Journal Club: erhöhtes Risiko für Multiple Sklerose bei Nachfahren der Steppenpopulation

Am 10. Januar 2024 wurde ein sehr spannendes Paper in der Nature veröffentlicht, das sich mit einem bisher weniger stark erforschten Aspekt der Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose befasst. An der Studie beteiligte sich ein großes internationales Team unter der Leitung von Professor Eske Willerslev von den Universitäten Cambridge und Kopenhagen, Professor Thomas Werge von der Universität Kopenhagen und Professor Rasmus Nielsen von der University of California, Berkeley. Mit Beiträgen von 175 Forschern aus der ganzen Welt.

Bei MS werden die Myelinscheiden der Nervenfasern im ZNS durch das eigene Immunsystem abgebaut, was zu einer Sensibilitätsstörung führen kann. Die Symptome treten schubweise auf und können zu Beginn noch häufig zurückgebildet werden. Später kann es aber zu bleibenden neuronalen Defiziten kommen. Bisher gibt es noch keine eindeutige Erklärung, warum das Immunsystem den Körper angreift, und es gibt auch keine Heilung. Allerdings kann man den Verlauf abschwächen und die Symptome mildern.

Multiple Sklerose Prevalenz
Von Lokal_Profil, CC BY-SA 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8962898

MS betrifft etwa 2,5 Millionen Menschen weltweit, wobei sich die Häufigkeit von Region zu Region unterscheidet. Dabei ist die größte Häufigkeit in Europa vorzufinden. Nordeuropäer scheinen hier am anfälligsten zu sein. Das Ziel des Papers war es zu beantworten, woran das liegt und wie sich diese Krankheit auf einem einzigen Kontinent so stark ausbreiten konnte im Vergleich zu anderen Bereichen der Erde.

Risikofaktoren

Um diese Fragen zielführend zu beantworten, haben die Forscher zunächst die möglichen Risikofaktoren unterschieden. Hierbei gibt es Umwelteinflüsse wie Krankheitserreger und Lebensstileinflüsse wie Rauchen, die die Krankheit beeinflussen, aber auch genetische Risikofaktoren. Genome-wide association studies (GWAS) haben etwa 233 häufig auftretende Genvarianten aufgedeckt, die MS begünstigen. 32 dieser Gene liegen auf der HLA-Region, der humanen Leukozytenantigen-Region. Die hierbei “gefährlichste” Genvariante HLA-DRB1*15:01 verdreifacht die Wahrscheinlichkeit, an multipler Sklerose zu erkranken. Anders als die meisten Umwelt- und Lebensstileinflüsse können genetische Faktoren vererbt werden und dadurch eine räumliche Verbreitung gut erklären.

Ahnen

Heutzutage lässt sich die Ahnenvielfalt der europäischen Populationen auf folgende zugrundeliegende Völker zurückführen: westliche Jäger und Sammler, östliche Jäger und Sammler, kaukasische Jäger und Sammler, Bauern und Steppenbewohner. Die Forscher des Papers nutzten eine enorm große Datenbank mit Genomen aus dem Mesolithikum, der Bronzezeit und dem Mittelalter – im Grunde mit Genomen der letzten 10.000 Jahre.

“Die Schaffung einer Genbank antiker DNA von früheren menschlichen Bewohnern Eurasiens war ein kolossales Projekt, das die Zusammenarbeit mit Museen in der gesamten Region erforderte”

Eske Willerslev, Professor in Cambridge und Co-Autor der Studie.

Mit Hilfe dieser Datenbank konnten sie feststellen, welche der damaligen Populationen die genetischen Risikofaktoren trugen und auf welchem Weg sich diese ausgebreitet haben. So haben sie das HLA-DRB1*15:01 Gen zum ersten Mal bei einem italienischen Individuum aus der neolithischen Zeit festgestellt, das durch das Carbon-Dating auf 5836 vor BCE festgelegt wurde. Außerdem haben sie herausgefunden, dass diese Gene vor etwa 5300 Jahren zur Zeit der Yamnaya-Kultur der Steppenpopulation immer häufiger vorkamen. Diese Steppenpopulation macht einen großen Teil der Ahnen der nördlichen Länder Europas aus, wie Schweden und Finnland. Das stimmt also auch damit überein, dass diese Gebiete das erhöhte Vorkommen an MS tragen. Ergo scheinen die Risiko-Gene vor allem von dieser Steppenpopulation zu stammen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass das Enthalten der Steppenpopulation im eigenen Ahnenreich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit an MS zu erkranken mit sich bringt.

Selektion

Nachdem also die Steppenpopulation als zugrunde liegende Ahnen mit erhöhtem MS-Risiko identifiziert wurden, stellte sich den Forschern die Frage, ob die Ausbreitung des Risikos durch positive Selektion zustande kam, also durch natürliche Auslese. Dazu haben sie eine Reihe an Methoden genutzt, wie CLUES und PALM, und konnten so feststellen, dass das erhöhte Risiko, an MS zu erkranken, sich in der Steppenpopulation tatsächlich durch Selektion verbreitet hat. Und zwar durch eine Selektion, die Haplotypen mit gemischten Ahnen vorzieht, also Haplotypen, die mehr als eine Ahnenpopulation haben. Dieser Mechanismus ist tatsächlich recht bekannt, weil Ahnendiversität einen gewissen Schutz vor schädlichen Mutationen bietet.

Dennoch ist es interessant, dass sich die Risiko-Gene für MS mittels Selektion verbreitet haben, weil man Selektion typischerweise dann vorfindet, wenn sie einen evolutionären Vorteil bringt, also den selektionierten Individuen irgendeinen Vorsprung im Überleben oder Fortpflanzen gibt. Das ist erstmal intuitiv bei multipler Sklerose nicht der Fall. Es stellt sich also die Frage, was für einen Vorteil das Risiko, an MS zu erkranken, bringen soll?

“Es muss für das Yamnaya-Volk ein deutlicher Vorteil gewesen sein, die MS-Risikogene in sich zu tragen, auch nach ihrer Ankunft in Europa, obwohl diese Gene ihr Risiko, an MS zu erkranken, unbestreitbar erhöht haben”

Eske Willerslev

Und hier werden die Antworten der Forschenden spekulativ, denn die Datenbanken, die sie benutzten, enthalten zu wenig Daten. Deswegen haben sie nur durch Indizien zu ihrem Schluss kommen können. Es scheint nämlich so zu sein, dass die Risiko-Gene von MS, wie das HLA-DRB1*15:01 Gen, nicht nur die Funktion haben, MS zu begünstigen, sondern auch einen gewissen Schutz vor anderen Krankheiten wie Tuberkulose oder Parasiten bieten. Und das sind Krankheiten, die sich vor etwa 5000 Jahren immer stärker verbreitet haben, weil die Bevölkerungsdichte immer größer wurde und gegenseitiges Anstecken immer wahrscheinlicher. Dadurch haben diese Gene einen gewissen Vorteil gegenüber ihren weniger effektiven Varianten gebracht und wurden so durch positive Selektion verbreitet.

Schlussfolgerung

Multiple Sklerose ist viel häufiger in den nördlichen Gebieten der Erde zu finden, wie Schweden, Finnland und Norwegen. Die Ursache dieses spannenden Phänomens war lange ungeklärt bis zur Veröffentlichung des Papers am 10. Januar 2024. Die Wissenschaftler haben festgestellt, dass die meisten Risiko-Gene das erste Mal mit erhöhter Wahrscheinlichkeit in der Steppenpopulation auftraten, die den Ahnen der nordeuropäischen Populationen bildet. Jetzt haben sie zwar die zugrunde liegenden Ahnen identifiziert, aber als nächstes stellte sich die Frage, warum die Steppenpopulation diese Risiko-Gene vermehrt ausbildet im Vergleich zu den anderen Populationen, die dies nicht tun. Haben diese Gene einen evolutionären Vorteil? Tatsächlich ja, das haben sie. Denn neben ihrer Risikofunktion bringen sie auch noch einen gewissen Schutz gegen Krankheiten wie Tuberkulose und Parasiten mit sich. Und dieser Schutz wurde immer wichtiger, da durch Umwelteinflüsse und Lebensstil einige Krankheiten immer dominanter wurden. So haben die MS-Risiko-Gene eine positive Selektion erfahren und sind noch heute in den Nachfahren der Steppenpopulation zu finden.

Bei Interesse

Multiple Sklerose: Zwischen Forschung und Klinik, Multiple Sklerose: Entzündung und Neurodegeneration, Multiple Sklerose: Die Erkrankung mit den tausend Gesichtern, Eine Dosis Myelin, bitte! – Impfung gegen Multiple Sklerose, Multiple Sklerose, Können Küsse zu Multipler Sklerose führen?

Quellen

Barrie, W., Yang, Y., Irving-Pease, E. K., Attfield, K. E., Scorrano, G., Jensen, L. T., Armen, A. P., Dimopoulos, E. A., Stern, A. J., Refoyo-Martínez, A., Pearson, A., Ramsøe, A., Gaunitz, C., Demeter, F., Jørkov, M. L., Møller, S. B., Springborg, B., Klassen, L., Hyldgård, I. M., . . . Willerslev, E. (2024). Elevated genetic risk for multiple sclerosis emerged in steppe pastoralist populations. Nature, 625(7994), 321–328. https://doi.org/10.1038/s41586-023-06618-z

News-Medical. (2024, January 15). Ancient genomes reveal origins of multiple sclerosis risk in Europe. https://www.news-medical.net/news/20240115/Ancient-genomes-reveal-origins-of-multiple-sclerosis-risk-in-Europe.aspx

Wexler, M. (2024, January 12). Ancient DNA reveal how MS risk genes spread across Europe. Multiple Sclerosis News Today. https://multiplesclerosisnewstoday.com/news-posts/2024/01/12/ancient-dna-reveal-risk-genes-spread-across-europe/

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Leah Wildenmann studiert seit 2021 Biologie in Freiburg. Sie ist noch am Anfang und hat dadurch eine sehr frische und unerfahrene Sicht auf das Thema des Gehirns. In ihrem nächsten Semester hat sie Zusatzfächer rund um Neurobiologie gewählt und freut sich schon ihr Gelerntes mit anderen Interessierten zu teilen. Besonders spannend findet sie, die Möglichkeit Emotionen durch gezielte Stimulation von Nerven auszulösen. Außerdem fände sie es superspannend, sich dem neurobiologischen Teil der Bewusstseinsforschung zu widmen.

2 Kommentare

  1. Bin seit 2010 an MS Erkrankt ( chronisch progredient ) falls ich mit Empfindens berichten helfen kann, stehe ich zur Verfügung.

  2. Aus Sicht der Evolution und des Überlebensvorteils spielt Multiple Sklerose keine Rolle, denn selbst in Skandinavien sind weniger als 1% der Menschen betroffen. Die mit der Multiplen Sklerose assoziierten Gene sind aus meiner Sicht aber darum interessant,
    1) weil sie die Ursache dieser Autoinmmunkrankheit erhellen können und damit evtl. Angriffspunkte von Therapien aufzeigen.
    2) weil sich die Frage stellt ob es auch schwache Formen der Multiplen Sklerose gibt, die gar nie diagnostiziert werden

    Dass bestimmte Gene sowohl die Resistenz gegenüber bestimmten Infektionskrankheiten erhöhen als auch gleichzeitig anfällig für andere Krankheiten machen, ist allerdings nichts besonderes. Viel extremer noch ist es bei Genen, die die Anfälligkeit für Malaria reduzieren, die dafür aber die Funktion der roten Blutkörperchen verschlechtern. Hämoglobindefekte in Form verschiedener Thalassämien sind in Malariaendemiegebieten verbreitet, weil sie zu weniger schweren Verlaufsformen der Malaria führen. Ganz anders als bei der Muliplen Sklerose sind aber in Malariaendemiegebieten die Thalassämien sehr viel häufiger als die Multiple Sklerose. In Papua-Neuginea etwa leiden 2/3 der Bevölkerung an Alpha-Thalassämie.

    Fazit: die Gene, welche Multiple Sklerose begünstigen und gleichzeitig vor bestimmten Infektionskrankheiten schützen, führen so selten zur Multiplen Sklerose, dass die betroffene Population durch diesen Nebeneffekt kaum eingeschränkt ist. Ganz anders bei den Thalassämien, ziemlich schweren Erkrankungen, die sich wegen der gleichzeitigen Schutzwirkung gegen Malaria trotzdem verbreitet haben. Hier zwingt sich der Schluss auf, dass Malaria für den Menschen eine weit gefährlichere Krankheit ist als Tuberkulose und verwandte Infektionskrankheiten und dass in einem Malariaendemiegebiet das Leben/Überleben zur Herausforderung wird.

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