Nach 50 Jahren Duldung: Heute erstes legales Cannabis in den Niederlanden zum Kauf

Folgt nach Breda und Tilburg bald das ganze Land? Viele Gemeinden wollen die zwiespältige Situation mit den Coffeeshops endlich auflösen

Frei und liberal – dieses Bild haben viele meiner Bekannten von den Niederlanden, in die ich 2009 für meine Forschung und Lehre an der Universität Groningen zog. Und was könnte einen besseren Beweis dafür liefern als die Coffeeshops, in denen man unkompliziert ein paar Gramm Gras oder Haschisch kaufen kann?

Doch dieses Bild ist nicht unbedingt treffend: Eine Kombination von Geschäftssinn (wenn man doch Geld und Steuern verdienen kann), Pragmatismus (wenn es sich sowieso nicht effektiv verbieten lässt) und Individualismus (jedem das Seine) könnten die faktische Duldung – nicht Legalisierung! – von Cannabis und den Coffeeshops seit den frühen 1970ern besser erklären.

Seit vielen Jahren wächst aber das Bewusstsein dafür, sich mit dieser halbherzigen Lösung ein neues Problem geschaffen zu haben, die sogenannte Hintertürproblematik (niederl. achterdeurproblematiek). Denn auch wenn man sich als Kunde in den Coffeeshops bis zu 5 Gramm seines Wunschprodukts straffrei kaufen kann, gilt das nicht für den gewerblichen Ankauf: Die kommerzielle Herstellung der psychoaktiven Substanz blieb nämlich illegal. (Abgesehen von ein paar neueren Ausnahmen für den medizinischen Gebrauch.)

Daher konnte die Lieferkette für die Coffeeshops – irgendwoher müssen die Produkte ja kommen – nur mithilfe von laut Gesetz kriminellen Organisationen aufrechterhalten werden. Von diesen haben einige seit den 1970ern gut verdient und sind inzwischen auf lukrativere Märkte umgestiegen (z.B. den Kokainhandel); doch heben wir uns das für ein anderes Mal auf.

Pilotprojekt

Während Deutschland noch nach einem gangbaren Weg aus der Cannabismisere sucht, hat man in Nordamerika die Niederlande inzwischen vielerorts mit einer echten Legalisierung überholt. Wie ironisch, dass die USA die Verbotspolitik im 20. Jahrhundert federführend durchgesetzt haben – und sie jetzt als Erste selbst brechen.

Dass Cannabis überhaupt auf die schwarze Liste kam, ist allerdings das Verdienst Ägyptens: Da man die internationale Drogenpolitik nicht allein den Europäern und Amerikanern überlassen wollte, meinte man das unter ägyptischen Eliten damals unbeliebte Cannabis verbieten lassen zu müssen. Die Delegation unter Leitung von Dr. Muhammad El Guindy konnte diese Interessen durchsetzen – und so wurde die Substanz anno 1925 auf der Zweiten Opiumkonferenz in Genf nach internationalem Recht illegal.

Fast hundert Jahre später kann man ab heute in den Niederlanden, wo das Betäubungsmittelgesetz immer noch nostalgisch “opiumwet” heißt, zum ersten Mal wieder einen 100% legalen Joint rauchen. Nach mehr als fünf Jahren Vorbereitung des sogenannten “wietexperiment” wird das Produkt anfänglich in 19 Coffeeshops in den Städten Breda und Tilburg zum Verkauf angeboten.

Beliefert werden sie dafür von drei offiziellen Cannabiszüchtern – oder nennt man sie Bauern? Der Transport wird gesichert. Vorerst sollen während einer halbjährigen Testphase Erfahrungen für die Fortsetzung des Pilotprojekts gesammelt werden.

Besitzer der Coffeeshops klagen allerdings, dass die erlaubte Lagermenge von 500 Gramm zu niedrig sei. Um die Nachfrage ihrer Kunden zu bedienen, müssten sie darum weiterhin illegalen Stoff anbieten.

Hoher Besuch

Laut Ed Pattché, Besitzer des Coffeshops “Paradijs” (Paradies) in Breda, sei das legale Cannabis von guter Qualität und pestizidfrei. Sogar der Gesundheitsminister wird heute für den Verkaufsstart in Breda erwartet. Will er die Wirkung des 100% legalen Produkts persönlich testen?

Das niederländische “wietexperiment” wurde 2019 vom Gesetzgeber möglich gemacht. Doch erst im Februar dieses Jahres bekamen Teilnehmer in den beiden Städten im Süden des Landes grünes Licht. Wie es mit dem Projekt weitergehen wird, steht zurzeit noch nicht fest. Auch andere Gemeinden haben Interesse angemeldet.

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Folgen Sie Stephan Schleim auf Twitter. Titelgrafik: NickyPe auf Pixabay.

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