Zwei Pferde / ДВЕ ЛОШАДИ – Tolstois Fabel über Fleiß und Faulheit

Wie schlau ist es, einen anderen zu belasten, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen? Um dieses und mehr geht es in Tolstois Fabel “Zwei Pferde”.

Der russische Schriftsteller Lew Tolstoi (1828-1910) war nicht nur Kind seiner Zeit und seines Landes, Graf, Gutsbesitzer, Mensch und Mann mit Stärken und Schwächen, sondern auch ein außergewöhnlicher Beobachter, Sinnsuchender, Lehrer und Prediger von Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe.

Tolstois bis zu seinem Tod unermüdliches Schaffen hat über alle zeitlichen und gesellschaftlichen Entfernungen hinweg bis heute Bedeutung. Zum Jahreswechsel habe ich sein Märchen “Der Wesir Abdul”  aus dem Russischen übersetzt, heute folgt seine Fabel: “Zwei Pferde”.

Zwei Pferde

Zwei Pferde zogen jeweils einen Karren. Das vordere Pferd zog gut, aber das hintere blieb stehen. Man belud das vordere Pferd mit der Bagage der hinteren Fuhre. Als alles umgeladen war, ging das hintere Pferd leichtfüßig und sprach zum anderen:

“Leiden und schwitzen. Je mehr du dich anstrengst, desto mehr werden sie dich plagen.”

Als sie im Gasthaus ankamen, sagte sich der Besitzer:

– Warum soll ich zwei Pferde füttern, aber nur eins fährt? Lieber lasse ich einem allein reichlich Futter und schlachte das andere. So nehme ich wenigstens seine Haut.

So wurde es getan.

Was sagt uns diese Geschichte?

Ohne Fleiß kein Preis? Von wegen. Das zweite Pferd scheint es begriffen zu haben: Fleiß im Job zahlt sich längst nicht immer aus. Der Lohn für harte Arbeit ist oft: noch mehr Arbeit. Wer schneller arbeitet als die anderen, darf dafür nicht früher Feierabend machen, sondern bekommt noch mehr Arbeit aufgehalst. Wer nicht “Nein” sagen kann, wird ausgenutzt.

Die Position entscheidet…

Für Chefs ist das sehr bequem. Doch es kommt auf die Position an, von der aus man andere für sich arbeiten lässt…

Das faule Pferd muss sterben, weil es zu egoistisch – und nicht der Boss – war. Wie ungerecht ist das?

Nun ist ein Pferd kein Mensch. Doch es gibt durchaus Menschen, die sich wie das faule Pferd verhalten. Im Umgang mit solchen Zeitgenossen hilft die Erkenntnis: Ein Mensch, der sich wie Tolstois faules Pferd verhält, hat das größere Problem mit sich selbst. Und das kann schlimme Folgen haben – vor allem für die Person selbst.

Verständnis und “Mit-Gefühl” statt “Mit-Leid”

Doch Vorsicht vor Mitleid oder gar dem Wunsch, dieser “armen Person” helfen zu wollen. Was wäre geschehen, wenn das fleißige Pferd sich auch geweigert hätte, seinen Karren zu ziehen? Oder wenn es mit dem anderen gestritten hätte? Vermutlich wären dann beide geschlachtet worden. Es ist durchaus ratsam, faulen Pferden möglichst aus dem Weg zu gehen. Und wenn das nicht geht, dann sollte man zumindest klare Grenzen setzen.

Was immer hilft, sind Verständnis und Mitgefühl. Diese “Waffen” sind gerade deswegen so machtvoll, weil ihnen nichts entgegenzusetzen ist.

Die Kunst des Lebens

Wahre (Lebens-)Kunst ist es, die Arbeit geschickt zu (ver)teilen und den Erfolg zu bekommen. Teamfähigkeit und Kollegialität sollten sich auszahlen, statt ausgenutzt zu werden. Denn hinter jeder individuellen Leistung steht immer ein kollektiver Kraftakt. Wirklich gut und gerecht ist etwas erst, wenn alle profitieren.

Machen wir uns es noch einmal klar: Was ist der Sinn des Lebens? Lieben und geliebt werden, gute Beziehungen führen, einen sinnvollen Beruf ausüben. Primum nil nocere. Zuerst einmal nicht schaden. Dieser elementare Grundsatz des Hippokratischen Eides sollte nicht nur für Ärzte und Ärztinnen gelten. Wissen, dass es gut ist, da zu sein.

Ein Lob auf “gute” Faulheit

Und die Faulheit? Bill Gates sagte einmal: “Ich wähle für schwierige Aufgaben immer eine faule Person. Weil diese definitiv einen einfachen Weg finden wird, um sie zu erledigen.” Ein kluges Statement.
Wie schlau war der Besitzer der beiden Pferde?

ДВЕ ЛОШАДИ

(Басня)
Две лошади везли два воза. Передняя лошадь везла хорошо, а задняя останавливалась. На переднюю лошадь стали поклажу перекладывать с заднего воза; когда все переложили, задняя лошадь пошла налегке и сказала передней:

«Мучься и потей. Что больше будешь стараться, то больше тебя будут мучить».

Когда приехали на постоялый двор, хозяин и говорит:

«Что мне двух лошадей кормить, а на одной возить, лучше одной дам вволю корму, а ту зарежу: хоть шкуру возьму».

Так и сделал.

Quelle:

ДВЕ ЛОШАДИ . Л.Н. Толстой Собр. соч. в 22 тт. Т. 10
[L.N. Collection Tolstoï op. en 22 vol. T.10]
https://rvb.ru/tolstoy/01text/vol_10/01text/0129.htm

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Dr. Karin Schumacher bloggte zunächst als Trota von Berlin seit 2010 bei den SciLogs. Nach dem Studium der Humanmedizin in Deutschland und Spanien promovierte sie neurowissenschaftlich und forschte immunologisch in einigen bekannten Forschungsinstituten, bevor sie in Europas größter Universitätsfrauenklinik eine Facharztausbildung in Frauenheilkunde und Geburtshilfe abschloss. Hierbei wuchs das Interesse an neuen Wegen in der Medizin zu Prävention und Heilung von Krankheiten durch eine gesunde Lebensweise dank mehr Achtsamkeit für sich und seine Umwelt, Respekt und Selbstverantwortung. Die Kosmopolitin ist leidenschaftliche Bergsportlerin und Violinistin und wenn sie nicht gerade fotografiert, schreibt oder liest, dann lernt sie eine neue Sprache. Auf Twitter ist sie übrigens als @med_and_more unterwegs.

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