Der Straßenchor e.V.: Singen ist die -einzige- gesunde Droge!

“Der Straßenchor e.V.” gibt Menschen in Berlin eine Stimme und neuen Mut, die bislang meist auf der Schattenseite des Lebens standen. Wie Chorleiter und Konzertpianist Stefan Schmidt zu dieser verrückten Idee kam, aus Obdachlosen und Junkies disziplinierte Chorsänger zu machen. 

Geschehen Wunder?

Eine der Hymnen dieses besonderen Chors ist “Wunder geschehen” von Nena. Das “Wunder” des Berliner Straßenchors [1] durfte 2019 seinen zehnten Geburtstag feiern. Seit mehr als einer Dekade gibt Chorleiter und Pianist Stefan Schmidt Obdachlosen, Drogensüchtigen und Hartz IV-Empfängern eine neue Stimme. Hier erhalten alle Chormitglieder ein musikalisches Zuhause und damit auch eine neue Heimat und Hoffnung.

Der Chor bietet seinen Mitgliedern eine Familie und Therapie. Denn jeder und jede wird gebraucht. Das hat fantastische Folgen: Selbstwert, Zuversicht und Lebensfreude. Musik als gesunde Droge – nicht zuletzt geben die wöchentlichen Proben dem Leben wieder eine Struktur und einen Lebenssinn.

Mit Musik zum Lebenssinn

Zum zehnjährigen Bestehen des Straßenchors erzählt Chorleiter Stefan Schmidt, wie dieses “Wunder” begann [2, 3]. Der Pianist war neu in der Stadt, als er 2002 in der Berliner U-Bahn ein Mädchen singen hörte. Der Profimusiker war zugleich begeistert und frustriert: Obwohl sie begabt war, würde sie doch kaum Chancen haben, etwas Besseres daraus zu machen.

Stefan Schmidt dachte, dass es vermutlich viele Menschen in Berlin gibt, die zwar gern singen, aber weder Geld noch eine Wohnung haben. Daraufhin schrieb er an den Berliner Senat und diverse Institutionen, um Raum und Unterstützung für sein Projekt zu bekommen. Doch ein paar Jahre lang geschah erst einmal nichts.

Attempto! Es geht endlich los…

2009 vermittelte die UFA dann über einige Umwege einen Probenraum. Der Deal: Im Gegenzug drehte die Filmproduktionsfirma drei Monate lang eine Doku-Soap über das Projekt [4].

Für den Chorleiter bedeutete das zunächst einmal viel Stress. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass das Projekt scheitern würde, war hoch. Würden die Jungs und Mädels es schaffen, vor den Proben nüchtern zu bleiben? Würde der Chorleiter einen ausreichenden Pegel Disziplin erreichen können, dass regelmäßige Proben überhaupt möglich würden?

Die wichtigste Frage war aber: Könnte das Projekt auch über die Drehzeit hinaus weiterbestehen? Nur dann würde es sich lohnen, damit überhaupt zu beginnen.

Attempto heißt auf Lateinisch: Ich wage es. Und Stefan Schmidt wagte es. Zu Beginn übte er mindestens zweimal pro Woche und sicherheitshalber schon um elf Uhr. Bis dahin könnte die neue Gesangstruppe ihren Alkohol-Pegel vielleicht auf null halten, so zumindest seine Hoffnung.

… nicht ohne goldene Regeln

Von Sozialarbeit und Drogensucht hatte der studierte Konzertpianist bis dahin keine Ahnung. Sein Vorteil – denn für den Chorleiter waren die Sänger nie Klienten, sondern Laiensänger wie in jedem anderen Chor auch.

Natürlich war klar, dass ein solches Projekt nicht nur musikalisch professionelle Unterstützung braucht. Die Sozialarbeiter von der Treberhilfe waren ein großer Gewinn. Zur ersten Probe brachte Sozialarbeiterin Asgard acht goldene Regeln mit. Diese sind übrigens nicht nur für Obdachlose und Junkies nützlich:

1) Wir wollen anderen Menschen ein Vorbild geben und verhalten uns selbst vorbildlich.
2) Wir bleiben auch bei Schwierigkeiten und Rückschlägen geduldig und werfen nicht vorzeitig das Handtuch.
3) Jeder Mitwirkende verdient den Respekt des anderen.
4) Wir begegnen uns mit einem Lächeln, treten höflich und verständnisvoll auf.
5) Uns führen die Musik und der Chor zusammen. Drogen, Alkohol, Geld, Neid und Missgunst bleiben außen vor.
6) Wir argumentieren mit Ideen, Vorschlägen, Anregungen – verzichten auf jede Form von Gewalt.
7) Wir sind rücksichtsvolle Gäste des Gemeindehauses und sorgen für Ordnung und Sauberkeit in den Räumen.
8) Wer gegen die goldenen Regeln verstößt, wird von der jeweiligen Chorprobe ausgeschlossen.

Teamgeist – a tempo!

Auch wenn zum Glück niemand ausgeschlossen werden musste, hielten natürlich nicht alle durch. Wie schafft man es, Leute zu motivieren, die eh nichts mehr zu verlieren haben? Das war vor allem ein Anfang immer wieder ein zentrales Problem.

Es funktioniert nur, wenn der Teamgeist beschworen wird. Kein Einzelner ist wichtiger als der gesamte Chor. In dieser Gruppe wird niemand allein gelassen. Es ist ein wenig wie in der Spielanweisung a tempo (italienisch für “zum Tempo (zurück)” – wieder im gleichen Tempo spielen, singen, atmen und somit leben.

Für die Zeit der Probe können die Sänger ihre Probleme vergessen und werden (wieder) als Menschen ernstgenommen. Das gibt eine ungeahnte Kraft und einen wunderbaren Zusammenhalt. Auch oder gerade weil Superergebnisse nicht so schnell möglich sind.

Somit lernen die Chormitglieder etwas ganz Wichtiges: Aushalten. Probleme kann man auch anders als durch Betäubung, Aggressionen oder Weglaufen lösen.

Musik als gesunde Droge

Musik ist eine der wenigen gesunden Drogen auf dieser Welt. Musik macht uns zu Menschen. Musik spricht direkt in unsere Herzen und unser Hirn. Sie kann alles erreichen – von total traurig bis total glücklich.

Damit ist Musik eine der schönsten Therapien, die Menschen jemals erfunden haben.

Gutes bewirken

Sicher gibt es Chöre, die besser singen. Doch aus diesem Straßenchor klingen Seele und Hoffnung. Dieser Klang berührt jeden, der ihn hört. Und Übung macht auch hier neue Meister [5].

Obwohl Chorleiter Stefan Schmidt vor allem am Anfang oft mit sich haderte, warum er sich dieses nicht immer einfache Projekt ausgesucht hatte – als Pianist könnte er das, was er bisher mit dem Straßenchor erreicht hat, niemals erreichen. Und das ist einfach wunderbar.

Natürlich kann leider nicht jeder als Sänger erfolgreich sein. Einige sind wieder abgestürzt. Doch manch einem hat der Chor das Leben gerettet. Viele haben den Weg auf den Arbeitsmarkt oder sogar auf die Uni gefunden. Einige können dann nicht mehr zu den Proben kommen. Sie bleiben aber gerngesehene Gäste auf den Konzerten und Festen.

Der abseits-Chor oder: Der Straßenchor macht Schule

Was gibt es Schöneres als Musik als Ausdruck der Menschlichkeit und der Menschenwürde? Der Erfolg des Berliner Straßenchors hat mittlerweile auch in anderen Städten Menschen inspiriert. 2011 wurde der abseits-Chor in Osnabrück gegründet. Auch hier ist Gänsehaut-Feeling garantiert.

Straßenchöre in Corona-Zeiten

Nun hat die Corona-Pandemie das Leben und Wirken von Chören nicht erleichtert. Die Straßenchöre trifft es besonders. Nicht immer konnte live geprobt werden. Manche ertrugen diese Abstinenz nicht und fielen zurück in alte Laster. Krankheiten, die sich durch die Proben gebessert hatten, traten wieder auf oder verschlimmerten sich. Wollen wir hoffen, dass der zweite Corona-Winter ein besserer wird mit viel Wärme und Hoffnung für die, die sie am meisten brauchen.

Am 09. Dezember feiert der Berliner Straßenchor seine Weihnachtsfeier. Am 18. Dezember wird das Jahr für den Chor gesanglich ausklingen auf einem Straßenfest für Obdachlose. Wer den Chor unterstützen möchte, kann dies hier tun: https://www.betterplace.org/de/projects/5823?utm_campaign=user_share&utm_medium=ppp_stats&utm_source=Link
Wenn ich es richtig verstanden habe, kann man Spenden auch verschenken – ein ideales, nachhaltiges Geschenk für alle, die noch suchen. ;)🎄

Danke, lieber Straßenchor, dass es euch gibt! Allen frohe Festtage, viel Spaß beim Singen und einen guten und gesunden Start in ein glückliches und erfolgreiches Jahr 2022!

Quellen / weiterführende Links:

  1. Webseite “Der Straßenchor e.V.”: https://www.derstrassenchor.com
  2. SWR Nachtcafé “Musik ist mein Leben” (SWR Nachtcafé, 24.05.19, abgerufen am 09.12.21)
  3. Zehn Jahre Straßenchor. “Mit Klavierspielen könnte ich das nicht schaffen”. Interview mit Stefan Schmidt. Rbb24 (online 22.09.19, abgerufen am 09.12.21)
  4. Doku-Serie zur Entstehung des Straßenchors (ZDFneo auf YouTube, 2009, Teil 1, abgerufen am 09.12.21): https://www.youtube.com/watch?v=eayNXQklXN0
  5. Titelbild: Ausschnitt aus: Der Straßenchor: Trevor’s Song (it gets better), (YouTube, Upload von Benjamin Grossmann, 15.05.14, abgerufen am 09.12.21):

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Dr. Karin Schumacher bloggte zunächst als Trota von Berlin seit 2010 bei den SciLogs. Nach dem Studium der Humanmedizin in Deutschland und Spanien promovierte sie neurowissenschaftlich und forschte immunologisch in einigen bekannten Forschungsinstituten, bevor sie in Europas größter Universitätsfrauenklinik eine Facharztausbildung in Frauenheilkunde und Geburtshilfe abschloss. Hierbei wuchs das Interesse an neuen Wegen in der Medizin zu Prävention und Heilung von Krankheiten durch eine gesunde Lebensweise dank mehr Achtsamkeit für sich und seine Umwelt, Respekt und Selbstverantwortung. Die Kosmopolitin ist leidenschaftliche Bergsportlerin und Violinistin und wenn sie nicht gerade fotografiert, schreibt oder liest, dann lernt sie eine neue Sprache. Auf Twitter ist sie übrigens als @med_and_more unterwegs.

2 Kommentare

  1. Ein guter Anfang!
    In Irland z.B. ist an mehreren Abenden Sing Song in den Pubs. Und da singen fast alle mit. Sogar in den Vorortbahnen in Dublin kann es passieren, dass am Abend zwei Leute mit Gitarren einsteigen und der ganze Wagen stimmt in den Song mit ein.
    Bei uns an den Schulen wird gespart. Musikunterricht ist Nebenfach. Sollte man ändern !
    Und als Anregung, besuchen Sie einmal einen italienischen Gottesdienst. Wenn die Frauen ihren Choral anstimmen, das toppt jede kommerzielle Musik.

  2. “Wollen wir hoffen, dass der zweite Corona-Winter ein besserer wird mit viel Wärme und Hoffnung für die, die sie am meisten brauchen.”

    Wärme gibt es leider nur mit 3G. Sonst werden die Obdachlosen in Berlin aus den Bahnhöfen geworfen und müssen leider draußen erfrieren. Der rot-rot-grüne Senat hat eben ein ganz besonders großes Herz für die Ärmsten.

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