Leben mit ADHS

Als Hessin bin ich mit Hoffmanns Struwwelpeter aufgewachsen und eine der Geschichten, die mir im Kopf geblieben ist, ist die des Zappel-Philipps: einem Jungen, der nicht stillsitzen kann und beim Kippeln das ganze Essen zu Boden reißt. Tatsächlich wird diese Geschichte häufig mit einem Syndrom assoziiert, welches wir heute unter dem Namen ADHS kennen. Die Störung wird häufig missverstanden, denn die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung umfasst viel mehr Symptome als das Zappeln. Was genau ADHS ist, wie Psychologinnen und Psychologen die Störung diagnostizieren sowie therapieren und natürlich die neurobiologischen Grundlagen der ADHS sind Inhalt dieses Artikels. Außerdem durfte ich eine langjährige Freundin, die die Diagnose einer ADS hat, interviewen. M. lässt und an ihrem Alltag teilhaben und berichtet aus ihrem Leben.

Was ist ADHS?

ADHS, was für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung steht, ist eine Entwicklungsstörung, die bereits im Kindesalter zutage tritt. Doch nicht jede betroffene Person wird im Kindesalter diagnostiziert. Besonders bei Mädchen ist die Symptomatik häufig unauffälliger, diese sind eher verträumt als „zappelig“. Doch auch in Familien mit Migrationshintergrund wird die Diagnose seltener gestellt, obwohl davon auszugehen ist, dass die Störung weltweit gleich häufig auftritt und die Entwicklung von ADHS nicht von Wohnort oder anderen sozialen Faktoren abhängig ist.

Das Wort „Erwachsenen-ADHS“ scheint seit einigen Jahren in aller Munde zu sein. ADHS ist keine Störung, die erst im Erwachsenenalter auftreten kann. Das Stellen der Diagnose setzt ein frühes Auftreten voraus (zur Diagnostik später mehr). Die Symptome können sich über die Zeit ändern. Betroffene erlernen den Umgang mit manchen Auswirkungen und alltägliche Anforderungen ändern sich. So wird ein Schulkind mit ADHS anders auftreten als die gleiche Person im Erwachsenenalter.

Es werden drei Hauptsymptome unterschieden: Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität.

Frage: M., kannst du dich an deine Schulzeit erinnern? Gibt es Verhaltensweisen, die du rückblickend als ADHS-Symptome identifizieren kannst?

M.: Ja zu beiden. Ich war als Schulkind sehr unaufmerksam, im Unterricht habe ich eigentlich nie aufgepasst, außer bei wirklich spannenden Themen und guten Lehrerinnen und Lehrern, bei denen ich dann auch sehr engagiert war. Sonst war ich eigentlich nie motiviert, aufzupassen. Ich habe im Unterricht viel gemalt, las in den Büchern oder sprach mit meinen Freundinnen. Ich war trotzdem gut in der Schule, aber meine Aufmerksamkeitsprobleme wurden in Elterngesprächen angesprochen und in meinen Zeugnissen erwähnt.
Mir wurde oft gesagt, dass ich zu viel reden würde, zu laut sei oder zu allem meine Meinung kundgeben müsste. Eigentlich wollte ich nur zeigen, dass ich meine Mitmenschen verstehen kann und wollte zu den Gesprächen beitragen.
Außerdem hatte ich schon immer ein sehr schlechtes Zeitgefühl. Wenn ich meinen Weg geplant habe, habe ich z.B. vergessen, damit zu planen, dass ich auch noch Zeit zum Anziehen brauche und ich war häufig zu spät.

Frage: Seit wann war das so?

M.: Schon immer, auf jeden Fall auch schon seit der Grundschule.

  • Unaufmerksamkeit: Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben aufrechtzuerhalten, oder schwierige Aufgaben zu Ende zu bringen, leichte Ablenkbarkeit, Tendenz zur Prokrastination, Schwierigkeiten bei Organisation, Vergesslichkeit.
  • Hyperaktivität: Probleme, still zu sitzen, Bewegungsdrang, viel oder schnelles Reden, innere Unruhe oder Anspannung, Probleme sich zu entspannen
  • Impulsivität: Ungeduld, z.B. impulsives Kaufverhalten, andere beim Reden unterbrechen, Probleme beim Abwarten

Frage: Gibt es etwas, das du dir rückblickend von deiner Umgebung gewünscht hättest?

M.: Lehrerinnen und Lehrer sollten wissen, dass ADHS nicht nur in Form von kleinen hyperaktiven Jungs auftritt. Mir wäre es besser ergangen, wenn ich nicht immer nur „Jetzt pass‘ halt mal auf!“ zu hören bekommen hätte. ADHS kann ganz verschieden aussehen und Kinder sollten nicht für ihre Schwierigkeiten bestraft werden, stattdessen sollten diese hinterfragt werden. Ich war intelligent, hatte trotzdem Probleme und musste mir oft anhören, dass ich einfach nur „faul“ sei, was einfach nicht gestimmt hat. Wir sollten weniger versuchen, alle Kinder in ein Lernschema zu pressen, sondern individuelle Lernkonzepte fördern.

Mittlerweile wissen wir, dass ADHS nicht schlichtweg ein Aufmerksamkeitsdefizit beschreibt, sondern dass viel mehr die Steuerung der Aufmerksamkeit als die Aufmerksamkeitsfähigkeit an sich beeinträchtigt ist. So haben Betroffene bei reizvollen und für sie interessanten Aufgaben deutlich weniger Konzentrationsschwierigkeiten und entwickeln sogar einen „Hyperfokus“, konzentrieren sich also so stark auf die Aufgabe, dass sie ihre Umgebung komplett vergessen.

Frage: Kennst du das?

M.: Auf jeden Fall. Das ist bei mir vor allem beim Zeichnen so. Ich mache ein Album oder eine Playlist an, höre vielleicht noch die ersten beiden Songs und plötzlich hört die Musik auf und ich bemerke, wie viel Zeit gerade vergangen ist. Das kann auch gefährlich werden, denn ich vergesse auch meine körperlichen Bedürfnisse. Es kam schon vor, dass ich plötzlich bemerkt habe, dass ich Schmerzen habe und mich eigentlich um mich kümmern muss.

Unser Gehirn hat verschiedene Netzwerke für verschiedene Anforderungen. Das Salienznetzwerk entscheidet, wie wichtig eine Aufgabe, mit der wir konfrontiert werden, ist. Wird die Aufgabe als relevant bewertet, werden Hirnstrukturen aktiviert, die es uns ermöglichen, uns auf die Anforderungen zu konzentrieren und unsere Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Ist die Aufgabe weniger wichtig, wird die Aktivität des Default-Mode-Netzwerkes, welches unser Gehirn im Ruhezustand abbildet, hochgefahren. Bei Menschen mit ADHS wird vermutet, dass die Aktivität des Aufmerksamkeitsnetzwerkes weniger konsistent aufrechterhalten werden kann und schneller Areale des Default-Mode-Netzwerkes aktiviert werden. So zeigen auch EEG-Studien, welche die Hirnaktivität von Menschen mit ADHS messen, häufiger langsame Hirnwellen, die normalerweise einen sehr entspannten, schläfrigen Zustand abbilden. Gleichzeitig zeigen fMRT-Studien, welche die Aktivität bestimmter Hirnareale bei bestimmten Aufgaben zeigen, eine schwächere Aktivität in Bereichen des Aufmerksamkeitsnetzwerkes, besonders im Bereich des Präfrontalkortex.

Der Präfrontalkortex steuert die sogenannten exekutiven Funktionen.

Bei Individuen mit ADHS ist vor allem die Inhibition betroffen. So sind Betroffene häufig offener für Reize, was zu leichter Ablenkbarkeit durch äußere Reize, aber auch einer Sensibilität und schneller Reizüberflutung führen kann. Probleme mit der Inhibition führen zu weiteren Problemen in anderen Exekutivfunktionen, z.B. der Selbstregulation, der Emotionsregulation, der Handlungsplanung und -kontrolle und der Verhaltenssteuerung. Betroffene haben so z.B. Probleme, Pläne zu erstellen und ihnen zu folgen.

Frage: Wie erlebst Du es, in für dich uninteressanten Umgebungen aufpassen zu müssen, zum Beispiel in einer Vorlesung?

M.: Als super unangenehm. Ich will immer einschlafen, obwohl ich gar nicht müde bin! Ich habe teils angefangen, Fenster oder Menschen im Hörsaal zu zählen, nur damit mir nicht die Augen zufallen oder ich komplett abdrifte. Wenn ich unbedingt aufpassen muss, ist das einzige, das hilft, alles ganz genau mitzuschreiben.

Basierend auf der Ausprägung der verschiedenen Hauptsymptome kann die ADHS in Subtypen eingeordnet werden. Das DSM-5, ein diagnostisches System, welches psychische Störungen klassifiziert, unterscheidet drei Subtypen:

  • Unaufmerksamer Subtyp: „Träumer“, mit Gedanken abwesend, ruhig, vor allem Probleme mit der Steuerung der Aufmerksamkeit (auch ADS genannt: Aufmerksamkeitsdefizitstörung)
  • Vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Subtyp: Starke Aktivität, körperliche oder innerliche Unruhe, impulsives Verhalten und Probleme bei Selbstregulation
  • ADHS-Mischtyp: Sowohl unaufmerksam als auch hyperaktiv-impulsiv

Diese Subtypen sind über das Leben nicht starr und können sich ändern. Zusätzlich weicht die körperliche Hyperaktivität, die man bei Kindern mit ADHS beobachten kann, im Verlauf häufig einer inneren Unruhe und psychischen Anspannung. Die Kategorien sind also künstlich und gelten der ungefähren Einordnung. Ein dimensionales Krankheitsverständnis bietet in der Therapie der ADHS jedoch Vorzüge. Schaut man nicht nach Kategorien, sondern danach, wie viel von welchem Symptombereich vorhanden ist, lässt sich das therapeutische Vorgehen genauer auf das Individuum anpassen.

Entstehung und Verlauf von ADHS

Die Entstehung von ADHS ist wie bei allen psychischen Störungen multifaktoriell bedingt. Es gibt also nicht den einen Auslöser, der die Störung verursacht. Studien zeigen deutliche genetische Veranlagungen, diese sind jedoch nicht unbedingt ADHS-spezifisch, sondern spielen auch in der generellen Entstehung psychischer Probleme eine Rolle. Diverse Gene wurden mit der Entstehung von ADHS in Verbindung gebracht, diese bilden jedoch ein Risiko und keinen festgelegten Grund ab. Unsere Gene interagieren stets mit unserer Umwelt und so sind Umgebungsfaktoren und psychologische Faktoren ausschlaggebend dafür, dass eine diagnostizierbare ADHS entsteht. Relevante Faktoren stellen z.B. die Erziehung, der Grad der Strukturierung der Umwelt oder soziale Bindungen dar. Die Störung wird meist vor dem sechsten Lebensjahr auffällig.

Relevante Hirnareale in der Entstehung von ADHS: Präfrontalkortex, Basalganglien, Cerebellum
Angepasst, Bildquelle

Bei Kindern mit ADHS zeigen sich leichte Unterschiede in der Gehirnentwicklung. Bestimmte Regionen sind kleiner und in ihrer Entwicklung minimal verzögert. Dazu zählt der Präfrontalkortex, das Corpus Callosum und das Cerebellum. So sind unter anderem die Handlungskontrolle und Aufmerksamkeit beeinträchtigt. Auch das Striatum, Teil der Basalganglien, ist in seiner Entwicklung verzögert. Das Striatum ist Teil des dopaminergen Systems, welches bei Belohnung, Belohnungslernen und dem Erlernen von Gewohnheiten eine Rolle spielt. Kinder zeigen bei der Erwartung einer Belohnung geringere Aktivierung in diesem Bereich. Ihr Belohnungssystem reagiert unterempfindlich, gleichzeitig ist die Suche nach Belohnung gesteigert. Kinder mit ADHS bevorzugen daher häufig sofortige Belohnung, was längere Konzentration weiter erschwert. Man geht davon aus, dass ADHS sich als Störung des dopaminergen Systems in einer verminderten Dichte von Dopaminrezeptoren, die nicht sensibel genügend sind, und in einem zu schnellen Abbau von Dopamin zeigt. Insgesamt steht dem Gehirn wahrscheinlich zu wenig Dopamin und Noradrenalin zur Verfügung. Im motorischen Kortex sind Kinder mit ADHS ihrer Entwicklung voraus, was den Drang nach Bewegung erklären könnte.

Bei 80% der betroffenen Kinder bleibt die Störung bis ins Erwachsenenalter bestehen und kann diverse psychosoziale Probleme nach sich ziehen kann. Zwei Drittel der Kinder mit ADHS weisen andere psychische Störungen auf. Die Wahrscheinlichkeit, im Verlauf an Persönlichkeitsstörungen, Depressionen oder Substanzmissbrauchsstörungen zu erkranken, ist erhöht. Auch die Rate von ADHS in Haftanstalten ist erhöht.

Frage: Was hat dich dazu veranlasst, eine ADHS-Diagnostik machen zu lassen?

M.: Mittlerweile weiß ich, dass es vor allem die Probleme der exekutiven Dysfunktion waren, die mich belastet haben. Ich bin nach meinem Abitur ausgezogen und auf einmal war ich auf mich gestellt, ich musste alles selber organisieren. Wenn zehn Dinge erledigt werden mussten, konnte ich nichts davon machen, weil ich mich einfach nicht entscheiden konnte, womit ich anfangen soll. Ich hatte das Gefühl, mein Leben nicht mehr auf die Reihe zu bekommen und dadurch bin ich depressiv geworden. In der Therapie habe ich Hilfe bekommen, doch es wurde klar, dass der Auslöser meiner Probleme nicht weg war. Außerdem hat mein Vater hat ADHS und ich habe selbst einiges zu dem Thema gelesen, weswegen mir zu einer professionellen Diagnostik geraten wurde.

Die Diagnostik von ADHS

Die psychologische Diagnostik erfolgt meist über mehrere Sitzungen und zieht diverse Datenquellen mit ein. Zu diesen zählen Fragebögen, Zeugnisse, Angehörigen-Befragungen, Leistungstests und die Einschätzung der Psychologin oder des Psychologen. Einerseits muss rückblickend die Symptomatik während der Kindheit erfasst werden und andererseits muss auch die aktuelle Symptomatik möglichst genau erhoben werden. Es gibt einige psychische Störungen, die eine der ADHS ähnliche Symptomatik auslösen können, diese gilt es auszuschließen. Voraussetzung für das Stellen der Diagnose ist auch das Vorhandensein von Leiden an den Symptomen oder Beeinträchtigung in mehreren alltäglichen Bereichen.

Frage: Gab es Erfahrungen während der Diagnostik, die Dir im Kopf geblieben sind?

M.: Ich habe eine lustige Geschichte. Das Wartezimmer der Psychologin war zwei Stockwerke unter ihrem Behandlungszimmer und als ich oben angekommen war, mich hingesetzt habe und einen Schluck trinken wollte, ist mir aufgefallen, dass ich meine Handtasche unten liegen gelassen habe. Später meinte die Therapeutin nur schmunzelnd, „manche Leute hinterlassen direkt einen ersten Eindruck“.

Die Therapie von ADHS

Grafik Therapiesituation: Therapeutin und Junge

ADHS kann medikamentös und durch psychotherapeutische Ansätze behandelt werden. In der medikamentösen Therapie werden Psychostimulanzien eingesetzt, wie z.B. Methylphenidat oder Amphetamin. Diese erhöhen die Verfügbarkeit von Dopamin und Noradrenalin im Gehirn. Eine begleitende psychotherapeutische Behandlung oder ähnliche unterstützende Angebote sind stark indiziert. Medikamente sollten im besten Falle nicht ohne weitere unterstützende Therapieverfahren eingenommen werden. Als psychotherapeutisches Verfahren konnte besonders die Wirksamkeit der Verhaltenstherapie belegt werden, die sich durch ihre alltagsnahen Interventionen und Strukturierung anbietet. Auch die Behandlung durch Dialektisch Behaviorale Therapie oder achtsamkeitsbasierte Therapieansätze gehen mit einer signifikanten Verbesserung der ADHS-Symptomatik und einer Steigerung des allgemeinen Funktionsniveaus einher. Besonders Kinder mit ADHS können von Psychotherapie profitieren, da diese die Wahrscheinlichkeit des Auftretens weiterer Störungen und negativer psychosozialer Konsequenzen erheblich senkt.

Frage: Gibt es Strategien, die Dir bei der Alltagsbewältigung mittlerweile helfen?

M.: Ich muss mich gut organisieren und immer darauf achten, vorauszudenken. Wenn ich einen Plan habe, rechne ich mir genau aus, wie viel Zeit ich für was einplanen muss und lege feste Uhrzeiten für die einzelnen Schritte fest. Ich plane das Essen jede Woche vor und gehe mit meiner Mitbewohnerin einkaufen, sodass ich immer genug zum Essen habe. Bei Sport oder anderen Aktivitäten hilft es mir, mich fest mit Freunden zu verabreden, damit ich die Dinge dann auch wirklich erledige. Und in schwereren Zeiten nutze ich eine App, in der ich die einzelnen Schritte meiner Routine eingeben kann, sodass ich feste Abläufe habe, denen ich täglich folgen kann. Und mein digitaler Kalender ist mein Leben! Wenn es nicht im Kalender steht, existiert diese Sache nicht, ich achte darauf, immer alles ganz genau einzutragen. Zuletzt hilft mir meine ADHS-Medikation aber auch extrem. Meine Gedanken sind so einfach weniger hektisch, ich habe mehr innere Ruhe und die Einflüsse der Welt sind weniger laut. Damit fällt es mir leichter, Sachen im Kopf zu behalten.

ADHS – alles negativ?

Es gibt einen zunehmenden Trend, ADHS als dimensionales, in der Gesellschaft verteiltes Phänomen zu sehen, dass weniger eine Störung als mehr ein Kontinuum von Neurodiversität abbildet. Tatsächlich geht ADHS nicht nur mit Einschränkungen einher. Menschen mit ADHS sind sehr reizoffen und flexibel. Sie können leichter Inhalte miteinander assoziieren oder Muster erkennen. Das scheint vor allem in kreativen Bereichen von Vorteil zu sein, denn Kreativität zählt zu den häufig genannten Stärken, doch auch ein großes Interesse an einer Vielzahl an Themen, Hyperfokus, Spontanität und emotionales Einfühlungsvermögen werden im Zusammenhang mit ADHS immer wieder als Stärken genannt.

Frage: Es wird immer wieder berichtet, dass die Art und Weise wie Menschen mit ADHS denken, auch viele Stärken mit sich bringt. Welche positiven Aspekte hat deine ADHS?

M.: Ich habe ein sehr hohes Einfühlungsvermögen und bin ein sehr mitfühlender Mensch. Schon als Kind wurde mir oft gesagt, dass ich Zusammenhänge ungewöhnlich gut verstehen könne und ich emotional sehr reif sei. Wenn ich in Freundschaftsbüchern gefragt wurde, meine Lieblingseigenschaft an mir zu nennen, habe ich immer „kreativ“ geschrieben. Ich habe einfach diesen Drang, mich in Dinge einzuarbeiten und mich im Hyperfokus zu verlieren. Danach zurückzuschauen und zu sehen, was ich kreiert habe, ist das schönste Gefühl. Mittlerweile mache ich eine Lehre in einem kreativen künstlerischen Bereich und meine zwei besten Freunde hier haben tatsächlich auch ADHS! Ich habe noch nie so viele neurodiverse Menschen an einem Ort gesehen, Kreativität ist definitiv eine sehr große Stärke.
Ich würde es nicht anders wollen. Das alles ist einfach meine Wahrnehmung, meine Realität. Ich bin so und dann ist es auch egal, ob diese Charaktereigenschaften mit einer ADHS zusammenhängen. Ich bin genau so und das mag ich einfach sehr.

Quellen

ADHS Deutschland e.V., AG ADHS, AMDP, AGNP, AG-NNP, BHP, BVKJ, bjk, BVDP, BDP, BKJPP, BAG, BPtK, BVKJ, BVDN, bvvp, DVT, DGKJ, DGKJP, DGPPN et al. (2017). Kurzfassung der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten (S3) Leitlinie “Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend-, und Erwachsenenalter“. AWMF online. Verfügbar unter: https://register.awmf.org/assets/guidelines/028-045k_S3_ADHS_2018-06-abgelaufen.pdf

American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5th ed.). 

Gawrilow, C. (2016). Lehrbuch ADHS: Modelle, Ursachen, Diagnose, Therapie (Vol. 3684). Stuttgart: UTB.

Heine, S., & Exner, C. (2021). Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter. Zeitschrift für Neuropsychologie32(3), 141-157. https://doi.org/10.1024/1016-264x/a000329

Klein, M., Onnink, M., Van Donkelaar, M., Wolfers, T., Harich, B., Shi, Y., Dammers, J., Arias-Vásquez, A., Hoogman, M., & Franke, B. (2017). Brain imaging genetics in ADHD and beyond – Mapping pathways from gene to disorder at different levels of complexity. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 80, 115-155. https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2017.01.013

Köhler, T. (2019). Biologische Grundlagen psychischer Störungen. Hogrefe Verlag GmbH & Company KG.

Von Hopffgarten, A. (2023, October 31). Aufmerksamkeitsstörung: »Menschen MIT ADHS können Sinnesreize schlechter vereinen«. Spektrum.de – Nachrichten aus Wissenschaft und Forschunghttps://www.spektrum.de/magazin/aufmerksamkeitsstoerung-wie-menschen-mit-adhs-sinnesreize-verarbeiten/2186010

Avatar-Foto

Veröffentlicht von

Mein Name ist Lea Anthes und ich studiere Klinische Psychologie und Psychotherapie im Master an der Goethe-Universität in Frankfurt. Ich interessiere mich schon lange für Themen rund um das menschliche Gehirn und konnte mich während meines Bachelorstudiums der Psychologie sowohl umfangreich mit der kognitiven Neurowissenschaft auseinandersetzen als auch praktische Erfahrung im Bereich der klinischen Neuropsychologie sammeln. Gerne teile ich diese Begeisterung mit interessierten Leserinnen und Lesern.

9 Kommentare

  1. Eine eigene Kategorie “ADS” (dann unterschieden nach mit oder ohne “H”) gab’s eigentlich nur von 1980 bis 1987, mit dem DSM-III. Ab dem DSM-III-TR nannte man es “ADHS”. Ich verstehe nicht, warum manche heute immer noch die alte Bezeichnung verwenden.

    Natürlich ist das Gehirn an allem, was wir tun und erleben, wesentlich beteiligt. Man kann zwar Gruppenunterschiede feststellen, wenn man Menschen mit und ohne die Diagnose vergleicht. (Ebenso könnte man müde und ausgeschlafene Personen vergleichen.) Doch diese Unterschiede sind so minimal, dass für die allermeisten Personen gilt: Systematische Unterschiede zwischen Personen mit und ohne die Diagnose ADHS, die man als Ursache ansehen oder zur Diagnose verwenden könnte, hat man trotz inzwischen jahrzehntelanger Suche nicht gefunden.

    Mich überrascht das nicht, wenn man ausrechnet, dass die DSM-5-Symptome für ADHS ganze 116.220 ADHS-Formen zulassen.

    • Dass der Begriff “ADS” keine offizielle Bezeichnung mehr ist, stimmt. Dennoch wird dieser in Diskussionen und alltäglichen Gesprächen nach wie vor verwendet, weswegen ich ihn in diesem Beitrag zuordnen wollte, nicht zu Letzt auch weil meine Interviewpartnerin selbst diese Abkürzung verwendet hat. ADHS ist tatsächlich eine sehr heterogene Störung und die Unterteilung in kategoriale Subtypen ist, wie kategoriale Diagnostik an sich, künstlich. Das habe ich selbst wiederholt in ADHS-Diagnostiken bemerkt, denn mir ist noch niemand begegnet, der/die wirklich ganz klar nur Symptome eines Subtypen aufweist, vor allem weil sich die Symptome auch über die Lebensspanne ändern können. Es gibt zunehmende Bewegungen, die Störung und Symptome dimensional betrachten und auf Dimensionen kognitiver Fähigkeiten mit entsprechenden zugrundeliegenden Hirnsystemen erforschen. Besonders bedeutend scheinen hier Arbeitsgedächtnis und emotionale Eigenschaften zu sein. Dieses Paper fand ich zum RDoC-Ansatz sehr spannend.
      Entwicklungsstörungen werden in der Forschung ebenso wie neuronale Störungen erforscht und die beschriebenen Erkenntnisse dieser Forschung sind replizierte, signifikante Gruppenunterschiede, wenn auch nur Momentaufnahmen, die keinen kompletten Aufschluss darüber geben können, wie ADHS-Symptome im Erwachsenenalter “entstehen” (bzw. aufrechterhalten werden).

  2. Ich bin total ergriffen von diesem Erlebnisbericht. Häufig ist ADHS etwas, das nicht ganz ernst genommen wird. Ich bin viele Jahre in einer Beziehung mit jemandem mit ADHS gewesen, und für uns beide war das nicht immer leicht zu navigieren. Da muss man sich gut und selbstfürsorglich gegenseitig helfen, um zum einen nicht in eine Dynamik zu fallen, in der eine Person dann den Organisator spielt und zum anderen natürlich auch liebevoll damit umgehen, dass manche Sachen viel schwieriger/leichter oder eben schlichtweg anders sind. Ich glaube dass da häufig so eine Ungeduld und irgendwann auch Frustration entstehen kann, und das ist natürlich für niemanden schön. Deswegen umso bereichernder, offen darüber zu sprechen und einen respektvollen Umgang selbstverständlich vorauszusetzen!

    Danke für die Erfahrungen, die Ehrlichkeit, und den schönen Beitrag. Da hat jemand wirklich zugehört.

    • Es freut mich, dass der Beitrag gut angekommen ist, vielen Dank! Im jeder Art der Kommunikation und im menschlichen Beisammensein entstehen immer wieder Schwierigkeiten, sicherlich auch dann, wen “neurotpyische” und “neurodiverse” Individuen aufeinander treffen. Um so wichtiger der Versuch, sich gegenseitig zu verstehen, das stimmt.

  3. Man könnte noch erwähnen, dass sich immer mehr Menschen mit Aufmerksamkeitsproblemen dafür einsetzen, ihre Art als Normvariante zu sehen, nicht als psychische Störung bzw. Krankheit (Stichwort: Neurodiversität).

    Übrigens hat der amerikanische Arzt Hallowell, der in den 1990ern das ADHS-Konzept bekannt machte (siehe seinen Bestseller “Driven to Distraxction”) und selbst die Diagnose bekam, vor Kurzem gemeint, es gehe gar nicht um ein Aufmerksamkeitsdefizit, sondern den Umgang mit Langeweile (siehe sein neues Buch “ADHD 2.0”).

    “Attention deficit is a complete misnomer,” Hallowell explained. “We don’t have a deficit of attention. We have an abundance of attention. Our challenge is to control it. … Boredom is our kryptonite. The minute we encounter lack of stimulation, we’re out of there, if not physically then mentally.” (Quelle)

    • @Schleim

      Ja, Langeweile trifft es sehr genau, aber auf den entsprechenden Umgang der zeitgeistlich-reformistisch Bewusstseinsbetäubt-Gebildeten kann ich gut verzichten, wenn die ihre ignorante Arroganz entsprechend der gewünschten Kapitulation präzisieren, anstatt auf eine wirklich-wahrhaftige Vernunft, wie sie derzeit aufgrund der wachsenden Eskalation befriedend-fusionierend kommuniziert werden müsste.

  4. Mal aus Lehrersicht.”es gehe gar nicht um ein Aufmerksamkeitsdefizit, sondern den Umgang mit Langeweile ”
    Also, was haben wir ? Schüler, die sich langweilen und dann stören.
    Manche stören, weil sie Bewegungsmangel haben, andere stören , weil sie nicht genug beachtet werden, die Intelligenten stören, weil sie schon alles vorher wissen.
    Wenn es zu toll wird , kommen sie in die Sonderschule für verhaltensauffällige Kinder.

    Soweit muss es nicht kommen, wenn man auf die Bedürfnisse von Schülern eingeht. Mehr Sport , viel mehr Sport !
    Gruppenunterricht statt Frontalunterricht.
    Raus aus dem Klassenzimmer, die Gruppen bekommen Aufgaben , die sie selbsttätig lösen müssen.

    Und……..keine verhaltensauffälligen Schüler mehr, die man ausgrenzen muss.
    Und als Zugabe Lehrerseits , ein Gespräch mit den Eltern. wobei dann oft klar wird, wer eine Therapie braucht.
    Es gibt auch die ernsthaften Fälle, wo sich der Vater vor den Augen der Kinder erschossen hat, die traumatisierten Kriegsflüchtlinge, wo die Mutter krebskrank ist.
    Als Lehrer ist es mir egal wie man die gestörten Verhaltensweisen benennt, es ist notwendig, dass man mit diesen Kindern leben kann.
    Meiner Meinung nach ist es
    am besten, wenn man auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen kann.
    Etwas aus der Langzeitperspektive, Bis zum Alter von etwa 12 Jahren sind pro Klasse 1 bis 2 Kinder verhaltensauffällig.
    Dann von 12 bis 18 Jahren verdoppelt sich die Zahl auf 4 Schüler pro Klasse.

  5. Ein wirklich sehr interessanter Erfahrungsbericht. Erfreulich, dass nicht nur das “Negative” geschildert wird.
    In der Schule ist ADHS oft sehr negativ behaftet. Und diese negative Haltung geht häufig von allen Beteiligten aus: Kindern, Eltern, Lehrkräften.
    Aus Erfahrung kann ich die Aussage nur unterstützen, Medikamente unbedingt nur mit psychotherapeutischer Behandlung oder anderen weiterführenden Therapieverfahren / Angeboten einzunehmen.
    Kinder wirken nach Medikamentengabe nicht selten depressiv, im Grundschulalter manchmal sogar antriebslos und desinteressiert.

  6. Cornelia Kochendörffer,
    negative Erfahrungen. Ja, es gibt die Lehrkräfte, die hyperaktive Kinder unterdrücken. Es gibt aber auch Lehrkräfte, die das ganz gelassen hinnehmen.
    ein Beispiel: Ein hyperaktiver Junge, der musste jede Stunde einmal aufstehen und im Klassenzimmer eine Runde drehen. Die Lehrerin ließ ihn gewähren und die Mitschüler akzeptierten sein Verhalten als normal. Keiner kam auf die Idee das nachzumachen. Kinder können sehr tolerant sein.

Schreibe einen Kommentar


E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.
-- Auch möglich: Abo ohne Kommentar. +