Konservative Reaktanz, progressive Selbstgerechtigkeit – Was ich seit 2009 von Twitter lernte
BLOG: Natur des Glaubens
Gerne halten wir Heutigen uns selbst für “rational”, “vernünftig” und “realistisch” und übersehen dabei, dass auch wir durch vor allem mediale Beschleunigungen in “schnelles Denken” (System 1 nach Daniel Kahnemann) verfallen: emotional, stereotypisierend, vorbewusst.
Zu den Folgen davon gehört die Eskalation des Freund-Feind-Dualismus, in dem die Welt nur noch in die vermeintlich absolut gute Eigengruppe und vermeintlich absolute böse Feindgruppen eingeteilt wird. Dies geschieht überall, beispielsweise auch im Markt-Staat-Dualismus der Wirtschaftswissenschaften. So knurrte Moritz Schularick, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) laut Stuttgarter Zeitung vom 1. August 2023, S. 11: “Die einen glauben an den Markt, die anderen an den Staat. Wir sind aber nicht in der Kirche.” Dabei komme es in der Realität immer wieder auf kluges Zusammenwirken an. “Es ist die Kombination aus beidem – das weiß auch jeder – bis auf Glaubenskrieger, die auf beiden Seiten unterwegs sind.”
Persönlich neige ich zur „polyzentrischen“ Wirtschaftstheorie nach Elinor Ostrom, die den Markt-Staat-Dualismus überwindet – werde dazu aber später mal gesondert bloggen. Gegenüber “der Kirche” (welcher?) ist die Aussage Schularicks selbstverständlich etwas ungerecht: Längst haben gerade auch die (noch) größeren, christlichen Kirchen überwiegend in den dialogischen Monismus gefunden, befürworten Ökumene, den interreligiösen Dialog und das Gespräch mit der Wissenschaft. Dualistinnen und Relativisten gehörten oft zu den Ersten, die die Kirchen verlassen. Stattdessen werden dualistische Verschwörungsmythen vor allem in jenen digitalen Medien verbreitet, die auf Beschleunigung setzen. Hetze hat im Deutschen nicht zufällig einen Doppelsinn – wenn wir selbst gehetzt werden, werden wir auch anfälliger dazu, andere zu verhetzen. Und dann krachen Nationalisten und Antideutsche, sog. TERFs und LGBTQ, Fleischgriller und Veganerinnen, Extrem-Religiöse und Antitheisten, die von “Religioten” sprechen u.v.m. aufeinander.
Seit 2009 bin ich auf Twitter aktiv, habe mit Zehntausenden Tweets an Aberhunderten Debatten teilgenommen und kann mit Stolz sagen, dass ich kein einziges Mal gesperrt worden bin. Dazu trägt bei, dass ich mich zwinge, mich in Themen erst einmal einzulesen, bevor ich mich dazu äußere – sowie zwei bis drei jährliche Phasen von Digital- oder Twitterfasten einzulegen, in denen ich mich für mehrere Woche abmelde und emotional “entgifte”. Aus Facebook stieg ich 2019 sogar ganz aus:
Was ich bei Twitter lernte
Es wäre nun aber völlig ungerecht, die jahrelange Geschichte mit Twitter – zumal vor dem Kauf durch Elon Musk und der Umbenennung in X – nur als Leidensgeschichte zu schildern. Ich habe sehr viele tolle Menschen kennenlernt, unheimlich viele gute Diskussionen lesen oder auch mitgestalten dürfen und zudem spannende Beobachtungen machen dürfen. In einem Tweet zum Twitterfasten bis September fasste ich diese so zusammen:
“1. Konservative neigen zur #Reaktanz, Progressive zur #Selbstgerechtigkeit.
2. Durch die digitale #Beschleunigung scheitern Diskurse der Mitte.
3. Vormarsch des #Dualismus.”
So bat ich auch Leonardo.AI, einmal ein Bild zu diesen Beobachtungen zu machen und fügte dazu noch Beschriftungen.
Digitale Verrohung findet vor allem, aber nicht nur rechtsseitig statt. Grafik mit Leonardo.AI: Michael Blume
Haben Sie ähnliche Beobachtungen oder Erfahrungen gemacht? Wie gehen Sie mit der Dauer-Beschleunigung und Emotionalisierung durch Digitalkonzerne um? Nutzen Sie auch bereits Mastodon oder sonst bereits ein Fediversum-Angebot? Ich habe festgestellt, dass auf Mastodon sogar schwere Themen wie die #Wasserkrise 💧 konstruktiv diskutiert werden!
Und nun freue ich mich auf Ihre Kommentare!
Ich nutze kein Twitter, Facebook oder ähnliches. Im Grunde weil ich mich davor schützen will, mich zu unbedachten Äußerungen provozieren zu lassen und weil ich glaube, es ist nicht gesund für mich, mich in jede Diskussion reinziehen zu lassen. Dabei diskutiere ich eigentlich sehr gerne.
Wie kommt es, dass sich mit Mastodon konstruktiver diskutieren lässt als mit Twitter?
Danke für Ihren Kommentar, @chiseller
Ich sehe wie auch im Video beschrieben vor allem das Problem des Geschäftsmodells: Digitalkonzerne wie Facebook / Meta und Twitter / X verkaufen Aufmerksamkeit & Daten an Werbekunden und werden daher Regeln und Algorithmen bevorzugen, die maximal emotionalisieren und fesseln, damit auch verrohen und sogar radikalisieren.
Das Fediversum organisiert sich dagegen föderal und ehrenamtlich, bzw. auf Spendenbasis. Wikipedia ist ein Beispiel, Mastodon ein anderes. Emotionalisierungen und extreme Inhalte werden nicht belohnt, Boosts (Retoots) gibt es vor allem für interessante Inhalte und dialogisches Verhalten. Wir merken die toxischen Auswirkungen von TwitterX sogar an Neu-Wechslern zu Mastodon, die anfangs oft noch viel zu konfrontativ tooten.
Auch das morgendliche Tässle Kaffee ☕️ etwa zur Wasserkrise führte auf TwitterX oft zu Wirtshausschlägereien, wogegen es bei Mastodon regelmäßig zu starken Dialogen auch unter den Kommentierenden führt. Umso mehr Menschen im Fediversum aktiv sind, umso besser für die demokratische Kultur!
Konservative Reaktanz und “progressive” Selbstgerechtigkeit gehen derzeit Hand in Hand, was man am Krieg gegen Russland und am Stillstand im Klimawandel beobachten kann – 🙈🙉🙊 Blödsinnige Verlustängste beherrschen mit wettbewerbsbedingten Symptomatiken die ausschließlich kolonialistischen Globalisierungsvorstellungen, weshalb wir allesamt untergehen werden, wenn nicht doch noch wirklich-wahrhaftige Vernunft und Verantwortungsbewusstsein eine zweifelsfrei-eindeutige Kommunikation in Gang bringen.
✌😐🌻🌍🚸🏳⚠️💣💥🕳🏁⁉️
Am „Krieg gegen Russland“, @hto? Verstehe ich Sie richtig, dass Sie (wie hier ja auch schon der sog. @Realo) das Regime Putin nicht als Aggressor gegen die Ukraine 🇺🇦, sondern als angegriffenes Opfer sehen? 🤔🇷🇺🇺🇦🇪🇺🇺🇸
@Blume
Dieser Krieg ist ein Symptom des “freiheitlichen” Wettbewerbs um die Deutungshoheit (leider immernoch).
An diesem Krieg zeigt sich wie heuchlerisch-verlogen unsere Art und GARNICHT Weise des globalen “Zusammenlebens” ist – Die Menschen werden wieder verheizt.
Sicher, Russland hätte BESSER NICHT kriegerisch auf die Provokationen des Westens reagiert – Oder war das einfach nur “dualistische” Dummheit, auf beiden Seiten!?
Einzelne Signale/Kampagnen und Hilferufe aus Russland, China und vor allem “Drittweltländern” waren zwar schon sichtbar, aber was wissen wir schon was im Vorfeld an Kommunikationsangeboten für eine entsprechend andere Welt- und Werteordnung wirklich besprochen/versprochen wurden – Gorbatschow ist noch sehr gut in Erinnerung!?
Moment, @hto: Inwiefern waren etwa die brutalen Kriege in Tschetschenien und Georgien, die Besetzungen von Krim und Donbass „Provokationen des Westens“? Was soll etwa das Massaker an der letzten Generation aufbegehrender Studierender in Peking für ein Gesprächs- oder Hilfsangebot gewesen sein?
Gorbatschow wurde in Europa und gerade auch in Deutschland sehr geehrt, in Russland eher nicht…
Klar hat auch „der Westen“ Fehler gemacht, aber für die kriegerische Gewalt nach innen und außen sind die Autoritären in Russland und China selbst verantwortlich.
Gorbatschow 1996 in den USA, als es um die Bedingungen der Globalisierung gehen sollte, was die “kleineren” Länder damals noch nicht wollten/mussten, da wurde Gorbatschow als Vermittler absolut nicht ernst genommen. Die westlichen Vertreter haben damals, sozusagen aus Langeweile, das Wort Tittytainment aus Brot und Spiele kreiert (Titty = Ernährung, Tainment = das Unterhaltungsprogramm für die Lohnabhängigen, den “Rest” wie gehabt im Verhältnis 1:5 der Weltbevölkerung), mehr ist aus diesem Kommunikationsversuch nicht entstanden.
Blume: “Klar hat auch „der Westen“ Fehler gemacht, aber für die kriegerische Gewalt nach innen und außen sind die Autoritären in Russland und China selbst verantwortlich.”
Kommt Dir solch ein Statement, offensichtlich ausserhalb des Verstandes von Vernunft und Verantwortungsbewusstsein, nicht ein bisschen kindisch und blind oder ignorant-arrogant vor?
Nein, @hto – ich halte auch nichtwestliche Erwachsene für entscheidungsfähig und also verantwortlich. Von Atatürk, Mandela über Gorbatschow bis zur chinesischen KP und Putin sprechen wir über erwachsene Männer (und leider nur sehr wenige entscheidungsbefugte Frauen). Das zu leugnen – auch mittels Ihrer längst langweiligen Schimpftiraden – führt in auch gedankliche, auch rassistische Abgründe.
Erwachsen & mächtig sein = Verantwortung tragen.
Mastodon …, habe mir das mal angeschaut – Was Du so Diskussionen nennst, echt lächerlich, so’n Stuss.🙃👎
Ach, @hto – Sie müssen doch nicht ständig das Klischee des verbittert-bösen Linksextremen voller Selbstgerechtigkeit (#Historizismus) voll bestätigen. 🤭 Dass Sie sich mit konstruktiven Dialogen nicht ganz leicht tun und stattdessen zu Schimpftiraden mit den immergleichen Satzfetzen neigen, kann hier ja jede/r nachlesen. 😆
Ganz ruhig, Roter! 😉🤷♂️🤭
Menschen pauschal als Dualisten zu bezeichnen finde ich seltsam…
ist dieses Schubladendenken nicht genau das, was sie Dualisten vorhalten?
Nö, eigentlich nicht, @Stefan Eck. Ich unterscheide klar zwischen Dualität & Dualismus und sogar ChatGPT hat die 3er-Reihe aus Relativismus, Dualismus und Monismus wunderbar verstanden:
https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/relativismus-dualismus-und-monismus-auf-twitter-mastodon-chatgpt-und-instalive/
Ihnen Dank für Ihr Interesse, bleiben Sie gerne dran!
Kann ChatGPT wirklich verstehen? Ist ein Programm zur Bildung fähig?
Wenn das vermenschlichen eine Wahnvorstellung ist, wird nicht ChatGPT vermeintlich schlauer, sondern Wir dümmer?
Der Gag sozusagen beim sich eigenen Vernünftig-Erklären besteht darin, dass so auch anderen Vernunft (indirekt und implizit) unterstellt wird, auch wenn die streng von eigener als vernünfig erkannter Sicht abweichen.
(Sofern dort nicht einem sozusagen Schamanismus gefolgt wird, und von dort wahrzunehmende Nachricht inkohärent wird.
Derart gibt es, Dr. W will an dieser Stelle keine Beispiele beibringen, sie sind selten vorfindbar.)
Eine einzelne Person kann nicht für sich vernünftig sein, denn die Ratio meint Einschätzung, Berechnung und Bewertung, die immer zu teilen ist.
Bereits Maßstäbe meinend oder deren Anwendung bzw. Austausch.
So dass Ratio immer auch Veranstaltung meint.
Hierzu :
Wobei auch bis zum Ende des dankenswerterweise bereit gestellten Textes gelesen worden ist.
Ad 1 : Ja
Ad 2 : Durch Ignoranz.
Ad 3 : Fedivers sozusagen, Dr. Webbaer orientiert sich Richtung “block-chain” basierte Kommunikation im Web, sozusagen : natürlicherweise.
Mit freundlichen Grüßen und schöne Kalenderwoche 34 des Jahres 2023 noch
Dr. Webbaer
Danke, @Webbaer 🙏
Hatte die Tage auch mit dem mittleren Sohn eine lange und starke Debatte über die Vielgestaltigkeit von „Vernunft“, über Anthropodizee und Erkenntnissuche nach Popper, vgl.
https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/dennoch-liberale-anthropodizee-nach-karl-popper/
Zwar kommen wir aus verschiedenen Denkrichtungen, @Webbaer – doch Ihr starkes und anhaltendes Interesse an Fragen der Erkenntnistheorie begrüße und achte ich sehr! Beste Grüße für einen schönen Abend!
Wir bleiben in der Kommentatoriik in Kontakt.
MFG
WB
Dr. Webbaer schrieb (21.08.2023, 20:11 Uhr):
> Der Gag sozusagen beim sich eigenen Vernünftig-Erklären besteht darin, dass so auch anderen Vernunft (indirekt und implizit) unterstellt wird, auch wenn die streng von eigener als vernünfig erkannter Sicht abweichen.
Von dieser Auffassung strikt unterscheidbar ist, denjenigen (anderen), deren Äußerungen sich nicht als vernünftig deuten lassen, lediglich ggf. “prinzipielle, aber bislang gar nicht oder nur unzureichend genutzte Begabung zur Vernunft” zuzugestehen. (Beispiel: Popper und Apologeten.)
> Eine einzelne Person kann nicht für sich vernünftig sein, denn die Ratio meint Einschätzung, Berechnung und Bewertung, die immer zu teilen ist.
Dem ist entgegenzusetzen, dass sich eine einzelne Person auch ohne zeitnahes Feed-back von Vernünftigen trotzdem so (vernünftig) äußer kann und sollte, als sei jedenfalls mit (vernünftiger) Rezeption und womöglich schließlich doch noch mit (vernünftigem) Mitteilungs-Austausch zu rechnen.
Dazu gehört insbesondere, den Begriff “Maßstab” zu hinterfragen bzw. ggf. zurückzuweisen und dessen Definition durch vernünftige, nachvollziehbare, ausschließlich auf dem gegenseitigen Zugeständnis von Vernunft-Begabung gegebene Begriffe einzufordern. (Beispiel: Einsteins Forderung der Begründung “zeiträumlicher” Beziehungen — einschl. “zeiträumlicher Maßstäbe” — aus Koinzidenz-Bestimmungen.)
(Bitte weiterleiten)
Liebe Spektrum-Web-Redaktion
Dr. Michael Blume hat einen tollen Mastodon-Account und viele Follower.
Leider ist der nie in der Share-Leiste zu sehen.
Deshalb hier einmal der Account:
https://sueden.social/@BlumeEvolution
oder für Fediverse-Nutzer:
@BlumeEvolution@sueden.social
Hier finden tolle, konstruktive und lesenswerte Diskussionen statt.
Bitte geben Sie seinem Mastodon-Account ein Share-Symbol und die Möglichkeit zum Teilen (z.B. mit Hilfe von “Shariff-Wrapper”).
Freundliche Grüße
G.W.
Meine Erfahrungen mit Twitter waren am Anfang (April 2020) durchaus gut. Ich muss allerdings sagen, dass ich damals auf der Plattform mich aus der Politik komplett herausgehalten habe. Meine Interessen wegen derer ich mich anmeldete, betrafen etwas ganz anderes. Es gab viele wunderbare “Begegnungen” mit interessanten Menschen, die ich im Leben nie getroffen hätte.
Irgendwann habe ich mich auch politisch geäußert. Nachdem ich keine Ablehnung deswegen erfuhr, machte ich eine Zeitlang mit. Als jedoch immer mehr Personen sich als recht intolerant erwiesen und Corona zum Streitobjekt wurde, habe ich entschieden, keine politischen Meinungen mehr zu äußern.
Spannend und konstruktiv ist der Dialog bei Mastodon. Zumal ich politisch keine “Heimat” mehr habe.
Twitter empfand ich Irgendwann als sehr anstrengend, weil jeden Tag eine neue “Empörungs-Sau” durch das Twitter-Dorf getrieben wurde. Weil manche Leute in Ihrer Wortwahl komplett über das Ziel hinausgeschossen sind. Das sehe ich leider gelegentlich auch bei Mastodon bzw Bluesky.
Social Media finde ich für mich persönlich immer noch wichtig. Sie ermöglicht mir nach wie vor vieles, was ich vermissen würde. Zum Beispiel Kontakte in die Welt, in der ich aus bestimmtem Grund immer weniger aktiv sein kann.
die Sache mit der Selbstkritik hab ich als linksgrüner Christ schon früh verstanden, weil ich das Gleichnis mit dem Splitter und dem Balken immer so verstanden habe.
Später kamen dann noch Karl Popper und Thomas S. Kuhn
dazu und das Motto der Zapatistas: “fragend schreiten wir voran”.
SovielSokurz
Danke für Ihre Aufklärungsarbeit
Vielen lieben Dank, @Ivo Krieg!
Gerade heute sprach ich auf Einladung der RWTh Aachen auch über Poppers Meditation zum „Kreuz der Wahrheit“ in seinem Hauptwerk der „offenen Gesellschaft“, vgl.
https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/das-schrumpfen-der-freiheit-poppers-kreuz-der-wahrheit-im-hossa-talk-184/
Ich denke, wir dürfen auf den Spuren Poppers eine ökumenische Spiritualität der Wissenschaft und Veränderungsbereitschaft erhoffen!