Arbeitskreis Evolution: Glückwünsche zum 80. Geburtstag Prof. Dr. Ulrich Eibachs

Erinnerungen an akademische Sternstunden während meiner Doktorarbeit in der Psychiatrie am Universitätsklinikum Bonn

Es war nur ein zehnminütiger Waldspaziergang: von meiner Wohnung am Haager Weg auf dem Venusberg durch den Kottenforst zu meinem Büro auf dem Klinikgelände in der Sigmund-Freud-Straße. Wenn es eilte, dauerte es nur fünf Minuten mit dem Fahrrad; mit mehr Zeit, konnte ich mir einen Schlenker am Wildgehege vorbei erlauben und die Tiere beobachten.

Auf dem Klinikgelände, neben der Epileptologie, in der auch mein früherer Co-Blogger hier bei den SciLogs arbeitete, Christian Hoppe, wurden nicht nur Patientinnen und Patienten behandelt. In dem auffälligen roten Gebäude gegenüber standen die millionenteuren Kernspintomographen, mit denen wir Gehirnprozesse untersuchten und – ich Versuchspersonen beim Lösen moralischer Probleme beobachtete.

Das “Life&Brain”-Gebäude, 2007, gegenüber der Epileptologie und Klinik für Neurologie und Psychiatrie. Das Symbol für die beiden Hirnhemisphären bezeichneten wir manchmal auch als “Kaffeebohne”.

Auf einer Tagung zum Thema Hirnforschung und Menschenbild in der Region im Sommer 2007 lernte ich dann Ulrich Eibach kennen, Professor für Systematische Theologie – und gleichzeitig Seelsorger an unserer Klinik. Diese Verbindung von Theorie und Praxis hat mich von Anfang an beeindruckt:

Eibach beschäftigte sich nicht nur akademisch mit aktuellen medizinethischen Problemen, Sterben und Tod (2009 schrieb er hier einen Gastbeitrag zur Optimierung des Gehirns). Tagtäglich stand er an der Klinik Menschen in Not zur Seite. Und das waren, in der Neurologie und Psychiatrie, besonders krasse Grenzerfahrungen. Sterben kann man auch in der Onkologie (an Krebs) oder jeder anderen medizinischen Abteilung. Aber in Neurologie und Psychiatrie sind unser Wesenskern und unsere Menschenwürde wohl am stärksten betroffen.

Arbeitskreis Evolution

Nach einer harten Diskussion zum Thema Materialismus und Menschenbild, in der er mich mit seiner glänzenden philosophischen Bildung nicht nur ins Schwitzen brachte, sondern mit seiner Ausdauer auch an die Grenze meiner Konzentration (ich war 27, er 64), lud er mich zum Arbeitskreis Evolution ein, wo wir uns in etwa monatlich trafen. Mit von der Partie waren Wolfgang Alt, Professor für Theoretische Biologie, Volker Herzog, Professor für Molekularbiologie und früherer Direktor des Bonner Instituts für Zellbiologie, Gunter Schütz, Professor für Theoretische Physik sowie Thomas Wienker, Professor für Genetische Epidemiologie.

Mit vielen traf ich mich danach manchmal individuell. Beim Epidemiologen Wienker ist mir noch in Erinnerung, für wie medizinisch bedenklich er unseren Brauch des Händeschüttelns fand, insbesondere in der Erkältungszeit. Die Coronapandemie hat ihm 13 Jahre später endlich recht gegeben!

Um etwas Bleibendes zu schaffen, starteten wir ein gemeinsames Buchprojekt. Das 2010 erschienene Werk “Lebensentstehung und künstliches Leben: Naturwissenschaftliche, philosophische und theologische Aspekte der Zellevolution” hat meines Wissens bis heute nichts an Aktualität eingebüßt.

In dem Buch “Lebensentstehung und künstliches Leben” (2010) hielten wir unsere Diskussionsergebnisse fest. Den größten Teil trug Volker Herzog bei, indem er die biologische Forschung zur Lebensentstehung zusammenfasse.

Abschied

Mich führte die akademische Laufbahn 2009 in die Niederlande. Die Professoren waren oder gingen in den Ruhestand. In besonderer Erinnerung ist mir der 70. Geburtstag Volker Herzogs am Bonner Institut für Zellbiologie geblieben. (2011 verfasste er hier einen Gastbeitrag über Epigenetik.)

Wolfgang Alt, Volker Herzog und Stephan Schleim (v.l.n.r.) am 21. Februar 2011 im Bonner Institut für Zellbiologie. Sah ich damals gestresst aus?

Eine der menschlich gesehen beeindruckendsten Erfahrung meines Lebens war allerdings Ulrich Eibachs Verabschiedung als Seelsorger und Pfarrer: In der evangelischen Kirchengemeinde auf dem Venusberg legten Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und auf verschiedenen Stufen der Hierarchie Zeugnisse davon ab, wie er über Jahrzehnte hinweg Menschen in Krisen beigestanden hatte – in für uns unvorstellbarer Zahl bei manchen bis in den Tod.

Bei all der (oft leider berechtigten) Kritik an der Institution Kirche sollte man nicht vergessen, was Menschen wie Eibach und viele andere in Betreuung, Pflege und Sorge bedeuten. Tag für Tag. Das schreibe ich als Agnostiker.

Am heutigen Sonntag wird Ulrich Eibach 80 Jahre alt. Auch wenn sich unsere Wege nach meinem Wegzug in die Niederlande trennten – wegen der Distanz und meinem Arbeitsstress auf dem Weg zu einer festen Stelle an der Universität –, denke ich immer wieder an diese akademischen Sternstunden zurück: Wie sich ein paar kluge Köpfe zum freien Gedankenaustausch trafen, ohne Zeit und Mühe auf das Erhalten von Impact-Punkten oder Einwerben von Drittmitteln zu verschwenden.

Fern der Hoffnungen, Erfolge und Enttäuschungen, die man während seiner Doktorarbeit so oft erlebt (Ist Wissenschaftler*in vielleicht doch kein so toller Beruf?), waren die Treffen des Arbeitskreises Evolution für mich mehr als nur eine willkommene Abwechslung. Sie waren auch die Verkörperung akademischer Traditionen, wie es sie seit den sogenannten Bologna-Reformen im Hamsterrad des tagtäglichen Wissenschaftsbetriebs kaum noch gibt (Worum geht es in der Wissenschaft?). Es war eine große Ehre, daran teilhaben zu dürfen. Dafür sage ich heute: Danke, Ulrich Eibach!

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23 Kommentare

  1. Ich schließe mich unbekannter- und respektvoller Weise an.
    Mir würde gefallen, wenn neben Autonomie auch die Autarkie/Autarkheit einbezogen würde.
    Das wäre ein interdisziplinäres Feld zur Ökonomie.
    Ich meine,sie könnte etwas Hilfe aus ihrem Kreis gebrauchen.
    Was verbindet Geld zwischen Philosophie,Psychartrie,Soziologie,Politologie,Religion,Ökonomie, Anthropologie und den Naturwissenschaften?

  2. Während ich heute mal wieder auf meinem Sofa liege,nachdem das Bett mich vertrieben hat, und scilogs besuche,schaue ich,was ich normalerweise nicht tue,RTL.
    Es läuft Grease und Dirty Dancing.
    Damit ist im für mich im Grunde alles ausgedrückt.
    Wo haben wir den Weg verloren?

  3. Man muss zum ‘Standardmodell’ der Evolutionstheorie natütrlich kritisch anmerken, dass die Biologie seit jeher das physikalische Kausalitätsmodell übernimmt und somit die eigentliche Dynamik von Leben epistemisch nie verstanden hat.
    Die Physik denkt kausal logisch. Ein Ereignis a zeitigt eine Wirkung b, diese eine weitere c, dann d, e und f.
    Man kann dies auch in chemischen Reaktionen beobachten: a reagiert mit b, bringt c hervor, daraus entsteht e und bei f endet diese Reaktion.

    Ganz anders beim Leben. Dort endet eine Reaktion nicht bei f, sondern f schließt sich mit a zusammen und bildet einen Reaktionskreislauf. Man kann also sagen a zeitigt a, eigentlich Tautologie in Reinform.

    Die Physik kennt nur Kausalitäten von a nach f, daher ist sie ungeeignet, Reaktionskreisläufe des Lebens zu beschreiben, die nicht aufhören zu existieren. Die Physik kann nur endliche Reaktionen beschreiben oder auch einzelne Elemente a bis f. Dies gilt letztlich auch für sehr komplexe Zusammenhänge.

    Beim Leben handelt es sich in Wirklichkeit gar nicht um Reaktionsketten, die sich wiederholen. Es handelt sich um Kreisläufe K. Und nur als solche sind sie zu verstehen. Daher evolvieren auch nicht Elemente a bis f, auch wenn sie mutieren. Es evolviert ausschließlich K, und es ist K, das mutiert. Denn K ist etwas anderes als die Summe seiner Teile. Nur wenn K mutiert, ändern sich seine Elemente. Das nennt man übrigens Epigenetik. Denn K ist ansonsten durchaus in der Lage, Mutanten an a bis f zu reparieren.
    Somit sind nicht a bis f Triebfeder der Evolution, sondern ausschlöießlich K selbst. K evolviert durch Anpassung, ich beschreibe das als adaptiven Random Walk innerhalb eines Möglichkeitsraumes. Ähnlich beschreibt dies die evolutonäre Graphentheoprie. Dirk Boucsein hat hierzu einen lesensewerten Artikel verfasst (https://philosophies.de/index.php/2022/07/08/evolutionstheorien-in-einer-strukturenrealistischen-betrachtung/).
    Und dies gilt natürlich auch entsprechend für die Molekulargenetik.

  4. @Stegemann 17.10. 12:16

    „Es handelt sich um Kreisläufe K. Und nur als solche sind sie zu verstehen. Daher evolvieren auch nicht Elemente a bis f, auch wenn sie mutieren.“

    Sehr gut zusammengefasst. Und wenn was schief läuft, dann kommt nach a b c d f nicht wieder a, sondern g und h, das sind dann Krankheiten, und im Extremfall dann i, was den Tod bedeutet. Von daher kommt man in der Betrachtung von Krankheiten dann eher auf die physikalische Betrachtungsweise, und beim Erkunden von Gesundheit kommt man nur mit Biologie weiter.

    Wenn eine Schusswunde zum Tod führt, ist das physikalisch sehr gut zu beschreiben, will man diese überleben, dann kommt es auf die Selbstheilungskräfte an, und wie man diese unterstützen kann.

  5. @Stegemann: Kausalität in den Lebenswissenschaften

    Ich weiß nicht, ob Kausalität in der Physik noch so ein maßgebliches Konzept ist; oder in der Biologie. Für mein nächstes Buch (Wissenschaft und Willensfreiheit, 2023) habe ich mir die Literatur noch einmal angeschaut – und es scheint immer noch keinen eindeutigen Konsens darüber zu geben, was Kausalität eigentlich ist, weder in Philosophie noch in den Wissenschaften.

    Man kann aber wohl allgemein sagen, dass sich in der wissenschaftlichen Forschung statistische Wenn-dann-Zusammenhänge etabliert haben, etwa der Form: Starke Raucher haben ein 20% höheres Risiko für bestimmte Krebsarten (verglichen mit Nichtrauchern). Mehr Möglichkeiten bietet der Interventionismus im Experiment. Das beschreibt funktionale Abhängigkeiten. Kontrolliert man genügend Variablen und bleibt dann ein Effekt, interpretiert man diesen mitunter kausal (also in einem ontologischen/realistischen Sinne).

    Dass die Physik keine Methoden hätte, komplexe dynamische Systeme zu beschreiben, bezweifle ich aber sehr. Im Endeffekt sind es sowieso mathematische Methoden. Der Unterschied zwischen Physik und Biologie bzw. Lebenswissenschaften sehe ich eher im Forschungsgegenstand und damit den Konzepten (belebte vs. unbelebte Natur).

  6. @Schleim:
    Mir ging es nicht um Kausalität, sondern um das physikalische Paradigma in den Lebenswissenschaften. Natürlich kann die Physik dynamische Systeme beschreiben, aber keine Lebendigen. Denn ihr fehlen die Kategorien dazu. Leben besteht aus toten Bausteinen und macht daraus Subjektivität im Sinne von Subjekt seines Handelns. Die Physik kennt keine lebendigen Agenten, daher kann sie auch nichts zum freien Willen beitragen.

  7. (Schön, dass der Thread wieder offen ist… .- ))

    @Wolfgang Stegemann // 7.10.2022, 12:16 Uhr

    »Man muss zum ‘Standardmodell’ der Evolutionstheorie natütrlich kritisch anmerken, dass die Biologie , dass die Biologie seit jeher das physikalische Kausalitätsmodell übernimmt und somit die eigentliche Dynamik von Leben epistemisch nie verstanden hat. «

    Geht’s auch eine Nummer kleiner? ;- )

    Für die Physik und Chemie konstatieren Sie also (lineare) Kausalketten, eine fängt z.B. bei (a) an und endet bei (f).

    Für die Biologie bzw. lebende Systeme konstatieren Sie hingegen Reaktionskreisläufe. Offenbar machen Sie einen Unterschied zwischen biologischen und rein physikalischen Kreisläufen, wobei mir bei letzterem ganz spontan der Kreislauf des Wassers in den Sinn kommt (Planeten als lebende Gebilde—z. B. Gaia, Mutter Erde?)

    »Beim Leben handelt es sich in Wirklichkeit gar nicht um Reaktionsketten, die sich wiederholen. Es handelt sich um Kreisläufe K. «

    Haben Sie ein Beispiel für einen solchen Kreislauf parat?

    Wenn ich mir z.B. den Citrat-Zyklus anschaue, so scheint mir das Zirkuläre an dieser Reaktionskette lediglich in der Art der zeichnerischen Darstellung zu liegen. Weil am Ende der Reaktionskette das gleiche Molekül steht wie zu Anfang, bietet sich eine kreisförmige Darstellung einfach an. Aber ob es sich beim strukturgleichen Anfangs- und Endmolekül um dasselbe Molekül handelt, ist doch sehr fraglich. Und wenn das nicht der Fall ist, kann man dann wirklich von einem echten Reaktions-Kreislauf sprechen?

  8. Lebensentstehung und künstliches Leben. Dieser Titel ist erfolgsversprechend.
    Kurze Frage: Ist das nur eine philosophisch – biologisch – chemische Anthologie oder gibt es da handfeste Versuche, die uns einen Schritt an die Entstehung des Lebens weiterbringen. Überlege gerade, ob ich mir das Buch zu Weihnachten wünsche.

  9. @Balanus:
    Ich denke, Sie verstehen den Begriff ‘epistemisch’. Ich spreche also z.B. von Methodologie, etc., aber nicht vom ‘Citrat-Zyklus’. Meinen Sie das ‘mit einer Nummer kleiner’? 🙂
    Mit Kreislauf war gemeint, dass Leben sich immer wieder selbst reproduziert, was ‘tote’ Materie nun mal nicht tut.
    Dass ein Planet ein lebendes Gebilde sein soll, ist mir allerdings nicht bekannt.
    Sie sind Physikalist, ich nicht. Wir sollten also nicht über solche Themen reden, denn da finden wir kein Ende.
    Denn, wenn ich sage, Leben funktioniert nur als Struktur, System, Emergenz, oder wie Sie es sonst nennen wollen, dann sagen Sie, nein, es funktioniert als Komplexität von einzelnen Bausteinen, die nichts Neues im Sinne von Emergenz etc. hervorbringen, sie lassen sich also bis hinunter auf die atomare (oder Quanten-?) Ebene kausal hinunterbrechen.
    Von daher haben Sie notwendigerweise eben auch zur Evolution eine entsprechende Haltung, eben eine probabilistische, ganz im Gegensatz zu mir.

  10. @Stegemann

    »Meinen Sie das [den Citratzyklus] ‘mit einer Nummer kleiner’? «

    Sehr witzig :- )

    Aber Danke für die Erläuterungen! Und auch für die Warnung, dass wir erst gar nicht anzufangen brauchen, über bestimmte Themen zu diskutieren, weil sie zu keinem Ende führen werden. Wenn ich z. B. sage, lebende Systeme sind auf der Erde bottom-up entstanden, dann sagen sie (vermutlich), nein, sie sind top-down entstanden, quasi als Produkt des Systems Erde, des Planeten- bzw. Sonnensystems, oder was auch immer…, am Ende gar des Universums?

    Damit kann ich leben, ist halt nur eine Frage der Perspektive. Hauptsache, die physikalischen Gesetzmäßigkeiten werden dabei nicht außer Kraft gesetzt.

    Was die Biologie nun „epistemisch“ nicht verstanden haben soll, ist mir nach wie vor ziemlich unklar. Ich vermute mal, Sie meinen, dass in der Biologie unter falschen Voraussetzungen oder Grundannahmen geforscht wird. Weil es Ihrer Meinung nach auf die Physik gar nicht ankommt, wenn es um lebende Systeme und/oder deren Evolution geht.

    Und ja, in der Tat spielen aus meiner Sicht in der Evolution Zufallsereignisse eine zentrale Rolle.

    Hier ein relativ aktuelles Beispiel (Phinson et al. 2022, Science 377):

    Allem Anschein nach hat eine Punktmutation in einem bestimmten Gen, die den Austausch einer Aminosäure in einem Protein zur Folge hat (Kausalzusammenhang!), entscheidend zu dem Unterschied in der Hirnentwicklung zwischen Neandertalern und dem modernen Menschen beigetragen.

    Also, wenn das kein Zufall war, was war es dann?

    Noch eine kurze Anmerkung zu diesem hier:

    » Mit Kreislauf war gemeint, dass Leben sich immer wieder selbst reproduziert, was ‘tote’ Materie nun mal nicht tut. «

    Als Physikalist würde ich ja eher sagen, dass ‚Leben‘ sich fortlaufend selbst am Leben erhält. Vielleicht war das ja gemeint mit „sich immer wieder selbst reproduziert“—weil immer wieder aufs Neue die lebensnotwendigen Bausteine produziert werden. Auf jeden Fall kann von einem Kreislauf überhaupt keine Rede sein, weder wenn es um die (lineare) Weitergabe von „Leben“ geht, noch wenn es um die Prozesse der Selbsterhaltung geht.

    Soweit ich das überblicke sind „Kreisläufe“ stets gedankliche Konstrukte und keine realen Vorgänge in der Natur, weder in der lebenden noch in der nichtlebenden.

  11. @Balanus:

    “Wenn ich z. B. sage, lebende Systeme sind auf der Erde bottom-up entstanden, dann sagen sie (vermutlich), nein, sie sind top-down entstanden, quasi als Produkt des Systems Erde, des Planeten- bzw. Sonnensystems, oder was auch immer…, am Ende gar des Universums?”

    Wir können Leben – und nur darum geht es hier, also nicht um Planeten – natürlich atomistisch beschreiben. Das Problem ist nur, es ist zu komplex und wir würden es, auch wenn wir das könnten, nicht verstehen.
    Würden Sie denn nicht auch sagen, dass Leben ein Strukturmerkmal ist, schließlich steht auf keinem einzigen (Bio-) Molekül das Wort BIO.
    Wenn Leben aber nur aus der Struktur erklärbar ist (damit meine ich nicht, dass man die einzelnen Moleküle etc. pp. nicht zu kennen bräuchte – ganz im Gegenteil), dann muss man doch die Struktur erkunden (die Einzelteile setze ich jetzt mal als bekannt voraus bzw. müssen noch weiter erforscht werden).
    Forschungsgegenstand einer Biologie sollte also die Struktur sein, die Bausteine untersucht ja die Physik, Chemie, Molekularbiologie etc.pp.
    Dass die Biologie dies nicht (konsequent) tut, halte ich für einen epistemischen Mangel.
    Top-down etc. hat nichts mit der Evolution zu tun.
    Und natürlich spielt der Zufall eine wesentliche Rolle, aber nicht der endogene. Die zelleigenen Reparaturmechanismen sind dazu da, genetische Änderungen zu verhindern, gelingt dies nicht, wird der Organismus krank. Nimmt man an, dass solche genetischen Mutationen Triebfeder der Evolution seien, widerspricht man dem Reparaturmechanismus.
    Für mich kommt der Zufall von außen ins Spiel, indem der Organismus Phänotypen bildet, deren Erfolg per Rückmeldung bestätigt wird oder nicht. Auf diese Art ‘tastet’ sich der Organismus durch die Umwelt. Ich bezeichne das als adaptiven Random Walk durch jeweilige Möglichkeitsräume.
    Die evolutionäre Graphentheorie sieht das ähnlich.
    Agent ist also die Struktur und nicht das Element.

  12. Ergänzung:
    Hängen Sie sich nicht an dem Begriff Kreislauf auf, er sollte der Unterscheidung zwischen Leben und Nicht-Leben dienen, ist also ein abstrakter Begriff.

  13. @Stegemann // Bio
    Ich würde nicht sagen, dass „Leben“ ein „Strukturmerkmal“ ist. Weil „Leben“ im Grunde nur eine Bezeichnung ist für bestimmte physikochemische Entitäten, die sich von ihrer jeweiligen Umgebung abgrenzen und sich unter ständiger Energieaufnahme selbst erhalten, was ihre innere Struktur, Organisation und Prozesse betrifft.

    Solche Entitäten bezeichnen wir gemeinhin als „lebend“. Weshalb die Wissenschaft, die sich mit solchen Entitäten beschäftigt, die Biologie ist, und die Entitäten selbst auch als „lebende Systeme“ bezeichnet werden. Die Wissenschaftsdisziplin, die sich mit den physikalischen Eigenschaften dieser Entitäten beschäftigt, nennen wir Biophysik. Gleiches gilt für die Chemie, die dann eben Biochemie heißt. Und die Moleküle, die diese Entitäten konstituieren, heißen folglich Biomoleküle.

    Nur wenn ich das Pferd von hinten aufzäumen würde, stünde der Begriff „Leben“ am Anfang aller Überlegungen, dann würde ich spontan danach fragen, was „lebende“ von nicht lebenden Gegenständen fundamental unterscheidet (wobei schon die begriffliche Verbindung von „Gegenstand“ und „lebend“ irgendwie als unpassend empfunden wird). Und nicht zu vergessen, wir selbst sind ja auch lebende Individuen ;- ).

    Insofern ist es natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass die Unterscheidung von lebenden Organismen und nicht lebenden Gegenständen deutlich älter ist als die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Dingen. Auch von daher ist es verständlich, wenn „Leben“ als etwas Gegebenes, Fundamentales, Einzigartiges angesehen wird, eben als das unmittelbar ins Auge springende Phänomen, das es zu erforschen bzw. zu erklären gilt.

  14. @Stegemann

    Nachtrag zum „epistemischen Mangel“ in der Biologie:

    Das sehe ich natürlich anders. In den Biowissenschaften geht es zu über 90% um dynamische Prozesse, um Wechselwirkungen, um die strukturelle (Selbst-)Organisation, kurzum um alles, was der dauerhaften Erhaltung lebender Systeme dient. Die Zeitschriften und Lehrbücher zur Zellbiologie (die Zelle als kleinste lebende Einheit) sind voll davon und füllen etliche Regalmeter, und fast täglich kommt Neues hinzu.

  15. Die einzige Möglichkeit, in einen wirklichen Dialog zu treten – falls dieser überhaupt möglich ist – wäre, sich auf die Position des anderen einzulassen, um zu versuchen, sie zu verstehen.
    Ansonsten hat eine weitere Diskussion wohl keinen Sinn.

  16. @Stegemann / Evolutionsmechanismen

    » Und natürlich spielt der Zufall [in der Evolution] eine wesentliche Rolle, aber nicht der endogene. «

    Also wirklich, da berichte ich eigens über brandaktuelle Forschungsergebnisse, die es ohne den „endogenen Zufall“, wie Sie es nennen, gar nicht gäbe, und Sie schreiben daraufhin immer noch munter von DNA-Reparaturmechanismen, die angeblich dafür sorgen, dass Zufallsmutationen nicht als eine der „Triebfedern“ der Evolution in Frage kommen.

    Sie tun ja grad so, als gäbe es keine Molekularbiologie, keinen genetischen Stammbaum, keine genetischen Unterschiede zwischen Eltern und Kindern. So, als besäßen Individuen einer Population die gleiche genetische Ausstattung (womit dann auch die Rede vom Genpool hinfällig wäre).

    » Für mich kommt der Zufall von außen ins Spiel, indem der Organismus Phänotypen bildet, deren Erfolg per Rückmeldung bestätigt wird oder nicht. «

    Da nun gehe ich mit, was Sie da beschreiben, erinnert evolutionsbiologisch an die „genetische Drift“. Hier regiert vor allem der Zufall. Daneben gibt es aber auch noch die natürliche Selektion, ein ebenfalls zuvörderst probabilistischer Vorgang, der aber im Ergebnis dafür sorgt, dass die Lebensformen lebens- und fortpflanzungsfähig bleiben („Erfolg per Rückmeldung“, wie Sie es nennen—es sei denn, Sie beziehen die „Rückmeldung“ allein auf die Funktionstüchtigkeit des Phänotyps selbst, ohne Fortpflanzung). Beides zusammen kann, in Verbindung mit der genetischen Variation (= endogener Zufall), auf lange Sicht zur Veränderung der Art führen.

    Sofern das mit dem „adaptiven Random Walk durch jeweilige Möglichkeitsräume“ gemeint sein sollte, dann d’accord. Und ja, letzten Endes kommt es auch aus meiner Sicht auf den Phänotyp an, er „entscheidet“ darüber, welche genetischen Variationen sich im Genpool verbreiten und durchsetzen.

  17. @Balanus:
    Um überhaupt verständlich argumentieren zu können, muss man Komplexität reduzieren. Natürlich kommt der Zufall in allen möglichen Formen zustande. Z.B. halte ich die Borwein Integrale für ein Beispiel, wie immer dieselben Ergebnisse einer Reihe plötzlich abbrechen, zunächst ohne ersichtlichen Grund. Ich bin überzeugt davon, dass solche ähnlichen Prozesse eine Rolle spielen, denn schließlich ist die Natur keine Maschine.
    Aber mir geht es bei meiner Argumentation nicht um solche ‘Zufälle’, sondern um das prinzipielle Verständnis von Evolution. Und da klammere ich diese Aspekte, die Sie angesprochen haben zunächst aus (natürlich spielt Fortpflanzung eine wesentliche Rolle).
    Für mich ist nicht das Gen der evolutionäre Agent, sondern der Organismus.

  18. @Stegemann

    Danke für den Link!

    Ich hatte schon nachgeschlagen, was mit dem Begriff ‚Evolutionsprinzip‘ gemeint sein könnte.

    Gefunden habe ich das hier:

    „Das Evolutionsprinzip ist kein biologisches Prinzip, sondern ein mathematisches Prinzip und es basiert auf einem sehr einfachen Zusammenhang: nämlich aus den drei Faktoren Reproduktion, Mutation und Selektion.“

    (Karl Olsberg, „Schöpfung außer Kontrolle“)

    In der deutschen Übersetzung des Quanta-Artikels von Jordana Cepelewicz (2018) kommt der Begriff nicht vor, aber ich denke ich weiß, um was es geht, wenn von den Prinzipien der natürlichen Selektion gesprochen wird: Evolution wird dort primär verstanden als ein Optimierungsprozess.

    Das entspricht natürlich nicht meiner Vorstellung von der natürlichen (biologischen) Evolution.

    Zwar kommt es im Laufe des Evolutionsgeschehens zu bestimmte Angepasstheiten an die jeweilige Umwelt, aber von einem optimalen Ergebnis kann dabei überhaupt keine Rede sein.

    Heutzutage soll ja fast überall die Evolution am Werk sein, wobei es aber meist nur eine zeitliche Entwicklung geht, gerne auch verbunden mit Fortschritt. Lustigerweise entspricht das sogar der ursprünglichen, eigentlichen und wörtlichen Bedeutung des Begriffs Evolution.

    Insofern trifft der biologische Begriff Evolution leider nicht die tatsächlichen Abläufe bei der globalen Ausbreitung der Lebensformen bzw. der Entstehung und dem Wandel der Arten.

    Im Ergebnis haben wir es also mit zwei fundamental verschiedenen Evolutionsbegriffen zu tun, wobei der Unterschied nicht nur den Gegenstand der Evolution betrifft (Organismen vs. Kulturgüter), sondern, und darauf kommt es an, auch die grundlegenden Mechanismen der evolutionären Veränderungen (Natur) bzw. Weiterentwicklungen (Kultur).

    Womit wir bei der Frage angekommen wären, um welche Prinzipien für welche Art von Evolution es hier gehen soll.

    Antwort: Natürlich um die biologische Evolution, denn nur dort kann sinnvoll von Genen und Organismen gesprochen werden.

    Schwierig finde ich im Zusammenhang mit dem Evolutionsgeschehen die Rollenbeschreibung der Organismen als „evolutionäre Agenten“. Das impliziert—nach meinem Verständnis—eine aktive Funktion, die den Organismen so nicht zukommen kann. Aber vielleicht interpretiere ich in den Begriff auch zu viel hinein…

  19. Das Problem ist, dass wir nicht nur zwei unterschiedliche epistemische Prinzipien verfolgen, sondern auch einen völlig unterschiedlichen Blick (Erkenntnisinteresse) auf die Biologie haben. Hier eine gemeinsame Diskussionsebene zu finden, dürfte schwierig sein.
    Ich müsste z.B. erklären, dass es mir nicht um (biologische) Evolution im Detail geht, sondern um das Prinzip, wie Leben sich entwickelt. Ihr Blickwinkel dürfte eher gerade im Detail liegen, etc.pp.

  20. @Stegemann

    Blick auf die Biologie: Können wir uns denn wenigstens auf gewisse empirische Bio-Basics verständigen?

    Zugegeben, wenn es um die (biologische) Evolution geht, gibt es zu manchen Fragen noch Spielraum, aber da geht es um Details, die uns nicht zu interessieren brauchen.

    Im Gegensatz dazu gibt es beim grundlegenden Verständnis, wie Evolution funktioniert und auch wie lebende Systeme funktionieren, kaum noch Spielraum.

    Ihren Beiträgen in der Diskussion zu Gehirn und Geist (Leib-Seele) entnehme ich, dass Ihnen empirische Erkenntnisse keineswegs gleichgültig sind. In Bezug auf das Verhalten und die Eigenschaften von Organismen, seien es nun Bakterien, Pilze, Pflanzen oder Tiere, da bin ich mir nicht so sicher, ob Sie bei der Suche nach dem Prinzip, „wie Leben sich entwickelt“, die Empirie immer voll Blick haben.

    Ich bin der Auffassung, dass es nur eine (!) Realität gibt. Ferner, dass es sowohl unterschiedliche Wahrnehmungen dieser Realität, als auch unterschiedliche Sichtweisen darauf gibt.

    Das heißt, wenn Sie—rein hypothetisch—am Ende das Prinzip, wie Leben sich entwickelt, meinen verstanden zu haben und es der interessierten Öffentlichkeit vorstellen wollen, dann muss es zu dem passen, was über die Lebensprozesse und Evolutionsmechanismen bereits bekannt ist. Es sei denn, Sie könnten zeigen, dass die Biologie in einigen zentralen Punkten diversen Irrtümern erlegen ist.

    Und schlussendlich: Mein biologisches Erkenntnisinteresse ist breiter angelegt als Sie denken (und es vielleicht in meinen Kommentaren zum Ausdruck kommt). Sonst würde ich hier doch gar nicht über Fragen zur Evolution diskutieren. Was in den grundlegenden Lehrbüchern steht, ist mir hinreichend bekannt, soweit es um Funktionen und Mechanismen geht, aber mathematische Modelle, wie sie z. B. in der theoretischen Biologie bzw. Biomathematik entwickelt werden, sind nicht so mein Ding. Da muss ich also passen.

    Beste Grüße

  21. Mit allem einverstanden.
    Natürlich muss sich jedes Modell an der Realität bewähren. Allerdings ist das im Bereich ‘Leben’ nicht so einfach, weil dort die Komplexität einfach sehr hoch ist. Woher weiß man etwa, dass Punktmutationen Ursache und nicht Ergebnis von Veränderung sind. Wir brauchen das hier nicht weiter zu vertiefen. Sie wissen ja, wie unterdeterminiert Theorien sein können. Die von mir verlinkte evolutionäre Graphentheorie zeigt ja, dass es auch andere Sichtweisen auf die Evolution geben kann. Ich bewege mich da eher auf dieser hohen Abstraktionsebene, schließlich bin ich eher Philosoph als Biologe und zudem geht es mir nicht in erster Linie um Evolution, sondern um Leben im allgemeinen, Bewusstsein im besonderen und um den Placeboeffekt im ganz konkreten. Mich interessiert eigentlich nur, wie es möglich ist, dass der Kopf in der Lage ist, den Körper zu heilen. Da halte ich eben eine atomistische Erklärung für nicht möglich.
    In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Abend.

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