Kurioses über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS

Einschulung, Migration, alte/neue Bundesländer und warum ist Würzburg so schlimm?

Beim letzten Mal behandelte ich häufige Missverständnisse über die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS (Die größten Missverständnisse über die Aufmerksamkeitsstörung ADHS). Bei weiteren Recherchen stieß ich auf einige Kuriositäten, über die ich nun meine Leserinnen und Leser informieren möchte:

Hätten Sie gedacht, dass das Alter bei der Einschulung den größten Einfluss auf die ADHS-Diagnose hat? Das konnten sich einige nicht gut vorstellen. Inzwischen habe ich anschauliches Bildmaterial dafür. Und was haben der Migrationshintergrund oder die alten beziehungsweise neuen Bundesländer mit Diagnose und Therapie zu tun? Und wieso wird die Störung in und um Würzburg am häufigsten diagnostiziert?

Was ist ADHS?

Zuerst möchte ich aber noch ein paar Grundlagen vermitteln. Was ist ADHS überhaupt? Vor Jahren erklärte ich bereits, dass es diese Kategorie erst seit den 1980ern gibt (30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS). Seitdem wurde sie von der US-amerikanischen Psychiatrie um den Globus verbreitet. (Dazu immer noch lesenswert: Ethan Watters’ “Crazy Like Us: The Globalization of the American Psyche” von 2010, in dem solche Vorgänge an den Beispielen Depression, Magersucht und Schizophrenie veranschaulicht werden.)

Das zurzeit noch in vielen Ländern geltende Diagnosehandbuch ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation, das es seit den 1990ern gibt und seitdem in kleinen Schritten aktualisiert wurde, enthält noch keine ADHS. Das wird sich mit dem neuen ICD-11 ändern, das ab 2022 in vielen Ländern verbindlich werden soll. Darin wird die Störung wie folgt beschrieben (ich übersetze aus dem Englischen). Die Sprache ist etwas kompliziert, typisch Mediziner:


ICD-11, 6A05: ADHS

  • Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung wird durch ein anhaltendes Muster (mindestens sechs Monate) von Aufmerksamkeitsdefizit und/oder Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität charakterisiert, das direkte negative Auswirkungen auf das akademische, berufliche oder soziale Funktionieren hat. Es gibt Hinweise auf Symptome von signifikantem Aufmerksamkeitsdefizit und/oder Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität vor dem zwölften Lebensjahr, üblicherweise in der frühen bis mittleren Kindheit, auch wenn manche Individuen erst später klinisch auffallen mögen.
  • Das Maß des Aufmerksamkeitsdefizits und der Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität ist außerhalb der Grenzen der normalen Variation, die für das Alter und die intellektuelle Entwicklung zu erwarten sind.
  • Aufmerksamkeitsdefizit bedeutet die signifikante Schwierigkeit, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben aufrechtzuerhalten, die kein hohes Reizniveau oder keine häufigen Belohnungen aufweisen, auf Ablenkbarkeit und Probleme bei der Organisation.
  • Hyperaktivität bedeutet überschüssige motorische Aktivität und Probleme mit dem Stillsitzen, am auffälligsten in strukturierten Situationen, die eine Selbstkontrolle des Verhaltens erfordern. Impulsivität ist eine Tendenz, auf unmittelbare Reize zu reagieren, ohne die Risiken oder Konsequenzen abzuwägen.
  • Die relative Gewichtung und die spezifische Ausprägung des Aufmerksamkeitsdefizits und der Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität unterscheidet sich zwischen den Individuen und kann sich im Laufe der Entwicklung verändern.
  • Damit eine Diagnose gestellt werden kann, müssen Aufmerksamkeitsdefizit und/oder Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität in verschiedenen Situationen oder Umgebungen erkennbar sein (zum Beispiel zuhause, in der Schule, auf der Arbeit, mit Freunden oder Verwandten), können sich wahrscheinlich aber verändern, je nach Struktur und Anforderungen der Umgebung.
  • Die Symptome lassen sich nicht durch eine andere psychische Störung, Verhaltensstörung oder neuronale Entwicklungsstörung besser erklären und sind auch nicht durch eine Substanz oder ein Medikament bedingt.

Reich der Normen

Wenn von einem “signifikanten Defizit”, von “Grenzen normaler Variation”, der “üblichen” Entwicklung und vielem Anderem mehr die Rede ist, dann bewegen wir uns im Reich der Normen. Das heißt, gesellschaftliche Akteure und Institutionen (hier: die Weltgesundheitsorganisation auf Grundlage psychiatrischer Gutachter) ziehen eine Grenze dafür, welches Verhalten als normal oder abweichend angesehen wird. In letzterem Fall nennen wir es: Störung.

Das ist insofern nichts Neues, als Gesellschaften das mit moralischen und strafrechtlichen Regeln auch tun. Jemandem etwas ohne dessen Zustimmung wegzunehmen, heißt in der Regel “Diebstahl” und wird bestraft (§ 242 StGB). Solche Regeln/Normen beeinflussen (wortwörtlich: regeln) unser Miteinander.

Bedenkenswert ist bei der Definition im ICD-11 auch, wie das Aufmerksamkeitsdefizit in Bezug zu – ich sage mal salopp: eher langweiligen – Situationen gesetzt wird. Bei dem von mir kürzlich beschriebenen Versuch, mit “Denken im Schneckentempo” (engl. Sluggish Cognitive Tempo, SCT) eine neue Form von ADHS zu definieren, war das ein wesentliches Kriterium: hat Schwierigkeiten damit, in langweiligen Situationen wach oder aufmerksam zu bleiben.

Hat der Mensch in einer anderen Situation, bei einer anderen Aufgabe, die er als weniger “langweilig” erfährt, genug Aufmerksamkeit? Reagiert er dann weniger hyperaktiv und impulsiv? Liegt es dann wirklich nur an ihm? Hieran sehen wir, dass eine psychologisch-psychiatrische Diagnose das Problem im Individuum lokalisiert. Dabei geht es immer um ein Zusammenspiel von Mensch und Umgebung.

Normen vs. Natur

Bleiben wir noch einen Moment bei gesellschaftlichen Normen: Im moralischen Bereich hält sich der Staat eher zurück. Hans dürfte beispielsweise das Essen einer Currywurst unter den ablehnenden Blicken seiner Tochter Petra, einer überzeugten Veganerin, anders erfahren; Petra findet den Pelzmantel ihrer Mutter furchtbar und wird sich wahrscheinlich eher nicht unter Nerzzüchtern ihre besten Freunde suchen.

In Grenzfällen, wie Schwangerschaftsabbruch, Sterbehilfe oder auch dem Inzestverbot (bei einwilligenden Erwachsenen), machen Gesetzgeber und Gerichte aber durchaus auch von moralischen Begründungen Gebrauch. Dann wird – unter Berufung auf humanistische, religiöse, traditionelle oder andere Quellen – ein Standpunkt für allgemeinverbindlich erklärt.

Wenn das Reich der Normen mit der Natur verwechselt wird, entsteht aber ein Problem: Dann scheint es keine gesellschaftliche Festlegung mehr, sondern schlicht ein natürlicher Sachverhalt. Ein bedeutender Unterschied ist, dass man über eine Festlegung, eine Normsetzung streiten und die Grenzen gegebenenfalls anders ziehen kann; wenn sich einem aber eine Flutwelle nähert, wird eine Demonstration oder Diskussion nichts bewirken.

Nun sind seit den 1980ern die Biologische Psychiatrie und Psychologie beziehungsweise die Neuropsychologie (wieder einmal) im Aufwind. Getrieben durch neue Erkenntnisse der Molekularbiologie und neue Bildgebungsverfahren der Medizin – erst die Positronenemissionstomographie, heute vor allem die Kernspintomographie – hat sich im Denken vieler Forscher (wieder einmal) durchgesetzt, psychische Störungen seien Gehirnstörungen.

Schon in der Antike bis ins 19. Jahrhundert gab es die Vorstellung, das Gemüt der Menschen werde durch eine Störung von Körpersäften (Galle, Blut und Schleim) beeinflusst. Im 19. Jahrhundert entwickelten dann deutsche Psychiater modernere Gehirntheorien psychischer Störungen, etwa Wilhelm Griesinger (1817-1868), die Emil Kraepelin (1856-1926) später fortführte.

Wie weit ist man heute, mehr als 170 Jahre später? In den 1970ern wollten die amerikanischen Psychiater ihr diagnostisches Vorgehen, das damals noch stark von Freuds Seelenlehre geprägt war, auf ein wissenschaftlicheres Fundament stellen. Dabei beriefen sie sich explizit auf Kraepelin. 1980 veröffentlichten sie ihr “wissenschaftliches” Diagnosehandbuch DSM-III (in dem übrigens zum ersten Mal die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADS auftauchte).

2013 erschien dann die übernächste große Überarbeitung, das DSM-5. Hierfür hatten sich die Psychiater vorgenommen, endlich Griesingers alten Traum von einem hirnbasierten System wahr zu machen. Geklappt hat es, bei inzwischen mehreren hundert unterschiedenen psychischen Störungen, für keine einzige!

Es soll nun nicht im Detail darum gehen, wie die Forscherwelt auf diesen riesigen Reinfall reagiert. (Zum Teil natürlich mit der gebetsmühlenartig wiederholten, doch unbewiesenen Behauptung, es sei alles viel komplexer, man brauche noch feinere Messverfahren, noch größere Stichproben, noch viel mehr Geld. Eine andere Gruppe interessiert sich wieder mehr für Philosophie und andere Ansätze.)

Stattdessen will ich hier am Beispiel AHDS aufzeigen, was für einen Bedeutungsunterschied es macht, einem Kind eine soziale Normabweichung oder eine Gehirnstörung zu attestieren.

Naturalistischer Fehlschluss

Wir haben oben gesehen, wie die Störung im neuen ICD-11 beschrieben wird. Unter der Annahme, psychische Störungen seien Gehirnstörungen, hat ein Kind, das unter die Beschreibung von ADHS fällt, also eine Gehirnstörung.

Das klingt wie ein natürlicher Sachverhalt: Etwas im Gehirn ist anders, als es sein sollte, als es bei “normalen” Kindern ist. Eine frühere Vorform von ADHS hieß bis weit ins 20. Jahrhundert noch Minimaler Hirnschaden (engl. Minimal Brain Damage, MBD). Viele Forscher und Psychiater meinen das ernst.

Kurioserweise bezieht sich die diagnostische Beschreibung aber gar nicht auf das Gehirn, das Nervensystem oder die Gene. Es geht darin schlicht um Verhaltensauffälligkeiten und die verschiedenen Umgebungen, in denen sich ein Mensch befinden kann. Und um das, was als normales oder abnormales Verhalten gilt.

Auch nachdem man viele Jahrzehnte geforscht und viele Hypothesen ausprobiert hat, bleibt es dabei: Manche Kinder, Jugendliche und jetzt auch immer mehr Erwachsene fallen dadurch auf, dass sie in bestimmten Situationen weniger Aufmerksamkeit haben beziehungsweise sich aktiver/impulsiver Verhalten als andere Kinder.

Mit anderen Worten: Gesellschaftliche Akteure – darunter Ärzte, Eltern, Lehrer, Psychologen – legen erst fest, was sie als unangemessenes Verhalten ansehen. Danach suchen Forscher mit Millionenbudget biologische Entsprechungen, finden sie aber nicht. Darum begehen sie mit der Übertragung der sozialen Norm in den Bereich von Biologie und Neurowissenschaften einen Fehler: einen naturalistischen Fehlschluss; sie verwechseln Kultur und Natur.

Ebenso könnte man fragen: Was ist denn die biologische Entsprechung von Diebstahl? Salopp gesagt interessiert es die Natur aber doch gar nicht, wie unsere Gesellschaft ihr Strafrecht ausformuliert. Ebenso wenig interessiert die Flutwelle eine Demonstration. Es handelt sich schlicht um unterschiedliche Sphären.

Aufrechterhaltung der Normalität

Der Status quo muss aus Perspektive der Biologischen Psychiatrie rätselhaft erscheinen. Es bleibt nur die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, in der die “verborgenen Ursachen” der Störungen endlich entdeckt werden. Das Warten wird wahrscheinlich weitere 170 Jahre dauern – und noch viel länger.

Aus historischem Blickwinkel ergibt sich ein stimmigeres Bild: Neben der Polizei und – zumindest traditionell – der Kirche gibt es eine dritte gesellschaftliche Institution für die Aufrechterhaltung der Normalität: die Psychiatrie (“Es geht um die Anpassung des Individuums an die vorherrschende Normalität”). Michel Foucaults Studien zur Geschichte der Psychiatrie sind nach wie vor lesenswert.

Wohlgemerkt, mit der Beschreibung der Geschichte oder des Status quo ist noch kein Werturteil ausgedrückt. Man kann das gut oder schlecht finden, so wie man beispielsweise dem Gesetzgeber den Vorwurf machen kann, zu viele Schlupflöcher ins Steuergesetz eingebaut zu haben – oder auch nicht. Eine Flutwelle kann man jedoch nicht kritisieren. Das ist eine Sphäre jenseits von Argumenten und Moral.

Und so verhält es sich auch mit Gehirnprozessen: Denen macht man keinen Vorwurf; sie sind, wie sie sind. Wenn man also ADHS bloß als Folge einer Gehirnstörung darstellt, entfernt man das Thema aus dem Bereich von Moral und Gesellschaftspolitik. Das mag entschuldigend wirken, verhindert leider aber nicht die Ausgrenzung der Betroffenen. Vor allem lokalisiert es die Problemursache im Individuum.

Sieht man ADHS hingegen als eine Beschreibung von Verhaltensnormen, die sich nachweislich auch alle paar Jahre beziehungsweise Jahrzehnte ändern, dann ist nicht nur das Kind Adressat von Kritik. Auch derjenige, der die Norm setzt, hier also der Psychiater beziehungsweise seine übergeordnete Vereinigung, muss sich für die Grenzziehung verantworten.

Wie zuvor, ist damit noch keine wertende Haltung ausgedrückt. Das Thema ist aber besprechbar, diskutabel, man kann verschiedene Alternativen einbeziehen. Jeder möge selbst entscheiden, welches Modell eher mit einem liberalen Rechtsstaat und einer Demokratie vereinbar ist. Das heißt nicht, dass man alle Regeln aufgibt; das wäre Anarchie. Es heißt, dass man sich darüber offen miteinander verständigt.

Der Einschulungseffekt

Ich habe eingangs versprochen, mich mit einigen kuriosen Fakten über ADHS zu beschäftigen. In meinem letzten Artikel über das Thema schrieb ich bereits kurz über den Einschulungseffekt: In einer Schulklasse haben die jüngsten Kinder die höchste Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose. Das ergibt gar keinen Sinn, wenn man ADHS als Gehirnstörung darstellt.

Manche konnten sich das nicht vorstellen, griffen mich in der Diskussion sogar an. Dank den Autorinnen und Autoren des Versorgungsatlas des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung in Berlin kann ich den Effekt jetzt auch anhand einer Grafik verdeutlichen, in der die echten Daten deutscher Schülerinnen und Schüler dargestellt sind:

Der Versorgungsatlas 15/11 beschäftigte sich mit der Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Alter bei der Einschulung und ADHS-Diagnosen gibt. Um die Abbildung zu verstehen, muss man wissen, dass die Kinder jünger sind, je weiter man nach links geht (x-Achse ist der Geburtsmonat). Alle Kinder, die bis zum 30. Juni ein vorgegebenes Alter erreicht haben, kommen in eine Klasse. Wer später geboren, also jünger (und demnach in der Grafik weiter links) ist, wird erst nächstes Jahr eingeschult. Man sieht nun jeweils einen großen Zacken, wenn man sich diesem Stichtag nähert: Die Wahrscheinlichkeit für eine ADHS-Diagnose (y-Achse) nimmt bis zum 30. Juni zu und fällt dann rapide ab. Die kurz danach geborenen Kinder werden im nächsten Jahr die Ältesten in ihrer Klasse sein. Quelle: Amelie Wuppermann und Kollegen, Versorgungsatlas-Bericht Nr. 15/11, DOI: https://doi.org/10.20364/VA-15.11

Diesen Zusammenhang haben die Forscher ebenfalls für Bundesländer mit einem anderen Stichtag nachgewiesen (Seite 13 im Bericht). Auch dort, wo das Datum in den letzten Jahren gewechselt wurde, konnte man das bestätigen.

International ist der Effekt inzwischen mit Daten von über 15 Millionen Schülerinnen und Schülern in 13 Ländern belegt. Die Wissenschaftler schreiben deutlich, dass dieser Befund nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist: “Insgesamt zeigen 17 der 19 Studien, dass die jüngsten Kinder eines Schuljahres eine erheblich höhere Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose und/oder medikamentöse Behandlung hatten als ihre älteren Klassenkameraden.” Von den verbleibenden beiden Studien (aus Dänemark), zeigte eine nur einen schwachen Zusammenhang und die andere keinen.

Die deutschen Forscherinnen und Forscher, die den Bericht für den Versorgungsatlas erzeugt haben, beziffern die Unterschiede auch konkret: Bei Kindern der 3. bis 8. Klasse liege die Häufigkeit einer ADHS-Diagnose im Mittel bei 4,8%. Vergleiche man die im Juni und Juli geborenen Kinder miteinander, liege die Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose und medikamentöse Behandlung für die früher Eingeschulten um rund 20% höher.

Das ist ein beträchtlicher Unterschied! Er ist mit ziemlicher Sicherheit viel größer als alles, was die Hirnforschung oder Genetik bisher über ADHS herausfinden konnte. In das Modell der Biologischen Psychiatrie passt das nicht. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass einige der früher eingeschulten Kinder von ihrer psychologischen Entwicklung her nicht in die Umgebung der Älteren passen.

Regionale Unterschiede

Doch damit noch nicht genug. In einer neueren Untersuchung des Versorgungsatlas wurden regionale Unterschiede bei den ADHS-Diagnosen untersucht. Dabei zeigte sich, dass deren Häufigkeit in vielen Regionen unter 3,3% liegt, in anderen hingegen über 5,6%.

Konkret machten die Forscherinnen und Forscher zwei Regionen aus, in denen die Störung besonders selten diagnostiziert wurde: erstens Darmstadt/Frankfurt/Offenbach und Umgebung; zweitens Reutlingen/Stuttgart/Tübingen und Umgebung. Über Jahre hinweg hatte Offenbach mit unter 2% die niedrigste Rate.

Umgekehrt fanden sie vier Regionen mit besonders vielen Diagnosen: erstens Landau/Neustadt/Speyer und Umgebung; zweitens Celle, Goslar, Hildesheim und Umgebung; drittens Gera und Umgebung; und schließlich viertens Aschaffenburg, Erlangen, Würzburg und Umgebung. Würzburg hatte über Jahre hinweg mit rund 10% die höchste Rate.

Die Abbildung links (A) zeigt Unterschiede bei den ADHS-Diagnosen für Kinder und Jugendliche von 5 bis 14 Jahren im Jahr 2016, nach Kreis. Die Abbildungen rechts (B) identifiziert Regionen, bei denen sowohl 2009 als auch 2016 eine besonders niedrige (grün) oder besonders hohe (rot) Häufigkeit der Diagnosen vorlag. Quelle: Manas K. Akmatov und Kollegen, Versorgungsatlas-Bericht Nr. 18/02, DOI: https://doi.org/10.20364/VA-18.02

Das bedeutet: Wenn eine Familie mit ihren Kindern von Offenbach nach Würzburg umzieht, dann verfünffacht(!) sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Nachwuchs ADHS diagnostiziert bekommt. Die Karte zeigt auch für kleinere Abstände schon erhebliche Unterschiede.

Unter den Bundesländern hatte Hessen mit 3% die niedrigste Quote. Im benachbarten Rheinland-Pfalz war sie mit 5,4% fast doppelt so hoch. Insgesamt waren im Zeitraum 2009 bis 2016 die Diagnosen in dünn besiedelten ländlichen Kreisen häufiger als in kreisfreien Städten.

Kuriose Unterschiede

Solche Unterschiede sind äußerst kurios. Die Forscherinnen und Forscher haben darum verschiedene Faktoren in statistische Modelle einfließen lassen, um sie zu erklären. Einen hundertprozentigen Beweis gibt es hier nicht. Doch der schlüssigste Befund lautet wie folgt:

“Kinder und Jugendliche aus Kreisen mit einem niedrigen Anteil an Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit hatten eine ca. 1,3-fach erhöhte Chance für eine ADHS-Diagnose im Vergleich zu Kindern aus Kreisen mit einem höheren Ausländeranteil. […] Ebenfalls war die Dichte von Kinder- und Jugendpsychiatern signifikant mit der ADHS-Diagnose assoziiert.”

Versorgungsatlas-Bericht Nr. 18/02, S. 16

Einerseits gab es also dort die meisten Diagnosen, wo die wenigsten Ausländer wohnten. Andererseits stieg die Wahrscheinlichkeit für eine Diagnose mit der Anzahl der Psychiater. Letzteres ist auch für andere Störungen und die Anzahl der Psychotherapeuten ein bekannter Befund.

Das kann man jetzt positiv oder negativ sehen: Sind die Kinder von Eltern ohne deutsche Staatsangehörigkeit unterdiagnostiziert oder ist der Nachwuchs von Eltern mit deutschem Pass überdiagnostiziert?

Tolerieren Erstere vielleicht größere Unterschiede bei der Aufmerksamkeit oder Impulsivität ihrer Kinder als Letztere? Unterscheiden sich die Kulturen in der Bereitschaft, bei Erziehungsproblemen zum Psychiater zu gehen? Oder erwarten die Eltern mit deutscher Staatsangehörigkeit von ihrem Nachwuchs mehr Aufmerksamkeit und Selbstkontrolle, insbesondere im schulischen Umfeld?

Man müsste wissen, wie häufig ADHS wirklich vorkommt. Wie ich erst kürzlich schrieb, schätzen unterschiedliche Studien die Prävalenz auf 2% bis 18%, unterscheiden sich also um den Faktor neun! Wir haben oben gesehen, wie vage die Kriterien für ADHS sind. Es gibt unter Forschern schlicht keinen eindeutigen oder objektiven Maßstab hierfür. Zudem ändern sich die Kriterien im Laufe der Zeit.

Die hier beschriebenen Unterschiede haben wohl eher nichts mit den Genen oder Gehirnen der Kinder zu tun. Andernfalls hätten übrigens deutsche Staatsbürger mehr Gen- oder Gehirnprobleme als Zuwanderer, hätten sie eher einen “Hirnschaden”. Das vorliegende Bild lässt sich stattdessen soziokulturell verstehen.

Übrigens kann es auch zwischen Städten innerhalb eines Bundeslands erhebliche Abweichungen geben: Im Gesundheitsatlas Bayern für 2019 kann man beispielsweise vergleichen, dass in Würzburg rund 8.900 Personen pro 100.000 gesetzlich Versicherten wegen ADHS behandelt wurden; in München waren es mit rund 4.300 weniger als die Hälfte. (Dank an den Medizinblogger Joseph Kuhn für den Hinweis.)

Ost und West

In der Häufigkeit der Diagnosen zeigt sich zwischen den alten und neuen Bundesländern zwar kein deutlicher Unterschied. Zum Beispiel ist die Prävalenz von ADHS in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin-Brandenburg eher niedrig (3,7%), in Thüringen eher hoch (5,0%). Ärztinnen und Ärzte in Ost und West verschreiben aber unterschiedliche Medikamente.

Ein drittes und letztes Mal beziehe ich mich auf den Versorgungsatlas, jetzt einen Bericht aus dem Jahr 2019. Dieser untersuchte Trends bei den Medikamentenverschreibungen gegen ADHS. Insgesamt griff man bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 5 bis 14 Jahren seit 2010 übrigens seltener zum Rezeptblock. Bis 2016 sank die Verschreibungsrate von rund 50% auf 45%.

Das heißt, dass die Mehrheit der Kinder nach einer ADHS-Diagnose keine Medikamente mehr bekam. Übrigens ging es um mindestens eine Verschreibung im Jahr. Die Zahlen bedeuten also nicht, dass 45% bis 50% der diagnostizierten Kinder die Mittel durchgängig nahmen.

Im Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland fällt aber auf, dass in den neuen Bundesländern ein Medikament, das auf den Botenstoff Noradrenalin im Gehirn wirkt, häufiger verschrieben wurde als in den Alten. Bei Medikamenten mit dem alten Bekannten Methylphenidat (der Wirkstoff in u.a. Ritalin), die im Wesentlichen auf Dopamin Einfluss haben, war das Bild umgedreht: West häufiger als Ost.

Ist ADHS in den alten Bundesländern also häufiger ein Dopamin-Problem, in den Neuen aber öfter ein Noradrenalin-Problem? Das kann man so pauschal natürlich nicht sagen. Diese Unterschiede in der Behandlung machen aber deutlich, dass, wie eingangs erwähnt, die Gehirnmodelle psychischer Störungen hypothetischer Natur sind.

Das Noradrenalin-Medikament galt vorher übrigens als vielversprechender Kandidat gegen Depressionen. Methylphenidat wird wiederum von Ärzten nicht nur gegen ADHS, sondern, außer der Reihe, schon mal gegen Bipolare Störungen oder Depressionen verschrieben. Tja, das ist doch irgendwie alles komplex im Gehirn.

Fazit

Ich wollte hier zeigen, dass man es im Bereich der psychischen Störungen mit dem Reich der Normen zu tun hat, nicht der Sphäre der Natur. Natürlich unterliegen unseren psychischen Vorgängen körperliche Prozesse; wir sind Körperwesen. Der wesentliche Punkt ist hier aber, dass die Entscheidung darüber, was eine Störung ist, auf sozialen Konventionen (vor allem der Psychiater und ihrer Organisationen) beruht.

Beispielsweise finden in ihrem Gehirn beim Lesen dieses Artikels bestimmte Hirnprozesse statt, insbesondere im Temporallappen der Großhirnrinde (Leseverständnis). Während ich diesen schreibe, dürfte die Aktivierung im Frontallappen höher sein (Sprachproduktion). Dass sich Ihr und mein Gehirn auf diese Weise unterscheidet, bedeutet aber nicht, dass jemand von uns eine psychische Störung hätte.

Der Ansatz, den ich hier vorgestellt habe und der auf so gut wie alle anderen psychischen Störungen übertragbar ist, verteufelt weder die Diagnosen noch die Therapien; er macht schlicht deutlich, dass hier mehrere Faktoren zusammenkommen: das Individuum, mit seinen individuellen Veranlagungen, Fähigkeiten und Einschränkungen; menschliche Beziehungen, beispielsweise der Familie; soziale Umgebungen, beispielsweise der Schule; und schließlich gesellschaftliche Institutionen, wie Psychologen und die Ärzteschaft. Bei alldem spielen gesellschaftliche Normen eine Rolle.

Wenn man so über psychische Störungen denkt, also das biopsychosoziale Modell vertritt, hat man die meisten Optionen: Man kann das Problem individuell, biologisch, psychologisch oder soziologisch untersuchen; man kann es auch auf allen Ebenen behandeln. Ich lehne die Medikamente also nicht generell ab; in vielen Fällen würde ich es aber für ehrlicher halten, von instrumentellem Substanzkonsum statt der Behandlung mysteriöser Gehirnstörungen zu sprechen (Gehirndoping und Neuroenhancement: Fakten und Mythen).

Psychologisch-psychiatrische Diagnosen können helfen, sie können Menschen aber auch ausgrenzen und stigmatisieren. Es ist an der Zeit, wieder mehr über Alternativen nachzudenken. Nicht zuletzt die Anforderungen der Coronapandemie verdeutlichen, dass psychische Probleme oft Reaktionen auf gesellschaftliche Vorgänge sind. Und Alternativen gibt es (Nein, Ihr Kind ist nicht krank!).


In meinem vorherigen Artikel über ADHS analysierte ich eine Sendung von Psychologeek zum Thema. Meiner Analyse zufolge stellt die Psychologin Pia Kabitzsch für “funk”, das Content-Netzwerk von ARD und ZDF, die Störung darin einseitig, verzerrt und in Teilen sachlich falsch dar.

Am 26. August wies ich die Redaktionen vom SWR und von “funk” per E-Mail darauf hin. Am 31. August schickte ich eine Erinnerung und bat um eine Stellungnahme für meine Leserinnen und Leser. Bis heute: keine Antwort.


Hinweis: Dieser Beitrag erscheint auch auf Telepolis. Titelgrafik: chenspec auf Pixabay.

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47 Kommentare

  1. @Schulweg und Gesamtbelastung

    Ich stell mir das so vor, dass die Schulsituation für Kinder generell ziemlich fordernd ist, für manche dann überfordernd. So trifft es eher die jüngeren, und auch eher Kinder in ländlichen Regionen, einfach weil hier der Schulweg länger ist. Wenn ich bis zu einer Stunde täglich auch noch im Bus sitzen muss, und eine halbe Stunde früher aufstehen muss, dann ist eventuell deutlich früher eine Schwelle überschritten, die dann zu Störungen führt.

    Wer schön entspannt mit dem Fahrrad zur Schule fahren kann, der wird vermutlich deutlich weniger ADHS bekommen, als wer sich in überfüllte Schulbusse drängen muss. Geben die Daten das her?

  2. @Jeckenburger: Schulweg

    Die ADHS-Diagnosen zur Länge des Schulwegs in Beziehung zu setzen, ist wohl sehr komplex. Das dürfte die Kinder (und ggfs. auch die Eltern) aber zusätzlich stressen.

    Die Studie berichtet die beiden in meinem Text genannten Faktoren: Anteil der Ausländer (je mehr, desto weniger Diagnosen) sowie Anteil der Psychiater (je mehr, desto mehr Diagnosen).

  3. @Mona: Danke für den Hinweis. Tja, mit der Einschulung beginnt gewissermaßen der “Ernst des Lebens”. Manche Menschen (Kinder) können damit schlechter umgehen als andere.

  4. @Schleim
    Bleiben Sie locker.
    Wie ich bereits im Juli intervenierte, ging es auch um die Aufmerksamkeitsökonomie. Das haben Sie aufgenommen,danke!
    Im Grunde geht es lediglich um die Aufmerksamkeit zwischen Sender und Empfänger.
    Da gibt es Interpretationsdysfunktionen.
    Wenn es denn nicht so pharmakologisch wäre,wäre es lächerlich.

  5. @Schleim
    Wiederholte Intelligenztest ergaben bei mir einen IQ zwischen 180-190.
    Aber nur,weil ich mich gegen traditionelle und lineare Systeme stellte.
    Ich habe mich aus jeglichen sozialen Systemen zurück gezogen,weil sie zwischen Natur und Kultur getrennt haben. Wenn Sie ein biopsychosoziales Modell befürworten,dann kann ich Sie nur bestärken.
    Ich würde eher sagen,Kultur ist in Natur verankert.
    Wenn ich das nicht falsch sehe,dann fehlte auch Ihnen ein Mentor und Sie finden nun Bestätigung in der Profession,die Sie sich erarbeitet haben.
    Go on!
    Für mich kann ich nur sagen,wir irrlichterten Jahrhunderte.
    Davon befreien wir uns langsam.
    Erschütternd,wie langsam.
    Hut ab,Schleim!

  6. In Nordbayern gibt es eine allgemein höhere Neigung, Gruppen zu bilden und dann “Andersartige” zu stigmatisieren, und gern auch mal jemanden zu mobben- im Vergleich zum Bund insgesamt, vielleicht auch zu Südbayern. Könnte mir schon vorstellen, daß das mit reinspielt und der Weg dann etwas kürzer ist zur Pathologisierung.
    Was nicht heißt, der Rest der Republik wäre soviel besser, es ist ein gradueller Unterschied, allerdings ein spürbarer.

  7. @Schleim 06.09. 15:02

    „Die Studie berichtet die beiden in meinem Text genannten Faktoren: Anteil der Ausländer (je mehr, desto weniger Diagnosen) sowie Anteil der Psychiater (je mehr, desto mehr Diagnosen).“

    Bei dem Anteil der Ausländer dachte ich, dass dieser in Städten höher ist als auf dem Land, und eigentlich die kürzeren Schulwege in den Städten für weniger ADHS sorgen, nicht die Ausländer.

    Das Maximum von ADHS-Diagnosen in der 5. Klasse passt ganz gut zu geräderten übermüdeten Schülern, die viel zu früh aufstehen mussten, und sich dann womöglich noch in überfüllte Busse drängen mussten. Bekannte von mir wohnten ziemlich abgelegen auf dem Land, deren Tochter musste erst mit Papas Auto zum Bahnhof, dann 40 min. mit dem Zug nach Osnabrück und noch mal mit dem Bus bis zum Gymnasium. Die musste fast eine Stunde früher aufstehen, als jemand der mit dem Fahrrad in 10 Minuten schon in der Schule ist.

    @Mussi 06.09. 18:57

    „Wenn Sie ein biopsychosoziales Modell befürworten,dann kann ich Sie nur bestärken.
    Ich würde eher sagen,Kultur ist in Natur verankert.“

    Dem würde ich mich anschließen, aber noch eventuelle Geisteswelten hinzufügen. Die wiederum letztlich auch in der Natur schon angelegt sein müssen, und auch in der nichtmenschlichen Natur eine wesentliche Rolle spielen. Tiere haben in der Regel nicht unser reflektierendes Bewusstsein, aber eine innere Erlebniswelt, die neben ihrer Funktionalität auch ihre intrinsische Qualität mitbringt. Diese innere Erlebniswelt ist auch bei uns grundlegend, und überhaupt erst die Basis unseres menschlichen Bewusstseins.

    Welches wiederum erst durch den Prozess unserer Kultur so richtig aufdreht. Weitreichender Austausch und schriftliche Kommunikation, die durch das Internet nochmal erleichtert wird, machen immer mehr möglich.

  8. @Jeckenburger
    Wieso spalten Sie einen ‘Geist’ ab,um dann wieder zum Menschen als Tier zu kommen? Was ist das denn für eine Krücke?
    Der eigentliche Weg ist Tier=Mensch,
    Mensch=Überzüchtung.

  9. @Jeckenburger
    DasLos des Menschen scheint ORDNUNG zu sein,die er bestimmen möchte.
    Stimmt sie nicht,verlagert,spaltet sie gerne ab, er die Schuld auf einen ‘Geist’.
    Herje…

  10. @Jeckenburger
    Worin besteht der Hausbau zum Nestbau?
    Lediglich in der Ökonomie und der Kreditaufnahme, des Schulden machen, und der prognostizierten Arbeitsfähigkeit.
    Achje…Die Schuld…

  11. @Jeckenburger: Schulwege

    Es kann immer verborgene Faktoren geben, die man (noch) nicht kennt.

    Die Kinder mit längeren Schulwegen sind vielleicht gestresster, haben während der restlichen Zeit auf dem Land aber vielleicht weniger Stress?! Wie dem auch sei: Ihre Hypothese dürfen Sie natürlich vertreten. Vielleicht wird das irgendwann einmal wissenschaftlich untersucht.

  12. @Mussi: Natur und Kultur

    Vielleicht ist es eine Errungenschaft von Menschen, sich mit ihrer Kultur die eigene Natur zu schaffen? Beispielsweise ein Haus.

    Diese Trennlinien verschwimmen wohl, wie heute wohl auch kaum noch etwas auf diesem Planeten “reine Natur” ist (z.B. durch vom Menschen verbreitete Umweltgifte).

    Wie dem auch sei: Mir geht es um einen weiten Blick, ein Sowohl-als-auch.

  13. @Stephan Schleim: Zu lange Schulwege

    Genau wie erwachsene Pendler können auch Kinder Stress empfinden. Der Spiegel veröffentlichte eine Langzeitstudie, wonach knapp 15% der Schüler 45 Minuten oder länger zur Schule unterwegs sind. Nach der Einführung des Ganztagesunterrichts bleibt diesen Schülern kaum noch Freizeit, da sie ja auch noch lernen oder Hausaufgaben machen müssen. Viele Schulstandorte wurden nach und nach geschlossen und weiterführende Schulen gibt es nur in größeren Orten. Deshalb müssen beispielsweise Kinder auf der Insel Rügen täglich über drei Stunden für ihren Schulweg einplanen.

  14. @Mussi 07.09. 05:29 / 05:38

    „Wieso spalten Sie einen ‘Geist’ ab,um dann wieder zum Menschen als Tier zu kommen? Was ist das denn für eine Krücke?
    Der eigentliche Weg ist Tier=Mensch,
    Mensch=Überzüchtung.“

    Den Geist, den ich meine, der ist eine Eigenschaft des Kosmos, und keine menschliche Erfindung. Er gehört aber zur Basis unseres Bewusstseins, und in diesem Sinne ist dies keinesfalls eine Überzüchtung, zumal eine geistige Beteiligung auch zur Eigenschaft der inneren Erlebniswelten von Tieren aller Art gehört.

    „DasLos des Menschen scheint ORDNUNG zu sein,die er bestimmen möchte.
    Stimmt sie nicht,verlagert,spaltet sie gerne ab, er die Schuld auf einen ‘Geist’.
    Herje…“

    Ich will es nicht komplizierter machen als es ist. Wenn uns der Lauf der Dinge nicht recht ist, können wir gucken wie wirs machen, und dann den Lauf der Dinge eben ändern. Wenn wir sehen, dass wir unser Klima ruinieren, dann tun wir was dagegen. Der Geist, der wir selber dabei sind, ist recht universal, und mag uns dabei beflügeln. Nicht aufhalten.

    Dass wir uns Häuser, Autos und virtuelle Welten bauen, in denen wir die meiste Zeit verbringen, muss der Sorge um die Natur, die immer noch unsere Lebensgrundlage und auch unsere eigentliche geistige Heimat ist, nicht entgegen stehen. Kultur kann sich mal verselbständigen, kommt aber immer wieder zur relevanten Wirklichkeit zurück. Das leistet eben unser Bewusstsein auch. Umwege erhöhen dabei manchmal die Ortskenntnis.

  15. @einer

    „Hausaufgaben haben Kinder in Ganztagsschulen in der Regel eben nicht.“

    Für Bayern kann ich das nicht bestätigen, da dürfen lediglich übers Wochenende keine Hausaufgaben aufgegeben werden. Zudem ist Schulrecht Sache der Bundesländer und daher leider nicht einheitlich.

  16. @Schulweg
    Meine beiden Klassenkameraden, die vor 50 Jahren mit 17 selber mit dem Auto zur Schule fahren durften, weil ihr Schulweg so lang war, haben sich sehr unterschiedlich entwickelt. Der eine kam von einem humanisteischen Gymnasium, auf dem er wegen seines freakigen Auftritts nicht klar kam. Er hat später die Promotion abgebrochen und eine Stelle angenommen. Musste aber wegen psychischer Probleme in Frührente. Der andere, ein ruhiger Kleinbauernsohn, hat Karriere gemacht.

    Also meine kleine Stichprobe zeigt also keine Abhängigkeit vom Schulweg.

  17. @Einschulungsalter
    Nach meiner Erinnerung ist es der Erwartungsdruck der Eltern, der auf den Jüngsten lastet. Wenn vorgeschlagen wurde, ein Kind erst später einzuschulen, war das schlimmer als sitzenbleiben:
    Dein Kind ist in der Entwicklung zurückgeblieben!

    Jahre später hat sich mein englischer Chef darüber aufgeregt, dass sein Sohn in der deutschen Kita nur spielt und nichts lernt. (Wahrscheinlich hat der Sohn besser Deutsch gekonnt als sein Vater.)

  18. @ DH:

    “Nordbayern” gibt es als Volksgruppe nicht. In Nordbayern leben Franken der unterschiedlichsten Art. Weinfranken, Bierfranken, katholische, evangelische, Liebhaber der Bratwurst mit etwas mehr oder etwas weniger Majoran und kürzerer oder längerer Machart, und in Bamberg gibt es sogar Franken, die Rauchbier trinken.

    Einig sind sich die Franken nur, wenn es gegen München geht. Ansonsten neigen sie nicht dazu, “Gruppen zu bilden und dann “Andersartige” zu stigmatisieren”.

  19. @Stephan Schleim
    “Bamberg gibt es sogar Franken, die Rauchbier trinken.”
    Und die laufen noch frei rum?
    “Liebhaber der Bratwurst mit etwas mehr oder etwas weniger Majoran”
    Eine Glaubensfrage…wichtiger als evangelisch oder katholisch.
    “Ansonsten neigen sie nicht dazu,….”
    Da haben wir wohl unterschiedliche Erfahrungen gemacht.
    “Einig sind sich die Franken nur, wenn es gegen München geht. ”
    Achtung, Klischeealarm….

    [Sagen Sie nichts gegen das Bamberger Rauchbier! Aber bitte beim Thema bleiben. Prost, S. Schleim]

  20. @Stephan Schleim

    Zur Frage, warum ADHS in und um Würzburg am häufigsten diagnostiziert wurde schreibt das Deutsche Ärzteblatt: „Besonderes Aufsehen erregten die gefundenen regionalen Unterschiede: „Würzburg ist weltweit top“, erklärte Schwartz. Die Ärzte in Unterfranken hätten die Diagnose ADHS bei nahezu jedem fünften Jungen (18,8 Prozent) und jedem zehnten Mädchen (8,8 Prozent) gestellt. Als Ursachen für den ADHS-Boom im Raum Würzburg nennt Schwartz „einen angebotsgesteuerten Faktor“ und einen Zusammenhang mit der Universität Würzburg.
    In der Tat untersucht dort eine Forschergruppe Symptome und den Verlauf von ADHS. „Würzburg ist durch die Uniklinik und aufgrund der guten Versorgungslage durch niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater ein fachärztliches Zentrum für ADHS“, erläuterte der Direktor der Würzburger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Prof. Dr. med. Marcel Romanos, dem Deutschen Ärzteblatt. „Wir können möglicherweise bei Kindern die Diagnose stellen, die ansonsten nicht erkannt würde.“ Zudem kämen auch Familien aus anderen Bundesländern in die Region. Insgesamt erfülle der Report jedoch nicht die Kriterien einer wissenschaftlichen Studie, sagte er.

    Die Universität Würzburg gab ihrerseits bekannt: „ADHS: Weltweit größte Studie gestartet

  21. @Mona: Uniklinik Würzburg

    Sie sind ja ganz aktiv am recherchieren.

    Ich habe mir den Internetauftritt einer der Studien angeschaut. Auch wenn man zum biologischen Ansatz neigt (für die Psychiatrie einer Uniklinik wenig überraschend), finde ich die Darstellung noch im Rahmen: Man weist auch auf vorläufige Befunde und offene Fragen hin.

    Aber es ist äußerst interessant, dass man dort offiziell von einer Prävalenz von 5,3% (Kinder- und Jugendliche) bzw. 2,5% (Erwachsene) spricht, dann in Würzburg und Umgebung aber sehr viel häufiger diagnostiziert (fast 10%).

    P.S. Die Zahlen aus dem Versorgungsatlas sind nach Wohnort aufgeschlüsselt. Die können also von Kindern bzw. Familien aus anderen Orten, die sich dort behandeln lassen, nicht nach oben getrieben werden.

  22. @Schleim
    Der Mensch ist zum bestimmenden Evolutionsfaktor geworden.
    Mag man mögen oder auch nicht.
    Ich mag es nicht. Bin doch irgendwie Fatalist. Also muss ich auch mit Menschen leben oder halt nicht.

  23. Das ist wirklich mal ein Beitrag von Stephan Schleim, gegen den man wenig aussetzen kann. Seine Hauptthese, dass das als ADHS wahrgenommene Symptomenbild nicht aus biologischen, sondern aus sozial/normativen Gründen irgendwann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Verhaltensauffälligkeit zur Krankheit avancierte, scheint mir gut begründet.

    Der Krankheitsbegriff hatte allerdings schon immer eine quasi subjektive, persönlich/soziale Komponente. So definiert die WHO die Abwesenheit von Krankheit als „Ein Zustand des umfassenden körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“. In der Psychologie/Psychiatrie wiederum wurde schon früh das Leiden des Patienten an seinen „Problemen“ als wichtiges Kriterium für die Notwendigkeit einer Behandlung akzeptiert.

    Man könnte es auch so sehen: Ganz früher war Krankheit sehr negativ konnotiert und eine Zappelphilipp als Kranken zu bezeichnen wäre früher einer Diskriminierung/Ausgrenzung gleichgekommen. Doch heute – denken wir doch alle – ist das anders. Wer die Diagnose ADHS bekommt, der bekommt heute sogar mehr sozial/fachliche Zuwendung. Kurzum: dem wird geholfen. Mit Medikamenten, psychologischer Hilfe, Verhaltenstraining und Inklusion in der Schule, in der man um sein/ihr Problem weiss.

    Interpretation: ADHS als Krankheit muss heute keine Diskriminierung mehr sein, sondern kann auch bedeuten, dass eine Betroffene Hilfe bekommt. Selbst eine Fehldiagnose würde daran nichts ändern. Denn wir leben heute in anderen, in mitfühlenderen Zeiten. (?)

  24. Vorab, ich habe im Juni Geburtstag wurde eher eingeschult und müsste da voll drinliegen, was nicht der Fall war.

    Ich bin der Meinung das es sich hier nicht nur um eine Normeneinteilung handelt, sondern tatsächlich um eine echte Störung. (Die man allerdings deswegen nicht mit Medikamenten behandeln sollte, sondern mit Lebensumstellung, optimalerweise)

    Die aktuelle Forschung vermutet Ursachen in der Ernährung oder der Bildschirmnutzung (das 2. ist am ehesten auch meine Vermutung). (Zu meiner Jugend war man nachmittags noch draussen zum Fussball spielen – Glück gehabt?) Schule war zu meiner Zeit auch noch geordneter, als das was man heute sieht. Kinder reagieren auf beide Sachen recht intensiv. Weshalb diese These für mich am meisten Sinn ergibt.

  25. @Holzherr 08.09. 10:31

    „Interpretation: ADHS als Krankheit muss heute keine Diskriminierung mehr sein, sondern kann auch bedeuten, dass eine Betroffene Hilfe bekommt. Selbst eine Fehldiagnose würde daran nichts ändern. Denn wir leben heute in anderen, in mitfühlenderen Zeiten. (?)“

    Seit 20 Jahren bin ich in der Selbsthilfe aktiv, und genau darauf arbeiten wir auch hin. Jetzt eher mit Diagnosen wie Depressionen oder Psychosen aller Art. In der Tat bewegt sich tatsächlich langsam was. Gerade die Erkenntnis, dass soziale Faktoren eine fundamentale Rolle spielen, ist unser bestes Argument. Und dass eine grundlegende konsequente Ausgrenzung von Betroffenen deren Probleme noch verstärken und chronifizieren kann.

    Vernünftige Diagnosen sind aber auch nicht verkehrt, obwohl in der Tat Inklusion und Mitgefühl manchmal genauso wichtig sind wie die richtigen Medikamente.

  26. @Holzherr: Krankheit & Stigma

    Sollte ich beginnen, mir Sorgen zu machen, wenn ich von Ihnen auf einmal so viel Lob bekomme?

    Die Begriffe von Krankheit und Gesundheit sind immer normativ. Manchmal fällt diese Unterscheidung mit natürlichen Kategorien zusammen (z.B. wenn Grippeviren bestimmte Symptome auslösen); manchmal nicht. Im Bereich der psychischen Störungen eher nicht.

    Manche empfinden eine psychologisch-psychiatrische Diagnose als erleichternd; manche als ausgrenzend. Letzteres ist auch in wissenschaftlichen Studien belegt. Der tolerantere Umgang bps. mit Menschen mit der Diagnose Schizophrenie in Entwicklungsländern dürfte beispielsweise erklären, warum es den Patientinnen und Patienten dort besser geht. Der niederländische Schizophrenie-Experte Jim van Os nannte es in unseren Kreisen allerdings eine “vernichtende Diagnose”.

    Aufpassen muss man auch mit der Berechnung angeblicher Kosten; Menschen mit psychologisch-psychiatrischen Diagnosen werden dann gerne mal als riesiger Kostenfaktor dargestellt.

  27. @Matthias: Umgebung

    Wie ich gerade schrieb: Die Grenzziehung zwischen Gesundheit und Krankheit ist immer normativ, auch in der “körperlichen” Medizin.

    Wenn ADHS vor allem von den Umgebungsfaktoren abhängt, die Sie nennen, ist es dann nicht etwas ungerecht, das Problem später mit der ADHS-Diagnose in den Kindern/Jugendlichen zu sehen?

  28. @ Matthias: Ursachen

    Als Vater eines ADHS Kindes kann ich das so nicht bestättigen. Ernährung war/ist so gesund wie es nur geht, Bildschirmnutzung war 0 (ist jetzt sehr selten) und Aktivitäten draußen so gut wie täglich. Hat alles nichts geholfen. Kind hat die ganze Klasse durcheinnander gemacht. Erst die Diagnose und die entsprechende Medikation haben vieles gelöst.

  29. Warum ist in Würzburg ADHS so häufig.
    Der Grund ist in der Geschichte der Stadt zu finden. Würzburg wurde im zweiten Weltkrieg so stark zerstört, dass ernsthaft darüber nachgedacht wurde, die Stadt wieder aufzubauen. Die Bevölkerung war traumatisiert. Die Kinder dieser Generation leben noch und sind die Eltern der Kinder, die mit ADHS zu kämpfen haben.
    Ich glaube nicht, dass man schon einmal untersucht hat, ob die vielen Phosphorbrandbomben damit zusammenhängen. Auf jeden Fall verschwindet Phosphor nicht so einfach aus der Umwelt.

  30. Dass es im jetzt noch geltenden ICD-10 keine ADHS Diagnose gibt, stimmt nicht. Es gibt zum einen die F90.0: Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung – dies entspricht dem ADHS (Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom)- zum anderen F98.8, Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität. Im ICD-11 wird diese Unterscheidung aufgehoben werden.

  31. @Maria: ADHS im ICD-10

    Danke für den Hinweis. Es gibt im ICD-10 die hyperkinetischen Störungen (F90.x).

    Das ist nicht ganz dasselbe wie ADHS, wird in Ländern, in denen man das ICD-10 und nicht das DSM-5 verwendet, mitunter aber so beziehungsweise so ähnlich verwendet.

    Bleiben Sie kritisch!

    P.S. So, wie ich F90.0 lese, setzt die Aufmerksamkeitsstörung Hyperaktivität voraus, während das nach DSM-5 “gleichberechtigte” Varianten von ADHS sind.

  32. P.P.S. Ja, die Kriterien scheinen laut ICD-10 tatsächlich strenger zu sein; wo diese nicht erfüllt sind, würde man eine “sonstige” Hyperkinetische Störung (F90.8) diagnostizieren.

    Das untermauert also gerade meinen Punkt, was die Rolle solcher Handbücher betrifft. (Also die Rolle der Normsetzung.)

  33. @Schleim

    Laut meinen Erkenntnissen, die ich abseits der ausgetretenen Pfade erlangt habe, machen die Tabelledaten Sinn.

    Wenn sich die Kinder in der Schule ausserhalb des Dunstkreises der elterlichen Prägungen bewegen, erhalten sie durch die Pädagogen einen klareren Blick auf sich selbst, ihr Umfeld und die Welt. Einige ihrer Prägungen relativieren sich und anhängige Symptome lösen sich ins nichts auf. Bleiben nur noch die Symptome, die sie ihr ganzes Erwachsenenleben begleiten werden.

  34. “Wenn man keine Ahnung hat – einfach mal die Fresse halten”
    Ein Spruch der hier leider wirklich zutrifft.

    Warum wird ÜBER Menschen mit AD(H)S geschrieben, anstelle sich einmal MIT Ihnen zu unterhalten?
    Ich kann Statistiken zu jedem erdenklichen Thema hinzuziehen, komme dann sogar zu der Feststellung, dass Störche in Bayern die Kinder bringen (Übereinanderlegen von Geburtenrate und Storchvorkommen).
    Aber das geht ebenso am Thema vorbei wie dieser Artikel.

    Was hat der Fakt (oder in ihrem Fall die Leugnung des Fakts) der diversen Neurobiologie von Menschen, die eben nicht alle “normgleich” sind mit der Feststellung der Psychiatrisierung und des Gesellschaftlichen Drucks auf “Andersartigkeit” zu tun? Richtig – nichts!

    Wer eine*n AD(H)ler*in befragt wird schnell herausfinden, dass diese sehr wohl deutliche Unterschiede in der Reizfilterung- und wahrnehmung, Regulation von Fokus und Emotion sowie der Motivationsherstellung und -steuerung hat.

    Man hätte bemerken können, dass die Zuschreibungen “Aufmerksamkeitsdefizit” “Hyperaktivität” “Störung” von Betroffenen als von außen an sie gerichtete (ja gesellschaftliche bewertete) Zuschreibungen sind, die jedoch beinahe nichts mit dem eigenen Erleben zu tun haben. Und schon gar nichts mit den eigenen Problemen. Anders zu sein – (anders nicht krank!) ist jedoch das Erleben von Menschen mit AD(H)S. Das Verständnis dieses Phänomens ist in Deutschland rudimentär, die Versorgungslage ist entsprechend schlecht. Entsprechend sind auch die unterschiedlich vorhandenen, die mehr oder weniger guten Diagnosestellungen und Hifsangeobte zu sehen.

    AD(H)S betrifft nicht nur Kinder!! Was bringt also eine Statistik über Kinder? Viele werden im Erwachsenen Alter damit konfrontiert. Warum? Weil ihre Besonderheit des Wahrnehmungs- und Reaktionsstils nicht bekannt ist / nicht anerkannt wird, weil sie nichts davon wußten und entsprechend versucht haben irgendwie damit klar zu kommen und letzlich in Erschöfung, Depression oder den Versuch der “Selbsttherapie” durch Drogen gelandet sind.

    Niemand hat ihnen gesagt, dass es Menschen gibt, die innere Gedanken(Reize) und Äußere Eindrücke (Reize) nicht so gut automatisch filtern können wie eine große Mehrheit der Menschen, niemand hat ihnen gesagt, dass sie dadurch oft Dinge nicht so schnell wahrnehmen, verarbeiten, sich merken können, dass sie sich schnell überfordert wie in einem lauten grellen oder stumpfen wirren Nebel fühlen und kaum einen klaren Gedanken fassen können, dass sie viel schneller erschöpfen.

    Niemand hat ihnen gesagt, dass es Menschen gibt, deren inneres Belohnungssystem anders funktioniert und dass deshalb die langweiligen (!) Tätigkeiten von vorneherein als unlösbar erscheinen, nicht machbar, wie ein riesiger Berg, niemand hat ihnen erklärt, wie sie dieses überwinden, überlisten können. Das Gelächter, wie Sie es in Ihrem Artikel über die angelblich nicht existen Schwierigkeiten mit langweilgen, nicht belohnungsintensiven Tätigkeiten klarzukommen hallt im Inneren der meisten Menschen mit AD(H)S nach – bis hin zu traumatischem Erleben. “Es kann nicht sein, dass ich damit Schwierigkeiten habe, also bin ich wohl zu blöd” ist dann die Konsequenz. Danke fürs Reproduzieren dieser schmerzhaften (Selbst)Vorwürfe.

    Es hat diesen Menschen vom Typ AD(H)S auch niemand erklärt, dass es soetwas wie einen Hyperfokus gibt, das ist der Moment in dem alle inneren Kanäle auf Konzentration stehen, viel stärker, viel ausgeprägter als es bei den meisten Menschen der Fall ist, dann aufeinmal geht alles wie von Zauberhand, man kann lange Texte schreiben oder die Wohnung aufräumen, was man vorher noch nicht mal in Gedanken konnte. Nur leider kann man diesen Hyperfokus nicht steuern und auf das richten, was man gerade tun muss, selbst wenn man es tun will. Wer das nicht weiss, der fängt an sich aufzugeben und an der (angeblich nicht existenten) inneren Barriere und der schwankenden Leistungsfähigkeit (bei vollem Interesse an der Handlung) zu verzweifeln.

    Und was ist das Ergebnis dieser Unkenntnis und Ignoranz bis hin zur Leugnung von dem Phänomen AD(H)S?
    Burnout, Depression, Sucht, Chaos im persönlichen Leben, Unmöglichkeit der Haushaltsführung, Rückzug von Freund*innen, Rückzug aus der Gesellschaft.
    Und da sind wir wieder bei der Gesellschaft. Jetzt kommt sie und “hilft” oder will zumindest helfen oder aber ignoriert und stigmatisiert.

    Wieviele dieser Fälle könnten vermieden werden, wenn nicht über, sondern von und mit AD(H)Sler*innen gesprochen würden.

    Dann würde man viel über die oben angesprochenen gesellschaftlichen Normen erfahren, denn ja, diese sind ein Problem, aber diese sind nicht Schuld an der real existierenden neurologischen Andersartigkeit von Menschen.

    Ein Umgang mit der Neurodiversität von Gesellschaften ist gefragt, nicht die kleinteilig und unlogsiche, statistisch unhaltbaren Berechnungen um endlich AD(H)S zu widerlegen.
    Die ICDs sind zu kritisieren! Aber doch nicht so!!
    Anders – aber nicht krank – aber anders, verdammt noch mal!!

    Leugnen Sie auch die Existenz von Autismus/Asperger? Auch diese verstehen sich als anders, aber nicht krank. Und sie fordern eine Entpsychiatrisierung, aber keine Leugnung von Ihrem Phänomen.

    Es ist spannender den Menschen zuzuhören, statt über sie zu schreiben.
    Ich bin entsetzt mit wieviel sachlicher Unkenntnis und wissenschaftlich widerlegbaren Behauptungen hier gearbeitet wurde.
    Und ich bin traurig, dass mal wieder ÜBER mich geschrieben wurde, statt mich oder andere zu befragen.
    Ich bin im übrigen 50 und wurde erst vor 3 Jahren “diagnostiziert”. (Und wann ich eingeschult wurde ist wohl in dem Alter nun wirklich nicht mehr relevant.) Es war die größte Erleichterung meines Lebens! Und nein, ich komme nicht aus Würzburg.

    Endlich darf ich lernen wie ich bin und “funktioniere”,lernen was mir hilft und was nicht.Ich darf akzeptieren, dass ich bestimmte Dinge vielleicht nie lernen kann, dass es aber Lösungen und Hilfestellungen (aus der Gesellschaft!) dafür gibt.
    Ich darf meiner Wahrnehmung trauen und muss mir nicht mehr anhören, dass es meine Probleme, die ich habe nicht gibt.
    Ich bin ADSler*in und ich kann Ihnen sagen, es sind nicht (nur) die gesellschaftlichen Normen gegen die ich kämpfe, es sind die Erschöpfungszustände, die Reizüberflutung, es sind die niemals enden wollenden Gedankenkreiseln, es ist die völlige Desorganisation und das fehlende reale Zeitgefühl trotz wunderbarer Techniken diese irgendwie zu managen. Und achja, ich lebe gar nicht in der Norm, ich wollte es nie, aber auch außerhalb von Normen, scheitere ich bisweilen massiv an mir selbst und bin froh über Kenntnis und entsprechender Unterstützung meines inneren Phänomens mit dem völlig unzutreffenden Namen AD(H)S.

    Wie schön wäre es nicht auch noch von außen durch Leugnung bekämpft und stigmatisiert zu werden.

  35. @Trizz: Fakten

    Bleiben Sie doch bitte sachlich, wenn Sie hier mitdiskutieren.

    Erstens habe ich in den letzten 20 Jahren mit vielen Menschen mit einer ADHS-Diagnose gesprochen; ich schreibe hier aber aus der Perspektive eines Theoretikers (siehe Blogbeschreibung).

    Zweitens überlappen die Gruppen der Menschen mit und ohne ADHS-Diagnose in allen mir bekannten neurobiologischen Studien zu rund 90% (d.h. zwischen 90% dieser Menschen gibt es keine statistischen Unterschiede).

    Nur die extremen Ausnahmen führen dazu, dass die Tests statistisch signifikant werden. Das heißt, die neurobiologischen Unterschiede sind eher die Ausnahme als die Regel. Sobald die Wissenschaft etwas Anderes ergibt, ändere ich meine Meinung natürlich. So ein Befund ist nach all den Gen- und Hirntests, die wir bereits haben, aber äußerst unwahrscheinlich.

    Drittens würden solche Unterschiede, selbst wenn es sie gäbe, nicht erklären, warum Kinder mit nur minimalem Altersunterschied so unterschiedlich bei den ADHS-Diagnosen abschneiden.

    Und so weiter.

    P.S. Ich habe auch nirgendwo geleugnet, dass es eine ADHS-Problematik gibt.

  36. Für den ersten Satz entschuldige ich mich, der war emotional und nicht fair. Aber der Rest meines Beitrages ist ja wohl sehr sachlich.
    Ihr P.S. verstehe ich aber nicht, sämtliche Ihrer Artikel arbeiten an einer Demontage der ADS-Symptomatik. Und leider auch oft in einem aggressiven Stil.

  37. @Trizz: Was sind “Störungen”?

    Ich zweifle nirgends an der Realität der Symptome; Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten, in allen Bereichen. Ich mache aber deutlich, dass Expertinnen und Experten hier eine Grenze ziehen (Experten, von denen übrigens nachweislich sehr viele Gelder von der Pharmaindustrie empfangen).

    Ich führe auch keinen Feldzug, sondern zeige wissenschaftlich belegbare und belegte Sachverhalte auf, die im vorherrschenden neurobiologischen Paradigma allerdings aus dem Rahmen fallen. Es würde der Diskussion helfen, sich auf diese Sachverhalte wenigstens zu beziehen und sie nicht einfach emotional abzulehnen. Und, wie gesagt, sobald es überzeugendere Belege gibt, revidiere ich meine Meinung; dogmatisch sind die Vertreter der Neuro-Ideologie.

    Über Sie kann (und will) ich keine Aussage treffen; aber es ist doch beachtlich, wenn in manchen Schuljahren bestimmte Kinder mit fast doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit eine ADHS-Diagnose und -Medikation bekommen, schlicht weil sie etwas früher eingeschult wurden. Das sind Effekte, die viel größer sind als alles, was die Genetik oder Neurobiologie bisher gefunden hat. Diesen Sachverhalt sollte man einmal anerkennen.

    Warum sollte es also bei dem Phänomen AD(H)S nicht möglich sein, dass es sich um eine Variante bei der Bereitstellung und Funktionsweise der Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und Serotonin handelt?

    Niemand sagt hier, dass es prinzipiell unmöglich ist; ich sage, es ist bisher unmöglich, nicht nur für ADHS, sondern für alle der mehreren hundert psychischen Störungen etwa des DSM-5, nachdem man schon seit über 170 Jahren danach sucht. Darum mache ich den Vorschlag, einmal wieder anders über das Thema nachzudenken.

    Dabei geht es im Wesentlichen darum, den Menschen nicht auf seine Gene/sein Gehirn zu reduzieren, sondern als ein Lebewesen im permanenten Austausch mit seiner Umgebung zu sehen.

    Was ist daran nun falsch?!

  38. P.S. Sie haben hier zu verschiedenen ADHS-Artikeln kommentiert. Meine letzte Reaktion setzt sich auch mit Ihrem Kommentar an anderer Stelle auseinander.

    Zur Neurobiologie habe ich bereits erklärt, dass es hier um i.d.R. kleine Unterschiede auf dem Gruppenniveau geht (zudem oft in sehr kleinen Gruppen). Solche Funde sind prinzipiell nicht repräsentativ und gelten nachgewiesenermaßen auch nicht für jeden Einzelfall.

    Wenn Sie mir wiederholt einen “aggressiven Ton” unterstellen, dann möchte ich Sie bitten, das am Text zu belegen. Meiner Erfahrung nach ist es so, dass manche Menschen Sachverhalte, die ihnen nicht gefallen, emotional abwerten. Das ist aber nicht die Art der Diskussion, die wir hier führen wollen.

  39. @Trizz 15.09. 22:35

    „Endlich darf ich lernen wie ich bin und “funktioniere”,lernen was mir hilft und was nicht.Ich darf akzeptieren, dass ich bestimmte Dinge vielleicht nie lernen kann, dass es aber Lösungen und Hilfestellungen (aus der Gesellschaft!) dafür gibt.
    Ich darf meiner Wahrnehmung trauen und muss mir nicht mehr anhören, dass es meine Probleme, die ich habe nicht gibt.“

    Genau das ist wirklich wichtig. Aber das stimmt doch auch, wenn die Ursachen von Störungen nicht rein biologisch sind. Das biopsychosoziale Modell finde ich sehr attraktiv: Sowohl die Ursachen sind hier vielschichtig, als auch die Behandlungsmöglichkeiten sind ebenso vielschichtig.

    Und die Diagnosen sind dennoch unsicher mit recht fließenden Grenzen. Viele ADHS-Symptome sind einzeln auch generell unter Nichtgestörten unterwegs, erst wenn hier in speziellen Fragebögen Summenschwellen überschritten werden, werden Diagnosen gestellt. Und dann machen auch die Medikamente Sinn, als biologische Behandlungsmaßnahme. Und biologische Maßnahmen verlieren ihren Sinn nicht, wenn die Krankheitsursache doch eher psychologisch oder soziologisch ist.

    Und auch wenn hier biologische Eigenarten maßgeblich sind, können soziologische Maßnahmen dennoch auch helfen. Einfach mal weniger Pflichtschulstoff, dafür mehr Sport und was den Schülern gerade gefällt machen.

    Und auch wäre es z.B. eine gute Idee, den Unterricht generell praktischer und weniger langweilig zu machen, nicht nur für ADHS-Kandidaten. Die meisten Schüler quälen sich mehr oder weniger mit der Schule herum.

    Was wiederum nicht heißt, dass die ADHS-Kinder keine Extratherapie gebrauchen können. Ich meine aber, dass sich die Schule generell mehr um die Schüler drehen sollte, weniger um die reine Ausbildungsleistung im Sinne einer späteren beruflichen Verwendung der Kinder. Auch wenn hier vor allem die Eltern wohl den meisten Druck machen.

  40. @all: aktuelles Beispiel: Instagram/soziale Medien

    Heute liest man in den Medien, dass der Gebrauch von sozialen Medien wie Instagram die psychische Gesundheit vieler Jugendlicher gefährdet (v.a. Depressionen, Angst- und Essstörungen).

    Wenn man nun sagt, dass das Gehirnstörungen sind, dann sind also die Jugendlichen allein das Problem, das gelöst werden muss; man individualisiert das Problem, was natürlich perfekt zur neoliberalen Ideologie passt.

    Jetzt kann man Jugendliche mit und ohne Diagnose vergleichen und wird in den Genen und Gehirnen irgendwelche (i.d.R. sehr kleinen) Unterschiede zwischen den Gruppen finden. Dann sagen die Neuro-Ideologen: Seht her, es sind Gehirnstörungen!

    Man redet dann aber die ganze Zeit am Wissen über die wesentlichen ursächlichen Faktoren vorbei, dass nämlich der übertriebene Vergleich mit unrealistischen Fotos viele Menschen unglücklich macht. Ist das wirklich eine psychische Störung des Individuums? Oder liegt hier vielmehr eine Mensch-Umwelt-Störung vor, wie ich es vertrete?

    P.S. Übrigens heißt es in dem Bericht, dass Facebook seit Jahren über entsprechendes Wissen verfügte, es jedoch unter Verschluss hielt. Warum nur?!

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