Fremdenfeindlichkeit und Konservativismus – Vielfalt und “diversity”
BLOG: Landschaft & Oekologie
Diejenigen, die den Zuzug von Fremden, insbesondere von Flüchtlingen, nicht be- oder verhindern wollen, sondern eher begrüßen, bringen zwar oft nur ökonomische oder humanitäre Argumente vor. Meist aber begrüßen sie ihn wegen der Steigerung der „Vielfalt“, also aus einem kulturellen Grund.[1] Sie nennen ihre Gegner meist „konservativ“. Diese folgten einem falschen Leitbild, dem einer homogenen Gesellschaft von Menschen, die ihrer Abstammung nach Deutsche sind. Vielfalt aber sei doch, so hält man diesen konservativen Freunden der Homogenität entgegen, ein Wert, vielleicht ein westlicher, jedenfalls ein hoher.
Daran irritiert, daß die Befürworter von mehr Vielfalt ziemlich offen einer Gesellschaft zuarbeiten, die noch viel homogener ist: der weltweit einheitlichen Gesellschaft, auf die der Kapitalismus ohnehin zusteuert. In Tokio sieht es aus wie in Berlin und in Mailand, überall sind die Menschen gleich gekleidet, alle werden auf die gleiche Weise ausgebildet (man kann den Ausbildungserfolg über ein und denselben Test, den PISA-Test, objektiv vergleichen), alle höheren Ausbildungsgänge auf der Welt führen über den „Bachelor“ zum „Master“. Und man bekommt überall dasselbe Essen, lacht über dieselben “comedians” und spricht überall dieselbe Sprache.
Gerade diejenigen, die sich für die Zunahme der Vielfalt engagieren, sind besonders eifrig, die Vielfalt der Sprachen zugunsten einer einzigen abzuschaffen. Sie engagieren sich eben nicht für die Zunahme der Vielfalt, sondern der „diversity“. Dresden sei keineswegs fremdenfeindlich, sondern „a place to be“, Gruppen, die den Flüchtlingen helfen, heißen „Multitude e.V.“ oder „Refugees Welcome“, und auch auf den Plakaten, die bei der Ankunft der Flüchtlinge hochgehalten werden, steht „welcome“, obwohl natürlich jeder, der „welcome“ versteht, „willkommen“ ebenfalls versteht. Das gilt ebenso, wenn er die Plakate irgendwo im Ausland im Fernsehen sieht, zumal wenn ihm gesagt wird, daß die Aufnahmen in Deutschland gemacht wurden. Wir verstehen ja auch, daß Djihad dasselbe bedeutet wie Dschihad. Das Argument, daß die Fernsehbilder sonst nicht international verstanden würden, sieht also ziemlich vorgeschoben aus.
Man folgt vielmehr der gewaltigen Sogkraft einer bestimmten Kultur, jener Kultur, die nach einem schon über hundert Jahre alten Glaubensgrundsatz des deutschen Konservativismus dabei ist, jeder Kultur zugunsten der bloßen „Zivilisation“ den Garaus zu machen. Jene weltweit einheitliche Zivilisation hat aber doch ihren geographischen Schwerpunkt (ist zugleich eine regionale Kultur): Amerika. Deutsche und Chinesen, vor allem junge, schämen sich ihrer Herkunft und möchten viel lieber aus Kalifornien stammen. Durch Kleidung und überhaupt den ganzen Habitus bzw. ihren „lifestyle“ schaffen sie es auch weitgehend, so zu wirken, und sprachlich bemühen sie sich wenigstens um diesen Anschein. Mir gefällt das nicht, ich bin da konservativ.
Nun habe ich aber „konservativ“ in einem ganz anderen Sinn gebraucht als oben. Dort waren die Konservativen – denn als solche ja werden die Gegner der heutigen Zuwanderung von deren Befürwortern bezeichnet – diejenigen, die für die homogene Gesellschaft und gegen Vielfalt sind. Jetzt sind sie diejenigen, die gegen die weltweite Homogenisierung, also für Vielfalt sind. Es soll nicht überall gleich sein. In Deutschland soll es typisch deutsch aussehen, in Arabien typisch arabisch, in der Türkei typisch türkisch und in Bayern typisch bayerisch. Der Widerspruch löst sich natürlich leicht auf: Die einen sind für Vielfalt im Sinne einer geographischen Differenzierung, die anderen für „diversity“ an jedem Ort. In jeder deutschen Stadt soll es Orte geben – zumindest stört es nicht, wenn es sie gibt –, die typisch deutsch aussehen, andere, die typisch türkisch aussehen, wieder andere, die typisch afrikanisch aussehen. Es gibt da wie bei allen anderen Mischungen – die eine Speisekarte enthält italienische, serbische und arabische Gerichte, die andere asiatische und afrikanische – keinerlei Regel, es muß völlig frei zugehen, und Freiheit heißt Beliebigkeit. Jedes Individuum muß wohnen dürfen wo es will und wie es will, es muß sich auch so verhalten dürfen, wie es seiner Herkunftskultur entspricht, er muß insbesondere seine angestammte Religion praktizieren dürfen usw.
Die andere Seite ist zumindest im Extrem dafür, daß in Deutschland nur Menschen leben, die ihrer Herkunft nach Deutsche sind, daß niemand auf deutschen Straßen Kleidung trägt, die in Deutschland nicht üblich ist (die in Wirklichkeit, so wollen wir hinzufügen, keineswegs typisch deutsch, sondern wenn überhaupt für irgend etwas typisch, dann typisch amerikanisch ist; Lederhosen tragen in Bayern nur Oktoberfesttouristen und zum Zwecke der Anlockung von Touristen „typisch bayerisch“ eingekleidete Indigene), und er ist dafür, daß in deutschen Städten Minarette verboten werden. Letztlich ist er dafür, daß der andere da bleibt, wo er herkommt, also hingehört. (Ich habe zu diesem Thema schon einiges hier in diesem Blog geschrieben, z. B. die Artikel „Das problematische Glück der Heimat“ und „Was an der Liebe zur Biodiversität christlich ist“.)
Nun, wenn das die Alternative wäre, dann müßte ich mich auf die Seite der Befürworter der regellosen Buntheit an jedem Ort und damit der weltweiten Homogenisierung stellen, müßte also den Gang der Geschichte unterstützen, dessen Motor der Kapitalismus ist (bzw., auf anderer Ebene, die liberale Weltanschauung) und der über die Phase der „diversity“ letztendlich zu einer völligen Homogenisierung führt. Denn natürlich werden selbst die Türken und Araber nach einiger Zeit völlig integriert sein, so wie die Deutschen in die angloamerikanische Kultur integriert sein werden. Ich müßte also dafür sein, daß bald alle Menschen gleich aussehen, und zwar so wie Bankberater aus Werbefilmen. Das alles müßte ich in Kauf nehmen, denn die Abschottung will ich auf keinen Fall. Aber Gott sei Dank ist das nicht die Alternative.
Sehen wir uns an, wie der Konservativismus entstand. Er entstand als Reaktion auf den Fortschritt und in Gegnerschaft zu dessen Parteien, den „Liberalen“ und den „Demokraten“, und damit entstand er als Teil der Gegenaufklärung. Sicher gab es hier und da politische Extrempositionen wie die oben skizzierten, aber das war nicht der Konservativismus, es waren eher Deformationen desselben. Eine geschlossene, in sich stimmige konservative Theorie der Gesellschaft und der Geschichte wurde, wenn die einschlägige Literatur Recht hat, paradoxerweise vor allem von einem Denker entwickelt, den man gemeinhin der Aufklärung zurechnet, von Herder. Bei ihm findet man keine Ideologie der Abschottung, der homogenen Gesellschaft von Menschen gleicher Abstammung und/oder Kultur, Sprache, Religion. Nicht nur soll die Erde insgesamt vielfältig sein (bedingt zugleich durch unterschiedliche Umwelten und unterschiedliche Herkunft), sondern auch jede Gesellschaft soll in sich vielfältig sein. Denn sie schließt sich nicht ab gegen Fremdes, vielmehr nimmt sie es auf, ja sie verdankt ihm einen guten Teil dessen, was ihr eigenes Wesen ausmacht. Das Abendland ist seinem Wesen nach christlich, verdankt dieses sein Wesen also einer fremden Religion. Jedes Volk sollte in der Lage sein, Fremdes aufzunehmen und zum Eigenen zu machen. Das Fremde muß sich allerdings dazu auch eignen, nicht alles an Fremdem kann angeeignet werden, und das Fremde wird in dem Prozeß der Integration in die aufnehmende Kultur nicht bleiben, was es war – es wird dann seinem Wesen nach sowohl Teil dessen sein, was seine Herkunft ist, als auch Teil seiner neuen Heimatkultur. Jede Gemeinschaft wird also in sich vielfältig nicht nur durch Entfaltung des eigenen Wesens und Anpassung an die jeweilige Umwelt, sondern auch durch Aufnahme von Fremdem.
Wogegen sich dieser klassische Konservativismus wandte – und weshalb man hier überhaupt von Konservativismus sprechen kann –, war die Beliebigkeit. Wahre Vielfalt entsteht durch Ent-Faltung einer Ganzheit, die zunächst einfach und nicht vielfältig ist; die Knospe ist einfacher als die entfaltete Blüte, das Ei einfacher als der adulte Organismus. Der entsteht in einen Prozeß, in dem das Wesen der ursprünglichen Einheit erhalten bleibt, sich aber entfaltet, dabei realisiert. Denn was vorher nur der Möglichkeit nach existierte (nicht der <i>bloßen</i> Möglichkeit nach, sondern einer seinsollenden Möglichkeit), wird nun wirklich. Auf dem Weg, den die fortschrittlichen Parteien, die Anhänger der englischen und französischen Aufklärung der Welt aufzwingen, entsteht dagegen nicht Vielfalt, nur Vielzahl, weil dieser Prozeß nicht eine dem Wesen der ursprünglichen Einheit gemäße Ent-Faltung ist. Wenn jeder, der zuwandert, ebenso wie jeder Einheimische, ohne Rücksicht auf das Vorgefundene tut, was ihm nützt und was ihm gefällt, entsteht zwar Buntheit, aber keine Harmonie des Bunten, und letztlich ist die beliebige Buntheit eintönig, sie ist überall dieselbe; ohne daß die einzelnen Menschen gleich aussehen (was aber die Tendenz dieser Art von Gesellschaft ist, s. o.), gleicht doch ein Ort tendenziell dem anderen: überall das gleiche regel- und wesenlose Gemisch von Völkern und Kulturen.
Man sieht also, daß die Front keineswegs so einfach verläuft wie es die Parolen suggerieren: hier die Befürworter einer bunten, vielfältigen Gesellschaft, dort die Verteidiger der einheitlichen Gesellschaft derer, die „von hier sind“.
Der Artikel sollte kein Plädoyer sein für den klassischen Konservativismus (bekannter unter „konservative Kulturkritik“) als eine Weltanschauung, die die Frage der Vielfalt und insbesondere der Vielfalt durch Aufnahme des Fremden differenziert behandelt. Das verbietet sich schon deshalb, weil diese Weltanschauung immer in Gefahr ist, auf Abwege wie den skizzierten fremdenfeindlichen zu geraten. Zudem habe ich den klassischen Konservativismus oben allzu freundlich beschrieben. Ich habe z. B. nicht erwähnt, daß die Gesellschaft, die ihm die natürliche oder gottgewollte ist, patriarchalisch-hierarchisch ist und daß das nicht Eigenschaften sind, die sich ohne weiteres von jener vielen so sympathischen Haltung, die Fremdes aufnimmt und zugleich das Eigene bewahrt, ja bereichert, und die zu geographischer Vielfalt führt, trennen läßt; weshalb Studenten, die man mit diesen Theorien bekannt macht, sich meist vehement auf die Seite des Liberalismus schlagen, allerdings zähneknirschend, weil sie merken, daß das mit ihrem „ökologischen Bewußtsein“ nicht zusammenpaßt, dieses Bewußtsein vielmehr ein wesentlicher Aspekt der konservativen Kulturkritik ist – wenn auch nicht in jedem Verständnis von (politischer) Ökologie.
Der Artikel soll folgende Einsicht fördern: Ohne Kenntnis der Theorien, mit denen man in der Geschichte jene Fragen zu begreifen und zu lösen versuchte – und in der politischen Bewegung, die heute für „diversity“ kämpft, ist diese Kenntnis schlicht nicht vorhanden –, wird man nicht in der Lage sein, einen gut begründeten eigenen Weg zu finden. Zum Verständnis dessen, was insbesondere den klassischen Konservativismus ausmacht, reicht es natürlich auch nicht, wenn man einige eher feuilletonistische Artikel wie den vorliegenden liest. Man muß sich schon mit der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur befassen. Ich rate, sich auf das Werk von Ulrich Eisel einzulassen, auch wenn es alles andere als leicht zugänglich ist. Hier findet man es.
[1] Bezogen auf Ökosysteme werden zwar auch nicht-kulturelle, sondern funktionale Gründe (Vielfalt steigert Stabilität, Diversitäts-Stabilitäts-Hypothese) angeführt, manchmal zu Recht und ökologisch gut begründet, manchmal zu Unrecht und eher ideologisch motiviert. In unserem Fall handelt es sich aber nicht um Ökosysteme, sondern um Gesellschaften von Menschen.
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“Wenn Sie wenig mit dem (Neo-)Marxismus zu tun [zu haben] angeben, wäre es nett, wenn sie die aufklärerischen Gesellschaftssysteme nicht ‘Kapitalismus’ nennen würden, der sogenannte K. trifft das Wesen der aufklärerischen Gesellschaftssysteme nicht.”
In der Tradition der Aufklärung stand auch der Stalinismus; ich meine den mit “Kapitalismus” nicht mit. Sie meinen Gesellschaftssysteme, die bestimmte, nämlich liberale aufklärerische Ideen realisieren oder dies doch von sich behaupten, nicht aufklärerische schlechthin. Man kann sich natürlich eine private Terminologie machen, aber dann kann man sich mit niemandem verständigen. Ob es Ihnen paßt oder nicht: Es ist nun mal üblich, die französische Revolution inclusive Robespierre als Teil der Aufklärung zu bezeichnen, und an diesen Sprachgebrauch halte ich mich, so wie fast alle. Und die bei Ihnen so verhaßten Sozialisten einschließlich der Marxisten gehören nach allgemeiner Auffassung ebenfalls in die Tradition der Aufklärung, aber nicht in die Tradition des Teils der Aufklärung, den man Liberalismus nennt. So ist nun mal der Sprachgebrauch, ich hab ihn nicht erfunden.
Wenn ich also von Kapitalismus rede, dann meine ich den Kapitalismus und nicht aufklärerische Gesellschaftssysteme, auch wenn die meisten kapitalistischen Gesellschaften weitgehend in der Tradition der Aufklärung stehen, ja sogar in der Tradition desjenigen Teils der Aufklärung, für den Sie diesen Titel reservieren wollen: Liberalismus. Aber doch nicht alle; Singapur würde ich eine kapitalistische, aber keine liberale Gesellschaft nennen, und von der anderen Traditionslinie der Aufklärung (man nennt sie die französische, im Unterschied zur englischen, der liberalen) scheint mir Singapur auch wenig berührt. Für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion gilt ähnliches, nur ist der Verhältnis der beiden Aufklärungs-Traditionen umgekehrt. Im Übrigen: mit dem Marxismus hatte ich schon zu tun, und wie, aber das ist fast ein halbes Jahrhundert her und ich erinnere mich nur noch dunkel.
Alles +/- zustimmungs-fähig, hier, werter Herr Trepl, allerdings meint die Aufklärung originär das Sapere Aude und die Menge, die sich erheben darf, und gesellschaftlich implementiert kommen dafür nur diejenigen Systeme in Frage, die den Ideen und Werten der Aufklärung folgend implementieren konnten, keine Irrläufer oder Abartigkeiten.
Die Idee der Aufklärung ist plump formuliert die Menge als besonderen Mehrwert generierend mitzunehmen, was hoch komplexer Systeme bedurfte, was sich aber gelohnt hat, wie viele finden.
Wobei sich diese Entwicklung nur sukzessiv ergeben konnte, noch vor Kurzem gab es Rassengesetze in den Staaten und Apartheit.
Korrekt scheint, dass sich mit Jean-Jacques Rousseau und anschließend mit Maximilien de Robespierre, Herrn Lenin, Herrn Stalin & Herrn Hitler, andere sollen ungenannt bleiben, hier etwas ergeben hat, dass Kollektivismus genannt wird, der aber dann der Ideenmenge der Aufklärer entgegenstand.
Formal sich auf Aufklärung berufend, aber nicht durchgehend, denn Kollektivismus war keine aufklärerische Idee, die Horde gab es immer.
Kapitalismus bleibt begrifflich etwas für die anderen.
Vielleicht wird’s so klarer: Auch heute noch erheben sich unter Bezugnahme auf die Aufklärung welche, die herrschen wollen, und im Liberalismus selbst gibt es Strömungen, die anarchistisch sind, nicht annehmen, dass der L. eine stabile Staatlichkeit benötigt und zudem auch gerne explizit sozial sein darf bis soll.
Vielen Dank für Ihre Reaktion,
MFG
Dr. W
“Mit dem im Artikel gemeinten ‘Konservativismus’ ist ein spezieller deutscher Konservativismus gemeint, korrekt?”
Ja, es geht in dem Artikel um die deutsche Kultur und weiter nichts. Was sich davon auf andere übertragen läßt, kann man sich ja überlegen, ist aber nicht mein Thema.
“Dr. W (der den ‘Kapitalismus’ als Sicht der marxistischen Verlierer auf diejenigen Systeme versteht, die den Ideen und Werten der Aufklärung folgend gesellschaftlich implementieren konnten, als Unwort sozusagen)”
Sie sind schon arm dran. Umstellt und belauert von Marxisten, die mindestens zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen. Ich frag’ mich, wie es kommt, daß ich keinen davon kenne. Gewiß, vor 40 Jahren und noch früher gab es viele, und ich kannte viele. Aber wenn ich mich jetzt so umsehe: Persönlich kenne ich keinen einzigen, nur im Fernsehen scheint es ein paar zu geben, aber ein Name fällt mir auch nicht ein. Oder doch: Sarah Wagenknecht von den “Linken” soll Marxistin sein, heißt es. Nachprüfen konnte ich das noch nicht, in den Interviews und “Talk Show”-Reden, die ich von ihr gehört habe, hat sie es sich nicht anmerken lassen.
Sie hat ihre Dissertation bei Hans Heinz Holz geschrieben. Das hat zwar nicht unbedingt etwas zu bedeuten, aber ich schätze die Arbeiten von Holz.
Ihrer Nicht-Wahrnehmung von Marxisten kann ich nur zustimmen. Ich sehe auch keine. Ich zweifle auch daran, dass überhaupt irgendwer Marx liest.
Ebenso lächerlich ist die allgegenwärtige Angst vor Linken.
@ Herr Ricardo :
Was Sie ‘lächerlich’ finden, interessiert viele nicht, genauso wenig, wie es viele nicht interessiert, wenn Sie psychologisierend bei anderen Angst feststellen.
Dass die BRD seit 1969 zu einem beträchtlichen Teil von sozialdemokratischen Parteien bestimmt ist, also von Sozialisten der Sorte, von der spätestens seit Tucholsky gewusst wird, dass mit denen die Revolution nicht kommt, ist richtig, belegt aber nur die anhaltende politische Macht der (Neo-)Marxisten in der BRD.
Mme Merkel bspw. hat viele Positionen und Vorhaben der bundesdeutschen politischen Linken übernommen, ist Ihnen nicht entgangen, oder?
MFG
Dr. W
Sie machen einen Fehler, der sich aber beheben läßt, ohne daß gleich Ihr ganzes Gedankensystem durcheinander gerät: Sie setzen Sozialismus, Links-Sein, Anti-Kapitalismus mit Marxismus gleich. Der Marxismus ist aber nur eine Strömung unter etlichen im linken Lager, oder wie man das nennen soll. Und Anti-Kapitalismus ist keineswegs eine Sache der Linken allein, er wurde vielmehr von den Konservativen “erfunden”. Der Papst ist kein Linker und natürlich auch kein Marxist, sein Anti-Kapitalismus (in diesem Fall tatsächlich verbunden mit einer Gegnerschaft zur Aufklärung insgesamt) ist nicht links, sondern genuin konservativ. Man kann sehr Ähnliches bei den klassischen Konservativen um 1800 lesen.
@ Herr Trepl :
Negativ, lassen Sie bitte die dbzgl. Spekulation.
Korrekt ist, dass der Schreiber dieser Zeilen, wie im liberalen pol. Spektrum üblich, wie gemeint primär mit den Gegensätzlichkeiten Individualismus und Kollektivismus arbeitet, dies wohl differenziert [1], sich hier aber, um verständlich zu bleiben, an ehemaligen Sitzordnungen metaphorisch orientiert hat.
Insgesamt, Sie wussten ja bspw. weiter oben (War’s weiter oben? – Es war zumindest: an anderer Stelle) zum Konstruktivismus ganz vorzüglich vorzutragen, wie Ihr Kommentatorenfreund findet, nö!, alles Bestens.
Was schon gut wäre, wäre, wenn Sie so nett sein könnten, statt zu urteilen vorab mal kurz nachzufragen, bei Ihrem Kommentatorenfreund.
Vielen Dank für Ihre Geduld übrigens, zusammen darf bspw. gerne auf dem Konservativismus (jeglicher Bauart) oder sonstwie herumgehackt werden, gerne auch auf dem aktuellen Papst, am besten nach Absprache und Begrifflichkeiten und Definitionen meinend.
MFG
Dr. W
[1]
Wenn hier bspw. mit dem Individualismus oder weitergehend mit dem Liberalismus argumentiert wird, ist natürlich kein L. der Art “Es gibt keine Gesellschaft (Thatcher) oder es gibt kein Allgemeinwohl” gemeint, sondern “Sozial-Liberalismus” (“Ordoliberalismus”, “Neoliberalismus”, aber wiederum nicht zu verwechseln mit dem was bundesdeutsch zwischen 1969 und 1982 geschah).
PS + hier war’s :
-> https://scilogs.spektrum.de/landschaft-oekologie/biologismus-bekommt-prominente-unterstuetzung/#comment-13687
Wobei es natürlich zu falsifizieren gilt, diese Falsifikation aber eine Kunst bleibt.
Alles sehr lustig.
@ Herr Trepl :
Wenn Sie wenig mit dem (Neo-)Marxismus zu tun angeben, wäre es nett, wenn sie die aufklärerischen Gesellschaftssysteme nicht ‘Kapitalismus’ nennen würden, der sogenannte K. trifft das Wesen der aufklärerischen Gesellschaftssysteme nicht.
Mit dem im Artikel gemeinten ‘Konservativismus’ ist ein spezieller deutscher Konservativismus gemeint, korrekt?
MFG
Dr. W (der den ‘Kapitalismus’ als Sicht der marxistischen Verlierer auf diejenigen Systeme versteht, die den Ideen und Werten der Aufklärung folgend gesellschaftlich implementieren konnten, als Unwort sozusagen)
Es gibt ca. 6000 Sprachen auf der Welt(noch), die werden sich bei weitem nicht alle bewahren lassen.
Bedauerlich? Ja, klar, es geht immer auch einzigartige Kultur verloren.
Das Deutsche, Französisch, Arabisch, Spanisch, Portugiesisch, Hindi, Urdu, Chinesisch usw. sind dagegen robust trotz Anglizismenflut, auch noch auf ein paar hundert Jahre.
Wie man an den Subkulturen sieht, die stets auch einen eigenen Jargon pflegen, ist die besondere Sprache der Angelpunkt kultureller Besonderheit.
“Das Deutsche, Französisch, Arabisch, Spanisch, Portugiesisch, Hindi, Urdu, Chinesisch usw. sind dagegen robust trotz Anglizismenflut, auch noch auf ein paar hundert Jahre.”
Hmm, ich würde ja gerne wetten, was das Deutsche angeht. Aber ich erlebe dessen Ende bestimmt nicht mehr, Sie wohl auch nicht. “Ein paar hundert Jahre” scheint mir allerdings zu viel. Es könnte ja ähnlich sein wie mit den Dialekten: Junge Leute, Studenten etwa, reagierten mir gegenüber oft ungläubig, wenn ich sagte, die Dialekte seien am Verschwinden. Die meisten Leute sprechen aber doch Dialekt, erwiderten sie. Sie sind einfach zu jung, um das beurteilen zu können. Was man heute für einen hinterwäldlerischen Dialekt hält, hätte man zur Zeit meiner Kindheit für reines Hochdeutsch gehalten.
Nun gibt es zweifellos heute deutsche Texte, die man auch vor 50 oder 100 Jahren für deutsche Texte gehalten hätte und die man problemlos verstanden hätte. Es gibt aber auch eine Menge von Texten (und bei der gesprochenen Sprache ist’s noch deutlicher), die wir heute für deutsch halten, die aber vor 50 oder 100 Jahren keiner verstanden hätte und auch nicht als deutsche Texte erkannt hätte. Das zeigt, meine ich, daß es ganz schnell gehen kann, so schnell wie es mit zahlreichen anderen Sprachen geschah, etwa mit dem Keltischen in Irland.
Es kann da seltsame Übergangsstufen geben. Inder der oberen Gesellschaftsklassen z.B. sprechen ein merkwürdiges Gemisch: Wörter, Halbsätze und ganze Sätze sind englisch, dann folgen Halbsätze auf Hindi oder eine andere einheimische Sprache. Oder: Mir ist mal ein in der Schweiz lebender, an einer Universität arbeitender Deutscher begegnet, der sprach ein ähnliches Gemisch aus Englisch und Schwäbisch; Hochdeutsch konnte er nicht.
Die Dialektsprecher von vor 100 Jahren hätten aber auch arge Mühe gehabt, sich mit Sprechern “desselben” Dialekts von vor 300 Jahren zu verständigen.
Sprache lebt, und wie alles Lebendige unterliegt sie auch einer Evolution.
Und biologische Evolution ist oft vor allem “genetische Drift”, es bedarf nicht einmal eines Selektionsdrucks. Genauso mit Sprache. Für die Lautverschiebung zwischen Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch gab es vielleicht keinen Grund.
Ein Kommilitone hat Hochdeutsch erst an der Uni gelernt, dagegen konnte der sehr gut Französisch.
Man kann heute noch Grimmelshausens “Simplicissimus” lesen, es ist eben nur mühsam, und die meisten Leute sind zu faul oder nicht interessiert.
Das Deutsche in +100 Jahren wird wohl so ähnlich aussehen wie Zé do Rocks Phantasiesprache ‘Kauderdeutsh’.
@Ludwig Tepl:
“refugees welcome” steht als Signal an etlichen Orten zumindest in so Kleinstädten wie Berlin, und es wird die lingua franca verwendet, weil es sich nicht an Ludwig Tepl richtet.
Wenn sich nun ein Organisatiönchen so benennt, ist mir das Wumpe.
“und es [‘refugees welcome’] wird die lingua franca verwendet, weil es sich nicht an Ludwig Tepl [Absicht?] richtet.”
Ich hab geschrieben: Wer “welcome’ versteht, versteht auch “willkommen”, und wenn er aus Syrien oder Afghanistan kommt, wird er beides wohl für leicht verschiedene Dialektwörter, die einer Sprache angehören, halten. Ich kann nicht glauben, daß es Leute gibt, die das nicht wissen. Es muß also noch einen anderen Grund dafür geben, daß man “welcome” schreibt. Man würde es ja auch schreiben, wenn die Flüchtlinge aus einem osteuropäischen Land kämen, in dem mehr Leute Deutsch verstehen als Englisch. Der Grund dürfte da liegen, wo er auch bei den Überschriftenschreibern der taz liegt, deren Leserschaft ja weitgehend deutschsprachig ist.
Wenn Sie mit einem Transparent, auf dem “Willkommen!” zulesen ist, auf dem Bahnsteig stehen, werden die Flüchtlinge im Zug natürlich verstehen, dass sie gemeint sind.
Wenn an irgendeiner Geschäftstür in Berlin “Flüchtlinge willkommen” stünde, gibt es vielleicht anfangs ein Problem mit dem ersten Wort. Das Signal richtet sich an Flüchtlinge, auch frisch angekommene.
Noch besser wäre ein Piktogramm.
Aber kennen Sie ein Piktogramm mit der Bedeutung “Hier werden Personen mit möglicherweise temporärem Aufenthaltsstatus wenigstens normal behandelt, und vielleicht gibt es hier sogar spezielle Hilfe oder einen Tipp, wo solche geleistet wird”?
Das vergessene ‘r’ war übrigens keine Absicht.
Und mit Freud hab ichs nicht so sehr.
@ wereatheist, 11. Oktober 2015 20:05
Wetten, daß die Helfergruppen, die “refugees welcome” auf ihre Plakate geschrieben haben, sich diese Gedanken nicht gemacht haben? Sondern es ist einfach cooler, “refugees welcome” zu schreiben als “Flüchtlinge willkommen”. Im Übrigen dürfte ein sehr großer oder der größte Teil der Flüchtlinge nicht englisch können. Nicht alle gehören ja zu den “hochqualifizierten Syrern”, von denen immer die Rede ist. Wenn schon ein Drittel der Deutschen nicht oder nicht genügend Englisch kann, dann dürfte dieser Anteil manchen anderen Ländern noch viel höher sein.
Aber das gehört eigentlich nicht zum Thema. Mein Thema war ein innerer Widerspruch unter denen, die zur Zeit die Flüchtlinge unterstützen: Denn sie behaupten, die Vielfalt fördern zu wollen, setzen sich aber auf anderen Gebieten für Homogenisierung ein. Um das zu belegen, habe ich mir die Sprache als Beispiel ausgesucht. Es ist ja nicht zu bestreiten, daß sich das Englische in immer mehr Ländern durchsetzt. Selbstverständlich sind die Sprachen dagegen unterschiedlich resistent. Ob Deutsch zu den resistenteren gehört oder vielleicht eher Serbokroatisch, ist für die Frage uninteressant. Wichtig ist nur, ob das “linke” und “liberale” Lager weniger resistent ist. Nur der Teil, der sich der sich diesem “Lager”zuordnen läßt, zählt hier natürlich (es gibt ja auch erklärtermaßen Konservative unter den Helfern). Darum hab ich mir die taz vorgenommen (es gab noch einen zufälligen Grund: die habe ich abonniert, und kann sie mit “bürgerlichen” Zeitungen, die ich auch lese, vergleichen). Statt der Sprache hätte ich mir auch die Mode oder den Geschmack auf dem Gebiet der populären Musik und etliches andere vornehmen können. Vielleicht wäre das sogar leichter gegangen.
Es war zu erwarten: Wenn man darauf hinweist, daß dann, wenn jemand Englisch zu sprechen versucht, das im Großteil der Fälle darum geschieht, weil man seine Weltläufigkeit beweisen will, d.h. um sich aufzublähen – daß also dann, wenn darauf hinweist, viel sich an einer empfindlichen Stelle angegriffen fühlen. Als Reaktion kommen Rationalisierungsversuche. Ich habe das schon -zig-mal erlebt. Und den ersten Platz nimmt unter den Rationalisierungsversuchen das lingua-franca-Argument ein.
“Derlei “protestantische Wertsysteme” kommen mir irgendwie bekannt vor:”
Wovon, glauben Sie, spreche ich die ganze Zeit? 😉
@Silvio Ricardo:
“Wovon, glauben Sie, spreche ich die ganze Zeit?”
Nun, ich beziehe Religion nicht in erster Linie auf “protestantische Wertsysteme” und den damit einhergehenden Kapitalismus. Falls Sie das eine mit dem anderen verbinden, hätten wir uns die Diskussion über eine christliche Leitkultur sparen können. Außerdem hat wohl erst die Aufklärung ein” modernes Individuum” geschaffen und nicht die “Lutherischen Umformungen der christlichen Lehre”.
Die Theorien über das Entstehen des modernen Individuums sind unzählbar. Wir könnten genausogut mit Jacob Burckhardt in der Renaissance ansätzen.
Mir scheint, Sie setzen die verschiedenen Epochen ein bisschen zu starr an. Dass die Reformation ein grundlegender Auslöser, wenn nicht sogar der Beginn der Aufklärung ist, steht für mich außer Frage. Und ich denke, dass die meisten “Aufklärungsphilosophen” das auch so gesehen hätten. Was war den erwähnter John Locke, wenn nicht ein Aufklärer? Was war Thomas Hobbes? Die übliche Zentrierung der Aufklärung um das mittlere bis späte 18. Jahrhundert scheint mir eindeutig zu spät anzusetzen. Die französischen Revolutionäre waren in dieser Hinsicht auch irgendwie Vatermörder. Die Vertreter der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung bezogen sich explizit auf John Locke. Der war eindeutig Puritaner.
Die Reformation philosophisch betrachtet der Beginn der Aufklärung, wenn man antike Theoriebausteine ausblendet.
Die Moderne bedeutet wohl die Befreiung des Individuums. Vor der Moderne war jeder Europäer in (mindestens) zwei Hierarchien eingebettet: In eine weltliche und eine kirchliche (religiöse) Hierarchie. Die Stellung innerhalb dieser weltlichen und kirchlichen Hierarchie bestimmte die Macht, die Möglichkeiten der Person. Das Individuum wurde in diese Hierarchien hineingeboren und konnte sie nur in Ausnahmefällen durchbrechen.
Diese Hierarchien gibt es in der Moderne nicht mehr. Individuen haben nur sehr viel mehr Wahlfreiheit, mehr Karrieremöglichkeiten und weniger Bindungen. Ob das nun in der Renaissance, der Reformation oder der Aufklärung begonnen hat, ist sekundär. Jedenfalls können wir nicht dahinter zurück. Zudem geht der Prozess weiter. Der Gedanke an Gleichstellung von Mann und Frau ist beispielsweise eine konsequente Weiterfürhung der Befreiung des Individuums. Die Frau wird nun auch als freies Individuum begriffen. Sie braucht keinen Mann mehr um ihren Platz in der Welt zu finden.
Nein, Sie missverstehen da etwas. Es geht in den erwähnten Theorien schon wirklich explizit um ein “Entstehen” des Individuums, so schwierig sich das für einen heutigen Menschen anhören mag. Jacob Burckhardt meint bspw. nicht etwa die Befreieung eines bestehenden Individuums in der Renaissance. Er meint die Geburt des Individuums als Idee überhaupt, was wiederum auf das Selbstverständnis des Menschen zurückgewirkt hat. Da könnte man von Kulturkonstruktivismus sprechen.
Das erinnert an ethnologische Theorien von der stärkeren Eingebundenheit der Mitglieder irgendwelcher Naturvölker in die mythischen Weltbilder.
Was Sie skizzieren, wäre die gewaltsame Fesselung des Bestehenden Individuums in klerikalen und feudalen Machtstrukturen. Die Annahme, dass das Individuum erst entstehen konnte geht aber mit davon aus, dass ein Bewusstwerden der Fesselung durch diese Strukturen erst auftreten konnte, als das Bewusstsein der persönlichen Freiheit und die abstrakte Idee des handelnden Subjekts entstanden. Mir erscheint das auch oft wahnwitzig.
“Diese Hierarchien gibt es in der Moderne nicht mehr. Individuen haben nur sehr viel mehr Wahlfreiheit, mehr Karrieremöglichkeiten und weniger Bindungen.” (@ Martin Holzherr)
Das ist die liberale Sicht auf diese Dinge. Für die Diskussion meines Artikels ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß die konservative Sicht ganz anders ist.
[Und, Herr Holzherr, auch wenn Sie behaupten, davon fände sich bei Ihnen nichts: Das glaube ich nicht, jeder trägt auch diese Perspektive in sich, und sie sorgt für Konflikte mit dem Selbstverständnis, wenn dieses progressiv ist. Sie schreiben: “Mir scheint die konservative Lebenshaltung nicht unbedingt attraktiv und mir fehlt auch das Umfeld, der Hintergrund und Trepls Heimweh (nach Konservativismus) um das leben und empfinden zu können.” Sie mögen weniger von diesem “Heimweh” haben als ich und alle anderen, aber ganz frei davon sind sie garantiert nicht.]
Was sieht der Konservativismus anders? Es gibt für ihn keine wahre Freiheit ohne Bindungen, gerade die Bindungen gewährleisten Freiheit. Wahre Freiheit besteht darin, dem eigenen Wesen, also auch den Bindungen, in denen man lebt, gemäß leben zu können. Wahre Freiheit bedeutet nicht, alles tun zu dürfen, was einem Lust bereitet. Diese Beliebigkeit ist die Grundsünde des Liberalismus. (Das sagten nicht nur die klassischen Konservativen vor 200 Jahren, das sagt auch heute jeder Papst). Ein Angehöriger eines bestimmten Volkes, einer Familie oder einer anderen Gemeinschaft ist gebunden an das, was ihm diese Gemeinschaft, die vor ihm war, in die er hineingeboren wurde und die ihn kulturell geprägt hat, die er, anders als der moderne Machbarkeitswahn ihm einredet, nicht machen kann, mitgegeben hat. Das macht sein Wesen aus.
Und ein wahrer Freiheitskämpfer verteidigt die Freiheit, die darin besteht, so leben zu dürfen, wie es dem eigenen Wesen gemäß ist, gegen die moderne Zeit, die modernen Ideen von Gesellschaft und diejenigen, die von ihr profitieren und die deshalb diese Ideen propagieren. Denn diese Ideen und die aus ihnen folgende Praxis zerstören die Gemeinschaften, die in der Bindung der Individuen an sie wahre Freiheit gewährleisten, zugunsten einer Freiheit der Individuen, die letztlich nichts ist als das Auslebenkönnen von Trieben – man ist getrieben, ist Sklave seiner Triebe, ist in Wahrheit nicht frei, wie man sich einbildet.
In diesem Sinne feierte man beispielsweise den Freiheitskampf der Tiroler gegen die in Gestalt der französischen Heere hereinbrechende moderne Zeit, oder die Kämpfe von Stammesgesellschaften gegen den europäischen Kolonialismus, der ein Resultat des liberalen Geschäftsgeistes ist.
Ob man damit dem Liberalismus oder gar liberalen Philosophen wie Locke und Hume gerecht wird, ist eine andere Frage. Mir geht es hier darum, daß man versucht, den Konservativismus zu verstehen, und ihn nicht ausgehend von gewissen Extrempositionen insbesondere im Hinblick auf die Haltung zu Fremdem, die es zweifellos gibt, mit dem Rechtsextremismus zu identifizieren. Darin werden sich die Konservativen größtenteils nicht wiedererkennen, und eine Diskussion, die durchaus möglich wäre, wird verhindert.
@Silvio Ricardo:
“Die Reformation philosophisch betrachtet der Beginn der Aufklärung, wenn man antike Theoriebausteine ausblendet.”
Das scheint mir eine doch sehr verengte Geschichtsbetrachtung zu sein. Zumal Luther ja ein eindeutiger Befürworter der Obrigkeitshörigkeit war. So beriefen sich die Führer der Bauernaufstände (1524 bis 1526) zwar auf die Reformation und damit auf Martin Luther, dieser distanzierte sich jedoch von der Bewegung und griff sie zuletzt auch noch an. Besonders aufschlussreich ist sein „Ein Sendbrief von dem harten Büchlein wider die Bauern“, worin er zum Wohlgefallen des Adels über die gottgewollte Ordnung schreibt: “Der Esel will Schläge haben, und der Pöbel will mit Gewalt regiert sein. Das wußte Gott wohl; drum gab er der Obrigkeit nicht einen Fuchsschwanz, sondern ein Schwert in die Hand.”
Die Frage ist eben, ob man “Aufklärung” einzig und alleine mit den Werten verbindet, die heute gerne und positiv mit den Vorgängen der Herausbildung des neuzeitlichen Denkens in Verbindung gebracht werden: also mit Formen der “Selbstermächtigung”, der “Reflexion”, der “Befreiung”, der “Entfesselung”, der “Gleichberechtigung”, der “Klarheit” und anderen Begriffen, oder ob man ideengeschichtlich vorgeht und die Entwicklung der genannten Begriffen aus geschichtlichen Zusammenhängen herausschält, die nicht immer den Heldenmythos der Bürgerbefreiung abbilden. Luther mag obrigkeitshörig gewesen sein. Gleichzeitig führte er den Begriff des “Gewissens” ein und förderte damit eine Alleinstellung und die Eigenverantwortlichkeit des Subjekts vor Gott. Ich denke, dass das ideengeschichtlich auf höchstem Niveau steht.
@Ricardo hat schon recht. Ich wüßte auch niemanden unter denen, die zu diesen Fragen kompetent sind, der anderer Meinung wäre. Daß Luther “obrigkeitshörig” war und Calvin selbst einen überaus tyrannischen Staat errichtet hat, hat mit der Frage nach der Relevanz der Reformation für die Aufklärung nichts zu tun. Haben nicht auch die radikalen Aufklärer in Frankreich einen tyrannischen Staat errichtet? Wichtig ist beispielsweise die Bedeutung, die die Reformatoren dem individuellen Gewissen zugeschrieben haben. Man kann aber noch viel weiter zurückgehen und nach der Bedeutung des Christentums überhaupt für das, was sich dann 1700 Jahre später in Europa entwickelt hat, fragen – obwohl das aufkommende Christentum der Entwicklung des freien Denkens (in Griechenland) ein rabiates Ende bereitet hat, wird man auch einen positiven Beitrag finden (siehe dazu die Arbeiten von Eisel, die Sie oben erwähnen). Die Ebenbild-Gottes-Lehre gehört dazu. Ohne sie wäre die Idee von der gleichen und unendlich hohen Würde eines jeden Menschen wohl kaum aufgekommen.
Entschuldigen Sie die Wiederholung: Sivio Ricardo hat wenige Minuten vor mir seinen Kommentar geschrieben, den kannte ich nicht.
@Silvio Ricardo:
“Luther mag obrigkeitshörig gewesen sein. Gleichzeitig führte er den Begriff des “Gewissens” ein und förderte damit eine Alleinstellung und die Eigenverantwortlichkeit des Subjekts vor Gott.”
Luthers Einstellung gegen die aufbegehrenden leibeigenen Bauern oder auch gegen die Juden widerspricht in meinen Augen einem aufgeklärten Humanismus. Außerdem gab es den Begriff des “Gewissens” lange vor Luther, bereits Thomas von Aquin setze sich damit auseinander. Siehe dazu auch:
https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/fb2/d-praktischetheologie/katholischetheologieundihredidaktik/hoye/bibliografie/gewissen.pdf
@Ludwig Trepl
Die “Ebenbild-Gottes-Lehre” ist ebenfalls nicht neu, die findet sich doch schon im Buch Genesis. Wo es heißt: “Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.” Gen 1,27
Abgesehen davon, dass Thomas von Aquin nicht der deutschen Sprache mächtig war (den musste ich jetzt einfach anbringen 🙂 ) hatte der vergleichbare lateinische Begriff eine andere Bedeutung als bei Luther. Bei Aquin geht es zwar auch um eine Abwägung (ala “eine Gewissensfrage”). Bei Luther geht es aber erst richtig in die Richtung der Eigenverantwortlichkeit und der persönlichen Schuld.
Das lässt sich auch an einem ganz anderen Gebiet ablesen: bspw. an der Kunst. Mittelalterliche Kunst im heutigen Sinne existiert eigentlich gar nicht, weil es den Schaffungs und Schöpfungsbegriff ohne den Gottesbegriff gar nicht gab. Schöpfung war immer verbunden mit Gott. Der Mensch war höchstens Geburtshelfer von Werken. Kunst konnte in dieser Hinsicht nicht eigenständig oder unabhängig sein und auf keinen Fall Werk eines Menschen sein. Das nur als Beispiel.
Ähnliches gilt für die Schuldfähigkeit (was natürlich andererseits dem gemeinen Konzept der Sünde widerspricht, aber so genau wollen wir es nicht nehmen, so genau nehmen es nämlich die Scholastiker auch nicht 🙂 )
@Silvio Ricardo:
Ich weiß zwar nicht was mittelalterliche Kunst mit Luther zu tun hat, aber das sie christlich geprägt war stimmt, denn Hauptauftraggeber der Künstler waren meistens Kirchen und Klöster, deren Leitkultur das Christentum war. 🙂
“Luthers Einstellung gegen die aufbegehrenden leibeigenen Bauern oder auch gegen die Juden widerspricht in meinen Augen einem aufgeklärten Humanismus. ”
Das mag sein, ist aber vollkommen irrelevant für das Thema. Niemand behauptet, Luther sei ein Ausbund an moderner Humanität gewesen. Vielleicht war er ein absoluter Unmensch. Worin besteht denn die theoretische Neuerung des Protestantismus Ihrer Meinung nach? Was hat Luther vollbracht? Die Übersetzung der Bibel bekommt doch erst eine wirkliche Schlagkraft, wenn man den oberflächlichen Vorgang des Übersetzen – der zweifelsfrei eine Großleistung gewesen sein mag – als Index für eine epochale Wende nimmt: als Mittel der Selbstvergewisserung. Mit dem Text, der für jeden verständlich ist, tritt der Mensch, der einzelne Gläubige in direkten Dialog mit Gott, ohne Zwischenhändler. Missverstehen Sie mich nicht! Ich bin kein Protestant und ich bin kein Verteidiger Luthers. Ich bewerte nur seine ideengeschichtliche Position. Und zweifellos war Luther nicht der erste Übersetzer der Bibel. Natürlich mag auch im biblischen Text eine Lutherische Lesart angelegt sein. Aber wann kam sie zum Tragen und was bedeutet Protestantismus?
@Silvio Ricardo:
“Worin besteht denn die theoretische Neuerung des Protestantismus Ihrer Meinung nach? Was hat Luther vollbracht?”
Das fragen Sie ausgerechnet eine römisch-katholisch erzogene Agnostikerin? Da aber Martin Luther nicht nur als Bibelübersetzter fungierte, sondern auch als eine der “einflussreichsten Figuren der Zeitgeschichte” angesehen wird, habe ich mich mal kundig gemacht und eine entsprechende Zusammenfassung gefunden, die ich jedoch heute nicht mehr kommentieren kann.
http://www.theoriewiki.org/index.php?title=Martin_Luther
Der Link schaut für mich nicht wirklich gut aus. Wirkt eher wie eine Abrechnung. Ich würde Texte zur Geschichte des Subektbegriffes oder theologische Fachtexte empfehlen. Auch auf Wikipedia findet sich nichts Ordentliches. Ich habe die Texte über Luther, Schuld, Gewissen usw. gerade kurz überflogen. Die sind Kraut und Rüben und enthalten fast keine relevante Information. Da hätte ich echt mehr erwartet. Mit komplexen philosophischen und historischen Zusamenhängen kommen die nicht klar. Außerdem bezweifle ich, dass sich ein ordentlicher Argumentationszusammenhang zu so einem Thema durch eine Gruppenarbeit lösen lässt, in der einer einen Satz anfängt und 27 andere ihn beenden. Sonst bin ich garkein Feind von Wikipedia. Für triviale Themen ists ganz lustig.
@Silvio Ricardo:
Tut mir leid, dass Ihnen der Link nicht zusagt. Etwas Besseres fand ich auf die Schnelle nicht mehr. Ich bin jedoch für Vorschläge dankbar, da ich erst wieder abends Zeit habe.
Zu Wikipedia:
“Außerdem bezweifle ich, dass sich ein ordentlicher Argumentationszusammenhang zu so einem Thema durch eine Gruppenarbeit lösen lässt, in der einer einen Satz anfängt und 27 andere ihn beenden. Sonst bin ich garkein Feind von Wikipedia. Für triviale Themen ists ganz lustig.”
Das seh ich ähnlich. Allerdings: Lustig ist es nur, wenn es um Dinge geht, von denen man nichts versteht. Da findet man es auch oft lehrreich – kritisieren kann man es ja nicht. Aber wenn es um etwas geht, mit dem man sich auskennt, findet man’s meist nicht mehr lustig. Z.B. das sicher triviale Thema der Pflanzenbeschreibungen. Es ist grauenhaft, was man da lesen muß, und ich kann da nicht mehr lachen. Aber hier kann man die Hoffnung haben, daß es mit der Zeit allmählich besser wird.
Entschuldigung: das Zitat in meinem vorigen Kommentar ist von @ Silvio Ricardo.
Gut, die Zusammenfassung aus der Wikipedia, die ich aus Zeitgründen verlinkte, war schlecht und enthielt “keine relevante Information”. Ich bat jedoch auch um “Vorschläge”, aber anscheinend hat niemand etwas Besseres anzubieten.
“Die französischen Revolutionäre waren in dieser Hinsicht auch irgendwie Vatermörder.” (@Ricardo)
Wie meinen Sie das? Daß die französische Aufklärung wenigstens in Teilen atheistisch war – anders als die englische und die deutsche, unter deren bedeutenderen Vertretern man kaum einen findet, der nicht ein frommer Mann gewesen wäre? Und die französische Aufklärung bekämpfte dann erbittert die Religion, der sie sich doch selbst verdankt? Zumindest die Protestanten waren ja ihre “Väter”. Ist das so zu verstehen?
Ja, war genau so gemeint. Ich meinte das allerdings nicht negativ: ich habe es nur in allzu starke Worte gefasst.
Es zeigt für mich nur sehr schon den häufigen Ablauf in der Kulturgeschichte. Ideenlieferanten, bewusst oder unbewusst auszublenden. Wahrscheinlich liegt es auch einfach daran, dass es durch Ideenrevolutioinen zu spürbaren Umschwüngen im Zeitgeist kommt, der Dinge allgemein denkbar macht und als neu bewertet, ohne die Voraussetzungen für deren Entstehen noch explizit anzugeben.
“… häufigen Ablauf in der Kulturgeschichte, Ideenlieferanten, bewusst oder unbewusst auszublenden.” (@ Silvio Ricardo)
Es könnte noch einen anderen Grund geben als den, den Sie dann nennen: Die Ideenlieferanten sind oft z.B in Gestalt von Parteien oder Kirchen zur Zeit der Revolution in den politischen Kämpfen präsent, und zwar als Gegner der Revolutionäre. Das Luthertum beispielsweise war zur Zeit der Aufklärung eine mächtige gegenaufklärerische Kraft. Daß es einen Beitrag zur Aufklärung leistete, war für die Akteure selbst nur schwer zu erkennen.
Mit dem Kalvinismus war es komplizierter, wohl weil er in einer Vielzahl von Varianten existierte, von denen einige aktive Kräfte auf der Seite der politischen Revolutionen in England waren. Noch einmal komplizierter wurde es in Amerika, wo die emigrierenden kalvinistischen oder doch kalvinistisch beeinflußten Gruppen (wie die Methodisten) staatstragende Kräfte wurden, und das heißt dort: irgendwie auf der Seite der Revolution und der Aufklärung stehende. Das erklärt sicher zu einem guten Teil auch die in Europa schwer verständliche Parallelexistenz von Liberalismus und organisierten Religionen und mit letzteren verbunden einem in Europa kaum vorstellbaren radikalen und mit typisch liberalen Elementen gemischten Konservativismus. – Was ich oben im Artikel über den Konservativismus und seine Gegner (Liberale und Demokraten) geschrieben habe, soll für Deutschland gelten, nicht allgemein!
@Trepl: ich kann Ihnen bezüglich der Vermischung konservativer Positionen mit eindeutig liberalen Elementen nur zustimmen. Deswegen auch meine Erwähnung Lockes, dessen Einfluss auf die amerik. Unabhängigkeitsbewegung sehr groß war.
Was die Ideenlieferanten betrifft, die ausgeblendet werden, bleibe ich bei meiner Ansicht, dass es Denkmodelle gibt, die zu gewissen Zeiten “denkbar” werden, ohne dass ihre Voraussetzungen notwendig thematisiert werden müssten. Unwissenschaftlich könnte man vielleicht sagen: “Es liegt etwas in der Luft.” Vielleicht eine Mentalität, eine episteme oder materialistische Grundstrukturen, die zu “Einsichten” führen.
Bei Durkheim gibt es eine Theoriewendung in der er die Funktion des Vergessens thematisiert. Mir fällt im Moment leider nicht ein, wo das war.
Ich habe mir mal die älteren Artikel von Herrn Trepl zu ähnlichen Themen durchgelesen und bin dabei auf einen Link zu dem von ihm erwähnten Ulrich Eisel gestoßen, der dort über das Thema “Tabu Leitkultur” schrieb. Eine Leitkultur wird ja momentan von einigen konservativen Politikern wieder vehement gefordert. Wobei man oft gar nicht weiß was damit gemeint ist, weil anscheinend jeder etwas anderes darunter versteht. Eisel hat das Thema differenziert aufbereitet und kommt zu dem Schluss, dass mit unserer momentanen Leitkultur auch eine “Amerikanisierung” einhergeht, die man auch mit “Kapitalismus oder Moderne oder gar Fortschritt” bezeichnen kann. Beim Stichwort “McDonald’s” fiel mir dann unwillkürlich die böse Satire in der Zeitschrift Charlie Hebdo ein, über die hier mal berichtet wurde:
https://scilogs.spektrum.de/lifescience/die-interpretation-von-satire/
Dennoch verteidigt Eisel das Prinzip der Leitkultur und schreibt: “In gewissem Sinne verlangt der Konservative von den Fremden nur das, was er sich auch selbst – sowohl gegenüber seiner Kultur als auch gegenüber dem Naturraum, in dem diese Kultur lebt – abverlangt. Jeder Mensch soll die Besonderheiten von beidem beachten und die Weiterentwicklung von Kultur und Naturressourcen nicht abstrakt, alleine im Sinne des überhaupt Menschenmöglichen, sondern konkret angesichts besonderer kultureller Eigenart und natürlicher Standortbedingungen voranbringen: keine Fertigbau-Bergbauernhöfe in Ostfriesland, keine Autobahnen schnurgerade durch das Hügelland, nicht alle Tante-Emma-Läden durch Supermarktketten ersetzen.”
So weit, so gut! Seine “theologische Interpretation der geistigen Basis des Begriffs der Leitkultur” kann ich allerdings nur schwer nachvollziehen, auch wenn ich verstehe was er damit sagen will.
Siehe hier: http://www.ueisel.de/fileadmin/dokumente/Tabu_Leitkultur-2003.pdf
Ein Großteil der Deutschen hat allerding schon heute keine christlichen Wurzeln mehr, wie beispielweise viele Bürger aus der ehemaligen DDR. Da sollte man die Idee der Leitkultur vielleicht etwas ausweiten und sie mehr im Sinne einer geschichtlichen Entwicklung des (christlichen) Abendlandes sehen und auch die verschiedenen philosophischen Ideen mit einbeziehen.
Gut recherchiert. Leitkultur scheint mir eine problematische Antwort auf die Frage: Was haben Menschen, die in Deutschland (oder einem anderen europäischen Land) leben gemeinsam und was sollte man an Gemeinsamkeit anstreben.
Hier gibt es ganz verschiedene Antworten, etwa:
– das Grundgesetz
– die deutsche Sprache (und Kultur?)
– die Teilnahme am öffentlichen Leben und den Problemen, die die Geselllschaft gerade bewegen (im Moment z.B. Gleichberechtigung und Gleichstellung von Mann und Frau, von Menschen verschiedener sexueller Präferenz, etc.)
– nichts ausser was explizit vom Staat gefordert wird.
Warum ist das wichtig?
Nehmen wir als Beispiel die Gleichstellung von Mann und Frau. Wenn diese von einem Teil der Bevölkerung Deutschlands abgelehnt wird, dann kann dieser Dissens ganz verschieden behandelt werden.
1) Die Gesellschaft könnte diese Gleichstellung nur in öffentlichen Arbeitsstellen (bei Beamten) durchsetzen
2) Die Gesellschaft könnte auch die Wirtschaft zur Gleichstellung verpflichten und zwar auch in Betrieben, die von dem Teil der Bevölkerung betrieben werden, die sich explizit gegen die Gleichstellung wenden
3) Die Gesellschaft könnte Ausnahmen machen für Menschen, die “Organisationen ” zugehören, welche nichts von Gleichstellung halten. Diese “Organisationen” könnten auch selbst “Recht sprechen” in ihrem Sinne
4) Die Gesellschaft könnte es jedem Einzelnen, jeder Firma und jeder Behörde überlassen was sie tut.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Amerikanisierung weitergeht, dann landen wir wohl in einem Staat ähnlich den USA, wo vieles schlussendlich von den Gerichten bestimmt wird, also einem Staat wo das Gesetz zählt.
Wenn andererseits der Staat sich stark zurücknimmt und auch das Gesetz schwach ist, dannn könnte das Leben letztlich weitgehend von der Geschäftswelt bestimmt werden. Wer bei Siemens arbeitet folgt dann der Siemenskultur, wer in einem Spital arbeitet hat sich an die Regeln zu halten, die dort gelten. Multinationale Konzerne könnten dann einen grossen Einfluss darauf haben, wie man irgendwo lebt.
“Seine [Eisels] “theologische Interpretation der geistigen Basis des Begriffs der Leitkultur” kann ich allerdings nur schwer nachvollziehen, auch wenn ich verstehe was er damit sagen will.” (@Mona)
Er, Eisel, schreibt gerade an einem mehrbändigen Buch zu diesem Thema. Warten Sie’s einfach ab.
“Ein Großteil der Deutschen hat allerding schon heute keine christlichen Wurzeln mehr, wie beispielweise viele Bürger aus der ehemaligen DDR. “ (@ Mona)
Sind Sie sicher? Es könnte doch sein, daß die SED ausgesprochen christlich war. Ich glaube zwar eher, daß eine genauere Untersuchung diese Vermutung nicht bestätigen würde, aber man darf es sich nicht zu einfach machen. Durch Feststellung der Zahl der Kirchenbesucher oder derer, die vor dem Essen beten, läßt sich die Frage nach den christlichen Wurzeln jedenfalls nicht beantworten.
In Bezug auf eine christlich geprägte Leitkultur darf man die Durchsetzung der “Gleichberechtigung und Gleichstellung von Mann und Frau, von Menschen verschiedener sexueller Präferenz, etc.” (@Martin Holzherr) nicht vergessen, welche es notwendig machte, die vormals herrschende und religiös geprägte patriarchale Leitkultur in Frage zu stellen bzw. abzuschaffen. Insofern darf eine Leitkultur kein hierarchisches Gebilde sein, da sie ja unterschiedliche Menschen auf Augenhöhe integrieren soll.
Wenn man auf die Grundlagen des klassischen Liberalismus blickt, der z.B. über John Locke auch großen Einfluss auf die Philosophie Kants und das moderne Bild des Staates überhaupt hatte, darf man nicht vergessen, dass die Grundlagen der Theorie der Gleichheit der Menschen, wie sie bei Locke gelegt werden, tief geprägt sind von religiösen Ansätzen, die die gleiche Nähe zu Gott in die moderne Staatstheorie und die Grundlagen der Demokratie hineinkopieren.
@Silvio Ricardo:
Ich bestreite die von Ihnen aufgeführten Beispiele ja gar nicht, man könnte sogar noch einige hinzufügen. Ich halte es lediglich für kontraproduktiv eine Leitkultur auf Region aufzubauen. In meinen Augen würde die Integration von Flüchtlingen besser funktionieren, wenn wir uns am laizistischen Frankreich orientieren würden, wo die Leitkultur aus der Identität als Bürger besteht, der an der Zivilgesellschaft teilnimmt. Religion sollte Privatsache bleiben!
Die Ansätze des Laizismus kommen aber leider auch nicht aus dem luftleeren Raum. Die liberalistischen Ansätze der französischen Revolution beruhen wohl ebenso auf den klassischen Werten “Lifer, liberty and property”. Die protestantischen Grundlagen solcher Werte auszublenden, ist da nicht wirklich zielführend, weil man auch mit den kulturellen Grundlagen derer umgehen muss, die derartige religiöse Konzepte nicht in eine säkulare Philosophie umgießen konnten, weil solche religiösen Konzepte einfach nicht vorhanden waren. Das Ideal der Gleichberechtigung und der Freiheit sind tief verwurzelt in religiösen Theorien. Man denke an imago dei, das ja wenigstens noch alttestamentarisch ist.
Ein unterhaltsamer Artikel über protestantische Wertsysteme und neuere Entwicklungen in der Türkei fand sich z.B. hier: http://www.nzz.ch/islam-und-kapitalismus–eine-tuerkische-symbiose-1.2523274
@Silvio Ricardo:
“Das Ideal der Gleichberechtigung und der Freiheit sind tief verwurzelt in religiösen Theorien. Man denke an imago dei, das ja wenigstens noch alttestamentarisch ist.”
Wer von der “Gottebenbildlichkeit” des Menschen ausgeht, der muss sich aber darüber im Klaren sein, dass es sich dabei um ein von Menschen erdachtes Konstrukt handelt, das man glauben kann oder auch nicht. Genauso gut könnte sich der Mensch einen Gott nach seinem Ebenbild geschaffen haben.
Und was das “Ideal der Gleichberechtigung und der Freiheit” angeht, so mag das zwar in einigen “religiösen Theorien” verwurzelt sein, wenn man sich jedoch die drei abrahamitischen Religionen in Bezug auf die Frauenfrage anschaut, dann wird die Frau häufig geringer gestellt. Man könnte diese Geringerstellung der Frau, wie sie in einigen biblischen Texten zum Ausdruck kommt, zwar in den patriarchalischen Kontext des Altertums verweisen, schaut man sich jedoch den zunehmenden religiöse Fundamentalismus an, der Frauen wieder in ihre “angestammte” Rolle drängen möchte, dann dürfte klar sein, dass dieses Denken in keine Leitkultur gehört.
Zum: “Ein unterhaltsamer Artikel über protestantische Wertsysteme und neuere Entwicklungen in der Türkei…”
Derlei “protestantische Wertsysteme” kommen mir irgendwie bekannt vor:
http://www.wsp-kultur.uni-bremen.de/summerschool/download%20ss%202006/Max%20Weber%20-%20Die%20protestantische%20Ethik.pdf
@Mona: das ist doch vollkommen klar, dass es sich dabei um ein Konstrukt handelt, wenn man von der Gottebenbildlichkeit spricht.
Aber das ist doch wieder eine Frage an den Kulturbegriff. Ist das Denken beeinflusst von den Konstruktionen der Kultur oder umgekehrt? Ich würde sagen, dass für die Mehrheit der Menschen das Erste der Fall ist. Beruhten die Lutherischen Umformungen der christlichen Lehre auf “gesundem Menschenverstand” oder beruhten sie auf systemimmanenter “Reinigung” und möglicherweise sogar Radikalisierungen des Christentums, die späterhin nur umgelegt wurden auf ein staatstheoretisches Konzept, das nach einigen Jahrhunderten die religiöse Rückbindung vergessen ließ?
Würde es ein modernes Individuum geben ohne derartige “Revolutionen”? Natürlich gibt es immer noch Unterschiede in der Gleichberechtigung in Bezug auf Frauen. Das würde aber doch in gewisser Hinsicht auch eher dafür sprechen, dass Freiheitskonzepte faktisch nur kulturelle Übertragungen aus religiösen Zusammenhängen sind und nicht unbedingt Errungenschaften der Vernunft, die eine allgemeine Gleichberechtigung längst durchgesetzt hätte? Die Beschreibungen solcher Dinge als Errungenschaften vernüftigen Denkens sind möglicherweise nur nachträgliche Systematisierungen?
In dieser Diskussion verwendet man (vor allem @Mona, @Holzherr) „Leitkultur“ nicht im Sinne der Erfinder. Nicht des Wortes, das waren irgendwelche Parteibonzen der CDU/CSU, sondern des Begriffs. Der kommt von Theoretikern oder besser einer gegenaufklärerischen Bewegung des 18. Und 19. Jahrhunderts, der „konservativen Kulturkritik“, die ich oben skizziert habe. Wesentlich ist an diesem Begriff, daß sich da nicht Leute zusammensetzen und diskutieren, was wir uns denn als Leitkultur wünschen sollen; eben kam so etwas auf „Phoenix“). (Oder @Mona: „…schaut man sich jedoch den zunehmenden religiöse Fundamentalismus an, der Frauen wieder in ihre “angestammte” Rolle drängen möchte, dann dürfte klar sein, dass dieses Denken in keine Leitkultur gehört.“)
So zu denken war vielmehr das, was man der Gegenseite, der Aufklärung und ihren beiden Parteien (Liberalismus und Demokratie) vorwarf: Sie wollen die Kultur machen, so wie sie alles machen wollen, was nur machbar ist, wobei sie schließlich der Illusion aufsitzen, daß alles machbar ist. Statt dessen habe man zunächst einmal hinzunehmen, was „gewachsen“ ist, das kann und muß man dann vorsichtig weiterentwickeln.
Also: Die Kultur – und auch die Leitkultur – ist das, was wir vorfinden, worin wir hineingeboren werden, was uns geprägt hat. Wenn jetzt linke und liberale Politiker anfangen, ebenfalls von Leitkultur zu reden und meinen, sie müßten sich nun ausdenken, was da dazugehören soll, dann liegen sie schief. Sie benutzen dasselbe Wort für eine vollkommen andere Sache. Sie sagen dann z. B., die Anerkennung des Grundgesetzes gehöre dazu. Die hat aber gar nichts damit zu tun. Auch, so behaupte ich, die Gleichberechtigung (usw.) von Mann und Frau und von Homosexuellen gehört nicht dazu. Denn sie ist nicht Teil der „gewachsenen“ Kultur, wurde vielmehr denen, die für die Leitkultur waren, von deren Gegnern (denen, die keine Leitkultur wollten), aufgezwungen – gegen erbitterten Widerstand aus den Reihen der Unionspolitiker; wer nicht ganz jung ist, wird sich daran erinnern.
Man wird wissen wollen, wie ist ich persönlich zu der Frage stehe: Die Kultur ist zunächst einmal Privatsache. Freilich ist sie auf staatliches Handeln angewiesen. Es muß darum muß gekämpft werden, ob die deutschsprachige Lehre an den Universitäten abgeschafft wird oder ob ein Opernintendant eingestellt wird, der garantiert nichts Modernes spielen läßt. Aber daraus darf keine prinzipielle Verpflichtung auf eine bestimmte Kultur werden, so wie es auch keine Verpflichtung auf eine bestimmte Religion geben darf.
Übrigens: durch die Immigranten ist die deutsche Kultur in keiner Weise bedroht. Selbst wenn die Hälfte der Bevölkerung aus islamischen Staaten stammte: Die Herkunftsdeutschen werden weder deren Religion noch deren Sprachen noch deren Sitten annehmen. Was die deutsche Kultur wirklich bedroht, ist die angloamerikanische Kultur bzw. „Zivilisation“ (das haben die alten Kulturkonservativen schon richtig gesehen); dagegen aber ist die Unions-Parole von der deutschen Leitkultur aber nicht gerichtet gewesen.
1) Sind die Leute wirklich ehrlich zu sich selbst und anderen, wenn sie sagen, dass sie Vielfalt wollen? Also ich find Vielfalt ja ziemlich anstrengend auf Dauer; und wenn Sie augrund ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Andersheit, die sich (im Gegensatz zur kulturellen) kaum ändern lässt, gezwungen sind zur ach so schönen Vielfalt beizutragen, dann ist das meist gar nicht begeisternd.
2) Ist es wirklich sinnvoll Vielfalt an “Oberflächlichkeiten”, wie Kleidung, Sprache, Essen usw. festzumachen: a) Menschen sind doch, glaube ich, körperlich, im Fühlen, Denken usw. sehr verschieden auch wenn sie nach oben genannten Kriterien gleich scheinen. b) Wer schon mal längere Zeit im Ausland gelebt hat, weiss wohl wie “eigen” auch die “homogenisierten” Einheimischen sein können.
Ein Lehrer hat einmal im Spass gesagt, dass Worte mit -ismus am Ende oft etwas schlechtes bezeichnen: z.B. Rheumatismus und Kommunismus; deshalb würde mich interessieren, was denn unsere Werte von Konservativismus eigentlich sein sollen.
Menschenwürde: Ausländer wurden bei uns jahrzehntelang als Menschen zweiter Klasse betrachtet, denen man die Integration verweigerte
Schutz des menschlichen Lebens: Deutschland gehört seit Jahrzehnten zu den bedeutendsten Waffenexporteuren. ´Nützliche´ Systeme werden unterstützt und damit das Elend von Bewohnern dieser Länder verursacht (auch Griechenland war ein großer Kunde)
Schutz der Umwelt: für billige Schnitzel nehmen wir in Kauf, dass Urwälder abgeholzt werden, um billiges Futter zu produzieren. Unsere eigenen Bauern werden zur Massentierhaltung gezwungen, auch wenn wir damit langfristig die Grundwasservorkommen mit Nitrat und Düngemittel verseuchen.
Familie: Wenn daran gedacht wird homosexuellen Paaren mehr Rechte zu geben – dann ist die Empörung in den Medien groß, weil dies angeblich die konservativen Werte von Familie unterwandert. Mit dieser gesteuerten Empörung kann man effektiv davon ablenken, dass bei uns viele Alleinerziehende-Familien im Elend leben. Darüber regt sich kaum jemand auf.
Schon diese Beispiele sollten ausreichen um nochmals die Frage zu stellen, was denn Koservativismus eigentlich genau sein sollen, welche Werte sich dahinter verbergen?
Deutschland ist in Bezug auf Xenophobie, Waffenexporte, Umweltverhalten, Tierhaltung, Einstellung gegenüber Homosexualität kein Sonderfall, sondern guter europäischer Durchschnitt.
Interessanter ist die hier angeschnittene Frage was die Beziehung zwischen Konservatismus und beipielsweise Fremdenfeindlichkeit ist. Bei einer Google-Suchanfrage “Fremdenfeindlichkeit und Konservativismus” findet man vor allem Treffer wie “Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit: …”, “Deutschlands Mitte – aber rechts daneben!: Dokumentation …”. Das heisst Fremdenfeindlichkeit wird tendenziell im rechtsextremen Milieu verortet und weniger beim Konservativismus.
Meiner eigenen Erfahrung nach ist aber Fremdenfeindlichkeit im konservativen Umfeld häufiger, denn Konservatismus bedeutet ja gerade Bewahrung und diese Bewahrung wird durch Fremde bedroht.
Meine Frage ist viel einfacher: ich kann mit dem Begriff ´Konservativismus´ nicht das geringste anfangen.Deshalb frage ich, was dieser Begriff denn genau bedeutet – ich bin bloß neugierig
„Schon diese Beispiele sollten ausreichen um nochmals die Frage zu stellen, was denn Koservativismus eigentlich genau sein sollen, welche Werte sich dahinter verbergen?“ (KRichard)
Ja, nicht zuletzt deswegen habe ich den Artikel geschrieben. Die in den politischen Auseinandersetzungen üblichen Benennungen als konservativ und die Zuschreibung von allerlei meist bösen Dingen vernebelt bloß den Blick. Wichtig ist dabei aber, daß man nicht fragt, „was denn Koservativismus eigentlich genau sei“, als ob es den Konservativismus gäbe und nicht eine Vielzahl von Varianten. Dennoch ist es sinnvoll, nach einem allen Varianten gemeinsamen Kern, der sich dann ausdifferenziert, zu suchen. Diesen Kern sollte man nicht mittels einer Auflistung von “Werten” versuchen zu erfassen, sondern als ein System, das System, in dem diese Werte erzeugt werden. Das ist übrigens schon oft gemacht worden.
Wer glaubt mit “Refugees Welcome” könne man eine freundschaftliche Beziehung zwischen Flüchtlingen und Deutschen beginnen glaubt womöglich, was Menschen heute über den ganzen Globus vereine, seien die gemeinsamen Erfahrungen mit der angloamerikanischen Kultur, mit Hollywoodfilmen, US- und englischen Songs und US-Serien (“wenn mir nichts einfällt sprech ich mit dem Flüchtling halt über Breaking Bad oder Star Wars). Ich denke mir, wer das denkt ist möglicherweise sowohl zu optimistisch als auch zu naiv was die Integration Deutschlands und der Flüchtlinge in die internationale Gemeinschaft angeht.
Man könnte auch fragen: Sind wir nicht alle Füchtlinge, leiden aber mindestens unter schweren Entbehrungen, solange wir noch nicht ganz in der amerikanischen Kultur angekommen sind.
Auch wenn ich Ihre Metapher bezühlih des Flüchtlingsdasein verstehe, muss man schon sagen, dass Sie damit – vor allem unter Berücksichtigung der Flüchtlingsnot, die wir heute in vielen Ländern erleben, auch wenn man man auf die große Mehrheit der Menschenfeinde in unseren Ländern sieht, die durch die momentan vielleicht laute Minderheit der Hilfsberriten überdeckt wird – diese Lebenssituation verharmlosen. Das sind Leute, die ganze Familien verloren haben, die ihre Häuser und Wohnungen aufgeben mussten, so die nicht sowieso zerbombt wurden. Dagegn echauffieren wir uns hier über Anglizismen, HipHop und schlechte Hollywoodfilme.
Dabei weiß ich gar nicht, wo denn die Grenze sein soll, die die “eigene” Kultur anzeigt. Wann war die denn vorhanden?
Vor 50 Jahren?
Vor 100?
Das ist auf fast keiner historischen Erbe haltbar. Welche Idee wäre genuin deutsch? Welche Kultur genau meinen Sie? @Holzherr @Trepl
Der Kapitalismus ist keine amerikanische Erfindung.
Ich gebe Ihnen recht. Anglizismen sind ein Nebenthema wenn es um Flüchtlinge geht.
Sie sind nur dann kein Nebenthema wenn es um die Verständigung mit den Flüchtlingen geht. Um die Frage also, wie schafft man einen Verständigungsbasis mit Menschen, die nach Deutschland fliehen. Es scheint mir durchaus interessant, dass viele dann an an Englisch und die US-Kultur denken, wenn es ums Gemeinsame geht. Coca-Cola kennt man in der ganzen Welt, Englisch ist die Weltverständigungssprache und einige US-Filme kennen alle Menschen egal woher sie kommen. Das ist wohl einfach eine Tatsache. Heisst das aber, dass die “Ingegration” von Fremden am besten so abläuft, dass man sich bei dieser US-Kultur, bei dieser Weltkultur wieder findet.
Im obigen Text spricht Ludwig Trepl von Kapitalismus. Mir aber scheint das zuwenig spezifisch. Im Westen herrscht nicht nur Kapitalismus, sondern es herrscht die US-Kultur.
Ich meinte “historischen Perspektive” und nicht “histoischen Erbe”.
Meine Textersetzungsfunktion macht schon wieder alles kaputt.
Nein Silvio Ricardo, der Verharmlosungsvorwurf in Bezug auf die Flüchtlingskrise ist unangebracht. In diesem Beitrag von Ludwig Trepl geht es nicht primär um Flüchtlinge sondern um Fremdenfeindlichkeit, Konservatismus und die Amerikanisierung unserer Kultur (was Trepl vereinfacht Kapitalismus nennt).
Ich bin übrigens nicht unbedingt auf der Seite von Ludwig Trepl. Mir scheint die konservative Lebenshaltung nicht unbedingt attraktiv und mir fehlt auch das Umfeld, der Hintergrund und Trepls Heimweh (nach Konservativismus) um das leben und empfinden zu können.
Mein Punkt geht eher in die Richtung, dass Europa (wie auch Peter Sloterdijk im oben verlinkten Artikel schreibt) eine Kolonie der USA ist. Nur wollen das viele Europäer nicht zugeben oder nicht wahrnehmen. Es ist aber so und man sollte sich damit auseinandersetzen.
Ich brachte den Verharmlosungsvorwurf in Bezug auf Ihre rhetorische Frage, ob wir nicht alle Flüchtlinge seien. Ich bin auch kein Fan von Amerikanisierung aber ich fühle mich nicht als Flüchtling.
Die Grenzen einer Kultur sind typischerweise diffus, wobei Nordkorea vielleicht eine Ausnahme darstellt. Wenn man im Ausland lebt, sieht man besser, was die Fremdzuschreibungen an die eigene Kultur sind, im Inland sieht man eher die Differenzen innerhalb der eigenen Kultur, zu der ja auch zahlreiche mehr oder weniger deutlich abgegrenzte Subkulturen gehören. Das alles lässt sich nicht auf einen Nenner bringen, aber auch nicht schlicht ignorieren.
Ich bin kein Freund von Anglizismen, wenn sie nur gebraucht werden, um schick und “in” zu sein, um mal einen Anglizismus zu gebrauchen. Das dürfte bei den allermeisten der Fall sein. Das ist wie das Marken-Tragen bei Jugendlichen.
Man möchte zu einer Gruppe gehören, darum geht es.
Gestern gab es im Deutschlandfunk einen interessanten, erschütternden Beitrag über eine Geisel in der Hand der Al-Nusra-Front in Syrien. Er war Amerikaner, aber gut vertraut mit der arabischen Welt, sprach fließend Arabisch. Ein Jugendlicher unter seinen Bewachern oder Peinigern ärgerte ihn chronisch mit der Bemerkung, dass er, der Amerikaner in den USA sieben (oder neun) Frauen haben könne. Irgendwann platzte dem der Kragen und er sagte zu dem Burschen, er könne in den USA keine Frau haben, weil er kein Englisch sprechen könne, er kann ja nicht einmal richtig Arabisch.
Was lernen wir daraus? Der Hass speiste sich aus Neid. Der Junge kam dann für Englischunterricht zu ihm.
http://www.deutschlandfunk.de/eine-al-kaida-geisel-erzaehlt-was-will-dieses-grau-n.1247.de.html?dram:article_id=330624
Typischerweise genießt der Städter die Freiheiten und das reiche Angebot der Metropolen und zieht sich dann ab und zu auf das Land zurück oder besuchte exotische Länder, um dort zur Erholung etwas die “Authentizität” der lokalen Traditionen zu tanken.
Völlig widerspruchsfreie Einstellungen gibt es da wohl kaum und ich weiß nicht, ob ein völlig konsequentes Verhalten sympathischer oder besser wäre. Wir, die überwiegend Stadtmenschen oder mit einer urbanen Mentalität ausgestatteten Menschen sind, haben unterschiedliche, widersprüchliche Bedürfnisse. Die kriegt man nicht alle unter einen Hut.
Bei der Frage, inwieweit man sich kulturell abgrenzen oder öffnen soll, sind offenbar Extrempositionen unhaltbar. Völliges öffnen führt zum Verlust der eigenen Identität, völlige Abschottung zur Erstarrung. Das zeigen auch die Beispiele Chinas und Japans, die sich längere Zeit gegen Europa abgeschottet hatten und damit in ein gefährliches Hintertreffen zu Europa gerieten.
“Nein Silvio Ricardo, der Verharmlosungsvorwurf in Bezug auf die Flüchtlingskrise ist unangebracht. In diesem Beitrag von Ludwig Trepl geht es nicht primär um Flüchtlinge sondern um Fremdenfeindlichkeit, Konservatismus und die Amerikanisierung unserer Kultur (was Trepl vereinfacht Kapitalismus nennt).“
(@Holzherr)
Eigentlich geht es gar nicht um die Flüchtlinge, die erwähne ich nur aus nebensächlichen Gründen, es ginge auch ohne. – Einerseits nenne ich die gegen „Kultur“ stehende „Zivilisation“ (in den Augen der konservativen Kulturkritiker, wie es wirklich ist, ist hier nicht mein Thema) in der Tat vereinfachend „Kapitalismus“. Andererseits betrachte ich den Kapitalismus als so was wie eine kulturunabhängige Kraft, die die Gemeinschaften in eine Richtung sich entwickeln läßt, die dann von den konservativen Theoretikern „keine Gemeinschaften, sondern bloße Gesellschaften“ genannt wurden.
“Völlig widerspruchsfreie Einstellungen gibt es da wohl kaum und ich weiß nicht, ob ein völlig konsequentes Verhalten sympathischer oder besser wäre.“ (@Paul Stefan)
Das halte ich für richtig und wichtig. Es sind die Widersprüche, die in der Geschichte dazu führen, daß sich bestimmte Weltanschauungen oder Ideologien wie Konservativismus, Sozialismus, Liberalismus in aller Regel weiter und weiter ausdifferenzieren und auch mit zunächst gegnerischen Weltanschauungen zu neuen Gebilden kombinieren (was allerdings nicht unbegrenzt möglich ist). – Wichtig scheint mir auch, daß die völlig widerspruchsfreien Einstellungen oder vielleicht besser, die Weltanschauungen usw., in Reinform, im allgemeinen falsch sind, zumindest nicht sehr viel von dem begreifen, was sie vorgeben zu begreifen. Darum lassen sich die großen Denker selten einfach einordnen. Herder habe ich schon genannt. Ein anderes Beispiel ist Kant. Er gilt gemeinhin als die Krönung der Aufklärung, und die Aufklärung habe vor allem auch über die Religion aufgeklärt und ihr ihre Macht genommen. Bei Kant aber hat man den Eindruck, daß ihm nichts wichtiger war als die Verteidigung der Religion (sicher auch deren Bereinigung im Sinne einer „Vernunftreligion“) gegen das, was er Atheismus nannte. Immer, wenn es intellektuell anspruchsvoll wird, so scheint es, taugen die konstruierten Weltanschauungen nicht mehr, sie sind halt Idealtypen, ihre Funktion ist nicht, die Wirklichkeit abzubilden, sondern (u. a.) sie zu ordnen und die Bewegungen, Differenzierungen usw. von Weltanschauungen usw. zu verstehen.
“Und der Satz ist in der Sprache geschrieben, die die lingua franca unserer Zeit ist (anstatt koiné in den biblischen Zeiten).
So muss das sein” (@wereatheist)
Ach Quatsch. Immer kommt die lingua franca als Argument, wobei doch jeder weiß, warum wirklich Englisch gesprochen wird. Wenn ich in Italien oder Estland bin, spreche ich Englisch, weil ich mich sonst nicht verständigen kann. Da paßt lingua franca. Aber hier geht es um den Gebrauch des Englischen in Deutschland (was dann etwa ein Drittel der Bevölkerung nicht versteht, weil es gar nicht oder nur völlig ungenügend Englisch kann; ich finde, es ist eine Frechheit, so viele Menschen einfach zu ignorieren). Oder es geht um das Einstreuen englischer Brocken in deutsche Sätze, was zur Verständigung natürlich gar nichts beiträgt. Es hat allein den Zweck, den Sprecher als „weltmännisch“ erscheinen zu lassen; er glaubt, die anderen halten ihn für einen Provinztrottel, der Grund des Einstreuens von Anglizismen ist also fehlendes Selbstbewußtsein, weiter nichts.
„Dabei weiß ich gar nicht, wo denn die Grenze sein soll, die die ‚eigene’ Kultur anzeigt. Wann war die denn vorhanden? Vor 50 Jahren? Vor 100?“ (@RICARDO)
Da haben Sie eine der Hauptschwächen des Konservativismus (der Spielart, die ich beschrieben habe: „konservative Kulturkritik“) getroffen: er ist nicht so recht realitätstüchtig: sie war nie vorhanden. Im Allgemeinen meint der Konservativismus ja, daß seine Werte – und die Gesellschaften, die vermeintlich auf der Grundlage dieser Werte standen – überhistorisch, ewig sind. Paradebeispiel: Er verherrlicht die bürgerliche Familie als ewig und gottgewollt, in Wirklichkeit ist sie eine Erfindung der Gegner des Konservativismus zur Zeit der Aufklärung, der „Bürger“. Und ähnlich ist es mit jenen Kulturen. Man kann schlecht sagen, sie seien ewig, aber wenigstens sollen sie uralt sein, nicht nur 50 oder 100 Jahre: schon die alten Griechen lebten angeblich nach den Prinzipien des deutschen Konservativismus (sehr gut dazu finde ich Martin Greiffenhagen, 1986: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland; Frankfurt/M.).
Tatsächlich gab es diese Kulturen nie, obwohl es auch stimmt, daß ihnen die vor-kapitalistischen Gesellschaften / Kulturen näher waren und es einige Plausibilität hat, sie als Muster aufzustellen – ich meine nicht die Gesellschaft des Absolutismus, sondern solche Gesellschaften wie die der Schweiz, Tirols oder der anti-feudalen Bauern-Republiken z. B. an der Nordsee; die hat man als Vorbilder aufgebaut in der napoleonischen Zeit (ich habe dazu hier schon einiges geschrieben). – Als wenig realitätstüchtig habe ich diese konservativen Theorien (ich habe Herder genannt, vor allem aber waren es die Denker der „historischen Schule“, die später diese sog. Konservative Kulturkritik formulierten) auch deshalb bezeichnet, weil sie das Heraufkommen des Kapitalismus nicht begreifen konnten.
„Der Kapitalismus ist keine amerikanische Erfindung.“
Sicher nicht, er ist im wesentlichen eine englische, aber die englische Gesellschaft wurde alles in allem vom Konservativismus nicht verteufelt, wohl darum, weil die Modernisierung dort und damals nicht mit einer Entmachtung des Adels einherging wie in Frankreich. Seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts war jedenfalls vor allem „Amerika“ der Inbegriff derjenigen Welt, die der Konservative verabscheut. – Wenn ich „Kapitalismus“ schreibe, meine ich eine Gesellschaftsform einschließlich einer „Kultur“, nicht nur eine Wirtschaftsform. Diese Wirtschaftsform ist aber das, was die kulturelle Entwicklung in die Richtung treibt, die man „American Way of Life“ nennt. Wie weit dabei spezifisch Amerikanisches (statt weltweit einheitlich wirkendes wie „Kapitalismus“) von Bedeutung ist, scheint mir eine interessante und ungelöste Frage.
>„Das ist aus fast keiner historischen Perspektive haltbar. Welche Idee wäre genuin deutsch? Welche Kultur genau meinen Sie? @Holzherr @Trepl“
Ich meine gar keine, ich beschreibe nur, was man im Konservativismus meinte; und da meinte man am ehesten jene zu Vorbildern stilisierten „Bauernkulturen“, Schweiz usw., aber auch die griechische Polis. Ob irgend etwas davon wirklich so oder ähnlich war, wie man es sich ausmalte, interessiert mich hier nicht.
Und der Satz ist in der Sprache geschrieben, die die lingua franca unserer Zeit ist (anstatt koiné in den biblischen Zeiten).
So muss das sein.
“refugees welcome” ist natürlich nicht der Name einer Organisation, sondern ein Satz, der als Signal mancherorts steht. Wenn Sie was dagegen haben, sind Sie selber schuld 😛
Es ist der Name einer Gruppe in Berlin. – Dazu, ob ich etwas gegen die Verdrängung vieler Sprachen durch das Englische habe, hab’ ich gar nichts geschrieben – außer daß meine Gefühle da eher konservativ sind. In dem Artikel geht es um einen Widerspruch im linken und liberalen Lager, auf den mache ich aufmerksam: Für kulturelle Vielfalt sein und gleichzeitig an der weltweiten kulturellen Homogenisierung arbeiten. Sie können nicht leugnen, daß das so ist. Sehen Sie sich das Auftreten der linken Gruppen oder auch die taz an. In keiner anderen Zeitung, die ich kenne, ist man derart bemüht, seine Englischkenntnisse unter Beweis zu stellen. Völlig unmotiviert beispielsweise erhalten Artikel englische Überschriften. Ansonsten: Lesen Sie meinen Kommentar zum Kommentar von “Statistiker”.
Hmmm, also, wenn ich einen englischen Begriff verwende, bin ich also ein Tölpel und Vollasi. Nichts anderes sagt dieser Artikel.
Ziemlich asozial und fremdenfeindlich.
Ich liebe Anglizismen, sie bereichern unsere Sprache,
Naja, manche Leute sind im Dritten Reich verblieben……..
“Hmmm, also, wenn ich einen englischen Begriff verwende, bin ich also ein Tölpel und Vollasi. Nichts anderes sagt dieser Artikel.”
Nichts anderes? Das Thema der Sprache nimmt doch nur einen kleinen Teil des Artikels ein. Einen Tölpel könnte man eher den nennen, der das nicht merkt. (Das Wort Vollasi kenne ich leider nicht). – Ich habe überhaupt nichts über die Dummheit (“Tölpel”) oder Intelligenz von Leute geschrieben, sondern über die Sogkraft einer bestimmten Kultur. Statt der Sprache hätte ich auch die Kleidung, die Musik, das Essen und vieles andere als Beispiele nehmen können. Ich habe auch nicht gesagt, ob das gut ist oder schlecht, sondern daß mir das nicht gefällt (“da bin ich konservativ”), daß ich aber, wenn die Alternative wäre, entweder die weltweite Homogenisierung, wie sie die “Progressiven” betreiben, oder aber die fremdenfeindliche Variante des Konservatismus, die ich zuerst beschrieben habe, ich die Homogenisierung wählen würde.
“Naja, manche Leute sind im Dritten Reich verblieben……..”
Sie nennen mich also einen Nazi. Junger Mann, ich hab schon gegen die Nazis gekämpft, wenn auch teils mit Mitteln, die ich heute als untauglich ansehe, als Sie noch gar nicht geplant waren. Ich werde Ihre Kommentare von jetzt an ungelesen löschen.
@Trepl: Danke übrigens für den interessanten Literaturtipp. Hab ich im vorigen Posting vergessen.
Nicht, dass ich prinzipiell etwas gegen eine starke Stammkultur hätte, sehe ich einfach keinen Stammhalter mehr. Die Proponenten einer Integrationsmaschine, sprich: die Leute, die am stärksten auf Integration oder gar Assimilation der Fremden pochen, haben übersehen, dass kein Benzin mehr im Motor ist. Ich erlebe das in Österreich in Reinform. Die patriarchalisch-hierarchische Haltung ist übriggeblieben, umgeben von Wiesenhüttengaudi und Plastikdirndln. Auf die ist man stolz.
@Trepl: Und dazu kommt dann noch eine witzige Theoriebildung von ganz weit rechts, die Ihrer Analyse von Pluralität entgegenkommt,
https://de.wikipedia.org/wiki/Ethnopluralismus
allerdings mit dem Unterschied, dass die wollen, dass jeder Bestandteil dieser Pluralität dort bleibt, wo er “hingehört”. Zumindest die Namensgebung ist kreativ, gleichzeitig wird aber die rhetoische Absicht erkennbar und der Hang zur eigentlichen Menschenfeindlichrit. Der Wikipediaartikel ist Kraut und Rüben, konnte aber nichts besseres finden zum Ethnopluralismus der sogenannten “Identitären”
Die Amerikanisierung Europas, die im Artikel angesprochen wird ist auch das Thema des Artikels Digitaler Kolonialismus
Die USA führen einen hundertjährigen Krieg – und Europa schaut zu von Peter Sloterdjik mit der Einleitung
Die Unterwürfigkeit Europas gegenüber den USA bezieht sich auf praktisch alle Realitätsbereiche, auch auf die digitale Welt. Letztlich geht es stets um die fast protestfreie Unterwerfung des tötungsunwilligen Vasallen unter das Diktat des tötungsfähigen Souveräns.
Exakt beschrieben. Die Entgleisung des Liberalismus beschränkt sich nicht auf dessen soziale Seite , frühere Werteliberale hatten nie ein “anything goes” im Sinn, das durch seine Gleichgültigkeit zwangsläufig in eine inhumane Gesellschaft führen muß.