Stell dir vor, du könntest keine Schmerzen spüren…

… Du hättest niemals Kopfschmerzen oder andere chronische Schmerzen. Wenn du hinfällst, könntest du einfach wieder aufstehen. Und du wirst dir niemals die Zunge an zu heißem Kaffee verbrennen. Also verbrennen wirst du dir die Zunge schon, aber spüren wirst du das nicht. Ohne Schmerzen würdest du dir zwar genauso oft etwas verletzen, aber es würde dich nicht einschränken, ja es würde dir in manchen Fällen nicht einmal auffallen. Deswegen würdest du viel risikoreicher leben als andere, denn ohne Schmerz hättest du auch keine Angst vor gefährlichen Handlungen. Scharfes Essen würde dir nichts ausmachen. Außerdem müsstest du zu anderen Mitteln greifen, um deinen Körper zu verstehen und andere Warnsignale zu erkennen.

Genau so lebt Ashlyn Blocker. Sie hat einen genetischen Defekt und kann keine Schmerzen spüren. Diese Unempfindlichkeit hört sich vielleicht zuerst echt cool an, fast schon so wie eine Superkraft. Allerdings ist das Leben für die Betroffenen gar nicht so leicht. Ohne die Schmerzen fällt das primäre Warnsignal des Körpers weg. Normalerweise zeigen diese nämlich an, dass etwas nicht in Ordnung ist: Knochen gebrochen, Haut verbrannt oder Organ entzündet. Das alles äußert sich über Schmerzen. Ohne diese wird es für Betroffene schwierig, sich selbst zu verstehen. Darum müssen sie umso vorsichtiger sein und ganz genau hinhören, was ihr Körper ihnen sagt. Für Schmerzforscher sind diese Menschen besonders interessant. Sie erhoffen sich, mit dem Verständnis der betroffenen Gene in der Lage zu sein, Medikamente zu entwickeln, die chronischen Schmerzpatienten helfen könnten.

Was sind Schmerzen?

Die WHO hat genau definiert, was Schmerzen sind: nämlich unangenehme Sinnes- und Gefühlserlebnisse, die mit einer tatsächlichen oder drohenden Gewebebeschädigung verknüpft oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben sind.

Hierbei bedeutet der Begriff des Sinneserlebnisses, dass der Schmerz wahrgenommen und beschrieben werden kann. Der Begriff des Gefühlserlebnisses bedeutet, dass Schmerzen auch emotional wahrgenommen und bewertet werden können. Beispielsweise klagten manche Patienten, denen vorgetäuscht wurde, an einem Auffahrunfall beteiligt gewesen zu sein, über Nackenschmerzen. Dabei ist der Übergang zwischen körperlich und seelisch begründbaren Schmerzen häufig fließend.

Wie entstehen Schmerzen?

Es gibt zwei verschiedene Entstehungsmöglichkeiten von Schmerz. Eine davon ist der neuropathische Schmerz, bei dem Nerven eingeklemmt oder durchtrennt werden. Das wird in der Regel als schmerzhaft wahrgenommen, zum Beispiel bei Amputationen oder Bandscheibenvorfällen. Dieses Thema habe ich bereits ausführlicher in dem Blogbeitrag über Phantomschmerzen behandelt, den ihr gerne nachlesen könnt.

In diesem Artikel möchte ich deswegen vor allem auf die andere Art von Schmerz eingehen, nozizeptiver Schmerz. Dieser wird herbeigeführt durch Reize auf der Haut und in Organen, die von den Nozizeptoren wahrgenommen werden. Diese Rezeptoren sind spezifisch für Schmerzsignale zuständig. Grundsätzlich werden jedoch nicht nur mechanische Reize wahrgenommen, sondern auch thermische und chemische. Diese Rezeptoren benötigen allerdings einen relativ starken Reiz, um erregt zu werden, um eine Überreizung zu verhindern. Außerdem können diese Rezeptoren nicht adaptieren, das bedeutet, eine erhöhte Frequenz an Reizen führt nicht zu einer Verminderung der Erregung. Allerdings gibt es Mediatoren, die die Erregbarkeit modulieren können, wie beispielsweise Serotonin oder Sauerstoffmangel. In diesen beiden Fällen wird die Erregbarkeit erhöht, während bei Ausschüttung von Adrenalin die Erregbarkeit vermindert wird. Schmerzzustände sind auch für den Körper “erlernbar”, da wiederholtes Auftreten die Schmerzschwelle erniedrigen kann.

Wie werden Schmerzen an das Gehirn geleitet?

Die Schmerzreize werden zunächst ans Rückenmark und anschließend ans Gehirn weitergeleitet. Dadurch werden im Rückenmark Schutzreflexe ausgelöst, die wir ausführen, bevor wir die Schmerzen wahrnehmen.

Die Nerven, die die Schmerzinformation an das Gehirn leiten, werden in schnelle und langsame Nerven unterteilt. Die langsamen Nerven sind der Grund für die schwere Ortung des Schmerzes. Häufig weiß man, dass es wehtut, kann aber nicht genau abgrenzen, wo genau. Man weiß also, dass man Rückenschmerzen hat, aber es ist schwierig, die genaue Stelle zu deuten.

Über den Vorderseitenstrang gelangt die Information dann ins Gehirn. Dort wird sie im Kortex bewusst verarbeitet und im limbischen System emotional bewertet. Anschließend können höhere Hirnzentren über deszendierende antinozeptive Bahnen Einfluss auf die Intensität der Wahrnehmung nehmen.

Was passiert bei Schmerzen im Gehirn?

Es gibt nicht das eine “Schmerzzentrum”, stattdessen wird der Schmerz in mehreren, kleineren Arealen verarbeitet. Viele der bearbeitenden Teile gehören zum limbischen System. Zuerst entscheidet der Thalamus als Vorkammer zum Bewusstsein, ob der Reiz die Schmerzschwelle überschreitet. Dann wird im limbischen System die Intensität verarbeitet und als unangenehm eingestuft. Bei einem Experiment wurde Patienten mit chronischen Schmerzen Elektroden ins Gehirn implantiert und dann die Aktivitäten gemessen. Und der orbitofrontale Cortex (OFC) hatte dabei die höchsten Aktivität. Danach wurde auch akuter Schmerz ausgelöst und dabei hat vor allem der anteriore cinguläre Kortex (ACC) eine Aktivität gezeigt. Dadurch konnten die Forscher erklären, welche Form von Schmerz in welchem Bereich verarbeitet wird.

Was ist das Schmerzgedächtnis?

Manchmal kann es passieren, dass Schmerzen die Nervenzellen, die für die Weiterleitung verantwortlich sind, beeinflussen. Kommt es häufiger zu Schmerzen, dann kann das diese Nervenzellen sensibilisieren. Dadurch nehmen sie Schmerzen schneller und stärker wahr, selbst wenn nur der kleinste Reiz vorhanden ist. Dies dient dem Zweck, ein gesteigertes Vermeidungsverhalten zu fördern, um brenzligen Situationen zu entgehen. Schmerzen beeinflussen also schon in der Jugend unser Verhalten. Manchmal ist das Gedächtnis jedoch zu gut, und schon Gerüche oder Geräusche können die Schmerznerven aktivieren. So kann eine schon länger zurückliegende schmerzhafte Erkrankung dazu führen, dass die Nerven auch später noch Schmerzsignale wahrnehmen und weiterleiten, obwohl das Gewebe wieder gesund ist. Das kann der Beginn von chronischen Schmerzen sein, muss es aber nicht.

Es gibt jedoch auch das umgekehrte System, die sogenannte Adaption, bei der die Nerven nach dauerhaftem Reiz nicht mehr oder nur noch geschwächt Schmerzsignale ans Gehirn leiten, beispielsweise wenn man in einer heißen Badewanne sitzt und das Wasser nach einer gewissen Zeit nicht mehr als unangenehm empfindet.

Was sind chronische Schmerzen?

Schmerzen kann man nach verschiedenen Faktoren weiter unterteilen.

Die wichtigste Frage ist dabei meistens, ob die Schmerzen akut oder chronisch sind. Akute Schmerzen sind primär als Warnsignal gedacht, um eine zu hohe Belastung zu melden oder eine Verletzung. Deswegen hält diese Art nicht länger als maximal ein paar Stunden an. Im Kontrast dazu bezeichnet man chronische Schmerzen als solche, wenn sie länger als sechs Monate andauern oder sehr häufig wiederkehren und einen großen Teil des Alltags beeinträchtigen. Ist das der Fall, dann ist der Schmerz nicht mehr im Kontakt mit dem ursprünglichen Problem und hat deswegen keine Warnfunktion. Bei chronischen Schmerzen ist das Leben der Betroffenen häufig stark beeinflusst. Und da etwa 7% aller Deutschen betroffen sind, ist das nicht zu unterschätzen.

Sehr lange hat man gedacht, dass chronische Schmerzen ausschließlich eine physische Ursache haben, man diese finden und behandeln muss. Mittlerweile weiß man aber, dass auch viele psychische und emotionale Faktoren eine Rolle spielen. Deswegen wurden viele psychotherapeutische Verfahren entwickelt, die bei der Bewältigung helfen sollen. Ziel dieser Therapien ist eine bessere Bewältigung des Alltags. Das kann durch ein besseres Verstehen der Schmerzen und ihrer Auslöser passieren oder durch eine andere Verarbeitung.

Welche genetischen Faktoren spielen eine Rolle?

Schon vor 100 Jahren wurden genetische Ursachen bei schmerzunempfindlichen Menschen vermutet. Mittlerweile wurden drei große Genfamilien erkannt, die Einfluss auf das Schmerzempfinden nehmen. Zum einen gibt es das COMT-Gen, welches für den Abbau mancher Neurotransmitter verantwortlich ist. Bei Mutationen ist das Schmerzempfinden entweder erhöht oder verringert. Dann gibt es das OPRM1-Gen, welches für die Transkription von Opioidrezeptoren verantwortlich ist. Ist dieses Gen verändert, haben Betroffene eine geringere Opioidwirkung.

Für die Mediziner am spannendsten ist jedoch das SCN9A-Gen. Dieses Gen kodiert für einen Teil des spannungsgesteuerten Natriumkanals, der an der Reizweiterleitung beteiligt ist. Auf der einen Seite gibt es die Gain-of-Function-Mutation. Bei dieser kommt es zu einer Verstärkung der Aktivität. Dadurch wird die Deaktivierung des Nervs verlangsamt, und die Kanäle feuern mehr. Das führt zu einer verstärkten Schmerzsensation. Auf der anderen Seite gibt es auch eine Loss-of-Function-Mutation. Diese reduziert die Aktivität der Nerven und verursacht dadurch eine komplette kongenitale Schmerzfreiheit.

Welche Mutation hat Ashlyn denn nun?

Ashlyn hat einen Defekt im SCN9A-Gen. Diese spezielle Mutation wird congenital indifference to pain (CIP) genannt. Betroffene haben ansonsten eine unveränderte Hautsensibilität für Berührung, Vibration und Temperatur, nur die Wahrnehmung von Schmerz fehlt völlig. Außerdem fehlt Betroffenen das Tränen nach Reizung, Schwitzen oder reflektorisches Wegziehen. Deswegen findet man typischerweise Folgen von Bissen in der Wangenschleimhaut, Verbrennungen und schlecht verheilte Brüche.

Was kann man gegen Schmerzen tun?

Zuerst ist es wichtig, eine Verletzung oder Krankheit zu heilen, damit der Schmerz nicht mehr als Warnsignal gebraucht wird. Während dieses Prozesses soll der Schmerz jedoch auch schon gelindert werden. Dafür gibt es Medikamente.

Bei leichten Schmerzen werden Nichtopioide verabreicht, beispielsweise die Nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen. Diese sind entzündungshemmend, Fieber senkend und wirken auch schmerzlindernd. Daneben gibt es auch Paracetamol, das zur Familie der Aniline gehört. All diese Medikamente wirken an der Stelle, an der der Schmerz entsteht.

Bei mittleren und schweren Schmerzen werden eher Opioide verschrieben. Das sind besonders wirksame Schmerzmedikamente, die auf dem Opioid Morphin basieren. Anders als die NSAR setzen Opioide nicht am Ort der Verletzung an, sondern blockieren die Weiterleitung ans Gehirn, wodurch die Information nicht ankommt und kein Schmerz verspürt wird.

Es gibt auch Behandlungsmethoden ohne Medikamente, wie beispielsweise Akupunktur, Osteopathie, Massagen und gezielte Bewegungen. Hierbei geht es häufig um muskulären Schmerz, den man durch Entspannung zu lösen versucht. Aber Akupunktur kann auch gegen andere Schmerzen helfen, wie beispielsweise Migräne.

Am sinnvollsten ist natürlich eine Behandlung aus allen Bereichen, um die perfekte Methode zu finden. Nicht alle Kopfschmerzen erfordern Schmerztabletten, aber sie können auch nicht immer durch Akupunktur verschwinden. Und chronische Schmerzen sind ohnehin komplex. Denn sie erfordern nicht nur gute Ärzte, sondern auch Therapeuten, die gemeinsam an der Bewältigung arbeiten.

Was ist der aktuelle Stand der Forschung?

Die “Forschungsagenda: Perspektive Schmerzforschung Deutschland” der deutschen Schmerzgesellschaft aus dem Jahr 2017 beschreibt ganz gut die Probleme, die in der Vergangenheit geherrscht haben. Nämlich ein mangelndes Verständnis der Komplexität des Schmerzes. Der psychische Teil wurde sehr stark vernachlässigt, wenn nicht sogar ignoriert. Und dadurch konnte keine Fachgebiet übergreifende Behandlung stattfinden. Was dazu geführt hat, dass chronische Schmerzen nicht die Therapie erfahren haben, wie eigentlich verdient. In der Agende postuliert die Schmerzgesellschaft, dass der aktive Plan besteht die Multidimensionalität des Schmerzes in Behandlungen und Forschung zu beachten. Immer im Kopf zu behalten, dass es ein Mix an Physischem, Emotionalem und Sozialem ist, der mit in die Entstehung hineinspielt. Außerdem wollen sie die Kommunikation zwischen der Grundlagenforschung und der Fachgebietforschung in den Kliniken verstärken.

Weitere Beiträge zu diesem Thema

Phantomschmerzen, Migräne, Schlaganfall, Psychoaktive Pilze

Quellen

DocCheck, M. B. (n.d.). Schmerz – DocCheck Flexikon. DocCheck Flexikon. https://flexikon.doccheck.com/de/Schmerz#:~:text=Schmerz%20ist%20eine%20komplexe%2C%20unangenehme,Wechselwirkungen%20zwischen%20Schmerzwahrnehmung%20und%20Psyche.

Ethypharm. (2022, January 21). Schmerztherapie: Medikamente gegen akute & chronische Schmerzen | Ethypharm. Ethypharm Deutschland. https://www.ethypharm.de/unsere-therapiebereiche/schmerz/

Forschungsagende: Perspektive Schmerzforschung Deutschland. (2017). Deutsche Schmerzgesellschaft e.V.

Gonano, C. (2023). Genetische Aspekte der Schmerzmedizin. Schmerz Nachrichten23(1), 45–52. https://doi.org/10.1007/s44180-023-00096-5

Heckert, J. (2012). The Hazards of Growing Up Painlessly. The New York Times Magazine. Retrieved October 31, 2023, from https://www.nytimes.com/2012/11/18/magazine/ashlyn-blocker-feels-no-pain.html

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Podbregar, N. (2023, May 22). Bei Schmerzen ins Gehirn geblickt – wissenschaft.de. wissenschaft.de. https://www.wissenschaft.de/gesundheit-medizin/bei-schmerzen-ins-gehirn-geblickt/

Schwarzer, A., & Maier, C. (2022). Wie entstehen Schmerzen? In Springer eBooks (pp. 1–12). https://doi.org/10.1007/978-3-662-64577-2_1

Was ist Schmerz. (n.d.). https://www.schmerzgesellschaft.de/patienteninformationen/herausforderung-schmerz/was-ist-schmerz

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Leah Wildenmann studiert seit 2021 Biologie in Freiburg. Sie ist noch am Anfang und hat dadurch eine sehr frische und unerfahrene Sicht auf das Thema des Gehirns. In ihrem nächsten Semester hat sie Zusatzfächer rund um Neurobiologie gewählt und freut sich schon ihr Gelerntes mit anderen Interessierten zu teilen. Besonders spannend findet sie, die Möglichkeit Emotionen durch gezielte Stimulation von Nerven auszulösen. Außerdem fände sie es superspannend, sich dem neurobiologischen Teil der Bewusstseinsforschung zu widmen.

3 Kommentare

  1. Vielleicht erinnert sich noch jemand. In den 1950er Jahren gab es im damaligen NWDR den „Schulfunk“. Wenn ich es richtig erinnere, dann hieß ein Beitrag „Schmerz ist eine Warnung“. Und genau das ist er.

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