Multiple Sklerose: Die Erkrankung mit den tausend Gesichtern

Hannah Witschorek studierte in Göttingen Biologie und arbeitet seit 2019 bei Audimedes als Patientencoach in der Betreuung von Personen mit Multipler Sklerose (MS). In diesem Interview berichtet sie von ihren Erfahrungen im Umgang mit MS-PatientInnen.

Liebe Hannah, was genau macht man als Patientencoach?

Als Patientencoach steht bei uns der Patient im Mittelpunkt. Oft fehlt bei den Ärzten oder auch im Krankenhaus nach der Diagnose MS die Zeit, um die PatientInnen abzuholen und denen genau zu erklären, was jetzt wichtig ist. Wir sind eine Anlaufstelle für MS-PatientInnen und deren Angehörige.
Ergänzend zum Fachpersonal vor Ort betreuen und beraten wir PatientInnen mit chronischen Erkrankungen, wir unterstützen diese beim Therapiestart genauso wie im normalen Leben. Neben Alltagstipps, um mit der Erkrankung und der Therapie umzugehen, haben wir immer ein offenes Ohr und Zeit für unsere PatientInnen – auch das hilft meist schon mehr, als man denkt!
Denn leider fehlt die Zeit mitunter an anderen Stellen. Daher sehen wir uns vor allem als Bindeglied zwischen dem Fachpersonal und den Menschen, die von den Erkrankungen betroffen sind.

Du betreust fast ausschließlich MS-PatientInnen. Wie kam es dazu?

Meine ersten Berührungspunkte mit der Multiplen Sklerose hatte ich während meines Studiums. Aber so richtig mit der Krankheit auseinandergesetzt habe ich erst vor zweieinhalb Jahren, als ich damals anfing, als Patientencoach zu arbeiten. Dazu hatte ich dann viele berufliche Schulungen und habe mich immer mehr quasi “spezialisiert”, obwohl es noch keine anerkannten Fortbildungen gibt.

Kein Krankheitsverlauf gleicht dem anderen, sodass jeder Betreute ganz individuell betrachtet werden muss.

Hannah Witschorek, MS-Patientencoach

Was fasziniert Dich an der Erkrankung?

Es ist immer wieder unglaublich, wie unterschiedlich sich die Krankheit bei den jeweiligen PatientInnen äußert. Kein Krankheitsverlauf gleicht dem anderen, sodass jeder Betreute ganz individuell betrachtet werden muss. Für die Betroffenen macht es das mitunter sehr schwer, mit der Krankheit zu leben, da es immer ungewiss ist, wie es in ein paar Monaten oder auch in ein paar Jahren aussieht.
Daher faszinieren mich die PatientInnen selbst am meisten. Es ist beeindruckend, wie diese lernen, mit der Erkrankung und der Ungewissheit umzugehen. Viele MS-PatientInnen begleite ich vor allem in dem Zeitraum nach der Diagnose. Am Anfang scheint es für viele schier unmöglich zu sein, mit der Multiplen Sklerose zu leben und es braucht oft viel Zeit, den “Dauergast” zu akzeptieren – doch irgendwann lernen die meisten, die Krankheit anzunehmen. Dieser Prozess beeindruckt mich zutiefst und ich bin stolz, dass ich einen kleinen Teil dazu beitragen kann.

Welche Fragen kommen von seitens der PatientInnen immer wieder auf?

Die Diagnose der Multiplen Sklerose ist für die meisten ein absoluter Schock.
Zuerst kommen dann oft Zukunftsängste auf.
Wie soll ich meinen Abschluss schaffen? Kann ich meine Ausbildung/Studium machen? Wie sieht es mit Sport und Freizeit aus?

Eine weitere häufige Frage ist der Umgang mit anderen. Sag ich meinen Freunden oder meiner Familie, dass ich MS habe und wenn ja, wie mache ich das?
Und letztlich ist die Familienplanung auch bei vielen ein zentrales Thema.

Was hast Du aus Deinem Umgang mit MS-PatientInnen gelernt?

Eine Menge.
Neulich meinte ein Patient zu mir, als dieser mit einem weiteren schweren Schicksalsschlag kämpfen musste: „Wissen Sie, ich bin dankbar für das, was ich habe. Es könnte mir noch viel schlechter gehen.“
Das hat mich wieder daran erinnert, dass es eigentlich die kleinen Dinge im Leben sind, die zählen – nur leider viel zu häufig übersehen werden. Wir sollten glücklich und dankbar für das sein, was wir haben und jeden Tag schätzen!

Verlorene gesunde Lebensjahre durch die Multiple Sklerose auf eine Million Menschen.
Verlorene gesunde Lebensjahre durch die Multiple Sklerose auf eine Million Menschen. Quelle: Wikimedia, nach WHO Daten (2012)

Was sind Deiner Meinung nach die grundlegenden Dinge, die jeder über die Multiple Sklerose wissen sollte?

Die Multiple Sklerose wird auch als Krankheit der 1000 Gesichter bezeichnet und äußert sich bei allen PatientInnen anders.
Vielen sieht man die Erkrankung nicht direkt an und genau das macht es so schwierig, als Angehöriger diese zu verstehen und Verständnis aufzubringen.
Besonders Symptome wie Konzentrationsschwierigkeiten, Energielosigkeit, Schmerzen oder Sensibilitätsstörungen sind für Außenstehende nur schwer nachvollziehbar. Obwohl gerade diese Beschwerden die PatienInnen sehr stark belasten, wird ihnen in diesen Bereichen oftmals das größte Unverständnis entgegengebracht wird. Das führt natürlich zu einer noch höheren Belastung.
Das zu erkennen und die MS auch aus der Perspektive der Betroffenen zu verstehen, ist wichtig, um wirklich helfen zu können.

Welche Frage bezüglich der MS Forschung hättest du gerne beantwortet?

Da gibt es zwei Themen. Zum einen Heilung der Erkrankung.

Das ist ja ein sehr aktuelles Thema.

Genau! Durch die Wirksamkeit eines mRNA-Impfstoffes im Tiermodell sieht es nach einem großen Schritt in die richtige Richtung aus! Mich interessiert besonders, inwiefern diese Ergebnisse dann auch in die Klinik und auf den Menschen übertragbar sind.
Ein weiterer spannender Bereich ist für mich die Früherkennung der Krankheit. Viele MS Patienten legen bis zur Diagnose einen langen Weg zurück. Jedoch ist das frühe Erkennen und Eingreifen wichtig, um den Verlauf positiv beeinflussen zu können. Daher wäre es interessant zu wissen, ob es in naher Zukunft diagnostische Methoden gibt, um die MS früher festzustellen.

Liebe Hannah, ich danke Dir für das Gespräch!

Die Multiple Sklerose ist diesjähriger Schwerpunkt des World Brain Days. Aus diesem Grund werden wir diese Woche noch weitere Artikel über die Erkrankung Multiple Sklerose veröffentlichen und Interviews mit Personen führen, die an der MS forschen oder PatientInnen betreuen.
Wir wünschen viele neue Erkenntnisse!

Dieser Beitrag ist in Kooperation mit der Hertie-Stiftung entstanden.

#MoreThanMS ist eine Awareness-Kampagne der Hertie-Stiftung zu Multipler Sklerose. Mit der Kampagne soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass weltweit über 2.8 Millionen Menschen von MS betroffen sind und mit dieser Erkrankung leben. Die Kampagne soll dabei helfen, die Multiple Sklerose zu entstigmatisieren und neue Perspektiven auf die “Erkrankung der 1000 Gesichter” mit ganz unterschiedlich betroffenen Menschen und Verläufen ermöglichen.

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Friedrich Schwarz studiert Humanmedizin und Angewandte Informatik mit Schwerpunkt Neuroinformatik. Aktuell fasziniert ihn die Theorie, dass Humor und Kreativität als Positivfaktoren in der sexuellen Selektion dazu beigetragen haben könnten, dass die menschliche Gehirngröße evolutionär zunahm. Mit dem Schreiben hier probiert er, seine Begeisterung über das Gehirn mit der Welt zu teilen – ob sie möchte oder nicht.

1 Kommentar

  1. Viele ernsthafte Erkrankungen sind kaum präsent in der Öffentlichkeit, andere schon. Verkehrsunfälle, Alzheimer, Diabetes, Essstörungen, Übergewicht, Sucht und Krebs erhalten relativ viel Aufmerksamkeit und sind prominent vertreten im öffentlichen Bewusstsein , multiple Sklerose oder Schizophrenie dagegen nicht.
    Vielleicht weil fast jeder damit rechnet, ein Unfallopfer werden zu können oder in der Familie mit Alzheimer oder Krebs konfrontiert werden zu können, mit MS aber rechnet niemand.

    Krankheiten wie multiple Sklerose sind tatsächlich kaum präsent im öffentlichen Bewusstsein. Vielleicht weil die meisten eine Krankheit wie multiple Sklerose nicht mit sich selbst in Verbindung bringen, weil MS den meisten als bizarres Schicksal erscheint, das einen trifft wie ein Blitzschlag oder sonst etwas Unkontrollierbares, wenn es einen überhaupt trifft.

    Allerdings gibt es insgesamt sehr viel mehr solche „vergessenen/vernachlässigten“ Krankheiten/Erkrankungen als man meinen könnte.

    Es gibt eine grosse Palette von Krankheitsbildern, von klar umrissenen Krankheiten, von denen jede Einzelne deutlich weniger als 1 Prozent der Bevölkerung betrifft, die aber insgesamt doch mehr als ein Prozent aller Krankheiten ausmachen. Das beste wäre sicherlich, wenn all diese Krankheiten irgendwann geheilt werden könnten. Und ja, die Aussichten stehen gar nicht so schlecht, dass die Medizin fast überall Fortschritte macht und viele Krankheiten, denen man heute mehr oder weniger ausgeliefert ist, irgendwann geheilt werden können.

    Gerade bei der multiplen Sklerose scheinen die Hoffnungen auf Fortschritte in der Behandlung durchaus begründet und gerechtfertigt. Das, ein unverhoffter Behandlungserfolg, wird das Leben von Betroffenen aufhellen, Nicht-Betroffene aber werden es kaum zur Kenntnis nehmen.

    Fortschritte in der Medizin bekommen aus diesem Grund nicht oder nur selten den an und für sich berechtigten Applaus. Immerhin scheint die Öffentlichkeit aber bereit, genügend, ja sehr viel Geld ins Unternehmen Medizin zu stecken.

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