Kognitive Archäologie und die Naturgeschichte des Glaubens

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Vor ein paar Wochen veröffentlichte ich auf meinem englischen Scilog “Biology of Religion Ergebnisse einer weiteren Zwillingsstudie, die erneut genetische Grundlagen von Religiosität untermauerte. Dies hatten auch schon frühere Zwillingsstudien geleistet, aber die neue Arbeit von Kenneth S. Kendler, Hermine H. Maes and Todd Vance konnte am Vergleich mono- und dizygoter Zwillinge sogar Korrelationen einzelner, kognitiver Aspekte von Religiosität aufzeigen.

Hinweis: Zur Bedeutung von Zwillingsstudien in der modernen Genetik gibt es einen neuen und sehr guten Beitrag von Sebastian Reusch auf Enkapsis.

Solchermaßen eingestimmt zog ich gestern erst verblüfft, dann begeistert, das EPOC-Heft 3/2011 mit dem schönen Titel “Kognitive Archäologie – Als das Denken erwachte aus dem Briefkasten.

(Das Titelbild zeigt übrigens einen grübelnden Homo neanderthalensis lt. einer Rekonstruktion des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Bildrechte Juraj Liptak)

Karin Schlott führt in die interdisziplinäre Evolutionsforschung zwischen Archäologie, Anthropologie, Genetik und Neurologie ein. Einen grandiosen Überblick über den Forschungsstand der “kognitiven Archäologie” (S. 18 – 24) und eine vorbildliche Erläuterung zur “Genetik des Denkens” (S. 25 – 26) stellt die Koordinatorin des Forschungsprojektes “The Role of Culture in Early Expansions of Humans” an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Miriam Noël Haidle, vor. Die inhaltlich präzisen und hervorragend bebilderten Texte werden dabei durch eine Doppel-Seite-Diagramm (S. 22/23) von Monica Lubig ergänzt, das in Gestaltung & Inhalt so gelungen ist, dass ich es mir am liebsten als Poster an die Wand hängen würde. Neben der Auffächerung des Stammbusches des Menschen werden dabei 13 (bio-)kulturelle Entdeckungen dargestellt, die ich hier gerne entlang der Heidelberger Zählung auflisten möchte:

1. Erster Gebrauch von Steinwerkzeugen, belegt ab 2,6 Mio. Jahre vuZ

2. Innovation Faustkeil, belegt ab 1,5 Mio. Jahre vuZ

3. Gebrauch von Feuer, etwa ab 800.000 Jahre vuZ (sicher belegt ab etwa 450.000 Jahre vuZ)

4. Holzspeere, belegt ab 400.000 Jahre vuZ in Schöningen

5. Die Levalloistechnik, (massive, technische Innovation in der Steinbearbeitung), belegt ab 300.000 Jahre vuZ

6. Die Erfindung des Klebstoffes, (Pech und Birkenrinde, mit der u.a. steinerne Spitzen an Holzschäfte gefügt werden), belegt ab 200.000 Jahre vuZ

7. Dekor, Verzierungen, Schmuck, belegt ab etwa 100.000 Jahre vuZ, ebenso

8. Bestattungen, religiöse Traditionen, belegt etwa im gleichen Zeitraum

9. Bildende Kunst, Höhlengemälde & Figurinen, belegt ab etwa 40.000 Jahre vuZ

10. Musikinstrumente, belegt etwa im gleichen Zeitraum

11. Innovatives Handwerk, (Gravettien-Steinschläge, Feuersteinklingen, Nutzung von Geweihmaterial u.ä.) belegt ab etwa 30.000 Jahre vuZ

12. Kunstzeitalter, (Werkzeuge und Waffen werden mit Tier- oder Frauenfiguren verziert, Rohstoffe für Schmuck- und Kunstgegenstände über weite Strecken gehandelt, Höhlenbilder von Lascaux, Altamira etc.) ab etwa 18.000 Jahre vuZ

13. Speerschleuder, etwa zur gleichen Zeit

An diese Text-Bilder-Feste schließt Duilio Garofoli vom Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie der Universität Tübingen mit einem Beitrag zur Paläoneurologie – “Aus fossilen Schädeln lesen” (S. 27 – 29) – sehr gelungen (und wieder reich bebildert) an. Und um den Reigen auch mit einem Paukenschlag abzuschließen, präsentieren Nicholas Conard, der Entdecker der Venus vom Hohle Fels und der Ur- und Frühgeschichtler Michael Bolus reichhaltige sieben Seiten (S. 30 – 37, “Die Anfänge der Kultur”) zu Kunstwerken wie der Venus und dem Löwenmensch vom Hohle Fels. Und die Gelegenheit möchte ich nutzen, auf die Rezension zur “Venus aus dem Eis” von Nicholas Conard und Jürgen Wertheimer zu verweisen.

Aber was heißt hier eigentlich krönender Abschluss? Simone Heimann vom Historischen Museum der Pfalz schildert stimmungsvoll den Konflikt zwischen Heinrich V. und der Kirche (“Der letzte Salier”, S. 44 – 53) am Übergang ins zweite Jahrtausend nach Christus. Karl Reber und Samuel Verdan berichten über neue Funde zum frühen Griechenland und dessen Aufnahme des Buchstabenalphabetes (“Die Pioniere Griechenlands”, S. 64 – 69). William Underhill stellt – wiederrum eindrucksvoll bebildert – die neuen Funde und Debatten rund um Stonehenge vor (“Kultstätte oder Sanatorium?”, S. 70 – 75). Und Hakan Baykal berichtet von Grabungen zu jener Zeit und Region, in der die östliche Sahara erblühte und Anfänge der altägyptischen Kultur gebar (“Blühende Landschaften”, S. 82 – 87).

Also, diese grandiose Ausgabe hat mich gestern um einigen Schlaf und heute (für diesen Blogpost) um einen Kaffeekranz im Garten gebracht. Aber sie war und ist es wert! So, genau so, macht Wissenschaft Freude! 🙂

 

Terminhinweis:

Im Rahmen der jährlichen Ringvorlesung Evolution der Evolutionsbiologen der Universität Tübingen wird Michael Bolus am 19.04.2011 zum Thema “Mensch und Kultur: Meilensteine der kulturellen Evolution” sprechen.

Am 12.07.2011 berichte ich dort zu “Gehirne für Gott? – Die Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen“.

Beginn jeweils 18 Uhr ct, Hörsaal 21 des Kupferbau, Hölderlinstr. 5, 72074 Tübingen.

Die Ringvorlesung ist öffentlich und der Besuch kostenfrei.

Mit evolutionären Grüßen!

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

3 Kommentare

  1. kleine Anmerkung..

    In einer Studie von 2007 hat man herausgefunden, dass selbst monozygote Zwillinge nicht gentisch Identisch sind..
    (falls es mit dem Direktlink nicht funktioniert)
    Phenotypically Concordant and Discordant Monozygotic Twins Display Different DNA Copy-Number-Variation Profiles
    http://www.sciencedirect.com/…b76dc57f1c8d8f8253

    [url=http://www.sciencedirect.com/science?_ob=ArticleURL&_udi=B8JDD-4RV1K19-1&_user=10&_coverDate=02%2F14%2F2008&_rdoc=2&_fmt=summary&_orig=browse&_srch=doc-info%28%23toc%2343612%239999%23999999999%2399999%23FLA%23display%23Articles%29&_cdi=43612&_sort=d&_docanchor=&_ct=4&_acct=C000050221&_version=1&_urlVersion=0&_userid=10&md5=f41f6d16d9e86eb76dc57f1c8d8f8253]Phenotypically Concordant and Discordant Monozygotic Twins Display Different DNA Copy-Number-Variation Profiles [/Url]
    oder bei wissenschaft.de
    http://www.wissenschaft.de/…aft/news/288498.html

    Nur als Info 😉

  2. @Mathias

    Yo, Zustimmung. Ich hatte das bei Francis Collins gelesen, der auch Durschnittswerte für die (zahlenmäßig sehr geringfügige, aber bestehende) Varianz von Allelen selbst bei monozygoten Zwillingen vorschlug. Am Grundargument ändert sich dadurch freilich nichts. Trotzdem Danke für die Info, genau dafür sind die Scilogs da! 🙂

  3. Natur und Kultur

    In der Genesis geht es nicht um eine “Schöpfung” von Natur, sondern – eigentlich selbstverständlich – um die Schöpfung von Kultur bzw. Zivilisation. Götter sind künstliche Archetypen im kollektiv Unbewussten zur Anpassung eines Kulturvolkes an eine noch fehlerhafte Makroökonomie.

    Mit einem hatte Karl Marx – auch wenn er als Ökonom keine Leuchte war – Recht: Die Religion (Rückbindung auf den Archetyp Jahwe) ist das “Opium des Volkes”. Allerdings ist der “Unglaube” gegenüber dieser schlimmsten aller Drogen wirkungslos, denn Götter hören erst auf zu existieren, wenn sie erklärt – und damit wegerklärt – sind:

    http://www.deweles.de/willkommen.html

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