Die Leavitt-Relation: Wie die Astronomie in Gebiete jenseits unserer Milchstraße vorstieß

Bild von Henrietta Swann Leavitt
Henrietta Swan Leavitt vor 1921. Bild Public Domain via Wikimedia Commons

Heute vor 150 Jahren wurde Henrietta Swan Leavitt geboren. Bis zu einem Bachelor-Abschluss hin hatte Leavitt noch studieren können; jenseits davon wurde das Terrain damals für studierwillige Frauen immer schwieriger. Leavitt wählte letztlich die praktische Route: sie wurde Mitglied der “Harvard Computer“. Das waren in einer Zeit deutlich vor der Erfindung elektronischer Rechenmaschinen Hilfsarbeiterinnen, die am Harvard College Observatory Rechnungen und Auswertungen durchführten: Datenverarbeitung anhand von astronomischen Bildern und Spektren.

Aber im Gegensatz zu heutigen elektronischen Computern hatten die Harvard Computer durchaus eigene Ideen. Leavitt wurde von ihrem Chef Edward Charles Pickering damit betraut wurde, veränderliche Sterne zu untersuchen, also Sterne, deren Leuchtkraft sich (oft periodisch!) mit der Zeit verändert. Dabei bekam sie unter anderem neue Aufnahmen in die Hände, die es erlaubten, solche Veränderlichen in der Großen und Kleinen Magellanschen Wolke zu untersuchen – heute wissen wir: das sind unsere nächsten Nachbargalaxien jenseits unserer eigenen Galaxie, der Milchstraße.

Eine bestimmte Art solcher veränderlicher Sterne sind die sogenannten Cepheiden. Heute wissen wir, dass es sich dabei um pulsierende Sterne handelt, die als Ganzes wiederholt kleiner und größer werden.

Pulsierende Sterne

Hier ist eine typische Lichtkurve für einen solchen Cepheiden; ich habe sie gerade mit minimalem Aufwand aus Daten des Gaia Data Release 2 rekonstruiert (zu letzterem hatte ich jüngst in Die Gaia-Revolution und Das Gaia-Experiment gebloggt – und auch für solche schnellen Visualisierungen sind die Gaia-Daten eine Schatztruhe; Extraktion und Diagramm mithilfe der schönen Software TOPCAT):

Auf der x-Achse ist die Phase aufgetragen. Ein Heller-und-Dunkler-werden-Zyklus des Sterns geschieht von 0 bis 1. Die Kurve ist zweimal hintereinander gezeichnet, damit man die Übergänge besser sieht. Auf der y-Ache ist die Helligkeit des Sterns aufgezeichnet, mit der in der Astronomie üblichen logarithmischen Skala. Ein höherer Datenpunkt entspricht einer größeren Helligkeit, ein niedriger Datenpunkt einer geringeren Helligkeit. Der vergleichsweise rasche Helligkeitsanstieg, gefolgt von einem langsameren wieder-dunkler-werden, ist für Cepheiden typisch (wenn auch nicht zwangsläufig gegeben – manche Cepheiden “ticken anders”).

Die Leavitt-Relation

Leavitt dokumentierte in der Großen und der Kleinen Magellanschen Wolke knapp 2000 veränderliche Sterne, veröffentlicht in diesem Artikel aus dem Jahr 1908. Und bei den Sternen, die sie anhand ihrer Daten über mehr als eine Periode hinweg verfolgen (und damit die Periode bestimmen) konnte, fiel ihr etwas auf:

Tabelle VI enthält die Perioden und Helligkeiten der Sterne. Und die Sterne, die heller sind, benötigen für ihren Zyklus länger als die weniger hellen. Auch das lässt sich anhand der Gaia DR2-Daten im Handumdrehen visualisieren. Hier die Periodendauern und Durchschnittshelligkeiten (G-Band) für Cepheiden in der Region der Kleinen Magellanschen Wolke (wieder aus der Datenbank geholt und visualisiert mit TOPCAT):

Dabei ist auf der x-Achse (in logarithmischer Darstellung) die Periode des jeweiligen Stern in Tagen aufgetragen, auf der y-Achse die durchschnittliche Helligkeit auf der in der Astronomie üblichen Magnituden-Skala – eine kleinere Magnitude entspricht einer größeren Helligkeit und steht in diesem Diagramm entsprechend weiter oben.

Die Perioden-Leuchtkraft-Werte für die meisten der eingezeichneten Sterne liegen ungefähr auf einer Geraden. Das ist die konkrete Form der von Leavitt entdeckten Perioden-Leuchtkraft-Beziehung: der Leavitt-Relation.

Von der Leavitt-Relation zur Entfernungsbestimmung

Wichtig ist diese Relation, weil sie sich zur Entfernungsbestimmung nutzen lässt. Die gemessene (“scheinbare”) Helligkeit eines Himmelsobjekts hängt immer von zweierlei ab: zum einen von der Leuchtkraft des betreffenden Objekts, also davon, wieviel Licht das betreffende Objekt überhaupt pro Zeiteinheit aussendet. Zum anderen von der Entfernung des Objekts von uns. Entferntere Objekte sehen wir in unseren Teleskopbeobachtungen als weniger leuchtstark als nähere Objekte.

Das heißt umgekehrt: Weiß ich, wieviel Licht ein Himmelsobjekt pro Zeiteinheit abstrahlt, sprich: kenne ich die Leuchtkraft des Objekts, dann kann ich seine Entfernung erschließen. Ich muss dazu lediglich messen, wieviel von dem Licht pro Zeiteinheit auf der Erde ankommt. Den Zusammenhang zwischen gemessener Helligkeit, Leuchtkraft und Entfernung regelt eine einfache mathematische Formel.

Die Cepheiden in der Großen Magellanschen Wolke sind alle etwa gleich weit von uns entfernt. Wenn sie uns bei unseren Beobachtungen unterschiedlich hell erscheinen, liegt das daran, dass sie tatsächlich unterschiedlich viel Licht abstrahlen. Die Leavitt-Relation drückt daher einen direkten Zusammenhang zwischen der Leuchtkraft und der Schwingungsperiode von Cepheiden aus.

Hat man diese Relation erst einmal kalibriert, sprich: für Cepheiden, deren Entfernung man kennt, ausgerechnet, wie denn die Leuchtkraft und die Periode tatsächlich miteinander zusammenhängen, kann man mit Hilfe der Relation Entfernungen bestimmen. Die Periode eines Cepheiden lässt sich direkt messen. Kennt man die Periode, kann man aus der Leavitt-Relation auf die Leuchtkraft des Cepheiden schließen. Kennt man die Leuchtkraft, kann man im Vergleich mit der tatsächlich gemessenen Helligkeit wiederum die Entfernung erschließen.

Etwa komplizierter ist die Sache zwar noch – so entdeckte Walter Baade später noch, dass es unterschiedliche Typen von Cepheiden gibt, und dass man diesen Unterschied bei der Entfernungsbestimmung berücksichtigen muss. Aber trotz solcher Komplikationen war die Leavitt-Relation mit das erste und wichtigste Werkzeug, mit dem Astronomen Entfernungen jenseits unserer eigenen Galaxie bestimmen konnten. Sie spielte insbesondere eine Rolle, als Edwin Hubble 1929 den Nachweis führte, dass es sich bei dem Andromeda-Spiralnebel nicht um ein Objekt in unserer eigenen Galaxie handelte, sondern um eine andere Galaxie, ein ganz eigenes Sternensystem. Später erwuchs mithilfe solcher und ähnlicher Entfernungsmessungen zu fernen Galaxien die Erkenntnis, dass unser Universum expandiert.

Entfernungsbestimmungen mit Cepheiden sind wichtiger Teil der “kosmischen Entfernungsleiter” aufeinander aufbauender Verfahren zur Entfernungsbestimmung bis in immer größere Entfernung. Das sogenannte “Hubble Key Project” mit dem Hubble-Weltraumteleskop legte die noch heute gültigen Grundlagen für die Vermessung der kosmischen Expansion, indem es verschiedene weitergehende Entfernungsmethoden mithilfe von Cepheiden kalibrierte.

Und angefangen hat das Ganze vor etwas mehr als 100 Jahren mit Henrietta Swan Leavitt. Leider starb Leavitt bereits 1921 im Alter von nur 53 Jahren an Krebs und konnte daher nicht miterleben, zu welchen interessanten Ergebnissen ihre Erkenntnis über veränderliche Sterne noch führen würde. Was sie entdeckte, wirkt in der Astronomie bis heute nach.

Kein Nebel in unserer eigenen Galaxie, sondern ein ganz eigenes Sternensystem: Die Andromeda-Galaxie. Bild: K. Birkle/MPIA

 

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

9 Kommentare

  1. Markus Pössel schrieb (4. Juli 2018):
    > […] Den Zusammenhang zwischen gemessener Helligkeit, Leuchtkraft und Entfernung regelt eine einfache mathematische Formel.

    Sofern diese Einfachheit des Zusammenhangs zwischen diesen (Mess-)Größen bzw. zwischen ihren jeweiligen Messwerten unmittelbar aus deren Definitionen folgt, z.B. indem “Entfernung” hier ausdrücklich als Whittaker distance Δ verstanden sein soll,
    stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang genau dieser Messgrößen mit anderen (anders definierten, i.A. auch nachvollziehbarer/universeller definierten), bzw. Versuch für Versuch die Frage nach dem Zusammenhang der entsprechenden Messwerte; z.B. die Frage nach dem Zusammenhang zur chronometrischen Distanz-Definition (die der SI-Einheit “Meter” zugrundeliegt).

    Und andernfalls, d.h. sofern die o.g. Einfachheit des Zusammenhangs nicht unmittelbar aus den Definitionen dessen folgt, was in Zusammenhang gebracht wurde, stellt dieser einfache Zusammenhang ein (entsprechend einfaches) Hilfsmodell dar, dass Versuch für Versuch getestet werden kann.

    • @Frank Wappler: Und was soll diese Antwort, die das Ganze wieder auf eine viel höhere und kompliziertere Ebene zu heben versucht, den hier Mitlesenden sagen? Der gemeinte Zusammenhang war “umgekehrt quadratisch”. Herkömmliche klassische Entfernung, Helligkeit z.B. als Energie pro Detektorfläche pro Zeiteinheit, Leuchtkraft entsprechend als Energie pro Zeiteinheit.

      Und prompt kommen Sie wieder mit Konzepten an, die deutlich weniger einfach sind (gekrümmte Raumzeit), und zum Verständnis der hier geschilderten deutlich einfacheren Zusammenhänge eben nicht nötig. Warum? Wem, glauben Sie, bieten die Komplikationen, die Sie hier bieten, einen Mehrwert? An den allermeisten, denen der Hauptbeitrag vom Niveau her gerade gut passte, dürften Sie vorbeireden. Und denjenigen, die mit Whittaker Distance bereits etwas anfangen können, dürften Sie hier nichts Neues erzählen.

    • @Tilmann Schneider: Genauigkeit mit den neuesten Daten (Photometrie mit dem Hubble-Weltraumteleskop, Parallaxen von Gaia DR2) liegt im Prozentbereich, mit noch weiteren Steigerungen in Aussicht, vgl. https://arxiv.org/abs/1804.10655. Pulsation: Das ist ein Zusammenhang zwischen Undurchsichtigkeit, Temperatur und Druck verschiedener Sternenschichten. Hier steht ein bisschen etwas dazu; für den Hauptbeitrag fand ich den Mechanismus allerdings zu kompliziert.

  2. Getriggert durch eine Sendung im Deutschlandfunk bin ich auf diesen Artikel gestossen. Wenn ich mir das Bild oben ansehe und z.B. einen Stern mit einer Periode P von 3d hernehme hat der eine Magnitud von ca. 16. Das bekomme ich aber mit der Formel M = (-2,78)*log(P/d)-1,32 nicht hin.

    Wo ist mein Denkfehler?

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