Schlecht vernetzt? Psychische Störungen im Gehirn

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Hirnforschung: Damals und heute

Die Neurowissenschaften haben ein großes übergeordnetes Ziel: Zu verstehen, wie unser Nervensystem funktioniert. Die zentralste Rolle spielt dabei unser Gehirn: Schon seit Jahrhunderten sind Menschen fasziniert von dem Organ, versuchen unser Denken und Handeln zu verstehen. Von besonderem Interesse ist dabei auch immer die Frage, was passiert, wenn Funktionen im Gehirn gestört sind bzw. welche gestörten Funktionen verschiedenen psychischen Störungen zugrunde liegen könnten.

Lokalisation nach der Lehre der Phrenologie
Die Phrenologie (Bildquelle)

Frühe Forschende versuchten, das Gehirn in einzelne Areale einzuteilen und diesen eine feste Funktion zuzuordnen. Bereits im frühen 19. Jahrhundert versuchte Franz Joseph Gall, der als Begründer der Neuropsychologie gilt, psychischen Fähigkeiten feste Lokalisationen zuzuordnen. Mit der „Phrenologie“, der sogenannten Schädellehre, vermaß er den Schädel von Menschen und versuchte so auf die individuelle Ausprägung der Fähigkeiten zu schließen. Heute wissen wir, dass dies so nicht möglich ist. Im späteren 19. Jahrhundert untersuchte Paul Broca das Gehirn eines verstorbenen Mannes, der Lebzeiten an einer Sprachstörung litt und nur den Laut „Tan“ von sich geben konnte. Er fand eine Läsion im linken Frontallappen, das auch heute noch als „Broca-Areal“ bekannt ist, welches eine zentrale Rolle in der Produktion von Sprache einnimmt. Damit begann eine Zeit der Lokalisation, in der vor allem Läsionsstudien eingesetzt wurden. Im 20. Jahrhundert erreichte auch die Neurowissenschaft die sogenannte „kognitive Revolution“. Inspiriert von Computern wurde das Gehirn vor allem unter der Sicht der Informationsverarbeitung betrachtet, psychische Funktionen wurden in ihre Komponenten und Schritte zerlegt. Aus den vorher lokalisierten Zentren wurden Module, die ihre Informationen zur weiteren Verarbeitung an andere Module weiterleiten. In den letzten Jahrzehnten erfuhr die Forschung nach der Verordnung psychischer Störungen mittels bildgebender Verfahren wie denen des funktionellen MRTs, welches Hirnaktivität in bestimmten Bereichen abbilden kann, ein neues Aufleben. So konnte z.B. gezeigt werden, dass Depressionen oder Angststörungen unter anderem eine veränderte Aktivierung der Amygdala, die eine Rolle in der Verarbeitung von Emotionen spielt, zugrunde liegt. Allerdings wird immer wieder der Vorwurf laut, dass diese Art von Forschung zu vereinfachend sei.

Ein MRT Gerät
Moderne Hirnforschung (Bildquelle)

Das Problem dieser Forschung liegt schon in der Konzeptualisierung der Studien: Die Annahme, dass es DIE Depression als zugrundliegende Krankheit gibt, deren Ursachen man einheitlich erforschen könnte, ist falsch. Psychische Störungen sind Gruppierungen von Symptomen, die von Fachpersonen aufgrund häufigen Auftretens und thematischen Zusammenhangs in Kategorien gesteckt wurden. „Die“ Depression ist keine Krankheit wie die Grippe, der klare Viren zugrunde liegen, eine depressive Episode ist eine künstliche Kategorie, die wir der Einfachheit halber so benannt haben. Deswegen gibt es auch nicht „das“ Hirnareal, welches für die Entstehung einer Depression ursächlich ist. So ist der zunehmende Trend in der Forschung nicht die Kategorien, sondern die Symptome, Dimensionen und dahinterliegenden Prozesse zu erforschen. Dafür werden statt den oben beschriebenen Zentren und modularen Modellen „konnektionistische“ Modelle untersucht.

Was sind neurokognitive „large-scale brain networks“?

Konnektionistische Modelle sehen das Gehirn als Zusammensetzung vieler innerer neuronaler Netzwerke. Ähnlich wie Nervenzellen in Netzen verschaltet sind, gehen die „Large-scale“ (größeren) Netzwerke davon aus, dass die Verarbeitung von Informationen über das gesamte Netz verteilt ist und die Knotenpunkte nur kleine Aufgaben übernehmen und Teilergebnisse vermitteln, sodass viele Bereiche gemeinsam an einer Aufgabe arbeiten und dazulernen können. Moderne Techniken der Neurowissenschaften machen es möglich, die Verbindungen innerhalb solcher neuronaler Netze zu untersuchen. Psychische Störungen werden somit nicht mehr länger als Störungen bestimmter Zentren („Amygdala“) gesehen, sondern als Syndrom gestörter Verbindungen in neuronalen Netzen. Wenn aus einem Knotenpunkt nicht genug Informationen zum nächsten gelangen, ist das System also nicht mehr länger ausbalanciert. Im menschlichen Gehirn sind uns mindestens fünf anatomisch abgrenzbare Netzwerke für verschiedene kognitive Funktionen bekannt:

  1. Netzwerk für räumliches Denken
  2. Netzwerk für Sprache
  3. Netzwerk für Gedächtnis und Emotionen
  4. Netzwerk zur Objekterkennung
  5. Netzwerk für Arbeitsgedächtnis und exekutive Funktionen

Wie neuronale Netze gemessen werden

Wie oben beschrieben können in Untersuchungen mit funktionellen MRTs oder ähnlichen Methoden die Aktivität des Gehirns verfolgt werden. Probandinnen und Probanden bekommen die Aufgabe, bestimmte kognitive Tests durchzuführen, während ihre Gehirnaktivität aufgezeichnet wird, sodass nachvollzogen werden kann, welche Bereiche für die getestete Fähigkeit von Relevanz sind. In einem Areal wird der Verlauf der Aktivierung aufgenommen und nach diesem Muster wird in anderen Arealen gesucht. Die Ko-Fluktuation verschiedener Areale über einen gemessenen Zeitraum bildet den funktionalen Zusammenhang dieser Hirnareale ab, es lässt sich daraus schließen, dass diese Areale Teil eines gemeinsamen funktionellen Netzwerks sind, die bei anstehenden Aufgaben an- und ausgeschaltet werden können. Mit Methoden wie denen der „Konnektomik“ können durch komplexe mathematische Berechnungen die Knotenpunkte, Verbindungen und Dynamiken der Netze besser verstanden werden.

Drei große Netzwerke

Es gibt drei große neuronale Netzwerke, die immer abgebildet werden können, unabhängig davon, welche Aufgabe Probandinnen und Probanden gerade bearbeiten. Diese Netzwerke sind stark miteinander gekoppelt. Durch ihre Stabilität und Robustheit in Untersuchungen eignen sie sich besonders gut, um Unterschiede zwischen Personen zu untersuchen, weswegen ihre Rolle in der Entstehung psychischer Störungen zunehmend untersucht wird.

fMRT Aufnahme des Default Mode Netzwerks
Das Default Mode Network (Bildquelle)
  • Das Default Mode Network (Ruhezustandsnetzwerk) ist während anspruchsvollen kognitiven Aufgaben deaktiviert. Wenn es aktiv ist, ist unsere Aufmerksamkeit nach innen gerichtet, wir beschäftigen uns mit uns selbst. (Hier mehr zum DMN)
  • Das Central Executive Network (Zentrales Exekutivnetzwerk) ist bei kognitiv anspruchsvollen Aufgaben aktiv. Es umfasst Prozesse wie das Arbeitsgedächtnis, Problemlösen oder die Entscheidungsfindung.
  • Das Salience Network (Salienznetzwerk) sucht nach relevanten Informationen und Reizen, wählt diese aus, filtert sie und integriert sie. Dazu zählt auch die Lenkung der äußeren Aufmerksamkeit auf relevante Reize und das Abschalten aufgaben-irrelevanter Prozesse. Vor allem durch die Inselrinde kann das Gehirn so z.B. von Nachdenken und innen gerichteter Aufmerksamkeit zu anfallenden Aufgaben in unserer Umwelt wechseln, indem das Salienznetzwerk diesen Aufgaben eine hohe Bedeutung zuweist.

Ein neuronales Netzwerkmodell psychischer Störungen

V. Menon veröffentlicht 2011 ein Modell zu einer netzwerktheoretischen Grundlage psychischer Störungen. Er sieht in Fehlfunktionen der drei beschriebenen neuronaler Netzwerke und deren Verbindungen die Möglichkeit für das Entstehen diverser psychopathologischer Symptome. Im Folgenden ist das Modell zusammengefasst erklärt.

Netzwerkmodell nach Menon (2011)
Vereinfachte Grafik nach Menon (2011). Bildquelle der Hirnnetzwerke.
  1. Einkommende Informationen und Reize werden falsch bewertet. Ihnen wird zu viel oder zu wenig Bedeutung zugewiesen. Zu viel Bedeutung für z.B. angstauslösende Stimuli = mögliche Voraussetzung für Angststörungen, zu wenig Bedeutung für z.B. soziale Kommunikation = mögliche Voraussetzung für Autismus.
  2. Die Kontrolle, die Zugang zu Prozessen der Aufmerksamkeit oder zu dem Arbeitsgedächtnis zulässt, ist verändert. Folge sind schlechtere kognitive Fähigkeiten und veränderte Denkprozesse und physiologische Reaktionen.
  3. Veränderungen des Ruhezustandsnetzwerks und daraus folgende Defizite im selbstbezogenen Denken lassen sich bei fast allen psychischen Störungen finden. Z.B. verbringen Depressive zu viel Zeit mit Grübeln oder bei Menschen mit sozialer Phobie ist die Selbstaufmerksamkeit erhöht, so dass sie ihr eigenes Verhalten ganz genau wahrnehmen und andauernd kritisch hinterfragen.
  4. Die Netzwerke sind falsch miteinander verbunden. Eine Fehlfunktion in einem System kann zu Störungen in allen anderen Netzwerken führen.

Psychische Störungen können diesem Modell nach dann entstehen, wenn die neuronalen Netzwerke falsch aktiviert/deaktiviert werden, wenn die Bedeutungszuweisung falsch vonstattengeht oder unvollständige Informationen weitergegeben werden. Das Modell erklärt so eine Vielzahl von Symptomen, die der Entstehung diverser psychischer Störungen beitragen können bzw. deren zugrunde liegende Prozesse teils erklären können.

Fazit

Die neurologischen Grundlagen psychischer Störungen sind schwer zu identifizieren, einerseits weil psychische Störungen nicht kategoriale Krankheiten sind, andererseits weil die Lokalisation neuronaler Zentren zu kurz greift und sich kognitive Prozesse realistischer in komplexen Hirnnetzwerken abbilden lassen. Es gibt ein Model, welches das Zusammenspiel drei grundlegender Netzwerke in Hinsicht von Störungen erklärt, es bedarf aber noch viel Forschung, bis wir unser Gehirn wirklich gut verstehen können.

Quellen

Bertolero, M., & Bassett, D. S. (2020, June 2). Konnektomik: Das Netzwerk des Geistes. Spektrum.de – Nachrichten aus Wissenschaft und Forschung. https://www.spektrum.de/magazin/konnektomik-netzwerke-im-gehirn/1734134

Goldenberg, G. (2016). Neuropsychologie: Grundlagen, Klinik, Rehabilitation. (5. Aufl.). Elsevier, Urban & Fischer Verlag.

Menon, V. (2011). Large-scale brain networks and psychopathology: A unifying triple network model. Trends in Cognitive Sciences15(10), 483-506. https://doi.org/10.1016/j.tics.2011.08.003

Mesulam, M. M. (1998). From sensation to cognition. Brain121(6), 1013–1052.

Schultz, N. (2015, October 12). Suche im Nervennetz. Das Gehirn – der Kosmos im Kopf. https://www.dasgehirn.info/grundlagen/netzwerke/suche-im-nervennetz

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Veröffentlicht von

Mein Name ist Lea Anthes und ich studiere Klinische Psychologie und Psychotherapie im Master an der Goethe-Universität in Frankfurt. Ich interessiere mich schon lange für Themen rund um das menschliche Gehirn und konnte mich während meines Bachelorstudiums der Psychologie sowohl umfangreich mit der kognitiven Neurowissenschaft auseinandersetzen als auch praktische Erfahrung im Bereich der klinischen Neuropsychologie sammeln. Gerne teile ich diese Begeisterung mit interessierten Leserinnen und Lesern.

7 Kommentare

  1. Mit unseren technologischen Mitteln fällt auch moderne Neurologie unter „Phrenologie 2.0“. Man braucht nun mal Augen, um zu sehen, und die sind noch in der Mache. Dennoch ist es interessant, wie viel man schon durch ein oberflächliches Ablecken des Gehirns herausfinden kann.

    Allerdings hat es Vorteile, nur den Wald zu sehen und nicht die Bäume, denn so vermeidet man es, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Ein System, das aus Chaos so was wie Ordnung schafft, arbeitet mit Vereinfachung, unzählige Zellen gruppieren sich um einen gemeinsamen Nenner wie um ein Schwerkraftzentrum, vernetzen sich, verstärken es, beziehen ihre Kraft und ihren Sinn daraus, doch alles drum herum ist verschwommen und im Fluss. Dazu muss es kein einzelnes, physisches Zentrum geben, wie die Sonne fürs Sonnensystem – es reicht, wenn sich Zellen auf das Gleiche spezialisieren. Also wie Neurologen aufs Gehirn, da ist das Schwerkraftzentrum nur eine Überlappung von Projektionen, Abbildern unzähliger Hirne, bei dem sich die gemeinsamen Nenner verstärken und die Unterschiede aufheben, so’ne Art kognitives Doppelspalt-Experiment. Schließlich sind wir alle nur Bündel von EM-Wellen, die durch die Zeit rasen.

    Wenn man sich in Details verliert, hilft es manchmal, einen Schritt zurückzutreten, und zu schauen, was die Leute auf den ersten Blick gesehen haben, die nur die Augen im Kopf und ihr eigenes Erleben hatten, um die Sache zu beobachten, ohne überhaupt zu wissen oder zu verstehen, was sie da sehen.

    Das Hirn ist ein Projektor, alles darin ist ein Dia. Alles, was es in die Welt hinaus strahlt, trägt einen Schattenriss seiner Funktionsweise und Anatomie in sich. So kommt die Dreiteilung des Hirns, die Sie ansprechen, schon in antiken Religionen vor – als die Dreieinigkeit der Götter aus Vater, Mutter, Kind, die Sie in Sumer, Ägypten, Griechenland finden, und die auch die Christen übernommen haben. Natürlich haben bei Jesus Dumuzi Persephone die Jahreszeiten dazwischen gequatscht, die Frage ist, ob das „Kind“ im Hirn nicht zufällig auch den Schlaf reguliert – oder von den Eltern pünktlich ins Bettchen geschickt wird? Ob sie die Rollen fest haben, oder sie herumreichen – immer zwei, die für einen die Eltern spielen, aber nicht immer die gleichen?

    Interessant für die Entwicklung von Angstsymptomatik ist H.P. Lovecraft – anscheinend hat er Zugriff auf eine tiefere Ebene der Informationsverarbeitung erlangt, eine, bei der die Information noch nicht vom Reality Check zurecht gelogen wurde, bei dem das, was das Hirn sieht, per Holzhammer dem untergeordnet wird, was die Augen sehen. Sie sehen an seiner persönlichen Lebensgeschichte, wie Familientragödien die imaginäre Familie aus griechischen Göttern, die er sich als Kind gebastelt hatte, zu einem Olymp der Dämonen verwandeln – dadurch, dass seinen Liebsten schlimme Dinge zustoßen, werden sie zu Ungeheuern, die ihm weh tun, dass sie selbst Opfer sind, spielt keine Rolle. Die Proportionen der Welt werden komplett verzerrt und verbogen, die Schatten von Menschen, die er Dämonen nennt, werden zu Giganten vergrößert, und verschmelzen mit der Flut der Immigranten, mit denen er genauso wenig kommunizieren kann, wie mit seinen Göttern, ihre Sprachen werden zu Dämonensprachen (Venikh Toych oder andere europäische Sprachen in Englisch zu transkribieren versuche, ohne sie zu verstehen, kommen Lovecraft-Laute heraus), Kirchen werden zum Kult des Cthulhu. Irgendwo unter dem Mäntelchen des Sichtbaren macht das R’lyeh in Ihrem Kopf etwas Vergleichbares, denn wenn wir es nicht wiedererkennen würden, würden wir nicht so fasziniert Lovecraft lesen.

    Eine andere Methode, ohne die nötige Technologie das Innere des Hirns zu studieren, ist, zu erkennen – Sie sind in einem drin. Die Neuronen machen nicht an der Schädeldecke halt, sie versuchen weiter, sich zu vernetzen: Rufen in die Welt hinaus, horchen nach solchen Rufen und bauen Brücken zu ihren Quellen: Genau das sehen Sie, wenn Sie schauen, wie sich das Hirn eines Säuglings vernetzt, nur mit Neuronen. Sie sehen also einerseits eine Bündelung, andererseits ein fraktales System, einzelne Hirne, die individuelle Fähigkeiten hochgezüchtet haben, übernehmen die Funktion von Neuronen in einem größeren Netzwerk, in dem sie ihre Fähigkeiten herunterfahren: In ihrer nächsten Umgebung handeln sie als intelligente, vielseitige Individuen, als Teil der Masse werden sie zu Idioten, die bloß kaum verarbeitete Impulse und Erregungszustände weiterreichen, denn für die Masse ist es wichtiger, gemeinsam und zielgerichtet zu agieren, als intelligent zu agieren. Die Macht der Masse liegt in sturer Dummheit – wenn Einstein einen Berg zu überzeugen versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, gewinnt der Berg die Debatte, ganz egal, wie toll Einsteins Argumente sind.

    Im Allgemeinen habe ich ein Problem mit dem Konzept einer psychischen Störung – wie kann etwas, was bei jedem Menschen aufs Neue spontan zusammengewürfelt wird, wenngleich nach einem groben Bauplan, gestört sein? Ein solch komplexes Netzwerk ist immer improvisiert, wickelt sich um Schwerpunkte und gemeinsame Nenner, wirkt, als würde man ein paar Nägel in eine Tischplatte hämmern, ein paar bunte Knäuel Wolle darum wickeln, jedes von einem anderen Team besoffener Schimpansen, die Würfel mitentscheiden lassen, zu welchem Nagel wir als Nächstes abbiegen, und jeder Knoten, der dabei in der Wolle entsteht, wird als neuer Nagel gewertet und wirft alle eventuellen Baupläne über den Haufen. Eine Störung kann nicht psychisch sein, denn die Psyche hat keinen Sollzustand, den sie sich nicht selber schafft. Sie kann nur funktional sein – der Patient leidet unter seinem Gehirn, oder die Umwelt.

    Manch ein Patient wird spontan geheilt, indem er der Umwelt klar macht, sie soll sich mal nicht so wichtig machen, oder sie ändert. Wenn wir uns mit anderen Hirnen vernetzen, zerren sie auch an unserem, unser Geist wird zur Marionette an anderen Fäden. Aber auch das Hirn besteht auf miteinander verbundenen Marionetten, und mehr als nicht miteinander reden oder einander zum Klappe halten zu mobben können sie nicht tun. Selbst wenn sie einander ghosten und komplett dissoziieren, sie nützen immer noch einen gemeinsamen Körper und das Einzige, was sie wirklich interessiert – einen gemeinsamen Magen. Wenn Sie einen Haufen Irre, jeder mit einer eigenen Geisteskrankheit, in die selbe Gummizelle sperren, verrecken sie oder lernen miteinander auszukommen – schön wird’s auf keinen Fall. Aber funktional.

    Was Sie bei Teams oft sehen, ist, dass nicht sie sich vernetzen, sondern ihre Hirnregionen – sie suchen sich geeignetere Partner und formen so jedes Mal ein neues Kollektiv-Hirn, wenn sie zusammenkommen. Die Asis, mit denen sie im selben Schädel eingekerkert sind, dürfen erst wieder mitspielen, wenn sich das Team auflöst und alle nach Hause gehen. Wenn Sie bei ihrer nächsten Geburtstagsparty beobachten, wie die Menschen interagieren, können Sie Schlüsse daraus ziehen, wie Module in Ihrem Hirn interagieren.

  2. Hirnbasierte Erklärungsmodelle und ihre Schwächen bis heute
    Ein wirklich interessanter Ansatz, psychische Störungen und eventuell auch psychisches Wohlbefinden mit dem Status und der Veränderung von neuronalen Netzwerken zu erklären. Aus medizinischer Sicht würde das bedeuten, dass das Einsetzen und das Überwinden von psychischen Störungen mit Veränderungen in den hier beschriebenen neuronalen Netzwerken einhergehen müsste und dass man als Psychiater Wege finden müsste in diese neuronalen Netzwerke gezielt einzugreifen.

    Meine Vermutung ist aber, dass die Beziehungen zwischen den Komponenten innerhalb dieser Netzwerke und zwischen den Netzwerken zu kompliziert und quasi zu vernetzt ist, als dass man auf einfache Weise eingreifen könnte. Es gibt aber heute immerhin Möglichkeiten der weiteren Erforschung dieser Netzwerke und auch des Einflusses von direkten Eingriffen von aussen. Nämlich über Patienten, die Hirnimplantate oder neuerdings Brain-Computer-Interfaces implantiert haben. Das dürften inzwischen ein paar tausend Patienten weltweit sein.

    Fazit: Die Tatsache, dass neuronale Netze wie das Exekutivnetzwerk, das Salienznetzwerk und das Ruhezustandsnetzwerk erst jetzt in den Fokus der Hirnforschung geraten, zeigt in meinen Augen, wie wenig wir das Gehirn auch heute noch verstehen. Es ist so ähnlich wie mit der Fusionsforschung, wo der Fusionsreaktor immer gerade 30 Jahre in der Zukunft liegt. Auch das vollständige Verständnis des Hirns liegt immer gerade 30 Jahre in der Zukunft.

    • Hallo Herr Holzherr,
      das dargestellte Modell ist ein Vorschlag eines Wissenschaftlers, das natürlich sehr vereinfacht ist. Sie haben Recht, vieles haben wir noch nicht verstanden denn auch die Erforschung neuronaler Netzwerke steht noch am Anfang.
      Das Gute an unserem Gehirn ist, dass wir nicht immer direkt auf die erforschten Strukturen eingreifen müssen, Interventionen müssen also nicht immer an reiner biologischen Masse ansetzen. Die Prozesse unseres Gehirn und die Änderungen der Netzwerke und der Funktionieren lässt sich durch Lernenprozesse, unser Verhalten, unsere Gedanken und unser Verständnis von uns Selbst und unserer Umwelt beeinflussen, all dies steht in enger Wechselwirkung. Hier setzten diverse psychotherapeutische Verfahren an. In dem Forschungsgebiet der Connectomics wird auch die Flexibilität der Netzwerke über die Zeit untersucht, interindividuelle Unterschiede in solchen Werten könnten vielleicht ein spannender Erklärungsansatz für die Wirksamkeit von Therapieverfahren sein. Am Ende ist es so wie immer: Sowohl die Neurowissenschaften als auch die psychopathologischen klinischen Wissenschaften, wie z.B. die Forschung an prozessbasierter Psychotherapie, bleiben spannend.

    • Holzherr, in ihrem Fazit steckt ein Fehler.

      Funktionelle Netzwerke (=zeitlich signifikant korrelierendes BOLD Signal in fMRI) geraten nicht “erst jetzt” in den Fokus. Die erste Studie dazu kam 1995 raus. Das DMN wurde 2001 entdeckt.

      Die Erforschung von Netzwerken ist also bereits 29 Jahre alt und damit fast so alt wie fMRI selbst.

      Bezüglich des von Ihnen angesprochenen Eingriffs “von außen” auf Netzwerke:
      Manche Netzwerke werden in der Forschung z.B. zur Behandlung der Depression bereits von außen angesprochen, nämlich via TMS. Damit lassen sich bestimmte Netzwerke an einem spezifischen Knotenpunkt in ihrer Aktivität erhöhen. Diese erhöhte Aktivität breitet sich dann im gesamten Netzwerk aus.

  3. Interessante Gedanken, insbesondere die Loslösung von den eingefahrenen Schubladen und hin zu einem Systemverständnis, dass mehrere Komponenten einbezieht.

    Aus meiner Sicht ist dies immer noch erst der Anfang vom Anfang. Unser ganzer Körper ist von Ausläufern eines körperumspannenden Nervennetzwerks durchzogen, die als Signalgeber dienen. Dann habe wir noch unser primäres neuronales Netzwerk im Darm, das seine eigenen Verarbeitungskapazitäten hat und zudem auch als Signalgeber dient.

    Selbst bei Betrachtung halb-komplexer mechanischer Systeme wird klar, das Kleinigkeiten, wie fehlender Schmierstoff, ein kleines Zahnrad das nicht optimal läuft, massive Effekte auf das Gesamtsystem haben können.

    Bei einem derart hochvernetzten System wie es unser Körper darstellt, ist es fast schon die Nadel im Heuhaufen. Denn eine Sache ist die Feststellung eines Ungleichgewichts des Systems, die andere ist die Ursache, der oder die Auslöser. Wobei sich Systeme gegenseitig aufschaukeln können.

    Schön das die Gedanken in eine Richtung gehen, die ich in diesem Bezug als sinnvoll empfinde.

  4. Garnicht/garnix vernetzt, wo längst durch wirkliche Wahrhaftigkeit geistig-heilendes Selbst- und Massenbewusstsein wirken könnte/sollte.
    👋😇🙃👎

  5. @Hauptartikel

    Interne Vorgänge und soziale Situation sind auch wieder vernetzt. Vermehrtes Grübeln ist auch einfach die Folge von Arbeitslosigkeit, und mehr innere Aufmerksamkeit gegenüber sozialen Interaktionen die Folge von symptombedingter Ablehnung bzw. Ausgrenzung.

    Wenn man diese Felder bearbeiten will, muss man für Beschäftigung und mehr Gemeinsamkeit sorgen. Dass das auf jeden Fall hilfreich ist, müsste jeder Praktiker wissen.

    Es gibt durchaus diese sozialen Ansatzpunkte, um Menschen mit psychischen Störungen wirklich zu helfen.

    Psychologische und Pharmakologische Ansätze gibt es auch, klar. Aber ohne eine umfassende Berücksichtigung der sozialen Dimensionen funktioniert eine Therapie wenig.

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