Was macht Neuropsychologie?
Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung, zum Beispiel einem Schlaganfall, einem Hirntumor oder einem Schädel-Hirn-Trauma, haben oft einen langen Weg zurück ins Leben vor sich. Die neurologische Rehabilitation soll dabei helfen. In einem früheren Beitrag habe ich über Schlaganfälle und den Aufbau der neurologischen Rehabilitation geschrieben. In einer stationären neurologischen Rehabilitationseinrichtung arbeiten viele Berufsgruppen zusammen, mit dem Ziel, die Patientinnen und Patienten individuell und optimal zu versorgen und ihnen behilflich zu sein, verschiedene Fähigkeiten wiederzuerlangen und ihren Alltag bewältigen zu können. Eine dieser Berufsgruppen ist die Klinische Neuropsychologie (kurz: Neuropsychologie).
Was ist die Neuropsychologie?
Die Neuropsychologie befasst sich mit den Auswirkungen von Hirnschädigungen auf die Psyche, die Fähigkeiten und das Verhalten der Betroffenen. Sie umfasst die genaue Diagnostik und Therapie der auftretenden Störungen. Zu den relevanten Funktionen, die untersucht werden, gehören unter anderem das Denkvermögen, die Aufmerksamkeit und Konzentration, das Gedächtnis, die Sprache, die motorischen Fähigkeiten, die möglicherweise veränderte Persönlichkeit und die Wahrnehmung. Auch emotionale oder dementielle Störungen sind relevant.
Die klinische Neuropsychologie ist die Schwester der kognitiven Neurowissenschaften. Letztere beschäftigen sich mit der Erforschung der neuronalen Mechanismen, die psychischen Funktionen zugrunde liegen. Dank dieser Forschungsgebiete haben wir heute ein vertieftes Verständnis der Funktionsmechanismen unseres Handelns, unserer Denkprozesse, unserer Wahrnehmung oder auch unseres Gedächtnisses. Diese Funktionen können durch neurologische Ereignisse, wie z.B. einen Schlaganfall, gestört werden. Die Neuropsychologie wendet das Wissen, das wir über unser Gehirn und unsere Kognitionen haben, an, um genau zu identifizieren, welche Einbußen mit welcher Hirnschädigung an welcher Stelle unseres Gehirns einhergehen. Sie nutzt die Erkenntnisse der Psychologie, um gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten daran zu arbeiten, die eingeschränkten Fähigkeiten zu identifizieren, zu trainieren, im besten Fall wiederherzustellen.
Typische Störungsbilder der Neuropsychologie
Unsere Psyche umfasst eine Vielzahl kognitiver Funktionen, die durch Neuropathologie beeinträchtigt werden können. Das häufigste Störungsbild nach neurologischen Ereignissen wie Schlaganfällen oder Hirntumoren sind Aufmerksamkeitsstörungen. 80 Prozent der Patientinnen und Patienten leiden an entsprechenden Problemen, die sich z.B. darin äußern, dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben, Texte zu lesen, Fernsehsendungen zu folgen oder in Gesprächen aufzupassen. Sie schweifen leicht ab, sind schneller erschöpft und brauchen mehr Ruhe.
Aufmerksamkeit ist eine grundlegende Voraussetzung für andere psychische Funktionen. Fällt es uns schwer, uns auf die Reize unserer Umwelt zu konzentrieren, werden diese nicht richtig wahrgenommen, als irrelevant bewertet und somit auch nicht im Gedächtnis gespeichert. Die Folge kann Vergesslichkeit sein, die keine grundsätzliche Fehlfunktion unseres eigentlichen Gedächtnissystems ist. Ohne Aufmerksamkeit können abstrakte oder anspruchsvollere Denkprozesse nicht durchgeführt werden, z.B. das Erlernen neuer Fertigkeiten, das Erinnern wichtiger Informationen oder das Planen von Aktivitäten.
Aufmerksamkeit umfasst viele einzelne Aufmerksamkeitsfunktionen. Dazu zählen unter anderem:
- Selektive Aufmerksamkeit: Einzelne Reize besonders fokussieren während andere vernachlässigt werden. Z.B. Beim Bearbeiten einer Aufgabe
- Daueraufmerksamkeit: Aufmerksamkeit, die kontinuierlich über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten wird
- Visuell-räumliche selektive Aufmerksamkeit: Orientierung im Raum, v.a. bei erforderlicher neuer Orientierung und dem Fokussieren hin zu einer Reizquelle
Es gibt nicht die eine „Aufmerksamkeit“ als solche, die sich an einer Stelle im Gehirn verordnen lässt. Viele Prozesse und viele Bereiche des Gehirns spielen zusammen, um uns eine gesunde Aufmerksamkeit zu ermöglichen, die steuerbar, fokussiert und umfassend genug ist. Dies ist eine nicht zu unterschätzende Leistung. So können eine Vielzahl von Schädigungen oder auch nur der anspruchsvolle und energieaufwendige Heilungsprozess des Gehirns zu den häufigen Aufmerksamkeitsstörungen führen, die die Bewältigung des Alltags erschweren.
Gestörte Aufmerksamkeit: Der Hemineglect
Eine besondere Form der Aufmerksamkeitsstörung ist der sogenannte Hemineglect. “Neglect” bedeutet Vernachlässigung, Hemi bedeutet in diesem Falle „halbseitig“. Betroffene vernachlässigen eine Seite der Welt, in der sie sich bewegen. Neglect ist häufig eine Störung, die oft nach einer Schädigung des rechten Patrietallappens auftritt, einer für die Aufmerksamkeit wichtigen Hirnregion. Der Patrietallappen hat unter anderem die Aufgabe, Sinneseindrücke für die weitere Verarbeitung zu bündeln. Unser Gehirn ist über Kreuz mit unserer Peripherie verbunden, die rechte Gehirnhälfte steuert die linke Körperhälfte und umgekehrt. Bei einer rechtsseitigen Hirnschädigung vernachlässigen Menschen mit Hemineglect meist die linke Seite ihrer Umgebung oder ihres Körpers. Durch andere Gehirnschädigungen in der linken Hemisphäre kann jedoch auch rechtsseitiger Neglect auftreten, in weiteren Beispielen werde ich von dem häufigeren linksseitigen Neglect schreiben.
Wie sieht das aus? Im Extremfall nehmen die Betroffenen die linke Seite ihrer Umgebung, manchmal sogar ihrer selbst, nicht mehr wahr. Der vor ihnen stehende Teller wird dann als leer empfunden, wenn das Essen auf der rechten Seite gegessen wurde, unabhängig davon, was tatsächlich noch vor ihnen steht. Es kann dazu kommen, dass Männer nur noch die rechte Seite ihres Gesichts rasieren. Wenn mehrere Sinnesmodalitäten betroffen sind, stoßen die Betroffenen oft gegen Türrahmen oder Tische links von ihnen, ohne es zu merken, oder die Stimme des Freundes neben dem linken Ohr wird erst wahrgenommen, wenn er sich weiter nach rechts bewegt. Hemineglect kann alle Sinne betreffen. Eine häufige Form ist der visuelle Neglect, bei dem die visuelle Wahrnehmung beeinträchtigt ist.
Visueller Neglect liegt nicht an einer Störung des visuellen Systems. Die Augen, die neurologischen Sehbahnen und der visuelle Kortex des Gehirns funktionieren in der Regel einwandfrei. Die Störung liegt in der Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit und damit auch der Wahrnehmung. Die an das Gehirn gesendeten Sinneseindrücke der linken Seite werden nicht weiter beachtet oder von parallelen Sinneseindrücken der rechten Seite überschattet, sie verlaufen sozusagen im Sand. So gelingt es dem Gehirn nicht mehr, die Aufmerksamkeit auf die linke Seite der Welt, der Objekte oder des Selbst zu lenken. Unser Gehirn nimmt auf der linken Seite nichts mehr wahr und für die Betroffenen ist es, als ob diese einfach nicht mehr existiert.
Mit Hilfe neuropsychologischer Testverfahren kann festgestellt werden, ob ein Neglect vorliegt. So werden Betroffene häufig aufgefordert, Bilder nachzuzeichnen, Sätze vorzulesen, eine Linie zu halbieren oder bestimmte Zeichen in Bildern durchzustreichen. Auch von Seiten und abgebildeten Gegenständen kann nur die rechte Seite wahrgenommen werden, so sind nachgezeichnete Bilder oft unvollständig, in vorgelesenen Sätzen fehlen links gedruckte Wörter, die Linie wird in der rechten Hälfte halbiert oder in Suchbildern werden die zu suchenden Zeichen nur auf der rechten Seite durchgestrichen.
Da es sich um eine Störung der Aufmerksamkeit handelt, ist die Krankheitseinsicht meist gering. Die Betroffenen merken nicht, dass ihnen die halbe Welt fehlt, denn wenn das Sehen selbst nicht eingeschränkt ist, gehen sie ganz natürlich davon aus, dass sie die Welt so wahrnehmen, wie sie ist. Die fehlende Krankheitseinsicht, auch „Anosognosie” genannt, kann die Therapie erschweren. Patientinnen und Patienten sollten vom Personal, aber auch vom eigenen sozialen Umfeld immer wieder daran erinnert werden, sich der vernachlässigten Seite zuzuwenden. Bei Suchaufgaben kann eine Markierung am linken Bildrand bei dem Training, immer wieder nach links zu schauen, helfen. Wird mit den Betroffenen geübt, Objekte oder Bilder als Ganzes wahrzunehmen, indem auf der linken Seite nach Reizen gesucht wird, spricht man von visuellem Explorationstraining. Es können systematisch Augen- und Kopfbewegungen geübt werden, die auf die linke Seite gerichtet sind. Vibrationsgeräte, die die Haut auf der linken Seite stimulieren, können die Wahrnehmung zusätzlich fördern.
Bei den meisten Patientinnen und Patienten bildet sich der Neglect so zurück. Es ist wie bei allen neuropsychologischen Störungsbildern wichtig, frühzeitig mit der neuropsychologischen Behandlung zu beginnen, um das Gehirn gezielt in seinem Heilungsprozess zu unterstützen.
Quelle
Goldenberg, G. (2016). Neuropsychologie: Grundlagen, Klinik, Rehabilitation. (5. Aufl.). Elsevier, Urban & Fischer Verlag.
@Lea Anthes – Warum erwecken sie in ihrem Beitrag den Eindruck, dieses Wissen sei irgendwie neu und betroffene Patienten würden einen “Neuropsychologen” brauchen, um an ihren Defiziten zu arbeiten?
Alles, was sie da aufgezähllt haben, war schon in den 90ern Inhalt der Ergotherapie-Ausbildung (plus natürlich die anderen Formen des Neglects…)
Es können systematisch Augen- und Kopfbewegungen geübt werden, die auf die linke Seite gerichtet sind. Vibrationsgeräte, die die Haut auf der linken Seite stimulieren, können die Wahrnehmung zusätzlich fördern.
An dieser Stelle hätte ich mir einen Hinweis darauf gewünscht, wer das macht – der “Neuropsychologe”? Oder die Ergo- bzw. Physiotherapeuten?
(“An der betroffenen Stelle/Seite”, bzw. “meist im Nacken” hätte ich auch schön gefunden…)
Im Alltag können auch Angehörige ein Massagegerät einsetzen, wenn sie eine Einweisung in dessen Gebrauch hatten.
Und auch wenn es tatsächlich im weitesten Sinne eine “Aufmerksamkeitsstörung” ist, hätte ich etwas mehr Zusammenhang zur Wahrnehmung, bzw. Lateralisierung der beiden Hirnhälften sinnvoll gefunden.
Es geht bei einer Therapie nicht darum, dass sich der Patient “nicht richtig konzentriert”, sondern darum, dass er die Objekte auf der Seite tatsächlich nicht wahrnimmt, wenn er nicht dabei unterstützt wird.
Es ist wie bei allen neuropsychologischen Störungsbildern wichtig, frühzeitig mit der neuropsychologischen Behandlung zu beginnen, um das Gehirn gezielt in seinem Heilungsprozess zu unterstützen.
Ja, aber nicht mit einem “Rezept für Neuropsychologie” sondern einem Rezept für eine “Sensorisch-Perzeptive Behandlung” in einer Ergopraxis. (Bzw. nach dem Krankenhaus in die Reha und dann erst zur Praxis.)
Danke für Ihre Anmerkungen! Ich habe in dem Beitrag tatsächlich nie behauptet, dass dies neue Informationen seien. Dieser Blog richtet sich an die allgemeine Bevölkerung und an Neuro-Interessierte und viele Menschen können weder mit dem Wort “Neuropsychologie”, noch mit “Neglect” etwas anfangen und so war das Ziel des Beitrags einfache, grundlegende Aufklärung. Es freut mich, dass die Therapie neuropsychologischer Störungen Inhalt der Ergotherapie-Ausbildung ist. Das sollte wahrscheinlich auch so sein, denn in der Neurorehabilitation ist es, wie ich geschrieben habe, ausgesprochen wichtig, dass verschiedene Berufsgruppen zusammenarbeiten. Gegenseitige Wertschätzung sollte die Grundlage davon sein. Dass Ergotherapeutinnen und -therapeuten in einer ambulanten Rehabilitation auch Neglect behandeln, ist absolut richtig und wichtig. Ich beziehe mich aber in diesem und dem vorherigen Artikel von Beginn an auf stationäre Reha und ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Neglect-Behandlung dort Inhalt der neuropsychologischen Therapie ist. Natürlich variiert auch das von Klinik zu Klinik. Die Hauptsache ist, dass Berufsgruppen gemeinsam an der Besserung ihrer Patientinnen und Patienten arbeiten und ihre Kompetenzen anerkennen. An wen später das ambulante Rezept geschrieben wird, können dann die Neurologinnen und Neurologen entscheiden, denn das ist am Ende sehr abhängig von dem Störungsbild, der Lage der Versorgung und den Präferenzen der Betroffenen.
“Dieser Blog richtet sich an die allgemeine Bevölkerung”
Unser Nachbar hatte einen Schlaganfall und sollte jetzt in die Reha.
Dort konnte er sich aber nicht integrieren, weil er die Stationen nicht fand.
Also schickte man ihn wieder nach Hause.
Irgendwie passt das nicht zu ihren Fällen, die Sie beschreiben.
Wenn jemand orientierungslos geworden ist, ist das dann ein Fall für die Neuropsychologie oder nicht ?
Schlaganfälle und andere erlangte Hirnschädigungen sind sehr individuell, der Grad der Beeinträchtigung kann von vielen Dingen abhängig sein. Die von Ihnen beschriebene Lage tritt so oft bei “B-Phase” Patientinnen und Patienten auf. Prinzipiell kann man in allen Phasen der neurologischen Rehabilitation auch eine neuropsychologische Behandlung durchführen und auch die durchgeführten Verfahren werden an das individuelle Niveau der kognitiven Leistungen angepasst. Die Neuropsychologie würde gerade in ihrem Fall das Ziel verfolgen, die Orientierung zu unterstützen und wäre sicherlich indiziert. Jedoch ist leider nicht jede Reha-Klinik auf eine solche Behandlung ausgelegt, im besten Falle sollte sich aber nicht der Patient der Klinik, sondern die Klinik den Patientinnen und Patienten anpassen, sowohl in durchgeführte Therapie als auch in der Gestaltung des Raumes uvm. In manchen Fällen können Zustände der Orientierungslosigkeit vorübergehend sein und durch ein sogenannten Delir ausgelöst sein. Dann kann es vorerst sinnvoll sein abzuwarten, bis der Delir-Zustand abgeklungen ist. In der Realität unseres Gesundheitswesens fallen leider immer wieder Menschen vorschnell durchs Raster obwohl Therapie indiziert wäre und auch helfen könnte.
Liebe Frau Anthes,
ein sehr interessanter Artikel.
Besonders interessieren mich die Themen „Aufmerksamkeit“ in Verbindung mit „Wahrnehmung“ und „Denkprozessen“.
Dass sich Betroffene nach einem Schlaganfall ihrer Defizite nicht bewusst sind und ihr Verhalten als normal empfinden, ist gut vorstellbar und habe ich selbst bei Angehörigen erlebt. Das Gehirn muss Enormes leisten, um die. Störung zu beheben. Umso wichtiger, dass multiprofessionelle Teams zusammen arbeiten und helfen……