Multiple Sklerose: Zwischen Forschung und Klinik

Anlässlich der Themenwoche MS zum World Brain Day spricht Prof. Dr. Martin Weber über die Multiple Sklerose und das Leben als Kliniker in der Grundlagenforschung. Prof. Weber leitet die Arbeitsgruppe Translationale Neuroinflammation und die Spezialambulanz für Multiple Sklerose und verwandte Erkrankungen an der Universitätsmedizin Göttingen.

Sehr geehrter Herr Prof. Weber, was fasziniert Sie an der Multiplen Sklerose?

Für mich ist das Faszinierendste bei diesem Krankheitsbild die Kombination aus Neuroanatomie und Entzündung.

Prof. Martin Weber, AG-Leiter Translationale Neuroinflammation und der Spezialambulanz Multiple Sklerose an der UMG
Prof. Dr. Martin Weber

Grundlegender eigentlich noch das Grundverständnis, wie das Immunsystem mit dem Nervensystem zusammenhängt – im Falle der MS leider im pathologischen, aber letztlich natürlich auch im physiologischen Sinn.

Viele Wechselbeziehungen zwischen Immun- und Nervensystem sind im Kontext der Multiplen Sklerose noch nicht gut verstanden. Bei der Neuromyelitis optica (NMO), eine Krankheit, die ursprünglich auch zur MS gezählt wurde, ist man schon ein bisschen weiter, da dort ein spezifisches Antigen nachgewiesen werden konnte.
Wie schätzen Sie die Möglichkeiten ein, in der Zukunft noch weitere Subtypen in der Multiplen Sklerose zu finden?

Aktuell sehen wir ein bestimmtes Phänomen und nennen es Multiple Sklerose. Es könnte aber sein, dass wir nur eine bestimmte Symptomkonstellation beschreiben. Bei einem sowohl klinisch als auch bildgebend sowie immunologisch so unterschiedlichen Krankheitsbild spricht einiges dafür, dass es verschiedene Pathogenesen gibt.

Aktuell sehen wir ein bestimmtes Phänomen und nennen es Multiple Sklerose. Es könnte aber sein, dass wir nur eine bestimmte Symptomkonstellation beschreiben.

Man könnte dies vielleicht mit Husten vergleichen. Momentan versuchen wir eine gemeinsame Erklärung für Husten zu finden. Nur um dann irgendwann festzustellen, dass verschiedenste Arten von Husten existieren – allergischer, infektiologischer, Raucherhusten und so weiter …
Mittlerweile stelle ich mir die Multiple Sklerose auch mehr wie eine Zwiebel als ein solides Ganzes vor. Die äußerste Schale ist sicherlich die NMO, welche eigene Eigenschaften und einen abgrenzbaren Pathomechanismus aufweist. Dies konnte durch kleine, homogene Studiengruppen gezeigt werden und stellt ein ganz hervorragendes Beispiel dar, wie wir in der MS-Forschung weiterkommen.
Die nächste Schale könnten nun die Erkrankungen sein, in denen Antikörper gegen das Myelin-Olygodendrozyten-Glykoprotein (MOG) nachweisbar sind. Auch die weisen eigenständige Eigenschaften auf; wir können aktuell aber noch nicht von einer komplett abgrenzbaren Entität sprechen.

Am Anfang dieses Jahres wurde eine Studie publiziert, welche eine mRNA-Impfung zur Verhinderung der MS beschreibt. Die Studie wurde basierend auf den gerade angesprochenen MOG-Antikörpern im Tiermodell durchgeführt. Wie bewerten Sie die Ergebnisse in Hinsicht auf eine Übertragung in die Klinik, auf den Menschen?

Das Konzept der Studie, also die grundlegende Chance, eine Autoimmunerkrankung mit einer Impfung zu heilen, ist inspirierend!
Es wird sicherlich so sein, dass wir für eine antigenspezifische Therapie die eben angesprochenen abgrenzbaren Entitäten benötigen.
Und auch wenn diese vorhanden sind, wird es eine sehr große Herausforderung bleiben.
Die in der Studie benutzte Impfung soll zu einer Tolerierung fälschlich aktivierter Autoantigene führen. Das ist eine viel schwierigere Aufgabe, als das Immunsystem für einen fremden Krankheitserreger alert zu machen, wie dies bei klassischen Impfungen der Fall ist. Da diese Tolerierung auch mit einer generellen Schwächung des Abwehrsystems einhergeht, könnte die eigentliche Lösung sein, mögliche Krankheitsauslöser selektiv auszuschalten.

Also gegen die Krankheitserreger, die zumindest auf dem Weg zur Multiplen Sklerose eine Rolle spielen, impfen?

Genau! Was ich jetzt sage, klingt wie eine Vulnerabilitätshypthese: Man hat eine individuelle Genetik, welche einen für bestimmte Erkrankungen anfällig macht. Im Laufe des Lebens kann es passieren, dass zu dieser Veranlagung negative Umwelteinflüsse hinzukommen. Ab einem kritischen Punkt können krankheitsbezogene Kaskaden im Körper getriggert werden. Diese sind, einmal gestartet, meist nur schwer wieder einfangbar.
Kenne ich diese Kaskade, könnte ich probieren, die Auslösung zu verhindern; zum Beispiel indem ich die auslösenden Krankheitserreger mithilfe einer Impfung selektiv ausschalte.
Ich fürchte aber, dass es im Falle der Multiplen Sklerose nicht nur die eine Kaskade gibt, sondern mehrere. Und genau solche Probleme reduzieren die Generalisierbarkeit der oben genannten Studie.
Da müssen wir dann aufs Neue in Subgruppenanalysen gucken, ob es nicht doch bestimmte PatientInnengruppen gab, die davon profitiert haben. Und damit wären wir am Ende wieder bei den Entitäten der MS.

Wir arbeiten nicht mit einer unheilbaren Krankheit – wir arbeiten mit einer noch nicht heilbaren Krankheit!

Was sind die Forschungsfragen, die Sie am liebsten schon heute beantwortet wüssten?

An erster Stelle steht für mich ganz klar, das Korrelat der Behinderungsprogression zu verstehen. Sprich: Warum geht es meinen PatientInnen schlechter, obwohl wir in der Bildgebung keine Verschlechterung sehen?
Unsere aktuellen Konzepte, den Krankheitsverlauf zu messen, bilden also offenkundig nicht alle Prozesse ab. Wenn wir heutzutage kein Anzeichen der Krankheit mehr sehen (No-Evidence-of-Disease-Konzept), mögen wir vielleicht glauben, dass die Erkrankung zum Stillstand gekommen ist – die Klinik lehrt uns aber leider etwas anderes.
Direkt daran anschließend ist natürlich, wie man dieses Korrelat dann auch therapeutisch beeinflussen kann. Wie können wir möglichst gezielt auf den Krankheitsverlauf und damit wahrscheinlich auf die Entzündungsprozesse innerhalb des Gehirns einwirken?
Genau dieser Frage wird sich bald eine Fraunhofer Außenstelle in Göttingen widmen.

Ist es für Sie mehr Motivation oder Demotivation mit einer unheilbaren Erkrankung zu arbeiten?

Klar Motivation!
Und die Formulierung der Frage klingt ja so, als wäre die Unheilbarkeit in Stein gemeißelt.
Wir arbeiten nicht mit einer unheilbaren Erkrankung – wir arbeiten mit einer noch nicht heilbaren Krankheit!
In der Forschung gibt es immer wieder Rückschläge und Talsohlen, die durchschritten werden müssen. Daher braucht man als Forschender genau diese Art des Selbstbewusstseins, den Glauben, dass man eine Antwort auf das Problem finden kann. Ansonsten hört man auf, weiter nach der Wahrheit zu suchen.

Kombination Grundlagenforschung Multiple Sklerose und Klinik, Laborbild
Laborarbeit zur Kombination von Grundlagenforschung und Klinik

Wie kamen Sie in die Forschung?

Meine Doktorarbeit war leider – das muss ich ehrlich zugeben – ein ziemlicher Reinfall. Sowohl methodisch als auch auf das Ergebnis bezogen.
Ich wollte aber trotzdem herausfinden, ob Forschung nicht doch etwas für mich sein könnte. Dann hatte ich das große Glück, über eine DFG-Förderung in die USA gehen zu können. Diese Extraschleife habe ich mir erlaubt, weil ich wirklich herausfinden wollte, ob Wissenschaft zu mir passt. Aus den geplanten zwei Jahren wurden dann vier und ich kam mit dem Fazit zurück, dass ich die Forschung eigentlich nicht missen möchte. Und am liebsten Klinik und Forschung miteinander verbinden will.

Wie gut sind Klinik und Forschung miteinander vereinbar?

Grundsätzlich erst mal nicht.
Man ist gezwungen, es einzufordern. Man muss klipp und klar sagen, dass man 50 % Forschung und 50 % Klinik macht und das dann auch verteidigen.
Dabei steht man immer zwischen den Fronten. In der Wissenschaft wird man leicht als “Hobbyforscher” abgetan, während man in der Klinik als Theoretiker beäugt wird.
Nichtsdestotrotz liegt der große Nutzen aber darin, dass man Brücken bilden kann. Am Ende kann man es schaffen, die verschiedenen SpezialistInnen zusammenzubringen und dadurch ein Team zu leiten, was zusammen deutlich mehr erreicht als allein.
Man muss anfänglich vielleicht erst einmal durch diese Phase des Zwischen-den-Stühlen-Sitzens durch. Am Schluss kann man dann aber in einer sehr privilegierten Position sein.

Wie beeinflusst der Umgang mit MS-PatientInnen Ihre Multiple Sklerose-Forschung?

Für mich ist der PatientInnen-Kontakt der zentrale Antrieb für meine Forschung.
Jemanden zu sehen, der durch diese Krankheit sein komplettes Leben umstellen muss, den Beruf verliert oder eine bleibende Behinderung erleidet, ist eine sehr demütige Erfahrung.
In der klinischen Arbeit ist man oftmals vor Probleme gestellt, die man noch – und ich betone noch – nicht lösen kann. Doch das empfinde ich als Auftrag weiter zu forschen und weiter zu machen.
Diese Erfahrung relativiert die eigene Arbeit zudem in jeder Hinsicht. Meine Probleme, der Arbeitsschweiß und auch Rückschläge in der Forschung erscheinen dadurch in einem anderen Licht.
Doch Erfolge werden ebenso ins Verhältnis gesetzt – denn trotz hochrangiger Publikationen besteht das Grundproblem weiter.
Neben dieser Grundmotivation empfinde ich die klinische Tätigkeit als einen notwendigen Abgleich meiner Arbeit mit dem ursächlichen Problem. In Zellkulturen oder im Tiermodell lässt sich nicht immer alles adäquat abbilden. Die Klinik führt mich daher wieder zu der eigentlichen Fragestellung und zum Menschen zurück.

Welchen Hindernissen sind Sie in Ihrer Laufbahn begegnet?

Oh. Da gab es sehr, sehr viele.
Klassisch sind selbstverständlich Rückschläge bei Anträgen oder eingereichten Publikationen. Da viel von positiven Einschätzungen von KollegInnen abhängt, kann das ebenso ein Hindernis sein.
Ganz klar habe ich in der Mitarbeiterführung schon die eine oder andere Unzufriedenheit erlebt – sowohl als Führender als auch als Geführter.
Zudem glaube ich, dass es eine generelle Schwierigkeit ist, das große Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Man kann sich zu leicht in Misserfolge oder persönliche Konflikte etc. verstricken, sodass man am Ende nicht wirklich weiterkommt.
Und all das muss sowieso unter dem Aspekt betrachtet werden, dass man in der sehr privilegierten Lage ist, überhaupt forschen zu können – also auf gut Deutsch seine Arbeit finanziert zu bekommen.

Wie sind Sie persönlich mit Rückschlägen wie zum Beispiel einem abgelehnten Antrag umgegangen?

Sagen wir mal so: Es wird leichter.
Am Anfang war so etwas für mich die ultimative Zerstörung. Man glaubte, man wird nicht mehr und nichts ergibt noch Sinn. Mittlerweile, nach zahlreichen solchen Erfahrungen, kennt man die Situation und denkt sich: Warte erst mal eine Woche ab. Inzwischen weiß ich, dass es nach ein paar Tagen besser wird. Aber die paar Tage zwickt es natürlich trotzdem.

Am Anfang war so etwas für mich die ultimative Zerstörung.

Neben dem Wissen, dass eine Ablehnung nicht das Ende von allem bedeutet – Was hätten Sie gerne früher gewusst?

Ich hätte gerne früher gewusst, dass sehr starke Motivation nicht nur positive Eindrücke hinterlassen kann.
Durch sehr motivierte Präsentationen oder ein totales Feuer-und-Flamme-Sein können sich anscheinend auch manche Menschen vor den Kopf gestoßen fühlen. Die denken dann, dass es nicht so schnell geht oder dass man sich als junger Forscher erst mal seine Sporen verdienen sollte und so weiter.
Hätte ich das früher gewusst, wäre ich das eine oder andere Mal vielleicht strategischer an etwas herangegangen und wäre etwas leiser aufgetreten.

Sowohl Forschung als auch Klinik sind beides zeitaufwendig. Wie sieht es mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus?

Ich glaube, auch das ist eine Frage des Einforderns. In den allermeisten Berufen existiert ein Spannungsfeld zwischen dem, was durch die Arbeit gefordert wird und dem, was man selbst leisten kann und möchte.
Man kann nicht die ganze Zeit durcharbeiten. Würde man das tun, würde man sich irgendwann nur noch im Kreis drehen und es nicht schaffen, klar zu denken. Man braucht die kreative Pause und sollte diese auch einfordern.
Kinder und Familie wirken da direkt als äußere Taktgeber und können sogar helfen zu argumentieren, dass bestimmte Dinge höhere Prioritäten besitzen als der Job.
Doch das fängt häufig auch schon viel früher an. Wie oft wurde einem bereits im Studium gesagt, dass man mit etwas, zum Beispiel dem Sport, aufhören muss, um gut zu sein? Ich habe immer probiert, mich dagegen zu wehren und zu argumentieren, dass ich das brauche, um mein Studium, später meinen Job gut zu machen. Falls das nicht möglich ist, hätte ich mir vermutlich eher die Frage gestellt, ob ich nicht am falschen Ort bin …

Sehr geehrter Herr Prof. Weber, vielen Dank für das Gespräch!

Die Multiple Sklerose ist diesjähriger Schwerpunkt des World Brain Days. Aus diesem Grund werden wir diese Woche noch weitere Artikel über die Erkrankung Multiple Sklerose veröffentlichen und Interviews mit Personen führen, die an der MS forschen oder PatientInnen betreuen.
Wir wünschen viele neue Erkenntnisse!

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Friedrich Schwarz studiert Humanmedizin und Angewandte Informatik mit Schwerpunkt Neuroinformatik. Aktuell fasziniert ihn die Theorie, dass Humor und Kreativität als Positivfaktoren in der sexuellen Selektion dazu beigetragen haben könnten, dass die menschliche Gehirngröße evolutionär zunahm. Mit dem Schreiben hier probiert er, seine Begeisterung über das Gehirn mit der Welt zu teilen – ob sie möchte oder nicht.

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