilung ) vorhanden. Da kann man zwar gewisse “Grenzen” setzen ( 1 – 2 – 3 “Sigma” ), aber das ist mathematisch-theoretisch. Insofern sind wir alle ( mehr oder weniger ) gestört, es ist eine willkürliche Festsetzung, was “wir” ( die Gesellschaft ) als schon krankhaft oder noch gesund einschätzen.

  95. @Karl Maier – Das macht es nicht besser.
    Ach, doch lieber Torpfosten schieben?

    Wo ist denn jetzt die “Reproduzierbarkeit” hingekommen?

    was “wir” ( die Gesellschaft ) als schon krankhaft oder noch gesund einschätzen.
    Schon mal dran gedacht, dass dieser Haufen, der sich seit Jahrzehnten sehenden Auges in die Klimakrise wirtschaftet, sowieso einen an der Waffel haben könnte?

    Ihre “Sicht” ist ja nicht irgendwie “wahrer” als diese willkürliche Einteilung, sie leugnet nur, dass das alles ist, was wir haben – und tut so, als wären Gesundheit und Gerechtigkeit etwas reales, das man durch Benennung verteilen könnte. BS.

    Sorry, aber mir geht diese Art von “Entstigmatisierung”, die nur darauf beruht, Dinge nicht beim Namen zu nennen, nicht differenzieren zu wollen, ziemlich gegen den Strich.

    Es ist eine intellektualisierte Form der unterlassenen Hilfeleistung, mehr nicht.

    Merken sie eigentlich gar nicht, wie schräg es ist, auf diese Tour “Gesundheit” auf- und “Krankheit” abzuwerten?

    Als ob die Betroffenen unter der Diagnose mehr leiden würden als unter der Krankheit – als ob potentielle Hilfe einschränken ne “gute Idee” wäre.

    Wir werden nicht gesünder, indem wir “Gesundheit” anbeten; gesund wird man, indem man seine Krankheit akzeptiert. Und das gilt für alle.

  96. In einem benachbarten blog wird gerade “Utilitarismus” besprochen. Und das passt genau hierher.
    Man versteht darunter das Abwägen von Vor- und Nachteilen bei einer Handlung und ihre Bewertung nach den Folgen und nicht nach moralischen Prinzipien.

    Der Utilitarismus ist eine philosophische Richtung die ihren Ursprung im anglo-amerikanischen Raum hat. Und der Begriff Borderline ist angloamerikanisch.

    Wenn man normal und anormal als statistisch ansieht, dann ist das utilitaristisch gedacht. Mit den Begriffen gesund und krank kommt die Ethik ins Spiel, die uns verpflichtet zu helfen.

  97. @Viktualia 23.06. 15:42 / 24.06. 07:53

    „Aber diese Form der “Stabilisierung” fällt nicht unter “spezifische Therapie”.“

    Und kann aber selber traumatisch sein. Wegen der „Haltungsbedingungen“ und insbesondere wenn der weitgehende Verlust der sozialen Beziehungen noch dazu kommt.

    Wenn man auf der Geschlossenen etwa Einzelzimmer mit Fernseher und Internet hätte, wo man rauchen darf, und dann noch 2 Flaschen Bier am Abend, wäre es schon deutlich weniger traumatisch. Und ein Garten, in dem man mal frische Luft schnappen kann. Aktivitätsangebote wären auch hier sehr entschärfend. Derweil läuft auf der Geschlossenen die Hälfte der Untergebrachten den ganzen Tag den Flur auf und ab. Wie die Tiger im Zoo.

    Interessiert das hier gar nicht, wie es den Patienten dabei geht? Oder will man sogar Druck machen, damit der Patient nachfolgende Therapien auch mitmacht?

    „Es fällt nicht unter “professionell” mit einer Behandlung anzufangen, zu der der Klient noch gar nicht bereit ist.“

    Vielleicht würde ja auch bessere Therapie helfen? Da ist doch bestimmt noch Luft nach oben.

    „Als ob die Betroffenen unter der Diagnose mehr leiden würden als unter der Krankheit – als ob potentielle Hilfe einschränken ne “gute Idee” wäre.“

    Diagnosen haben aber Folgen. Von Schizophrenen wenden sich nun mal die meisten ab. Die soziale Katastrophe ist Realität. Und in nicht unerheblichen Maß ein Selbstläufer, der den ohnehin prekären psychischen Zustand weiter verschärft.

    „Wir werden nicht gesünder, indem wir “Gesundheit” anbeten; gesund wird man, indem man seine Krankheit akzeptiert. Und das gilt für alle.“

    Im Prinzip eine gute Idee. Allerdings geht es um die Akzeptanz der eigenen Defizite wie aber auch der eigenen Ressourcen. Die Verinnerlichung der professionellen Krankheitsmodelle hilft nur, die Reibungen mit dem Hilfesystem zu verringern. Was nicht unerheblich ist, aber eben lange nicht alles.

    Letztlich hängt es davon ab, dass man sich ein neues soziales Umfeld aufbauen kann, inclusive einer erfüllenden Beschäftigung. Therapie und Unterstützung ist meiner Erfahrung nach am erfolgreichsten, wenn sie genau darauf zielt. Hier sind die begleitende Nachsorge das Hauptelement, also Betreutes Wohnen, Tagesstätten, Werkstätten für Behinderte oder auch sogar ein passender Job auf dem 1. Arbeitsmarkt.

    Mit Kunst und aktiver Selbsthilfe kommt man auch voran, aber nicht jeder kann das.

  98. @Tobias Jeckenburger – soll ich jetzt hier die Psychiatrie “in ihrer jetzigen Form” verteidigen? Würde ich gar nicht wollen, da geht sicher noch mehr.

    Aber vieles von dem, was sie zu Recht kritisieren, geht doch gar nicht direkt von dieser Institution (oder der Diagnose) aus – das Stigma der Schizophrenie zum Beispiel – wie würde sich deren Bild in der Bevölkerung denn ohne Behandlung, bzw. ohne Diagnose, ändern?

    Oder “Traumatisierung durch Stabilisierung”?
    Da fehlt mir der Zusammenhang. Kann doch keiner auf Station was dafür, wenn der Klient noch nicht soweit ist.
    (Allerdings habe ich mir auch immer gedacht: das gäbe es auf keiner Somatik, dass alle, wirklich alle Krankheitsbilder in einer “Akutstation” aufeinander treffen. Als “traumatisierend” würde ich es allerdings nicht bezeichnen, wäre mir aufgefallen. “Desillusionierend” fände ich passender.)

    Die meisten Häuser haben inzwischen Doppelzimmer; zwei Bier pro Abend würde ich privat nicht trinken müssen wollen und statt Garten fände ich Fenster, die man öffnen kann, wichtiger (wegen Suizidgefahr wird auch im Sommer wenig gelüftet, das find ich viel krasser.) Ausgang gibt es ja meist nach wenigen Tagen.

    Und nochmal: es gibt “Aktivitätsangebote” (Sport, Ergo…), aber keine “spezifische Therapie”, wo man daran gemessen wird, ob man mitmacht.

    Vielleicht würde ja auch bessere Therapie helfen?
    Was für eine soll das sein?
    Ob einem Sport, Musik oder Kunst, der Sozialarbeiter oder der Pfarrer mehr hilft, ist doch individuell.

    Und dass man eben nicht selber darauf achten muss, wer die Spülmaschine aus- oder einräumt, ist doch die Therapie, bzw. der Raum zur “Stabilisierung”.

    Oder will man sogar Druck machen, damit der Patient nachfolgende Therapien auch mitmacht?
    Sie meinen, aus Langeweile, quasi Notwehr?
    Nochmal: vielen, die auf der Akutstation sind, nutzen “Therapieangebote” rein gar nichts, sonst wären sie gar nicht aufgenommen worden.
    Sie brauchen Bezugspflegegespräche, medikamentöse Intervention und vielleicht ein bisschen Ablenkung, eine freundliche Atmosphäre.

    Die, die wie die Tiger ihre Bahn auf den Fluren ziehen, sind oft “zwischengeparkt”, weil sie dort auf einen Platz auf der offenen Station warten und sich “prophylaktisch aus dem Verkehr gezogen haben”.
    Das sehe ich aber nicht als Problem “der Geschlossenen” an, sondern der zu geringen Bettenzahl auf den offenen Stationen der Psychiatrie.

    Und das gilt für alle.
    Das hab ich eigentlich wörtlich gemeint: für die sogenannten “Gesunden”.
    Die schnallen meist noch weniger, was ihnen “Kunst und aktive Selbsthilfe” bringen würden.

    Hier sind die begleitende Nachsorge das Hauptelement,
    Abgesehen davon, dass das nicht das Thema des Fadens ist, ist das ein absolut wichtiger und richtiger Punkt.

    Aber wie beim vorigen Punkt – wenn es dieses “Denken im Zusammenhang” nicht mal bei “Gesunden” gibt, braucht es uns kaum wundern, wenn das Geld mit Krankheit und nicht mit Gesundheit gemacht wird.

  99. @Viktualia 24.06. 15:28

    „Sie brauchen Bezugspflegegespräche, medikamentöse Intervention und vielleicht ein bisschen Ablenkung, eine freundliche Atmosphäre.“

    Ertmal das, aber auch Rückzugsmöglichkeiten. Die Mitpatienten, entsprechend auch daneben, können ganz schön anstrengend werden. Auch sind Bezugspfleger eher zurückhaltend, und beschäftigen sich meistens lieber mit ihren Kollegen, das ist mit Abstand bequemer.

    Es ist interessant, das etwa im Betreutem Wohnen die Situation eine ganz andere ist. Dort müssen die Mitarbeiter alleine arbeiten, und können auch nur konkret die Stunden abrechnen, die sie sich wirklich mit dem Klienten beschäftigen. Wäre das in der Klinik auch so, wäre das eine ganz neue Situation.

    Soviel Zuwendung wie im Betreuten Wohnen findet man in den Kliniken mit Abstand nicht, und das dann auch noch zu mehr als 10 mal weniger Kosten.

    „Das sehe ich aber nicht als Problem “der Geschlossenen” an, sondern der zu geringen Bettenzahl auf den offenen Stationen der Psychiatrie.“

    Das kann es ja wohl nicht sein. Die müssen doch ihren Laden so flexibel im Griff haben, dass man nicht wochenlang geparkt wird. Was ja dann ja noch mehr zusätzliche Arbeit macht. Dass Institutionen stets darauf bedacht sind, mehr Mittel und Personal zu bekommen, ist jetzt auch nichts wirklich Neues.

  100. @Tobias Jeckenburger – dass man nicht wochenlang geparkt wird.
    Ne, da hab ich mich wohl missverständlich ausgedrückt, so lange natürlich nicht. Ein paar Tage können aber da natürlich schon lang werden (Ging ja ums Tigern auf den Gängen.)

    Allerdings gibt es die Sache mit den Bewahrfällen wegen der geringen Anzahl Plätze in geschlossenen Wohnheimen. Die sind u.U. wochenlang da – und es gibt keine passende/abzurechnende Therapie oder auch nur Beschäftigung für sie.

    , das ist mit Abstand bequemer.
    Das ist relativ. Je früher man sich kümmert, desto weniger Arbeit hat man, eigentlich. Gute Stationsleitungen haben das im Blick.

    Soviel Zuwendung wie im Betreuten Wohnen
    Da kenn ich mich weniger gut aus, freut mich zu hören!

  101. Viktualia
    24.06.2023, 07:53 Uhr

    Wir leben augenscheinlich/offensichtlich in unterschiedlichen Welten.
    Für mich gilt ( cum grano salis ):
    Entweder kann ich es zählen – wenn nicht, hilft nur noch beten, im weitesten Sinn.

  102. @ Jeckenburger:

    Ein bisschen kann das helfen, ja. Dann hätte man ja doch ein Selbstkonzept, eben eins das die Diagnose vorschlägt.

    Es kann, wenn überhaupt, temporär helfen, bietet aber keine dauerhafte Besserung.

    Auf jeden Fall denke ich, dass die Diagnosen rein historisch schon nicht darauf konzipiert sind, den Patienten Selbstkonzepte zu liefern.

    Natürlich nicht, das habe ich auch nicht geschrieben.

  103. @ Viktualia

    No front, aber ihrem Gebrauch von “fluktuiert” muss ich dringend widersprechen. Bei dieser Wertung wäre “Gesundheit” ja nicht mal mehr theoretisch/philosophisch möglich.

    Mit Fluktuation meinte ich schlicht dass das Selbstkonzept nicht stabil ist, sondern aperiodisch in kürzeren Zeitraumen signifikanten Schwankungen unterliegen kann. Ich meine dass der Begriff auch in Fachliteratur über Borderline verwendet wurde (Paper, Bücher). Für mich ist der Begriff auch keine Wertung, sondern eine neutrale Beschreibung.

    Was Gesundheit ist hängt ja ohnehin von theoretischen Positionen ab. Es gibt verschiedene Modelle von Gesundheit und Krankheit.

  104. @Philipp – Eine nicht geringe Anzahl von Menschen mit Borderlinediagnose fehlt das was in der Philosophie “personal identity” genannt wird, also ein Selbstkonzept (Psychologie) das über die Zeit hinweg mehr oder weniger stabil ist und so eine Identität formt. Ziele, Präferenzen, Ansichten, etc. sind brüchig und können zu einem Selbstkonzept führen das fluktuiert, also keine stabile Identität über die Zeit hinweg aufbaut.

    Da wäre mir lieber, sie würden auch “beten”, als zu behaupten, eine Identität bestünde daraus, keine “Fluktuation” zu haben.

    Sie haben mit ihrem Gebrauch des Wortes “fluktuierend” begründen wollen, dass die Diagnose (über den Umweg des “sich daran fest Haltens”) die Bildung einer Identität behindern würde.

    Diese (angenommene) Auswirkung betrachte ich als falsch – aber ich habe nie behauptet, das Wort tauche im Zusammenhang mit Borderline gar nicht auf.
    (Ich bezweifle nicht mal, dass es sich dabei um eine “instabile Persönlichkeit” handelt.)

    Nur wird eine “Identität” nicht dadurch stabil, dass man ganz feste an etwas glaubt, weder bei gesunden, noch bei kranken Menschen und auch nicht dadurch, ob man etwas “richtiges” oder “falsches” glaubt.

    Darum auch mein Exkurs über “Was sie beschrieben haben ist, in meinen Augen, eher die “Pathologie des Normalen” – Machthaber, die meinen, aufgrund ihres “Status”, sei das, was sie tun “können”, auch legitim – selbst wenn es sich um einen Missbrauch ihrer Macht handelt.

    Es passiert (nicht fluktuierende Identitäten existieren), aber nicht unbedingt bei Borderlinern, die ihre Diagnose erhalten haben und sich dadurch erleichtert fühlen.

    (Oder, nochmal anders ausgedrückt: ein “fluktuationsfähiges Selbstkonzept” führt eher zu einer “stabilen” Identität, da es um die Fähigkeit geht, sich mit einer Umwelt auseinander zu setzen.

    Aus mir unbekannten Gründen haben sie den Einfluss des “Selbst” auf ein Ich übersehen.
    Womit Mächtigen, die sich Kritik verbieten können, automatisch eine “gesunde, stabile Identität” zugeschrieben wird. Spätestens an einem solchen Punkt möchte ich ein Veto einlegen.)

    Egal, wie man “Gesundheit” definiert, es geht auch darum, adäquat auf die Umwelt reagieren zu können; “Fluktuation” soll also nicht wegfallen, sondern müsste reguliert werden können.
    ——————–
    @Karl Maier – es steht ihnen frei zu beten.
    Aber beten sie halt besser nicht dafür (oder dagegen), auf welcher Seite der Grenze wer landet, weil das Assoziieren von Borderline mit “Grenze” ein Bild ist, kein Maßstab.

  105. @ Viktualila:

    Sie schneiden mir zuviele Themen auf einmal an. Beispielsweise die Differenzierung zwischen Selbst und Ich. Es gibt keine allgemein anerkannte Definition von Selbst und von Ich; das kommt auf die Disziplin (beispielsweise Psychologie und Philosophie) sowie individuelle Theorien und Modelle an.

    In der Psychologie, also beispielsweise in der Sozialpsychologie oder in der klinischen Psychologie, spricht man meist von einem Selbstkonzept (self-concept) und Selbstwert (self-esteem).

    Wenn Sie dann noch mit “Ich” und “Selbstbewusstsein” ankommen werden wir hier nie mehr fertig. Das führt alles vom Thema Borderline weg und geht in Grundsatzdiskussionen.

    Was Sie über Identität schreiben ist ihre idiosynkratische Auslegung. Schauen Sie in die Literatur nach personaler Identität oder personal identity. Eine stabile Identität bedeutet natürlich nicht dass sich eine Person nicht variablen an die Umwelt anpassen könnte. Sie legen mir hier Worte oder Auslegung in den Mund die ich nie geäußert habe. Wieso machen Sie es immer so kompliziert?

    wie die Differenzierung des Selbst vs. Ich an. Ich habe keine Zeit und Lust das zu diskutieren, denn es gibt keine festen Definitionen

  106. @Philipp – wenn sie “keine Zeit und Lust” haben, ihre steile These zu belegen, dann sagen sie das auch so.

    Aber schieben sie es nicht darauf, dass ich “zu kompliziert” sei, statt auf meine Argumente einzugehen.

    Sie hatten auf Tobias Jeckenburger geantwortet, der sagte:

    “Nicht nur philosophisch, auch ganz praktisch sollte man hier keine wirklichen Entitäten für sich selber zuschreiben. “

    Und jetzt machen sie es sich einfach?
    “Das ist so einfach geschrieben bzw. gesagt. In der Realität ist es für einige Menschen mit Borderlinediagnose allerdings so dass die Diagnose Borderline beispielsweise als Anker dient ein mangelhaft ausgebildetes und wechselhaftes Selbstkonzept teilweise wieder zu stabilisieren“.

    Dann folgte, was ich oben zitierte –
    “Eine nicht geringe Anzahl von Menschen….”

    und ihr “Schluss” daraus, den ich, aus benannten Gründen, ablehne:
    “Es gibt auch Menschen mit dieser Diagnose die es katastrophal fänden wenn man die Diagnose streichen würde, da sie glauben dass es diese Diagnose wie einen gebrochenen Arm “wirklich” gibt bzw. sie diese Diagnose “seien”. Wenn kein ausreichend entwickeltes Selbstkonzept vorhanden ist kann selbst eine “olle Diagnose” als Strohhalm dienen.”

    Dieser Strohhalm ist ihr Strohhalm, es Borderlinern zu unterstellen ist nicht korrekt.

    Das, was sie beschreiben, trifft auf jeden autoritären Menschen zu – es so generalisiert auf Menschen zu beziehen, die sich um Therapie bemüht haben, halte ich für extrem gewagt.

    Eine bessere Möglichkeit, sich die Argumentation zu sparen, wäre es, dieses offensichtliche Vorurteil zurück zu nehmen.

    Besser jedenfalls als der Versuch, so zu tun, als wäre meine Argumentation nicht nachvollziehbar.
    —————
    Nochmal deutlich: es geht nicht darum, wie “selbst” definiert ist, es geht darum, dass sogenannte “normale” Menschen sich ebenfalls dauernd mit etwas identifizieren und daraus Rechte ableiten, egal, wie real, kränkend oder vernünftig das ist. Wenn es ihr Status erlaubt, ist es ihnen möglich.

    Damit können sie nicht gegen die Borderline Diagnose argumentieren, weil es eine unzutreffende Generalisierung, ein Vorurteil und kein Argument ist.

  107. Viktualia
    25.06.2023, 08:16 Uhr

    Ich zähle – das “Beten” war für die gedacht, die nicht zählen wollen oder nicht können.

  108. Karl Maier
    welch unbedachte Äußerung: Beten sei für die gedacht, die nicht zählen wollen oder können.

    Beten ist auch ein Zeichen von Verantwortungsgefühl.
    Und die Macht des Wortes kommt darin zum Ausdruck : “Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.”

    Wenn die Mutter ein Kind tröstet, dann geschieht das durch Worte und Gestik.
    Wenn die Ehefrau ihrem Mann eine Standpauke hält, dann ist die mehr gefürchtet und wirkungsvoller als Schläge.

    Viele Kirchgänger die beten haben die Macht und die Kraft eines Gebetes erfahren.

  109. @Viktualia 24.06. 15:28

    „Aber vieles von dem, was sie zu Recht kritisieren, geht doch gar nicht direkt von dieser Institution (oder der Diagnose) aus – das Stigma der Schizophrenie zum Beispiel – wie würde sich deren Bild in der Bevölkerung denn ohne Behandlung, bzw. ohne Diagnose, ändern?“

    Das Stigma ist halt gewachsen, auch durch die Institutionen. Immerhin haben die Experten die Diagnosen erfunden. Hier spielen vermutlich auch Spielfilme ein große Rolle, die wollen nicht aufklären, die wollen spannende Geschichten erzählen.

    Von daher macht es dennoch Sinn, die Dinge auch mal umzubenennen. Insbesondere wenn sowieso die Erkenntnis zunimmt, und eine neue Einteilung der Details nahe liegt. Einfach z.B. Psychose-Spektrum-Störung, statt Schizophrenie. So werden dann auch die Assoziationen weniger, die u.a. durch Spielfilme entstanden sind.

  110. @Tobias Jeckenburger – Hmm, so etwa? – https://www.icd-code.de/icd/code/F23.-.html
    Oder doch lieber so – https://de.wikipedia.org/wiki/Psychose

    Das Problem ist halt, dass es auch bei allen möglichen anderen Störungen des Erlebens (Depression, Manie, sogar im Wochenbett) zu Psychosen kommen kann.
    (Gerade bei “Schizophrenie” hat die Benennung im Alltag sowieso kaum noch was mit der Realität der Diagnostik zu tun, finde ich.)

    Von daher macht es dennoch Sinn, die Dinge auch mal umzubenennen.
    Naja, das hat weder bei Schaumküssen, Schnitzeln, Geschlechtern, noch Menschen mit junonischer Figur geholfen, warum sollte es plötzlich bei psychischen Krankheiten klappen?

    Ich fände so was wie Begegnungsstätten schöner, eine “Ambulanz”, die auch für Gesunde offen ist, wo nicht nur “Therapie” angeboten wird, sondern frei gearbeitet (gebastelt, gemalt, getöpfert, geflochten oder gewebt) wird, wo man auch das Material dafür beziehen und mitnehmen kann, einen Kaffee und vielleicht Kuchen bekommt, Kinder und Tiere willkommen sind.

    Dass man erleben kann, wie “die Anderen” so drauf sind.

    Es ist ja nicht so, als hätten die, die “Kranke” mit negativen Wörtern bezeichnen, nicht auch massive Probleme mit sich und der Welt.
    —————–
    “Psychose-Spektrum” – Das Wörtchen “Spektrum wird arg strapaziert heutzutage.
    Für mein Gefühl sind Psychosen denkbar ungeeignet, um in ein “Spektrum” zu passen.
    Wäre eigentlich ein Thema für sich, aber ich finde wirklich, dass es eine vollkommen andere Art der “Brechung” ist, die da passiert.
    (Eine Psychose ähnelt doch eher einem Spiegelkabinett; ein (Licht)Spektrum hat doch was enorm aufgeräumtes.)
    ————-
    Spielfilme – youtube. Kennen sie “Gewitter im Kopf”? Ein youtube Kanal von jemandem mit Tourette Syndrom und seinem Kumpel.
    Die haben aus seinen Symptomen einfach “content” gemacht und waren ziemlich erfolgreich.
    Allerdings hat er sich jetzt erfolgreich operieren lassen, hat kaum noch tics und will in einem normalen Beruf arbeiten.

  111. @ Viktualia:

    Dieser Strohhalm ist ihr Strohhalm, es Borderlinern zu unterstellen ist nicht korrekt.

    Das ist keine Unterstellung von mir, sondern das haben mir manche Borderlinepatienten selbst genau so berichtet. Ich dachte dass das aus meinem Beitrag heraus klar sei und ich ganz sicher nicht einfach so etwas erfinden würde nur weil ich es persönlich glaube

    Aber welch Wunder dass gerade Sie wieder etwas reindichten was ich nicht gesagt habe, ja dass eben Sie selbst mir wieder etwas unterstellen. Ich werde ab sofort nicht mehr auf Ihre Beiträge reagieren. Sie unterschätzen andere und überschätzen sich selbst.

  112. Und damit nicht wieder Missverständnisse aufkommen und Sie sich an Details aufziehen: ich hatte in dem besagten Beitrag bewusst formuliert dass dies auf manche Menschen mit dieser Diagnose zutrifft, aber natürlich nicht auf alle.

  113. @Philipp – Sie unterschätzen andere und überschätzen sich selbst.
    Aha. Ich würde sagen, dass ich argumentiere und sie nicht.

    Wie ich sie insgesamt einschätze, steht nicht zur Debatte, hier geht es gerade um einen bestimmten Punkt.

    Was soll dieser Unsinn?
    Sie sagten “Borderliner tun es” – und ich sage “nicht nur die!”

    Der Punkt war doch, wie mit dieser “Stabilisierung” umgegangen wird.
    Und ob das Wegfallen der Diagnose gut oder schlecht für die Betroffenen wäre; ob ihre Unterstellung, sie würden sich darauf ausruhen, eher zutrifft als ein therapeutisch gewünschter stabilisierender Effekt.

    Statt darauf einzugehen, dass ihre Aussage auf viel mehr Menschen zutrifft (mein Punkt), relativieren sie jetzt “dass dies auf manche Menschen mit dieser Diagnose zutrifft, aber natürlich nicht auf alle.” – ja bitte, wo ist denn dann die Relevanz hin?

    Es sagt zwar kaum ein Betroffener, aber ihre “Aussage” trifft zu, weil sie es mit eigenen Ohren gehört haben?
    Ernsthaft?
    ————–
    Natürlich werde ich weiterhin darauf reagieren, wenn sie hier Sachen verbreiten, die Vorurteile füttern oder wenn sie mich abwerten, nur weil ihnen die Argumente fehlen.

    Im Endeffekt rudern sie ja doch nur zurück und haben es “sowieso nicht so gemeint” – erst war “Fluktuation” dann doch normal, jetzt haben es sowieso nur ein paar wenige gesagt.

    Warum behaupten sie dennoch, dass sie Recht hätten und ich nicht?
    Was ist von ihrem Punkt denn überhaupt noch übrig?

  114. @Philipp, Viktualia: Wäre es vielleicht möglich, sich mehr auf die inhaltlichen Fragen und weniger auf die Person dahinter zu konzentrieren? Insbesondere Vermutungen darüber, wie jemand “tickt” und/oder reagieren wird sind erfahrungsgemäß nicht sehr konstruktiv.

    Ich schätze die Beiträge von Ihnen beiden hier im Blog und fände es schade, wenn jemand frustriert abbricht.

    Übrigens habe ich viele Ideen für weitere Artikel, dauert es aber noch etwas, bis ich wieder Zeit dazu habe.

  115. Danke Herr Schleim,
    viele von uns haben schon Kontakt gehabt mit Menschen die durch Schicksalschläge “aus dem Gleichgewicht” gekommen sind. Auch Suicide sind keine Seltenheit.
    Die Begrifflichkeiten dazu sollten helfen die Erscheinungen zu verstehen und dabei neutral bleiben, ohne Wertung.
    Ein Säufer bleibt ein Säufer, wenn man aber seine Geschichte kennt, spricht man nicht mehr so über den betroffenen Menschen. Boderline finde ich persönlich neutral, das Wort Persönlichkeitsstörung hat schon ein “Geschmäckle” wie die Schwaben sagen. Nicht ohne Grund benutzen die Mediziner lateinische Ausdrücke wenn es schlimm wird.

  116. @Viktualia 26.06. 18:05

    „Ich fände so was wie Begegnungsstätten schöner, eine “Ambulanz”, die auch für Gesunde offen ist, wo nicht nur “Therapie” angeboten wird, sondern frei gearbeitet (gebastelt, gemalt, getöpfert, geflochten oder gewebt) wird, wo man auch das Material dafür beziehen und mitnehmen kann, einen Kaffee und vielleicht Kuchen bekommt, Kinder und Tiere willkommen sind.“

    Das haben wir uns hier in der Selbsthilfe in Dortmund auch schon gedacht. Auch damit normale Menschen irgendwo hingehen können, wenn sie einsam sind und Langeweile haben. Vor Corona hatten wir auch schon eine Lokalität dafür im Auge. Die Coronamaßnahmen waren dann halt voll auf minimalen Kontakt. Seitdem ist das Projekt erstmal vergessen.

    Insbesondere wichtig wäre, wenn die Menschen erleben, dass die Kranken meistens recht umgänglich sind, und nur in richtigen Krisen schwierig werden können.

    Die Diagnosen gefallen mir allerdings dennoch nicht so. Die konzentrieren sich einfach sehr auf die jeweiligen Defizite, Der ganze Mensch ist meistens weniger krank, als es die Diagnosen implizieren. Ich finde, man sollte es wenigstens versuchen, die Dinge weniger destruktiv zu beschreiben.

    Hier sind, meine ich, auch die Experten gefragt, sich was Besseres zu überlegen. Vielleicht haben sogar die Experten ein falsches Bild von ihrem Klientel. Immerhin sehen sie ihre Patienten nur wieder, wenn es schlecht gelaufen ist. Kommt einer nachhaltig wieder auf die Beine, sieht ihn die Klinik u.U. nie wieder.

  117. @Tobias Jeckenburger – Der ganze Mensch ist meistens weniger krank, als es die Diagnosen implizieren.
    Das stimme ich ihnen völlig zu.

    Aber ich habe dennoch ein “aber” – mich stört es darum nicht, weil ich ja die Krankheit behandeln soll (den Menschen will ich ja nicht “ändern”, sondern unterstützen) und hauptsächlich darüber Informationen brauche.
    Was der Arzt von dem “ganzen Menschen” hält, ist für meine Arbeit ja gar nicht wesentlich.

    Ich wüsste jetzt nicht, warum die Diagnose was umfassen sollte, was noch um Längen schwerer zu erfassen ist als die zu behandelnde Krankheit – und denen, die die Arbeit machen, gar keinen weiteren Nutzen bringt. (Außer einem nur theoretisch verringerten Mobbingpotential.)

    Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es den Betroffenen was nutzen würde, wenn man ihre Krankheiten mit “besseren” Begriffen bezeichnen würde.
    “Helden des Alltags” sind wir schließlich alle.
    —-
    Seitdem ist das Projekt erstmal vergessen.
    Schade. Sollte es wieder aufgenommen werden, wäre ich interessiert, davon zu hören.

  118. @Viktualia 27.06. 14:47

    „Was der Arzt von dem “ganzen Menschen” hält, ist für meine Arbeit ja gar nicht wesentlich.“

    Sie haben sich in der Praxis daran gewöhnt, dass Sie und ihre Kollegen durchaus unterschiedliche Konzepte dafür haben, was denn Gesundheit ausmacht. Dabei spielt das durchaus hinein, wenn Störungen auftreten. Ein allgemeines Konzept, was psychische Gesundheit definiert, gibt es wohl noch lange nicht. Resilienzforschung ist doch noch recht neu, was einen widerstandsfähigen Menschen ausmacht, wird doch gerade erst erforscht.

    Sie gehen in ihrer Praxis als Ergotherapeutin vermutlich einfach nach ihrem eigenen Gesundheitsmodell vor, und integrieren die krankhafte Symptomatik ihrer Klienten einfach darin. Ich denke mal, nur so gehts. Dann merkt auch der Patient, wie er sich selbst integrieren kann, wenn es gut läuft zumindest.

    „Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es den Betroffenen was nutzen würde, wenn man ihre Krankheiten mit “besseren” Begriffen bezeichnen würde.“

    Wenn der Patient sich ein eigenes Gesundheitsmodell erhält bzw. entwickelt, dann müssen ihn die Diagnosen auch wenig stören. Wer sich allerdings die Konzepte zueigen macht, die die Professionellen teilweise verwenden, könnte dann aber durchaus sich als ganzen Menschen verwerfen.

    Wer an das Neurotransmittermodell für Psychosen wirklich glaubt, kann denn nicht so leicht viel Gesundes für sich finden. Auch aus Sicht von Angehörigen kann man dann eben kaum heilbar neurotransmittergestört sein. Die Folge kann dann sein, dass man sich zuwenig zutraut, was dann wieder Folgen hat.

    Gesundheitsförderlich wäre hingegen, menschliche Bedürfnisse ernst zu nehmen, und sich ein soziales Umfeld aufzubauen, und eine sinnvolle Beschäftigung zu finden, die mit dem richtigen Maß an Anstrengung einhergeht.

    Ich kann mir schwer vorstellen, wie man ohnedem gesund sein kann. Das Biopsychosoziale Modell aufs Bio zu reduzieren, ist nun mal nicht heilsam.

  119. @Tobias Jeckenburger – bevor ich jetzt mal wieder widerspreche, möchte ich doch ausdrücklich betonen, wie interessant ich den Austausch finde und auch, dass ich ihre Punkte nicht nur nachvollziehbar, sondern auch vernünftig finde.

    Aber – ich hab vor Jahren (frühe 90er) mal ne Definition für Gesundheit gehört, eine ganz einfache, die ich immer noch toll finde: sich frei entscheiden zu können. Jede Krankheit schränkt ein und das auf typische Weise.

    Grundsätzlich aber haben sie damit Recht (dass es keine gibt), bzw. es ist Konsens, dass halt nicht Gesundheit (aller) zu definieren ist, sondern die jeweilige Krankheit zu diagnostizieren.

    Resilienzforschung – guter Punkt, das hatte ich gar nicht auf dem Radar. (Dafür hab ich was anderes: “MOHO” Model of human occupation https://www.youtube.com/watch?v=fYwKA22ym9k fängt etwas langweilig an, steigert sich dann und hat ein sehr knuffiges Ende. Ist aber nicht speziell für Psychische Krankheiten.)

    Wer an das Neurotransmittermodell für Psychosen wirklich glaubt, kann denn nicht so leicht viel Gesundes für sich finden.
    Ausgerechnet! Es mag auf den ersten Blick albern erscheinen, aber für mich ist der Spruch von Kishon “Sie müssen nicht alles glauben, was sie denken” wirklich eine Art “Game changer”. Wir nehmen uns auf eine nicht besonders gesunde Art viel zu ernst. Zu wenig leicht. (Wir sind zwar nicht mehr “gläubig”, haben aber dieses kulturelle Erbe mit Schuld und Sünde, sind da noch nicht rausgewachsen. Dafür kann jemand mit Psychose nix, aber daran hängt es eigentlich.)
    Mit dem Neurotransmittermodell (u.a.) kann ich zumindest “psychoedukativ” erläutern, warum es besser wäre, die Qualität seiner Gedanken auch am Grad der Erregung zu messen. Dass es sich anfühlt, als wäre ein “heiliger Krieg” nötig, ist auch für jemanden ohne Psychose kein verlässliches Kriterium.

    Ich bin sehr dafür, psychisch Kranke zu entstigmatisieren, aber ich kann mir halt nicht vorstellen, wie das durch ein Umbenennen der Krankheiten klappen könne.

    Was ich mir dagegen gut vorstellen kann, ist dass ein besseres Verständnis von uns selbst, also unserer Grundlagen, dazu führt, dass die sogenannten Normalen ihre Störungen nicht mehr so dringend damit kompensieren, auf die sogenannten Kranken herabzuschauen und nicht nur diesen, sondern auch sich selbst das Leben damit schwer zu machen.

    Das finde ich grade echt interessant bis lustig, wie sich unsere Ansichten ähneln, ich aber anscheinend “mehr Mitgefühl für die Gesunden” einklage.

  120. @Tobias Jeckenburger – Moment, da hab ich was übersehen
    (im Augenwinkel nach dem Abschicken dann noch mitbekommen) –
    Wer sich allerdings die Konzepte zueigen macht, die die Professionellen teilweise verwenden, könnte dann aber durchaus sich als ganzen Menschen verwerfen.
    Das ist doch derselbe Dreher, dem ich bei Philipp so vehement widersprochen habe, nur noch dramatischer.
    Ich widerspreche auch hier, wenn jemand glaubt, er sei der gebrochenen Arm, ist die Diagnose nicht schuld, wenn man auch noch meint, ein Bruch wäre unheilbar.

    Auch wenn die Familie mit dem “Regelbruch”, dass ein schwächeres Mitglied plötzlich “den Ton angeben” soll/muss, damit er (oder alle?) besser leben kann, nicht klar kommen mag –
    “Auch aus Sicht von Angehörigen kann man dann eben kaum heilbar neurotransmittergestört sein. Die Folge kann dann sein, dass man sich zuwenig zutraut, was dann wieder Folgen hat.”
    ist es schlicht der gleiche Unsinn, mit dem ein “Macker” durchsetzen kann, was er für “seine Identität” hält. (Also der mit der Psychose ist kein Macker, aber die Rücksicht wird ihm verweigert, weil er keiner ist.)
    Dass es nicht reicht, “Mensch” zu sein ist das Problem, wir nur auf Macker Rücksicht nehmen und jemand mit Psychose also “Macker” werden müsste statt Mensch sein zu dürfen.

    Das ist, da bin ich felsenfest von überzeugt, ein anders Phänomen, nicht Psychose (oder Bordeline) spezifisch.
    ——————
    Hmm, ich leugne weder, dass dies vorkommt (man sich wegen seiner/der gesellschaftlichen Interpretation der Diagnose zusätzliche Probleme aufhalst), noch dass das krank, also “nicht normal” ist.

    Es ist aber “normal”, also die Norm, nur halt nicht gesund.

    Darum vielleicht auch diese Missverständnisse: wenn es um “Entstigmatisierung” geht, ist das natürlich wesentlich – aber halt kein Teil irgendeiner (“richtigen”) Diagnose. Jedenfalls in meinen Augen nicht.
    (Bei einem Lungenproblem wäre es ja auch absurd, dem Patienten eine “lebenslängliche Schuld an seiner Abhängigkeit von Sauerstoff” zu unterstellen. Bei der Niere mit Wasser – aber beim Kopf mit Mitmenschen?)

    Es ist halt so ein “Sprachmacht” Ding, wer warum auf wen Rücksicht zu nehmen hat und wer Macht ausüben darf – statt dass sich gekümmert wird, wo es nötig ist.
    Die Diagnose “sprechendes, also irrendes Lebewesen” trifft aber auf uns alle zu;
    wir müssen nicht die Wörter ändern, sondern lernen, was das mit uns macht.
    ——————-
    @Philipp – klärt es das ein wenig?
    Warum ich z.B. auf “Vorurteil” kam, was ich ihnen ja nicht persönlich unterstellen will, aber – ich würde halt wirklich gerne gegen diese Stigmatisierung was tun. (Differenzieren, nicht kämpfen.)

    @Tobias Jeckenburger, von ihnen hätte ich auch gerne ein feed-back darüber, weil ich mich frage, warum mir so Sachen immer “sofort sonnenklar” sind… Scheint aber nicht selbstverständlich zu sein, diese “Respektlosigkeit”, mit der ich Diagnosen instinktiv für “gender”, Rollen- also Verhaltenszuschreibung und nicht “sex”, also biologische Grundlage, halte. (Ein Softwareproblem, kein “Schicksal”.)

    @Stephan Schleim – erinnern sie sich noch an meine dumme, weil subjektive Bemerkung, dass ich “das Problem mit der Diagnose nicht verstehe?”
    Es hatte für mich “objektiv” nix mit dem Stigma zu tun, weil dieses wohl darauf beruht, sie als Biologische- nicht Handlungs- “Grundlage” anzusehen.
    Gut, dass ich das endlich mal klar habe…

    (Wenn das ein Hardwareproblem wäre, könnte ich da ja nix “umschreiben”, also dran arbeiten. Aber man kann sich -oder andere- halt nicht einfach “gesund” nennen, auch wenn jeder/alle “es” werden kann.)

  121. @Viktualia 27.06. 19:34

    „Wir nehmen uns auf eine nicht besonders gesunde Art viel zu ernst. Zu wenig leicht.“

    Zuviel davon eher, ja. Wissen was unsicher ist, und eher nur persönliche Vermutung, das ist wirklich wichtig. Aber irgendwo muss man auch stur sein, und mit dem arbeiten, was man hat. Eine gewisse Urteilsfähigkeit kann man ja haben, und ich glaube, die brauchen wir auch.

    „Mit dem Neurotransmittermodell (u.a.) kann ich zumindest “psychoedukativ” erläutern, warum es besser wäre, die Qualität seiner Gedanken auch am Grad der Erregung zu messen.“

    Durchaus, wenn es denn so ist. Aber wir müssen im Lebensalltag halt irgendwie funktionieren, und das geht eben genau so weit, wie die eigene Urteilsfähigkeit tatsächlich trägt.

    Man bleibt auch unter seinen Möglichkeiten, wenn man sich selbst unterschätzt.

    „…wir müssen nicht die Wörter ändern, sondern lernen, was das mit uns macht“

    Öfter reicht das auch. Es bleiben aber doch auch Schimpfwörter übrig, die beleidigen können.

  122. @Viktualia 27.06. 22:12

    „Scheint aber nicht selbstverständlich zu sein, diese “Respektlosigkeit”, mit der ich Diagnosen instinktiv für “gender”, Rollen- also Verhaltenszuschreibung und nicht “sex”, also biologische Grundlage, halte.“

    Auch Psychosen reagieren auf die aktuellen Lebensumstände, und sind durchaus einer Bearbeitung zugänglich. So gehen psychotische Episoden auch wieder vorbei, mit Medikamenten, und manchmal sogar ohne.

    Neben einer selbstkritischen und realitätszentrierten Haltung, die man durchaus lernen kann, kommt es auch auf die Erträglichkeit der Lebensumstände an. Man hat seine sozialen Bedürfnisse, ohne ein vernünftiges Umfeld wird es sehr schwierig. Daran zu arbeiten lohnt sich außerordendlich, weil letztlich auch die sozialen Fähigkeiten der Betroffenen sehr förderlich dabei sind, ein gutes Miteinander hinzubekommen.

  123. @Tobias Jeckenburger – wenn ich ehrlich bin, habe ich gerade nicht das Gefühl, verstanden worden zu sein, (bzw. nur “um die Ecke”) – “biologische Grundlage” (also real) ist für mich, dass wir alle einander brauchen, egal, ob mit dem Etikett “psychisch krank” oder ohne.

    Eine psychische Krankheit definiert sich danach, wie wir mit diesen “menschlichen Problemen” umgehen.
    Also ob die “Konstruktionen”/Verhaltensweisen, die zur Anwendung kommen, als sozial angemessen gewertet werden – oder nicht.

    Auch Psychosen reagieren auf die aktuellen Lebensumstände, und sind durchaus einer Bearbeitung zugänglich.

    Natürlich, absolut. Wenn jemand Stress hat, versucht er, diesen irgendwie loszuwerden, fühlt man sich dazu auch noch Ohnmächtig (oder hat man gelernt, dass der eigene Wille nix zählt*), reagiert man u.U. “unangemessen” (man “misst” an den eigenen, nicht den Maßstäben der anderen; man inszeniert die eigene Angst, statt Kompromissmöglichkeiten wahrzunehmen.)

    Aber das machen alle, auch die Gesunden.
    Unterscheiden tut es sich nur graduell (ein Depressiver macht zu wenig, ein Borderliner zu viel, Neurose bringt “zu viel Ordnung” rein, bei Psychose ist es zu wenig, oder “zu individuell”).

    Und das ganze noch im Kontext von den “üblichen Machtspielen”: der Erwartung, dass sich an die “normalen Erwartungen” gehalten wird.
    (Sich der Mensch also nicht “auf seiner Diagnose ausruht”, sondern das diagnostizierte Verhalten sofort loslässt, weil er ja “sehen könne, dass es Unsinn ist”.)

    Was kein Mensch bei einem Schnupfen/gebrochenem Arm erwartet, bei einer psychischen Diagnose ist es anders: beim Schnupfen/oder Bruch “muss man durch”, eine Psychose soll man “mit Einsicht” abstellen können.

    Nein, der Boden für die “Einsicht” (die Einsicht in die eigenen Ängste, bzw. Bedürfnisse) muss erst “gesunden”, also (wie die Nase beim Schnupfen/dem Bruch beim Knochen) sich erholen dürfen.

    Und erst dann kann man über “angemessene Reaktionen” sprechen, könnte man diese erwarten – finde ich jedenfalls.
    (Allein, weil auch das sowohl bei Gesunden als auch den sogenannten “psychisch Kranken” so läuft: man muss sich selber mitnehmen dürfen bei dieser “Einsicht”; es geht nicht darum, “sich benehmen zu können” – das wirkt auch bei “Gesunden” nicht.)
    —————
    *Kurz noch zur “Ohnmacht”, der gelernten: in unserer Gesellschaft lernt man auch, dass “Macht” bedeutet, dass “der Wille der anderen nicht zähle”.
    (Was “Verantwortung” ist, lernt man halt nicht so selbstverständlich).

    Und darum kommt es zu dem Phänomen, dass diese “Stabilisierung durch die Diagnose” als eine Art “Privileg” wahrgenommen und damit assoziiert wird, “seinen Willen anderen aufzuzwingen”.

    Was ich für Nonsen halte, weil es nichts mit “der Diagnose” zu tun hat, sondern sich nur auf unsere unterkomplexen Vorstellungen von “Macht und Ohnmacht”, nicht aber realer Verantwortung (für die Zeit, die “ein Bruch”/Angst vor Ohnmacht, braucht um zu heilen), bezieht.
    ————
    Das ist ein bischen wie in diesem Sprichwort, wo es darum geht, zwischen dem Mut, Dinge die man ändern kann und der Gelassenheit Dingen gegenüber, die man annehmen muss, unterscheiden zu können:
    Man kann sein Verhalten ändern, aber nicht, dass Menschen Ängste haben.
    (Es geht bei der “Heilung” ja nicht um “Furchtlosigkeit” (Knochen aus Stahl, absolute Immunität) sondern um Vertrauen in die Welt und die eigene Handlungsfähigkeit.)

  124. @Viktualia 02.07. 09:00

    „Nein, der Boden für die “Einsicht” (die Einsicht in die eigenen Ängste, bzw. Bedürfnisse) muss erst “gesunden”, also (wie die Nase beim Schnupfen/dem Bruch beim Knochen) sich erholen dürfen.“

    Das braucht selber Ruhe und auch vernünftige Beziehungen, was öfter entsprechend schwierig zu realisieren ist.

    „Man kann sein Verhalten ändern, aber nicht, dass Menschen Ängste haben.
    (Es geht bei der “Heilung” ja nicht um “Furchtlosigkeit” (Knochen aus Stahl, absolute Immunität) sondern um Vertrauen in die Welt und die eigene Handlungsfähigkeit.)“

    Wohl wahr. Das lässt sich nebenbei auch auf politisch-religiöse Verschwörungsmythologien übertragen. Gemeinsamer Wahnsinn ist dem persönlichem Wahnsinn nicht unähnlich. Vertrauen in die Welt fehlt hier signifikant, und eine koordinierte, vernunftbasierte Handlungsfähigkeit wäre die Alternative. Gerade die will man ja verhindern, indem man versucht, Chaos mit Verschwörungsmythen anzurichten.

  125. @Tobias Jeckenburger – wenn sie im letzten Absatz
    “Gemeinsamer Wahnsinn ist dem persönlichem Wahnsinn nicht unähnlich.”
    erwähnen, ist das zwar genau das, was ich die ganze Zeit meine (den Unterschied zwischen der Diagnose und dem Stigma) – allein, es fühlt sich gar nicht so an, als ob wir uns da endlich verstanden hätten.

    Mir geht es jetzt nicht darum, dass sie mir beipflichten, aber ich hab meinerseits das Gefühl, nicht wirklich zu wisssen, worauf sie eigentlich hinauswollen.
    (Und weiß halt immer noch nicht, ob sie´s sehen oder nicht, also was die “allgemeine Erwartungshaltung” mit der Stigmatisierung – und nicht der Diagnose – zu tun hat.)

    Aber mir scheint, es wird zumindest klarer, dass “Gesundheit” zwar schwer zu definieren sein mag, die dazu nötigen Faktoren aber doch ziemlich kar sind. (Vertrauen nach innen und außen.)

    Und die (psychische) “Krankheit” Einzelner auch damit zu tun hat, dass wir als Gesellschaft nicht so wirklich gesund miteinander umgehen.

    Wenn ich also “meine These” mal ganz provokant formulieren würde, käme
    “Eine gesunde Geselllschaft, in Form von vernunftbasierter Handlungsfähigkeit wäre die Alternative. Gerade die will man ja verhindern, indem man versucht, Chaos mit Stigmatisierung psychisch Kranker anzurichten” dabei raus.
    Wobei da imA. keine “Verschwörer” am Werk sind, sondern “die Macht der Gewohnheit”.

    vernünftige Beziehungen,
    Die Beziehung zu sich selbst, der Bezug dieser innneren Einstellung zur Handlungsfähigeit, dem Erleben – also das, was in einer Therapie passieren sollte, meine ich.

    Ich denke, dass mein “Konzept Gesundheit” viel damit zu tun hat, die “subjektive Seite des Subjektes” zu würdigen.

    Und dass dies der Punkt ist, der, meiner Überzeugung nach, für alle mehr gelten sollte.
    Nicht dieses grassierende narzisstische Elend, sondern eine erwachsene Form der Selbstliebe.
    Ich schätze, dass sich “Objektivität”, bzw. Selbstbeherrschung dann leichter realisieren ließen.

  126. @Viktualia 02.07. 21:11

    „Und weiß halt immer noch nicht, ob sie´s sehen oder nicht, also was die “allgemeine Erwartungshaltung” mit der Stigmatisierung – und nicht der Diagnose – zu tun hat.“

    Was die Leute so denken, womit wir es bei Borderline oder Psychose zu tun haben, ist sicher nicht der neueste Stand der Professionellen. Es setzt sich zusammen aus Jahrzehntelangen Prozessen der Meinungsbildung. Aber auch der modernste Psychiater liefert die Stichworte, die dann die Stigmatisierung auslösen können.

    Was uns jetzt selbst als Betroffene dann öfter auch gar nicht mehr so stört. Die Leute halten einfach auch mal Distanz, dass muss kein Problem sein.

    „Ich denke, dass mein “Konzept Gesundheit” viel damit zu tun hat, die “subjektive Seite des Subjektes” zu würdigen.“

    Jeder ist ein Aspekt dieses Kosmos, es geht nicht um Massenware. Es geht um jeden selbst. Was nicht heißt, dass wir die physikalischen und ökologischen Nebenbedingungen ignorieren sollten. Vielmehr, dass wir kein Wettrennen um Leistungsfähigkeit brauchen.

    „Nicht dieses grassierende narzisstische Elend, sondern eine erwachsene Form der Selbstliebe.“

    Genau. Es geht nicht darum wer besser ist. Es geht darum, wirklich dabei zu sein. Nicht dahinter herzurennen, die Leistungsnachweise in Form von SUVs vor der Tür stehen zu haben, sondern eine allgemeine Naturverträglichkeit mit einem Eigenleben zu vereinbaren, das vielleicht sogar spirituell weiterführen kann.

    Es gibt halt auch den gemeinsamen Wahnsinn. Nicht nur bei den Zeugen Jehovas oder den Klimawandelleugnern, auch die Leistungsgesellschaft selbst bewegt sich einiges jenseits von Vernunft. Der gemeinsame Wahnsinn ist allerdings recht stabil, vermutlich einfach, weil der soziale Zusammenhalt innerhalb der eigenen Szene zumindest halbwegs funktioniert.

    Persönlicher Wahnsinn eskaliert meistens erst richtig, nachdem er längst in die eigene Isolierung geführt hat.

  127. @Tobias Jeckenburger – Der gemeinsame Wahnsinn ist allerdings recht stabil, vermutlich einfach, weil der soziale Zusammenhalt innerhalb der eigenen Szene zumindest halbwegs funktioniert.

    Konsens ist Konsens, der wirkt halt so, egal, ob er er sich auf Vernunft bezieht oder auf eine unterkomplexe Interpretation der “Kultur”.

    Persönlicher Wahnsinn eskaliert meistens erst richtig, nachdem er längst in die eigene Isolierung geführt hat.
    Im Kontext von –
    Die Leute halten einfach auch mal Distanz, dass muss kein Problem sein.
    bekommt das Wörtchen “Inklusion” einen etwas seltsamen Beigeschmack, finden sie nicht auch?

    Ich schätze, sowohl “Abgrenzung” als auch die “Beziehung zu sich selbst” können, wie eigentlich alles, auch übertrieben werden.

  128. @Viktualia 04.07. 11:16

    „Im Kontext von – Die Leute halten einfach auch mal Distanz, dass muss kein Problem sein – bekommt das Wörtchen “Inklusion” einen etwas seltsamen Beigeschmack, finden sie nicht auch?“

    Was soll man da machen, wenn einer in einer durchgeknallten Phase ist. Denen gehen wir auch unter uns psychisch Kranken nach Möglichkeit aus dem Weg. Die Beziehung kann aber sofort wieder aufgenommen werden, wenn es den Leuten wieder besser geht. Das ist jetzt wichtig.

    Unter Inklusion stelle ich mir eher vor, dass man eine Arbeit bekommt, die man noch leisten kann, und wenn es ein Ehrenamt ist. Und eine Wohnung.

    Wir haben bei mir aber auch Donnerstags Doppelkopf und Freitags Skat, teilweise seit über 20 Jahren eine gemischte Gruppe auch mit Leuten, die mit psychischen Krankheiten eigentlich nichts zu tun haben. Wer hier allerdings phasenweise zu fertig ist, dass er nicht mehr richtig spielen kann, der bleibt dann auch weg, oder wird ausgeladen.

    Hier sind aber auch einige wichtige Leute recht früh verstorben oder im Altenheim gelandet. Mit gemeinsamen Töpfern haben wir es auch schon probiert, das Problem hierbei ist eher, wohin mit getöpferten Waren.

  129. @Tobias Jeckennburger – kleines Missverständnis – die “Inklusion” hatte ich mehr auf den “Rückzug nach Innen” bezogen, als ne Art Wortspiel.

    Hach, töpfern – Vasen für Gänseblümchen: 3-5 cm groß. Aschenbecher mit Deckel, in Form von Schildkröten. Oder Kacheln mit Sprüchen drauf – alles sehr nützlich und vor allem: Platzsparend!
    (Ja, das Problem kenn ich. Wäre Fimo/Polymer clay ne Alternative? Da macht man automatisch kleinere Objekte mit; bei Befarf hätte ich nen günstigen Anbieter.)

  130. Liebe Viktualia,

    ich habe von Ihnen eine außergewöhnlich einsichtige Analyse in die sogenannte Borderline-Persönlichkeitsstörung gelesen.
    Darf ich fragen, ob Sie noch psychotherapeutisch praktizieren?

  131. @Virginia – hab ich nie – ich bin Ergotherapeutin. Das bin ich allerdings immer noch.

    Danke für die Blumen/das Kompliment, es ist allerdings eher “konstruktive Faulheit” – warum soll ich mir und anderen das Leben schwer machen, wenn es mit ein wenig Empathie viel leichter ist?

  132. Ja, richtig. Das erkennen nicht alle.

    Ich habe eine Sache, die du geschrieben hast, nicht ganz verstanden. Du meintest die Patienten hätten den Bezug zu allem verloren und würden, wenn sie spirituelle Menschen sind, dann den Glauben an Gott finden.
    Du hast aber geschrieben, dass sie die Dinge nicht zu Ende denken würden, obwohl sie ziemlich clever sind. Was meinst du denn damit? Dass sie auch sich selbst finden müssen?

  133. @Virginia – ich weiß nicht genau, was du meinst, kannst du es bitte zitieren? (Oder Datum und Uhrzeit des Beitrags nennen, den du meinst?)

    wenn sie spirituelle Menschen sind, dann den Glauben an Gott finden.
    Klingt nicht wirklich nach mir; ich wüßte nicht, wo ich irgendwas geschrieben hätte, das man so deuten könne. (Dass man den Glauben an “Gott” brauchen würde.)

    Was meinst du denn damit? Dass sie auch sich selbst finden müssen?
    Ich meine höchstwahrscheinlich, dass sie erst sich (ohne “auch”) selbst finden – o. z.B. von einem Therapeuten angenommen fühlen – müssen und erst nachdem sie “sich gefunden” haben (“an sich glauben können”), gewisse therapeutische Inhalte überhaupt verinnerlichen/integrieren können.
    (Praktisch geht es nicht ums Glauben an wen oder was, sondern die “stabile Beziehung” in der Zweifel ausgesprochen werden können.)

    Ich glaube da eher an “das Urvertrauen”, oder Objektkonstanz.
    Und dass man bei Therapeuten (oder anderen, die einen vorbehaltlos annehmen) so etwas wie “nachnähren” kann. (Bei Googel heißt das “Reparenting”.)

    die Dinge nicht zu Ende denken würden, obwohl sie ziemlich clever sind.
    (Ich improvisiere, weil ich die Stelle nicht weiß – )
    “Denken”, also einen Inhalt rational nachvollziehen, ist nicht alles, man muss es ja auch “fühlen”, also wirklich integriert haben, um z.B. auch in einer stressigen Situation noch entsprechend “cool” (oder souverän) damit umgehen zu können.

    Ich bin etwas erstaunt, dass du da “Gott” reingelesen hast.
    Was meiner Sicht zugrunde liegt, hat zwar eindeutig was “hierarchisches”, das bezieht sich aber auf die Wahrnehmung (da ich ja Ergotherapeutin und nicht Psychotherapeutin bin).

    Hab grad mal einen Wahrnehmungsbaum/ “Baum der sensorischen Integration” (nach Jean Ayres) rausgesucht, vielleicht magst du da mal schauen: https://ergotherapie-rosenthal.de/kinder-und-jugendliche-paediatrie/
    (Halb runterscrollen. Willkürliches Beispiel, ich kenn die Praxis nicht. Aber sie erläutern schön nicht nur “die Sinne”, sondern deren Zusammenspiel und wie das erst koordiniert werden muss. Nur dann kann man sich “ganz” fühlen, kann lernen – und somit auch im oder nach Stress klar denken. Bzw. überhaupt lernen, klar zu denken.)

    “Emotionen”, also unsere Gefühle, mögen subjektiv und unergründlich sein, aber “die Perzeption”, also was, bzw. wie wir empfinden, liegt nicht wirklich so im Dunkeln, wie es normalerweise kommuniziert wird – finde ich jedenfalls.
    (Ich halte Borderline nicht für “ne Art perzeptive Störung”, sondern nehme anders wahr, warum Störungen so stören können.)

    Dass sie auch sich selbst finden müssen?
    Vielleicht dass wir das alle gemeinsam haben?

  134. @Virginia – ich weiß nicht genau, was du meinst, kannst du es bitte zitieren? (Oder Datum und Uhrzeit des Beitrags nennen, den du meinst?)

    wenn sie spirituelle Menschen sind, dann den Glauben an Gott finden.
    Klingt nicht wirklich nach mir; ich wüßte nicht, wo ich irgendwas geschrieben hätte, das man so deuten könne. (Dass man den Glauben an “Gott” brauchen würde.)

    Ich finde es nicht mehr, aber die Formulierung war “für spirituelle Menschen ist das der direkte Weg in’s Himmelsreich”. Ich habe es fälschlicherweise als Glaube an Gott interpretiert.

    Ich meine höchstwahrscheinlich, dass sie erst sich (ohne “auch”) selbst finden – o. z.B. von einem Therapeuten angenommen fühlen – müssen und erst nachdem sie “sich gefunden” haben (“an sich glauben können”), gewisse therapeutische Inhalte überhaupt verinnerlichen/integrieren können.
    (Praktisch geht es nicht ums Glauben a wen oder was, sondern die “stabile Beziehung” in der Zweifel ausgesprochen werden können.)

    Geht es denn nun um Selbstvertrauen oder um die stabile Beziehung? In Hinblick auf das Selbstvertrauen (und ich würde anderen in gewissem Maße zu vertrauen als mögliche Konsequenz daraus sehen) stimme ich dir zu. Eine stabile Beziehung kann bestimmt förderlich sein, ich denke aber nicht, dass das notwendig ist.
    Ich weiß, dass das hier früher schon ansatzweise diskutiert wurde: ich empfinde jemanden wirklich anzunehmen, aber Geld dafür zu bekommen als Widerspruch.

    “Denken”, also einen Inhalt rational nachvollziehen, ist nicht alles, man muss es ja auch “fühlen”, also wirklich integriert haben, um z.B. auch in einer stressigen Situation noch entsprechend “cool” (oder souverän) damit umgehen zu können.

    Ja, stimmt. Bspw. Sicherheit auch zu fühlen ist etwas völlig anderes als nur rational zu wissen, dass es keine große akute Lebensgefahr gibt.
    Ich denke aber nicht, dass man mit allem souverän umgehen können muss. Ich glaube, das meinst du aber auch nicht.

    (Halb runterscrollen. Willkürliches Beispiel, ich kenn die Praxis nicht. Aber sie erläutern schön nicht nur “die Sinne”, sondern deren Zusammenspiel und wie das erst koordiniert werden muss. Nur dann kann man sich “ganz” fühlen, kann lernen – und somit auch im oder nach Stress klar denken. Bzw. überhaupt lernen, klar zu denken.)

    Sehr interessant. Was bedeutet klar denken?

    Emotionen”, also unsere Gefühle, mögen subjektiv und unergründlich sein, aber “die Perzeption”, also was, bzw. wie wir empfinden, liegt nicht wirklich so im Dunkeln, wie es normalerweise kommuniziert wird – finde ich jedenfalls.
    (Ich halte Borderline nicht für “ne Art perzeptive Störung”, sondern nehme anders wahr, warum Störungen so stören können.)

    Man weiß aber auch über die Sinnesorgane zum Teil sehr wenig. Ich glaube auch nicht, dass alle Menschen gleich wahrnehmen, geschweige denn dass man in irgendeiner Weise normative Maßstäbe anlegen sollte.

    Ich halte Borderline auch nicht für eine perzeptive Störung und ich glaube nicht, dass es hilfreich ist überhaupt eine Gruppe mit einem „Störungsbild“ zu bilden anstatt Einzelpersonen möglichst unvoreingenommen kennenzulernen. Genauso fragwürdig finde ich, ob es sich überhaupt um eine Störung handelt. Mich kann alles mögliche stören und trotzdem würde ich nicht von einer Störung sprechen. Die Definition ist subjektiv. Wenn man meint eine Störung objektiv zu definieren, dann definiert man das Normale als gut und etwas vermeintlich Abweichendes als problematisch. Dabei weiß man weder, was normal ist, noch was Borderline ist, geschweige denn, was richtig und falsch ist.

    Dass sie auch sich selbst finden müssen?
    Vielleicht dass wir das alle gemeinsam haben?

    Es wäre wünschenswert, aber ich behaupten, dass die allermeisten es nicht tun und auch keinen Drang danach haben.

  135. @Virginia – hab´s gefunden (ziemlich weit oben):
    Mit “Leere” meine ich wirklich Leere, nicht Assoziationen; Unglaube, nicht Erläuterungen. Ein Borderliner bildet sich keine Gedanken ein (das wäre ein Wahn), er hat negative Gefühle, weil ihm/ihr der Bezug fehlt. Der Bezug zu sich selbst, bzw. zu der Umgebung. Und das ist eine Hölle.
    Außer, man ist ein spirituell interessierter Mensch, dann ist es “der Weg zum Himmelreich”.
    Tja, blöd gelaufen mit der “Ambivalenz”.

    Da war “Gott” das Loslassen aller Identifikationen.
    Ob man das aus Souveränität, rsp. Liebe tut, oder weil man kein stabiles Ego hat, macht halt einen buchstäblich himmelweiten Unterschied.

    (und ich würde anderen in gewissem Maße zu vertrauen als mögliche Konsequenz daraus sehen)
    Und dann noch einen Schritt weiter und wir habens –
    (den nächsten auch, indirekt): ich empfinde jemanden wirklich anzunehmen, aber Geld dafür zu bekommen als Widerspruch.
    Es geht darum auch widersprechen, in Frage stellen zu dürfen. (“Grenzen erweitern”.) Also nicht nur, jemandem “in gewissem Maße” zu vertrauen, sondern dies auch aktiv in Frage stellen zu können. Nicht nur “um Sicherheit”, sondern darum, Unsicherheit ansprechen zu können..

    Mein Geld bekomme ich nicht dafür, das Material bereitzustellen und den Kunden respektvoll zu behandeln, sondern dafür, ihm sehr real “Sicherheit” zu geben. Er darf mir jederzeit “widersprechen” – mir dabei helfen, genauer hinzuschauen. (“Widerspruch” lese ich als Indiz für das, was fehlt, nicht als was persönliches. Und so was ist ne Kunst.)

    Was bedeutet klar denken?
    Wow, da hast du mich natürlich. Zum Glück kann ich mich auf obigen Kontext beziehen und es darauf reduzieren, Dinge “in Frage stellen zu können”, in Anlehnung an wissenschaftliches Falsifizieren. Aber nicht nur mit Verstand, sondern auch “mit Herz”, also der Möglichkeit, (subjektive) Gefühle benennen zu können.

    Im Kontext des Wahrnehmungsbaums wäre das, auf Grundlage der sensorischen Integration eine optimale/ausgeglichene soziale und kognitive Entwicklung durchgemacht zu haben; bzw. dann in der Lage zu sein, Defizite erkennen und ausgleichen zu können.
    Und: es leicht zu nehmen (Optimierung ist nicht alles.)

    Wenn man meint eine Störung objektiv zu definieren, dann definiert man das Normale als gut und etwas vermeintlich Abweichendes als problematisch.
    Moment – da ist ein Denkfehler drin, allerdings ein “normaler”. Man sollte “das Gesunde” als “gut” definieren – können.
    Aber wir haben halt nur nen Durchschnitt und kriegen ja nicht mal “gut” wertfrei in unsere Birne.
    (Bzw. objektiv wäre “Gesund” dann so gut, dass wir alle graduell krank wären, wer will das schon? Dann doch lieber subjektiv bleiben.)

    Natürlich hat die real stattfindende Stigmatisierung was mit dem Vorhandensein von Diagnosen zu tun.
    Andererseits beziehen die sich durchaus auf reale Problemstellungen, bei denen Abhilfe besser ist als keine Hilfe.

    An den Bezeichnungen/Diagnosen drehen nutzt der Sache sicher weniger, als den Betroffenen zu helfen, indem man ihre Lage immer differenziert betrachtet.
    Ist jedenfalls meine Meinug. Die Diagnosen sind nicht das Problem, auch nicht die sogenannten Kranken. Sondern die sogenannten Normalen.

    Es wäre wünschenswert, aber
    Ja. Seufz.

  136. “indem man ihre Lage immer differenzierter betrachtet.”
    Ich meinte differenziertere Diagnosen, keine “immer genau hinschaut”- Bewertung.
    Sorry.

  137. Aus meiner Sicht lässt dieser Beitrag die nötige Neutralität vermissen. Die ganze Zeit über drängte sich mir der Eindruck der Befangenheit des Verfassers auf, der sich in den Kommentaren bestätigt, als er von persönlichen Beziehungen mit Frauen berichtet, von denen er annimmt, dass sie Borderlinezüge aufwiesen. Seiner Aussage nach tolle Frauen, was natürlich auch überhaupt nicht zur Debatte stehen soll, es veranschaulicht aber eine gewisse Einseitigkeit und Verengung der Perspektive, die gerade dem komplexen Thema Borderline nicht gerecht werden kann. Allein das Wording in dem Beitrag die beiden angeführten Wissenschaftler als „Experten“ zu bezeichnen und im Gegenzug alle anderen an der WHO-Klassifizierung von Persönlichkeitsstörungen beteiligten Wissenschaftler, Psychiater und Psychologen als „Vertreter von Lobbyintetessen“ zu framen, ist derart platt und tendenziös. Ein guter Beitrag zum Thema hätte die Aufgabe den Widerstreit im Diskurs argumentativ abzubilden. So wird völlig unterschlagen, dass es auch gute Gründe dafür gibt, dass Borderline als einzige PS im neuen ICD-11 der WHO noch als eigene PS geführt wird, wohingegen alle anderen PS fortan dimensional und nicht mehr kategorial verstanden werden. Vertreter mit anderer Auffassung, sind dann gemäß dem Autor ja aber keine „Experten“ mehr, sondern „Lobbyinteressenvertreter“. Aus psychodynamischer Sicht entstehen Borderline wie auch Narzissmus aus frühkindlichen Entwicklungsstörungen. Insofern ist das immer wieder gebrachte Argument Borderline sei viel mehr als eine Traumafolgestörung zu betrachten trivial. So ziemlich alle frühkindlich verursachten Persönlichkeitsstörungen stehen selbstverständlich mit Traumatisierungen in Verbindung. Auch das Argument der vermeintlich fehlenden Stabilität von Borderline, ist so nicht richtig, zumal Borderline durchaus eine ganze Reihe an konsistenter Merkmale aufweist, wie bspw. das ausgeprägte Schwarz-Weiß-Denken, das aus der Spaltung resultiert.

  138. @Marcus: Psychodynamik & ICD-11

    Danke für die Ergänzung durch Ihre Perspektive; MENSCHEN-BILDER ist für unterschiedliche Sichtweisen offen.

    Erst einmal will ich Ihnen aber empfehlen, gut zu lesen: Das mit den “Lobbyisten” ist ein Zitat und nicht meine Behauptung. Ich war nicht dabei und referiere hier, was Personen, die sich nachweislich seit langer Zeit beruflich mit Persönlichkeitsstörungen befassen, in einer medizinischen Fachzeitschrift berichten. Wie soll man sie dann anders nennen als “Experten”?!

    Und was ich in meinem Kommentar über frühere Beziehungen schrieb, ist eben das – ein Kommentar. Mir darum vorzuwerfen, ich sei zu persönlich, ist hanebüchen. Das hier ist auch ein persönlicher Blog, keine Fachzeitschrift.

    Zur “frühkindlichen Entwicklungsstörungen” – das wird dann halt so gesagt. Was genau diese Störung hervorruft, weiß man doch gar nicht. Hier besteht kein Widerspruch zu Traumata. Und wenn die Eltern ihr Kind in die Therapie bringen, werden sie wohl kaum einräumen, dass sie selbst es sind, die die Störung verursachen. Die stigmatisierende Diagnose wird dann aber dem Kind aufgedrückt.

    “Gute Gründe” hätten Sie ja hier referieren können; das ICD-11 werden wir durch eine Diskussion im Blog aber kaum ändern.

    Kurzum, die psychodynamische Ursachenlehre ist seit den 1980ern aus der Mode gekommen und hat sich auch seitdem kaum derart bewährt, dass sie die gängigen medizinischen Diagnosehandbücher prägen würde; dasselbe Problem hat aber freilich die Biologische Psychiatrie auch. Wenn es Ihnen wirklich um Neutralität ginge, würden Sie das hier einräumen.

    P.S. Was Sie über Borderline im ICD-11 schreiben, ist meines Wissens auch nicht ganz richtig; aber aufgrund Ihres feindseligen Auftretens hier vergeht mir daran die Lust. Wer es genau wissen will, kann es selbst nachschlagen.

  139. Das ist Unsinn. Ob Borderline eine Persönlichkeitsstörung ist, stellt kein seriöser Wissenschaftler ernsthaft in Frage. Wer sich über die aktuelle fachwissenschaftliche Diskussion um Borderline informieren möchte, dem möchte ich die ersten 10 Minuten dieses YouTube Videos von Prof. Sam Vaknin nahelegen:

    https://youtu.be/E8TFzTwoDoo

  140. @Marta: Na ja, die hier zitierten Forscher sind Spezialisten auf dem Gebiet der Persönlichkeitsstörungen und haben das in einer seriösen Fachzeitschrift publiziert (siehe oben).

    In dem Interview hier spricht ein anderer Fachmann allgemeiner über die Problematik bei der Abgrenzung von Persönlichkeitsstörungen; der ist immerhin stellvertretender Direktor einer psychiatrischen Universitätsklinik.

    Damit ist Ihr Standpunkt hinreichend widerlegt; melden Sie sich gerne mit einem Argument.

  141. Noch zum Thema Seriosität: Bei “Marcus” und “Marta” handelt es sich um ein und dieselbe Person, die hier mit verschiedenen Pseudonymen auftritt. Wie seriös ist das?

  142. @Stephan Schleim: nun, das liegt daran, dass mein Partner hier bereits ein paar Tage zuvor kommentiert hat.😅

    Aber zurück zur inhaltlichen Auseinandersetzung. Dass sie der Annahme sind, meinen Standpunkt widerlegt zu haben, zeigt dass sie die Argumentation in dem verlinkten Video überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben, sonst wüssten sie nämlich, dass Prof. Sam Vaknin ebenso zu den ausgewiesensten Experten auf dem Gebiet der Cluster-B Persönlichkeitsstörungen gehört. Er zählt auf reasearch Gate mit über 1.700 Zitierungen zu den Top 0,5%(!). Sie beziehen sich einseitig immer wieder nur auf die beiden angeführten Wissenschaftler und stellen diese als einzige Experten auf ihrem Gebiet dar. Das ist jedoch nicht seriös.

    Ich kann ihnen sowie allen anderen Interessierten, die sich zum aktuellen Stand um den fachwissenschaftlichen Diskurs um Borderline informieren wollen, nur nochmals nahelegen, sich die ersten 8 Minuten des oben verlinkten Videos anzusehen.

  143. @Stephan Schleim –
    Ist das eine kleine Einlage zur Beübung der Medienkompetenz?

    Der Wiki-Eintrag des Herrn ist ausdrucksvoll genug, den clip muss man nicht anklicken.

  144. @Viktualia, Marta etc.

    Geht es hier um jemanden, der laut Wikipedia für Betrug verurteilt wurde und dann Persönlichkeitsstörungen zur Strafminderung anführte? Der seinen eigenen Verlag gegründet hat, um sein eigenes Werk zu publizieren? Der angeblich in Großbritannien, Kanada, Nigeria und Russland Professor sein soll – bloß findet man keine Institutsseite, die das bestätigt? Der z.B. beim “J of Psychology and Psychiatry Research” (noch nie gehört) am 16. März 2022 ein Paper einreichte, fünf Tage später bereits eine Revision und zwei Tage später wurde die Arbeit schon akzeptiert? (Muss ja ein ganz tolles Peer Review sein, wenn das so schnell geht.)

    Ha ha ha.

  145. Das war ein schöner Artikel der aber nicht direkt auf die alltägliche Willkür der ‘Psychopharmalogiker
    eingeht. Geschichtlich hängt die Erfindung der Psychologie, gute (gesunde) und schlechte (kranke) mit dem Nationalsozialismus zusammen und ist daher auch extrem patriarchal. Wenn man die Hintergründe kennt verwundert es nicht, dass viele Mädchen und Frauen, homosexuelle oder nicht so brutale (feminine) Jungen und Männer, schwarze, behinderte, Armutsbetroffene die ersten sind welche vor einem Psychoarzt gesetzt und diagnostiziert werden als geisteskrank, dann Drogen (Medikamente) die sie nicht brauchen und ihnen gesundheitlich schaden vertikt bekommen.

    Ich habe das selber mehrmals erlebt, wie einfach man als Mädchen und Frau in die Klapse weggesperrt wird z. B. weil man nicht mehr zur Schule gehen will, wegen dem Mobbing dort.
    Oder wenn man sich körperlich wehrt gegen Gewalt. Es liegt immer an den beteiligten Personen wem sie mehr glauben und oftmals ist ea doch so, dass Frauen und Mädchen nicht geglaubt wird. Also gelten sie eben als geisteskrank, wenn sie den gesellschaftlichen unf familiären Dogmen nicht so einfach über sich ergehen lassen wollen oder können.

    Ich denke Psychologie wurde allein nur aus patriarchalischen Gründen erschaffen, um besonders die Gruppen zu schwächen, die als Bedrohung für Elite und Mittelstand gelten. Die stellt man(n) natürlich mit der Hilfe vieler Marionetten ruhig.

    Simone De Behavior meinte genau das, der Unterdrücker wäre nicht so stark ohne Mittäter.

    Empfehlenswert über das Thema Antipsychiatrie fand ich Peter Lehmanns Buch und Kerstin Kempers Artikel im deutschen Raum. Im englischen haben sich einige Feministinnen gegen Psychologie, Psychiatrie und Pharma geäußert.

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