Opioid-Krise: Gefahr für Deutschland?

In den USA gab es schon über 500.000 Drogentote. Was sind die Ursachen? Und droht die Welle nach Europa überzuschwappen?

Seit den 1990ern werden mehr starke Schmerzmittel verschrieben. Die Medizin versprach den Patientinnen und Patienten ein schmerzfreies Leben. Doch die Risiken dieser Praktiken – und der weitreichenden Medikalisierung des psychischen Phänomens Schmerz – wurden lange ignoriert. Mehrere Parteien verdienten daran sehr gut, bis sich der Notstand nicht länger leugnen ließ.

Opioide (Opium-artige) wie Oxycodon oder Fentanyl sind viele Dutzende Male potenter als Heroin, das wiederum sehr viel stärker ist als das natürliche Opium (die Milch bestimmter Mohnsorten). Diese Wirkung wird seit Jahrtausenden in verschiedenen Kulturen verwendet – für medizinische ebenso wie für nicht-medizinische Zwecke. Durch Fortschritte der Pharmakologie wurden aber immer purere und damit immer stärkere Varianten entwickelt.

Da Opioide nicht nur Schmerzen dämpfen und Einschläfern, sondern in größeren Mengen auch die Muskulatur lähmen, kann eine Überdosierung tödlich enden: Man schläft dann ein und – erhält man kein Gegenmittel – erstickt im Schlaf. Mit den neuen Medikamenten geht das viel schneller als mit dem halbsynthetischen Heroin oder dem natürlichen Opium.

Vier Wellen

Inzwischen haben viele Dokumentationen und jetzt sogar eine Netflix-Serie die Opioid-Krise in den USA thematisiert. Gerade heute widmete sich auch der Tagesschau-Podcast 11km dem Thema. Hunderttausende Drogentote und der Kampf um Gerechtigkeit gegen die Pharma-Firmen bieten dafür geeigneten Stoff. Die Todeszahlen steigen trotzdem immer weiter. Wie kann das sein?

Ein Blick auf den zeitlichen Verlauf hilft. Toine Pieters, Professor für Pharmazie an der Universität Utrecht (Niederlande), hat sich ausführlich mit dem Problem beschäftigt. In einer neuen Studie unterscheidet er anhand der Konsumformen und Todeszahlen vier Wellen:

Die erste war ab 1998, durch die verstärkten Medikamentenverschreibungen der Ärztinnen und Ärzte; die zweite begann 2010, als immer mehr Konsumierende auf Heroin umstiegen; die dritte fing 2014 an, als mehr und mehr Menschen synthetische Opioide verwendeten, vor allem Fentanyl; und die vierte und bisher letzte Welle ab 2019 zeichnet sich durch die Vermischung mit anderen Substanzen (z.B. dem tierärztlichen Narkosemittel Xylazin) aus.


Die vier Wellen der Opioid-Krise nach Toine Pieters (Universität Utrecht). Datenquelle: US-Behörden (CDC).

Ursächliche Faktoren

So weit die Daten – die man übrigens auch nicht unbedingt für die objektive Wahrheit halten muss. So werden beispielsweise die Leichenbeschauer, die die Todesursachen feststellen, in vielen US-Staaten schlicht gewählt; das ist keine Garantie für fachliche Kompetenz. Beim Zusammenwirken verschiedener Faktoren ist es zudem schwierig, sich auf eine Todesursache festzulegen. Das kennen wir noch aus der Coronapandemie: Wann starben Menschen am, wann mit dem Virus?

Dennoch lässt sich das Drogenproblem in den USA nicht von der Hand weisen. Hier will ich auf einige ursächliche Faktoren hinweisen:

1. Die Sozialstruktur in den USA, dem “Land der unbegrenzten Möglichkeiten”, macht viele Menschen anfällig für Substanzkonsum, um ihre Probleme zu verdrängen. Erinnert sich noch jemand an die Crack-Kokain-Krise der 1970er/1980er? Danach kam Chrystal Meth beziehungsweise Methamphetamin. Und danach die Opioide.

2. Neu war, dass diesmal Ärztinnen und Ärzte stark zum steigenden Konsum beitrugen. Das liegt zum Teil auch an der Anreizstruktur: Was werden die medizinischen Fachleute tun, wenn sie an den Medikamentenverschreibungen kräftig mitverdienen?

(De)Regulierung

3. In den 1990ern wurden in den USA Einschränkungen bei der Reklame für Medikamente aufgehoben. Dadurch konnten die Pharma-Firmen Direktwerbung für die Konsumentinnen und Konsumenten schalten (sogenanntes direct to consumer advertising). Die Regulierungsbehörde FDA informiert: “FDA ensures that drug product advertising is truthful, balanced, and accurately communicated.” Dann ist ja alles gut.

Diese Werbung ist meiner Meinung nach aber sehr suggestiv: “Sind Sie manchmal ängstlich? Ein Antidepressivum könnte helfen. Fragen Sie Ihren Hausarzt.” “Haben Sie Konzentrationsprobleme? Vielleicht verbirgt sich dahinter ADHS. Dagegen gibt es Medikamente.” Oder eben: “Haben Sie Schmerzen? Das muss nicht sein. Ihr Arzt informiert Sie über die Möglichkeiten.” Das sind nur einfache Beispiele. Gut bezahlte Marketing-Experten haben bessere Ideen.

4. Dazu kamen Fehler bei der Regulierung. So waren die Firmen beispielsweise nicht dazu verpflichtet, Risiken und Nebenwirkungen nach der Zulassung ausführlich und neutral zu untersuchen. Seit den Gerichtsverfahren gegen die Tabakindustrie weiß man zudem, dass solche Studien teure Konsequenzen nach sich ziehen können: Kommt später heraus, dass man negative Daten zurückgehalten hat, kann der Schadensersatz höher ausfallen.

War on Drugs

5. Außerdem hat die Drogenpolitik in den USA viel zu lange auf Prohibition gesetzt und versagt. Als man die Schmerzmittel stärker regulierte – Übergang von der ersten zur zweiten Welle – dachte man schlicht nicht an die Abhängigen. Die mussten sich dann eben andere Opioide suchen (z.B. Heroin), deren Verwendung durch fehlende Qualitätskontrollen viel gefährlicher ist.

6. Zudem steht vielen Menschen keine ausreichende medizinische Versorgung zur Verfügung. Prävention mit psychotherapeutischer und sozialer Hilfe, wie sie in vielen europäischen Ländern angeboten wird, gibt es in den USA schlicht nicht oder kaum.

7. Auch durch das Verbot von Druck-Checking ist der Konsum viel riskanter. Gerade die neueren Opioide sind so potent, dass man viel schneller eine Überdosis bekommt. So sind die Menschen den Drogenlaboren ausgeliefert.

Abhängigkeit

Zwar wird nur eine Minderheit der Opioid-Konsumenten abhängig, doch sind das bei stark verbreiteter Verwendung der Mittel immer noch sehr viele Menschen. Wenn man sie schlicht ins Gefängnis steckt, erzeugt man unglaubliches Elend. (Für die teils privatisierten Anstalten in den USA ist das freilich ein lukratives Geschäft.) Abhängigkeit ist aber kein rein biologisches, sondern ein psychosoziales Phänomen.

8. Daher kann man auch das dominante biomedizinische Modell in der Psychiatrie als Ursache aufnehmen. Sucht wurde als Krankheit und insbesondere als Gehirnstörung definiert. Heute wissen wir, dass einflussreiche Forscherpersönlichkeiten (z.B. frühere Direktoren der Institute NIMH und NIDA) damit die Finanzierung für ihr Forschungsparadigma sichern wollten.

Die Rechnung wäre wenigstens dann aufgegangen, wenn man die seit Jahrzehnten versprochenen Medikamente gegen Abhängigkeit entwickelt hätte. Dafür floss immerhin Milliardenförderung. Doch die biologische Psychiatrie steht hier nach wie vor mit relativ leeren Händen da. Stattdessen verschrieben Psychiaterinnen und Psychiater häufig Substanzen mit einem hohen Abhängigkeitsrisiko.

Alternativen

Aus dem Gesagten sollte klar geworden sein, um was für ein komplexes Problem es sich handelt. Wenn es eine einfache Lösung gäbe, hätte man die natürlich längst finden können. So viel sollte klar sein: Mit Verboten löst man es nicht, sondern hat man die Lage in den 2010er-Jahren erst richtig verschärft. Also Therapie?

Selbst wenn man sich einen Platz in einer Entzugsanstalt leisten kann, was in den USA sicherlich nicht für alle Menschen gilt, nutzt das im Zweifelsfall wenig: Wenn nämlich die Menschen nach der Behandlung in eine Umgebung zurückkehren, die sich ohne Betäubungsmittel kaum aushalten lässt; oder eben in das Milieu, in dem der Substanzkonsum “normal” ist.

So wird in der Folge des Tagesschau-Podcasts auch das Beispiel einer Frau genannt, die schon als Dreizehnjährige Opioide aus dem Medikamentenschrank der Eltern nahm. Später kam sie dann an einen falschen Freund und landete sogar in der Prostitution, um den Substanzkonsum bezahlen zu können.

Der US-amerikanische Neuropsychopharmakologe und Drogenexperte Carl L. Hart von der Columbia-University in New York weist noch auf den üblichen Rassismus in der Drogenpolitik hin: Selbst wenn Weiße, Latinos und Schwarze mehr oder weniger dieselben Substanzen konsumieren, würden Polizei und Justiz das insbesondere bei ethnischen Minderheiten verfolgen. Dass jetzt viele Weiße Probleme mit den Opioiden haben, ist laut Hart der Grund dafür, dass jetzt man auf diese Krise anders reagiert: Nicht mehr mit noch mehr Repression, wie vorher bei Crack-Kokain und Crystal Meth/Methamphetamin, sondern mit Therapie.

Gesellschaft und Nachfrage

Das Grundproblem ist meiner Meinung nach aber nicht so sehr die Verfügbarkeit der Substanzen, sondern die Nachfrage danach. Und die ist auch bei uns in Europa vorhanden. So sind beispielsweise vier der zehn Städte mit dem größten Kokainkonsum in der so kleinen wie wohlhabenden Schweiz zu finden (nämlich Zürich, Genf, St. Gallen und Basel).

Manche konsumieren Stimulanzien, um besser in der Leistungsgesellschaft zu funktionieren; manche brauchen Schlaf- oder Betäubungsmittel zum Abschalten; wer in bestimmten Szenen “in” sein will, nimmt Psychedelika. Letztere haben immerhin ein geringeres Gefahrenpotenzial und machen kaum oder gar nicht abhängig, vor allem dann, wenn man bestimmte Vorsichtsmaßnahmen befolgt.

Leben wir inzwischen in einer Welt, die sich ohne psychoaktive Mittel nicht mehr ertragen lässt? In meinem neuen Buch über psychische Gesundheit und Substanzkonsum (gratis) habe ich versucht, das Phänomen jenseits der herkömmlichen Unterscheidungen von Genussmitteln, Medikamenten und Drogen zu verstehen.

So viel sollte feststehen: Substanzkonsum ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit. Die Drogenproduzenten im Ausland sind inzwischen so gut organisiert, dass Verbote kaum noch durchsetzbar sind. Das zeigt sich auch daran, dass sogar in Gefängnissen, wo man die Einfuhr von Waren und Gütern besonders leicht kontrollieren könnte, Substanzkonsum verbreitet ist.

Das muss übrigens nicht schlimm sein: So zeigen Forschungsergebnisse beispielsweise, dass der Konsum von Cannabis unter Gefangenen zu einer entspannteren und damit sichereren Atmosphäre beitragen kann.

Umdenken

Angesichts der Faktenlage ist mir unerklärlich, warum in bestimmten politischen und sozialen Lagern die Diskussion immer noch so moralisch geführt wird. Für manche ist Drogenkonsum schlicht böse – während sie vielleicht selbst mit Bierkrug in der Hand für Wählerstimmen werben.

Das Gefahrenpotenzial bestimmter psychoaktiver Substanzen ist zwar nicht zu leugnen, wird in den Medien – und sogar in wissenschaftlichen Studien – aber oft übertrieben. Zudem liegt es nicht nur in der Substanz selbst, sondern auch an dem Konsumweg (z.B. essen, schniefen, rauchen oder spritzen) und der psychosozialen Umgebung. Es sollte klar sein, dass das Phänomen nicht verschwinden wird; und dass der “Krieg gegen die Drogen” gescheitert ist und überall Existenzen kostet.

Es ist Zeit für ein Umdenken: Substanzkonsum ist oft instrumentell, also rational; Menschen wollen ihre Lebensziele verwirklichen, glücklich sein oder schlicht ihre Umstände ertragen. Wo ist das Verbrechen? Wenn es um schädlichen Konsum geht, sollte man weniger riskante Alternativen aufzeigen und verfügbar machen; wo kontrollierter Konsum weder in die Abhängigkeit noch zu Schaden führt, sollte man ihn tolerieren.

Der Trend scheint aber in eine andere Richtung zu gehen: Forscherinnen und Forscher überbieten sich mit der Warnung vor Risiken. Dadurch kommt jetzt sogar – der ohnehin abnehmende – Alkoholkonsum wieder unter Druck. Das ist weltfremd. Denn was für Mittel sollen die Menschen sonst nehmen, um die entspannenden und euphorischen Effekte zu erzielen? Wären die besser?

Bis wir in einer Gesellschaft mit zumindest annähernd gerechten Chancen für die Teilhabe und mit sozialem Zusammenhalt leben, werden wir uns mit dem Substanzkonsum der Menschen abfinden müssen. Dass die Opioid-Krise zwar von Ärzten, Apothekern und Pharmafirmen befördert wurde, doch erst durch die falsche Regulierung massiv an Gefährlichkeit zunahm, sollte uns auch in Europa eine Warnung sein!

Weiterführendes: Hartgesottene können sich die vierstündige Dokumentation “The Crime of the Century” (2021) anschauen, in der die beiden Wellen der Opioid-Epidemie ausführlich erklärt werden. Auf Netflix erschien kürzlich die Dokumentation “Painkiller” (2023). Auf Deutsch gibt es z.B. die Arte-Dokumentation “Fentanyl: Tödlichste Drogenwelle in der Geschichte der USA” (2022). Für die theoretischen Hintergründe gibt’s mein Buch als Gratis-Download.

Das könnte Sie auch interessieren:

Jetzt als Gratis-Download verfügbar: Mental Health and Enhancement: Substance Use and Its Social Implications

Folgen Sie Stephan Schleim auf Twitter. Titelgrafik: Ajale auf Pixabay.

Avatar-Foto

Die Diskussionen hier sind frei und werden grundsätzlich nicht moderiert. Gehen Sie respektvoll miteinander um, orientieren Sie sich am Thema der Blogbeiträge und vermeiden Sie Wiederholungen oder Monologe. Bei Zuwiderhandlung können Kommentare gekürzt, gelöscht und/oder die Diskussion gesperrt werden. Nähere Details finden Sie in "Über das Blog". Stephan Schleim ist studierter Philosoph und promovierter Kognitionswissenschaftler. Seit 2009 ist er an der Universität Groningen in den Niederlanden tätig, zurzeit als Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie.

6 Kommentare

  1. Seit den 1990ern werden mehr starke Schmerzmittel vorgeschrieben

    Tatsächlich ‘vorgeschrieben’? Oder sollte das die psychologische Tiefe einer Verschreibung ausloten 😉

    btt: Schöner Überblick, zum passenden Verlinken vermerkt.

  2. @rolak: Danke für den Hinweis. Das war eine Kontamination durch mein Niederländisch: nl. voorschrift = Rezept.

    Ich habe es korrigiert.

    P.S. Nach dem deutschen “Rezept” ist es übrigens auch eine Vorschrift, allerdings an den Apotheker: nämlich zur Abgabe einer bestimmten Substanz an den Patienten.

  3. Ist es wirklich so, dass man mit Substanzen wie Oxycodon oder Fentanyl oder Sulfentanyl “schneller”, also bei vergleichbarer angestrebter Primärwirkung (Anästhesie oder Rausch) in die Atemdepression gerät?
    War nicht die “therapeutische Breite” ein Grund (neben neuer, profitabler Patente) zur Entwicklung synthetischer Opioide?
    Ich hatte mal Tilidin, in der retard-Formulierung mit Naloxon, wg. nicht zeitig diagnostiziertem Bandscheibenvorfall.
    Absetzen ging von jetzt auf gleich.

  4. @wereatheist: Potenz

    Mit der Potenz bezeichnet man in der Pharmakologie die Wirkung pro Menge.

    Jetzt ohne Gewähr, doch meines Wissens konsumiert man Opium im Grammbereich; Oxycodon wird meist in 10 oder 20 Milligramm gegeben. Bei Fentanyl konsumiert man Mengen in Mikrogramm.

    Laut dieser Abbildung passt die für die meisten Menschen tödliche Menge auf eine Bleistiftspitze.

  5. @wereatheist: Abhängigkeit

    Wie im Text stand, wird nur eine Minderheit abhängig.

    Gerade mit so einer Time Release-Variante ist das Risiko dafür geringer. Die Wahrscheinlichkeit steigt: je direkter der Konsumweg ist (z.B. rauchen, schniefen, spritzen); je stärker ein “high” ist (das vielleicht einige Minuten bis wenige Stunden anhält; danach fühlt man sich schlecht und will man mehr); je länger der Konsum; plus biopsychosoziale Vorbelastung und Faktoren.

  6. @all: Retard & Patente

    Ein erzürnter Twitter-Nutzer, der den Unterschied zwischen einer Verletzung und ihrem Schmerz nicht verstanden hat, machte noch einen Hinweis auf Retard-Präparate (bei denen der Wirkstoff nach und nach abgegeben wird).

    Das ist meine Rede: Die Art des Konsums bestimmt das Abhängigkeitsrisiko mit. Die Retard-Präparate dürften wohl das geringste Risiko haben. Aber auch dann ist es so, dass es nach längerem Gebrauch eventuell zu einer Toleranzbildung kommt und man für den schmerzstillenden Effekt die Dosis erhöhen muss. Dann hat man schon eine halbe Abhängigkeitsproblematik.

    Nebenbei haben aber die Retard-Varianten und später die mit Wachsüberzug* das Problem verschärft: Für diese “Innovationen” bekam die Pharmafirma nämlich jeweils den Patentschutz verlängert – und damit ihre Preissetzungsmacht.

    * Damit man sie nicht oder schwerer verpulvern und schniefen kann.

Schreibe einen Kommentar