Astro meets Archäo

Dieses Jahr fand die Jahrestagung der Gesellschaft für Archäoastronomie vom 21. bis 25. Juni in Weimar statt. Häufig wählt diese Gesellschaft entweder den Mittsommer oder den Mittherbst (das Äquinoktium) als Zeitpunkt, da zahlreiche Leute sich damit beschäftigen, dass die Sonne bei Auf- oder Untergang an einem dieser Jahreshauptpunkte an einem Hinkelstein oder einer Bergspitze entlang leuchtet. 

Lichtspiele – Keramikmuster – Ludi Naturae 

Bei diesen Tagungen treffen sich Experten aus der Wissenschaft und Hobby-Heimatforschende. Das Schöne ist, dass man hier einerseits in der eigenen Wohngegend die Spuren menschlicher Besiedlung und die Kulturentwicklung verfolgen kann und andererseits auch Himmel und Erde im Einklang betrachtet werden. Unsere Vorfahren, auch vor ~100 Jahren, lebten noch wesentlich naturverbundener als wir und so kann die Archäoastronomie helfen, sich elementares Wissen über unsere Umwelt bewusst zu machen, das die meisten von vergessen haben, aber das eigentlich flächendeckend in den Sachkunde-Grundschulunterricht gehören müsste. 

Sonnenaufgangspunkte übers Jahr

Die Aufgangspunkte der Sonne am Horizont verschieben sich im Lauf des Jahres und das wurde gewiss von sesshaften Menschen beobachtet, um die Jahreszeiten (und damit die Zyklen in der Natur wie Wetter, Saat-, Blüte-, Tierwanderungs-Zeiten) zu bestimmen. Analog zu dem Mittsommer, den ich vor ein paar Tagen dokumentierte, gibt es ja auch Mittherbst, Mittwinter (Weihnachten) und Mittfrühling. 

Wo die Sonne über dem lokalen Horizontprofil zu welcher Jahreszeit auf- oder untergeht, ob sie bei der Sonnenwende oder Tag- und Nachtgleiche aus einem bestimmten Berg zu kommen scheint, ist ein Naturschauspiel. Auf dem Panoramafoto unten habe ich die oben fotografierten Beobachtungen an den Jahreshauptpunkten markiert. 

Aber aufgepasst! Zwar ist es für Naturliebhaber (Romantiker) eine Freude, diese systematische Wanderung der Sonne zu verfolgen, aber was wir heute sehen, entspricht nicht dem Anblick vor einigen Jahrtausenden (Grafik links). Die Neigung der Ekliptik und der Mondbahn ändert sich zwar nur minimal, aber am Horizont macht das durchaus mal ein bis zwei Sonnendurchmesser aus.

Daher müssen solche Effekte für die Vergangenheit (besonders, wenn man ins Neolithikum oder auch “nur” in die Bronzezeit zurück denkt) unbedingt berechnet oder durch Computergraphik animiert werden. Die bloße Beobachtung heute zeigt eben nur den Stand “heute” und nicht damals.

Mond

Für den Mond gilt selbstredend das gleiche hinsichtlich Beobachtung/ Berechnung wie für die Sonne. Auch er kann interessante Bilder am Horizont auslösen:

er wirft sein Licht voraus…
… besonders in Lichtsäulen und Glorien

Atmosphärische Effekte

Morgenstimmung bei Mittwinter (Wintersonnenwende): an dieser Stelle des Horizontes geht die Sonne auf.
Abendstimmung Mittsommer: kurz nach Sonnenuntergang am (südlichen) Osthorizont:

Heute wissen wir: Bei Sonnenaufgang erscheint die Sonne rot wegen der Mie-Streuung ihres Lichts an den Staubpartikeln in der Atmosphäre. Nach heftigen Vulkanausbrüchen sind Sonnenaufgänge daher röter (und Abenddämmerungen mehr lila) als sonst. In der Abenddämmerung sehen wir diesen Effekt nicht, wenn es dort keine helle Lichtquelle (z.B. Mond, Jupiter…) gibt. Derselbe Horizont ein halbes Jahr später am Abend erscheint grau direkt überm Horizont: Wir sehen hier den Erdschatten in der Troposphäre und darüber in rosa die Ozonschicht (manche nennen es englisch “belt of Venus”, obwohl die sich darin sicher niemals aufhält, weil dieser Anblick stets der Sonne gegenüber zu sehen ist, wo sich Venus niemals aufhalten kann), von der Abendsonne (hinter der Kamera, unterm Horizont) gestreift, darüber in blau: Himmelblau (gleichmäßige Rayleigh-Streuung) direkt überm Standort.

Mondkalender

Im August 2019 hatte ich diese Serie präsentiert, damals auch weitere Stimmungsbilder.

Natürlich ist der Mond auch durch seine Phasengestalten ein Taktgeber, aber das Mondjahr von zwölf Vollmonden ist um elf Tage kürzer als das Sonnenjahr, wodurch die Jahreszeiten hierbei aus dem Takt laufen würden. Selbstverständlich wussten dies die naturverbunden lebenden Menschen früher besser als die meisten von uns. Daher gibt es von vielen Heimatforschern zahlreiche Deutungsversuche von Mustern auf irgendwelchen archäologischen Funden: Manche interpretieren die Gravuren in der Stichbandkeramik als Zählstriche oder Zählpunkte, manche die Kreise & Spiralen auf Goldhüten oder Dolchen, die als Grabbeigaben mit Toten bestattet wurden. 

Hier ein Foto vom Fußboden des Tagungsraums. Klar sieht man hier senkrechte und waagerechte Teilungen – und man erkennt auch im oberen Bereich mehrfach Muster der Maserung, die die waagerechten Linien als pfeilartig (zur Mitte spitz zulaufend) erscheinen lassen.

Es gibt Heimatforschende, die hier die Anzahl der Linie in jede Richtung zählen würden und dann mit ein wenig Arithmetik so lange herumrechnen, bis sie in der Anzahl der Striche ein Zahlenverhältnis von Tagen im Sonnenkalender und Tagen im Mondkalender erhalten.

Diese Art der Vorträge auf solchen Treffen macht die Tagungen etwas anstrengend für Fachleute. Nichtsdestotrotz muss es ja irgendein Forum geben, wo solche Ideen vorgestellt werden können, damit man perspektivisch selektieren kann, was nur Zahlenspiele+Wunschdenken ist und womit man real Astronomiegeschichte schreiben kann. Diese Aufgabe der Selektion fällt der Geschichte(forschung) zu, aber sie bedarf dafür der Datensammlung solcher Tagungen.

Lichtspiele

Manchmal sind es auch gar nicht Sonne oder Mond selbst, die hier die uns zum Innehalten und Genießen anhalten, sondern es sind ihre Reflexionen: Es gibt Brunnenböden, Teiche und Schalungen in Felsen, die sich bei Regen mit Wasser füllen und dann als Reflexionsfläche dienen. Bei geschickter Position des/der Beobachtenden kann man die Gestirne indirekt beobachten – und vllt. zu bestimmten Jahres- und Tagungszeiten in besonderer Weise.

Das gilt natürlich auch für die Brechung von Sonnenlicht in Glas- und Kristallgegenständen (wie z.B. einem Kronleuchter, was auf dieser Tagung in Weimar vorgetragen wurde) und für einsame Licht”strahlen” bei Sonnenauf- oder -untergang, die einen Altar oder ein Gemälde beleuchten. 

Museen in Weimar

Weimar ist berühmt für die Weimarer Klassik, Goethe, Schiller und Herder, für Theater, Poesie und Kunst, für die Nähe zu Buchenwald im bisher dunkelsten Kapitel unserer Geschichte und auch für die Gründung der ersten deutschen Republik.

Weniger bekannt scheint zu sein, dass es hier auch ein ganz wunderbares Museum für Ur- und Frühgeschichte gibt. Es ist wunderschön gestaltet: zeigt in zahlreichen Modellen von Grabhügeln und menschlichen Wohnstätten (vom Zelt über Langhaus bis hin zum Lagerfeuer vor der Höhle) aus früherer Zeit, wie sich Menschen früher in der Natur arrangiert haben.

Ein verstecktes Juwel ist dieses Museum zur Geschichte der Menschheit, in dem auch vor Augen geführt wird, wie Homo Erectus, Homo Sapiens und Neanderthaler hier einst gleichzeitig existierten.

Im Stadtmuseum findet man Darstellungen von historischer Kleidung, historischen Fotografien und Gemälden, historischen Gebäuden etc. … 

Besonders interessant ist das hier gezeigte historische (“Urzeichnung”) Wappen von Thüringen gemäß eines Gesetzes vom April 1921 (CE). Dieses Wappen mit Stempel, Siegel und Unterschrift zeigt sieben Sterne in einem Kreis mit Mittenmarkierung. 

 

Astrophysiker, die versuchen, die Himmelsscheibe von Nebra zu deuten, werden hier gewiss sofort zu wissen glauben, dass es sich hierbei um die Plejaden handeln müsse (mein früherer Bericht). Andere würden vllt auf die Idee kommen, dass dieses Wappen vllt. kein Gestirn am Himmel repräsentiert, sondern ein Abbild dessen ist, was man auf dieser Scheibe sieht: Die Nebra-Scheibe wird aber fast genauso viel “v.Chr.” datiert wie dieses Wappen “n.Chr.” und da sie erst 1999 ausgegraben wurde, ist nicht sicher, wie 1921 bereits jemand hätte von ihr abzeichnen können … Ich möchte damit aufzeigen, dass man in der Archäoastronomie sehr vorsichtig sein muss. 

Nicht jede Ähnlichkeit in irgendwelchen Abbildungen muss zwangsläufig auch einen Zusammenhang bedeuten. In der Kausalität ist es natürlich so, dass zwei Effekte, die gleichzeitig auftreten nicht unbedingt einander bedingen müssen, aber eine gemeinsame Ursache haben können (was jeweils zu untersuchen ist). Hier ist es allerdings so, dass die gemeinsame Ursache vermutlich im Denken des Menschen bzw. der Wahrnehmungspsychologie (und dem Sinn für Geometrie/ Ästhetik) erwächst und nicht am Sternhimmel zu finden ist. 

Daher funktioniert die Forschung (zumindest auf diesem Gebiet) eben nicht nach dem von Karl Popper vorgeschlagenen Prinzip des Hypothesentests, sondern sie kann nur “data-driven” funktionieren. Meine Generation von Forschenden sollte keine Thesenwerfer mehr haben: Wir stellen nicht eine These in den Raum und untersuchen, was dafür und dagegen spricht – nein, wir nehmen einen Datensatz und werten ihn aus: die These (die keine Hypothese mehr ist) ist das Ergebnis der Untersuchung und nicht der Start. 

Einer der Begründer dieser Arbeitsweise war der Star-Gast der Tagung.

Star-Gast 

Das Highlight war hier mit Abstand der Gastvortrag von Prof. em. Dr. Clive Ruggles (UK), dessen Professur tatsächlich “Archaeoastronomy” hieß. Er hielt einen wunderbaren Überblicksvortrag, in dem er
 a) erklärte, dass Kulturastronomie als Oberbegriff für Archäoastronomie und Ethnoastronomie verwendet wird (was ich neulich beschrieb) und
 b) die Herkunft des Begriffes “Archäoastronomie” folgendermaßen erläuterte: In den 1960er Jahren hat ein junger britischer Radioastronom mit Professur in den USA mit Nachdruck die steile These vertreten, dass Stonehenge ein bronzezeitliches astronomisches Observatorium und Analog-Computer gewesen sei. Er nannte seine Forschungen “Astroarchäologie”. Weil sich alle andere Forschenden von seinen wilden Hypothesen distanzieren wollten, drehten sie die Wortreihenfolge in der Zusammensetzung um und nannten ihr Gebiet “Archäoastronomie”. 

Im Deutschunterricht der Grundschulen haben wir gelernt: bei Zusammensetzungen steht hinten das Hauptwort, vorn die nähere Bestimmung. Damit ist “Archäo” das Bestimmungswort, das eine nähere Erklärung gibt und “Astronomie” ist das Hauptwort, das von dem ersten näher bestimmt wird. Es ist also (jetzt) ein Zweig der Astronomie, während der Radioastronom es als Zweig der Archäologie gesehen hätte. Auch heute ist die Zuordnung unklar, weil das Forschungsgebiet nun einmal in der Schnittmenge der beiden lebt. Im Englischen ist neben dem Term “archaeoastronomy” auch “skyscape archaeology” gebräuchlich, womit man sich wieder näher an der Archäologie verortet, allerdings dabei die Ethnoastronomie völlig ausschließt, die im Rahmen des Oberbegriffs Kulturastronomie im Grunde nicht ganz losgelöst betrachtet werden kann.

Als Beispiele dafür, was Archäoastronomie ist, nannte Ruggles die Bestimmung der Ausrichtung von Gebäuden (Kirchen, Tempeln etc.) nach dem Sonnenstand, die Lichtspiele wie im berühmtesten aller Tempel, nämlich Abu-Simbel, die (vermutlich) bei der Errichtung des Gebäudes bereits konzipiert wurden und die Verwendung von Gestirnen zur Ausrichtung religiöser Bauten im Allgemeinen. 

Als Gegenbeispiele, was Archäoastronomie nicht ist, nannte er

  • die oben erwähnten Hypothesen zu Stonehenge (weil die modernen Druiden, die dort heute die Sonnenwenden zelebrieren nichts mit den antiken zu tun haben und weil die ganze Anlage kein astronomisches Observatorium ist, sondern eine Kultstätte, die bestenfalls – wie Kirchen – nach Himmelsrichtungen ausgerichtet wurde, aber mit Blick auf das Wetter im UK vllt auch nicht)  
  • die Pyramidologie, d.h. die Hypothese von Bauval, dass die ägyptischen Pyramiden ein Versuch gewesen seien, den Himmel nachzubauen (zumal es Pyramiden an Stellen gibt, wo keine Sterne sind, aber vor allem weil es einfach gar keinen Grund für diese Behauptung gibt). 

Sehr empfehlenswerte Lektüre übrigens: 
Gero von Randow (Hg.), Mein paranormales Fahrrad – und andere Anlässe zur Skepsis, entdeckt im “Skeptical Inquirer” (rororo sachbuch – science) 1993

Ausblick

Nächstes Jahr wird diese Jahrestagung wohl in Bremen stattfinden, wurde beschlossen. Auf der Website der Gesellschaft für Archäoastronomie wird das wohl ab ca. September bekanntgegeben. 

Ich kann nur allen Hobby-Forschenden, die meinen irgendwelche Sonnen-, Stern- oder Mondvisuren entdeckt zu haben, raten, sich mit den Expert:innen dieser Gesellschaft in Verbindung zu setzen und ihre Ideen als Poster oder Vortrag dort zu präsentieren. Mal abgesehen davon, dass es in diesem Bereich viele Fälle von Überinterpretation gibt, die auf solchen Treffen aufgedeckt werden… 

… ist der Forschungsgegenstand an sich, wie eingangs erwähnt, ein sehr schöner. In dieser Form der Naturkunde kommen Pfadfinderwissen und Wildromantik zusammen, und wenn man diese Beobachtungen konsequent macht und sich darüber im Klaren ist, was an unserem Horizont passiert, kann man damit auch ganz gut andere Vorgänge in der Natur vorhersagen, wie z.B. Wetter & Klima.  

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"physics was my first love and it will be my last physics of the future and physics of the past" Dr. Dr. Susanne M Hoffmann ist seit 1998 als Astronomin tätig (Universitäten, Planetarien, öffentliche Sternwarten, u.a.). Ihr fachlicher Hintergrund besteht in Physik und Wissenschaftsgeschichte (zwei Diplome), Informatik und Fachdidaktik (neue Medien/ Medienwissenschaft) als Weiterqualifikationen. Sie ist aufgewachsen im wiedervereinigten Berlin, zuhause auf dem Planeten Erde. Jobbedingt hat sie 2001-2006 in Potsdam gelebt, 2005-2008 saisonal in Mauretanien (winters) und Portugal (sommers), 2008-2009 und 2013-'15 in Berlin, 2010 in Hamburg, 2010-2012 in Hildesheim, 2015/6 in Wald/Österreich, 2017 in Semarang (Indonesien), seit 2017 in Jena, mit Gastaufenthalten im Rahmen von Forschungskollaborationen in Kairo+Luxor (Ägypten), Jerusalem+Tel Aviv (Israel), Hefei (China)... . Ihr fachliches Spezialgebiet sind Himmelskarten und Himmelsgloben; konkret deren Mathematik, Kartographie, Messverfahren = Astrometrie, ihre historische Entwicklung, Sternbilder als Kulturkalender und Koordinatensystem, Anomalien der Sternkarte - also fehlende und zusätzliche Sterne, Sternnamen... und die Schaustellung von alle dem in Projektionsplanetarien. Sie versteht dieses Blog als "Kommentar an die Welt", als Kolumne, als Informationsdienst, da sie der Gesellschaft, die ihr das viele studieren und forschen ermöglichte, etwas zurückgeben möchte (in der Hoffnung, dass ihr die Gesellschaft auch weiterhin die Forschung finanziert).

5 Kommentare

  1. Daher funktioniert die Forschung (zumindest auf diesem Gebiet) eben nicht nach dem von Karl Popper vorgeschlagenen Prinzip des Hypothesentests, sondern sie kann nur “data-driven” funktionieren. Meine Generation von Forschenden sollte keine Thesenwerfer mehr haben: Wir stellen nicht eine These in den Raum und untersuchen, was dafür und dagegen spricht – nein, wir nehmen einen Datensatz und werten ihn aus: die These (die keine Hypothese mehr ist) ist das Ergebnis der Untersuchung und nicht der Start. [Artikeltext]

    Dr. W wäre hier vorsichtig.
    Ist allerdings extra-dankbar für diese Hervorstellung.
    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

  2. Susanne M. Hoffmann schrieb (25. Jun 2023):
    > […] Archäoastronomie […] wir nehmen einen Datensatz und werten ihn aus […]

    Demnach ist die Archäoastronomie als eine sogenannte empirische Wissenschaft einzuordnen.
    Und sicherlich sind mit dem “Nehmen eines Datensatzes” und “dessen Auswertung” bestimmte nachvolliehbare Festsetzungen verbunden (bzw. dafür vorausgesetzt), die sich damit befassen, was im betreffenden Zusammenhang ggf. als “ein Datensatz” in Frage käme, und wie ein solcher jeweils auszuwerten wäre. Erforderlich und vorausgesetzt ist ein begriffliches System, das insbesondere erlaubt derartige Festsetzungen zu formulieren und mitzuteilen und womöglich logische Konsequenzen herzuleiten, die sich allein schon aus diesen bloßen Festsetzungen ergeben — also eine (bzw. die) Theorie der Archäoastronomie.

    (Ergänzend und weitergehend ließen sich mit den selben Begriffen dann auch alle schon erhaltenen Ergebnisse solcher Auswertungen zusammenfassen, bzw. verschiedenste Erwartungen darüber ausdrücken, welche weiteren Ergebnisse womöglich noch durch Auswertung weiterer Datensätze zukünftig ermittelt werden würden — also verschiedene Modelle der Archäoastronomie.)

    > […] nicht nach dem von Karl Popper vorgeschlagenen Prinzip des Hypothesentests,

    Das von Sir Karl Popper vorgeschlagene (“Wissenschafts”-)Prinzip besteht nach seiner eigenen Aussage aber offenbar gar nicht im Testen von Hypothesen bzw. von Modell-Erwartungen,
    sondern (MBMN absurder Weise) im “Testen von Theorien”, also insbesondere dem (vermeintlichen) “Testen” genau derjenigen Festsetzungen, die von vornherein gemacht und für jegliche Auswertung und Ermittlung von Ergebniswerten befolgt werden mussten.

    > […] Wir stellen nicht eine These in den Raum und untersuchen, was dafür und dagegen spricht – nein, wir nehmen einen Datensatz und werten ihn aus: die These (die keine Hypothese mehr ist) ist das Ergebnis der Untersuchung […]

    Man kann gewiss Daten sammeln und auswerten, ohne sich vorher auf bestimmte Erwartungen hinsichtlich dadurch zu ermittelnder Ergebniswerte einzulassen.
    Die Zusammenfassung von Ergebniswerten (womöglich ergänzt von der Erwartung, “dass nichts Überraschendes darüberhinaus” mehr gefunden würde) wird allerdings eher “Standard-Modell” (der jeweiligen Wissenschaft) genannt, anstatt “These”.

    • Daher funktioniert die Forschung (zumindest auf diesem Gebiet) eben nicht nach dem von Karl Popper vorgeschlagenen Prinzip des Hypothesentests, sondern sie kann nur “data-driven” funktionieren. Meine Generation von Forschenden sollte keine Thesenwerfer mehr haben: Wir stellen nicht eine These in den Raum und untersuchen, was dafür und dagegen spricht – nein, wir nehmen einen Datensatz und werten ihn aus: die These (die keine Hypothese mehr ist) ist das Ergebnis der Untersuchung und nicht der Start. [Artikeltext]

      Derart zusammen zu führen, mit wissenschaftlichem Anspruch, ist sozusagen neu, oder dann doch nicht wirklich neu, die Legende leistete ähnlich.

      Karl Popper, Sir Karl Popper folgte der Negation von empirischer Erwartung im naturwissenschaftlichen Sinne und hat, amüsanterweise, wie einige finden, mit seinem Falsifikationsprinzip erst recht spät den Punkt getroffen.
      (KA, wie Naturwissenschaftlichkeit, im verifizierenden Sinne, so zuvor auskommen konnte.)

      Den i.p. Verifikation bemühter Naturwissenschaftler, aus diesseitiger Sicht schon weit früher hätten treffen können.
      Feyerabend ergänzte hier, ganz korrekt, wie einige meinen, mit der Freiheit der Methode (die zu naturwissenschaftlicher Erkenntnis führen könnte.


      Heutzutage, da hat die hiesige werte Inhaltegeberin recht, ist Wissenschaft idT teils auch, auch gerade Naturwissenschaft ‘data-driven, auch sog. von AI bevormundet.

      Mit freundlchen Grüßen
      Dr. Webbaer

      • Dr. Webbaer schrieb (06.07.2023, 15:53 Uhr):
        > […] K[eine] A[hnung], wie Naturwissenschaftlichkeit, im verifizierenden Sinne, so zuvor auskommen konnte.

        Da meine mehrfachen und vielfältigen Erläuterungen (einschl. mindestens impliziter Ermunterungen zur eventuellen Nachfrage und/oder Kritik) zum Thema “Messen” und “Wertebereich (eines festgesetzten Messoperators)” und “Messwert” und “Verifizierung der Erwartung genau dieses Messwertes (einschl. Falsifizierung aller anderen Erwartungen)” in unserem langjährigen Kommentarfreund Dr. Webbaer bisher doch ganz zuverlässig immer nur höchstens Reflex-haft/unwirsches “Keine Ahnung!” ausgelöst haben, falls überhaupt …

        … kann ich mich diesmal — der Abwechslung halber, und K. R. Popper zum Trotze — mal besonders knapp fassen:

        Darauf hätte ich wetten können!
        Und sogar: ich hätte darauf wetten sollen, denn ich hätte mit meiner Erwartung Recht gehabt!

        p.s.
        > […] Feyerabend ergänzte hier, ganz korrekt, wie einige meinen, mit der Freiheit der Methode (die zu naturwissenschaftlicher Erkenntnis führen könnte).

        Dass Feyerabend stattdessen zuverlässig-abgrenzend “Freiheit von Methode” geschrieben hätte, wenn er “Freiheit von (jeglicher nachvollziehbarer Festsetzung irgendeiner Wett-sicheren) Methode (und zwar insbesondere beim Wetten)” gemeint hätte, darauf möchte ich nicht wetten.

  3. Danke, Frank Wappler und Herr Dr Webbaer, für die jahrelange Treue und stetigen Kommentare. Ich antworte meist nicht, weil ich mich in Philosophie sehr zurückhalte. Als Teenager hörte ich in einem Planetariumshörspiel zu Caroline Herschel, dass sie über ihre Mutter geschrieben hat “sie war der Meinung, dass ich ein roher Klotz sei und auch bleiben sollte”. Das brannte sich in mein Hirn, weil ich es auf mich zutreffend empfand. Ich bin keine Philosophin. Auch das Studium der Phil. (das ich formal und praktisch machen musste, weil man für Wissenschaftsgeschichte ein zweites geisteswissenschaftliches Fach braucht) hat da nicht geholfen: Ich kann zwar jetzt mit ein paar mehr Namen meine Blog-Posts würzen, aber das fühlt sich für mich nur wie schlaues Schwätzen an, weil ich gefühlt immer noch keine Ahnung von deren Philosophien habe und nur die Namen der Menschen als Sinnbild für ein Konzept verwende. Mein Befund für mich selbst ist, dass Philosophie nichts für mich ist und ich es mit Wittgenstein halte:

    “Inwieweit meine Bemühungen mit denen anderer Philosophen übereinstimmen, will ich nicht entscheiden. In der Tat erhebt das, war ich hier geschrieben habe, keinen Anspruch auf Neuheit und deshalb gebe ich keine Quellen an, denn es ist mir egal, ob das, was ich gedacht habe, schon von einem anderen vor mir gedacht worden ist.” (Tactatus, Vorwort)

    In diesem Sinn ganz unphilosophisch, sondern utilitaristisch (weil das Wort “pragmatisch” von Charles S. Pierce und anderen konnotiert ist):

    Herr Wappler, Sie haben Recht mit Ihrem Insistieren auf Messunsicherheiten. Das Thema Messunsicherheit ist wichtig, aber ein anderes.
    Wenn ich als Wissenschaftlerin einen Datensatz auswerte, dann geht das *vorurteilsfrei*. Ich brauche keine These oder Hypothese oder “Festsetzung” dafür. Beispiel: Angenommen, es gibt eine Wetterstation an einem Haus, die Luftduck, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Niederschlagsmenge misst. Dann kann ich z:B. ein Diagramm machen, das mir Temperatur über der Zeit plottet oder ich kann Temperatur über Luftdruck plotten oder in 3D-Plot alle drei übereinander. Das gleiche kann ich für Niederschlagsmenge und alle Permutationen der gemessenen Größen tun … und in einem “datengetriebenen” Ansatz werde ich das auch für alle Permutationen machen, weil ich eben noch nicht weiß, welche Größe von welcher abhängt. Ich tue also so, als hätte ich alle Formeln der Thermodynamik vergessen, wüsste nicht, dass Druck und Temperatur zusammenhängen und werte einfach aus, was rauskommt, wenn ich sie miteinander und mit anderen Messgrößen vergleiche. Die Formel der Thermodynamik wäre dann das Ergebnis.

    Ich vermute, Sie werden jetzt sagen “ja, aber schon der 2D- oder 3D-Plot im Diagramm ist eine Konvention oder Festsetzung”. Tjanun, es ist das, was menschliche Hirne, die in einer räumlich dreidimensionalen Welt leben, erfassen können. Wissenschaft kann nur Wissen schaffen, indem wir die komplexe Welt (der Datensätze) reduzieren auf etwas Handliches, das unsere Hirne erfassen können. Ich bin nunmal kein Wesen aus einem Hyperraum und mein Hirn ist nicht für räumlich vierdimensionale Koordinatensysteme ausgelegt. Diese Konvention ist also eher ein Werkzeug, das die großen Datenmengen für Menschen erfassbar strukturiert bzw in diesem Fall visualisiert. Man könnte mit Visualisierung und Sonifikation zusammen vllt noch weitere Dimensionen der Information verarbeiten, ebenso wie man mit Farbe in Diagrammen mehr Informationen darstellen kann als ohne Farbe (siehe mein philosophisches Buch zu Visualisierungen als “lingua sine limitibus”), aber wie man es auch dreht: unsere Auffassungsgabe bzw. Erfassungsvermögen ist beschränkt und Wissenschaft arbeitet mit denjenigen Methoden (2D-Diagramme), die für die meisten Wissenschaft betreibenenden Personen schnell erfassbar sind.

    Die Archäoastronomie ist (leider) keine empirische Wissenschaft. Ehrlich gesagt, ist die Methodenvielfalt immens. Die meisten Leute sehen den Grundriss eines steinzeitlichen Langhauses, stellen eine Orientierung von Nordwest nach Südost fest und vermessen dann den Bau aufs Grad genau, um zu beurteilen, ob der Azimutwinkel (der Hausecke oder der Türen) mit dem Sonnenaufgangspunkt zur Wintersonnenwende und dem Sonnenuntergangspunkt zur Sommersonnenwende übereinstimmt. Und wenn nicht mit diesen, dann vllt. mit den Mondwenden. Das ist für mich vergleichbar Kaffeesatz-Lesen, denn – egal, ob die Antwort auf die Forschungsfrage positiv oder negativ ausfällt, werden wir nicht wissen, was es für die steinzeitliche Kultur bedeutete. Ich selbst würde vermuten, dass das Haus in dieser Richtung orientiert ist, weil Nordwest die Hauptwindrichtung ist und man mit dieser Orientierung vermeidet, dass bei nächster Gelegenheit das Dach vom Sturm abgedeckt wird. Daher würde ich gar nicht erst die Orientierung mit der Sonne in Zusammenhang bringen. Keine Hypothese, keine Untersuchung.

    Wenn man datengetrieben arbeitet, schaut man sich daher alle steinzeitlichen Langhäuser in Mitteleuropa an (nicht nur das eine) und untersucht dann mit statistischen Methoden, ob es tendenziell Zusammenhänge gibt oder nicht. Findet man z.B. dass 90% aller Langhäuser so orientiert sind, dass man von der Mitte des Hauses durch ein südöstliches Tor auf einen Bereich von ca. 130° Azimut schaut, könnte man sich fragen, warum das so ist und ob die Sonne etwas damit zu tun hat oder nicht (denn das Windargument könnte trotzdem gelten). Wenn aber nicht, braucht man die Frage gar nicht erst zu stellen. Die Ursache (Wind oder Sonne) wird aber nicht aus den Daten allein erkennbar, sondern nur der Fakt der Orientierung als archäologischer Befund über eine Kultur.

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