Corona, Klimawandel & Co.: Zeigt her eure Modellrechnungen!

Foto: Buch "A primer for policy analysis"- dort geht es u.a. um Modellrechnungen als Grundlage für politische Entscheidungen

Über die Dynamik öffentlicher Diskurse kann man ja in letzter Zeit mehr lernen, als einem lieb ist. Einerseits wie sich Empörung auf Kosten von Substanz aufschaukeln kann, sowohl in den sozialen Medien als auch im herkömmlichen Journalismus. Andererseits wundere ich mich in einer speziellen Hinsicht, wie wenig bei den Regierenden nachgehakt wird, wenn es um die Substanz selbst geht, nämlich ganz konkret um Modellrechnungen, Abschätzungen, zugrundeliegende Annahmen. Warum über die Modellrechnungen, die den Entscheidungen zugrundeliegen, nicht breit berichtet und transparent diskutiert wird.

Kein Regieren ohne Modellrechnungen – hoffentlich

Wer professionell politische Entscheidungen trifft, muss sich im Entscheidungsfindungsprozess damit beschäftigen, welche Folgen jene Entscheidungen haben. Das ist sozusagen das kleine Einmaleins von Politik-Praxis, im Wortsinne – darüber gibt es seit Jahrzehnten Einführungsbücher wie “A Primer for Policy Analysis”, und zweifellos zahlreiche andere Lehrbücher in den mehr als 40 Jahren seit Erscheinen jenes Buches.

Foto: Buch "A primer for policy analysis"- dort geht es u.a. um Modellrechnungen als Grundlage für politische Entscheidungen

Die Modellrechnungen, um die es dort geht, sind Versuche, quantitativ zu beschreiben, wie sich bestimmte politische Entscheidungen auswirken. So etwas macht man vor der Entscheidung um abschätzen zu können, ob der erhoffte Effekt tatsächlich eintritt, oder der Schuss möglicherweise aufgrund unerwünschter Nebenwirkungen nach hinten losgeht.

Wir haben für Modellrechnungen eine Infrastruktur

Gerade bei großen Themen sind entsprechende Modellrechnungen Teil dessen, was entsprechende Wissenschaftler*innen tun – das liefert bereits weitgehende Grundlagen. Je politiknäher es wird, umso mehr kommen Interessensverbände ins Spiel, die eigene Modellrechnungen liefern: zum Teil als Vorarbeit für eigene Vorschläge an die Politik, zum Teil als Bestandteil ihrer Lobbyarbeit.

Insofern: Entsprechende Modellrechnungen sind nicht etwas, das die Politiker*innen und Politiker selbst anfertigen müssten.

Konkret in der jetzigen Pandemie, mit Modellrechnungen zur epidemiologischen Lage, gibt es das Robert-Koch-Institut als zuständige Bundesbehörde, das selbstverständlich unter anderem Modellrechnungen beispielsweise dazu anstellt, insbesondere die entsprechende Projektgruppe von Dirk Brockmann. Es gibt die Helmholtz-Gemeinschaft, die in der deutschen Forschungslandschaft so etwas wie allgemeine Auftragsforschung im Auftrag der öffentlichen Hand macht, sprich: gezielt Forschungen zu denjenigen großen Fragen betreibt, die gesellschaftlich als wichtig erachtet und zu denen Forschung von der Politik entsprechend gefördert wird. Innerhalb der Helmholtz-Gemeinschaft gibt es ein Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung unter anderem mit einer Forschungsgruppe zur Epidemiologie. In der Max-Planck-Gesellschaft als außeruniversitäre Forschungsorganisation für Grundlagenforschung gibt es am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation die Gruppe von Viola Priesemann, die sich epidemiologischen Simulationen widmet.

Sprich: Über das ganze Spektrum hinweg, von der Bundesbehörde der die Bundesregierung direkt Weisungen erteilen kann über die Auftragsforschung, die sie mit entsprechender Zusatzförderung gezielt bestimmte Fragestellungen bearbeiten lassen kann, bis hin zur Grundlagenforschung, an denen sich die Bundesregierung ebenso bedienen kann wie alle anderen Interessierten, gibt es eine Vielzahl bestehender Modellrechnungen, und auch die Möglichkeit, gezielt eigene Modellrechnungen in Auftrag zu geben.

Warum sind Modellrechnungen so gut wie unsichtbar?

Der Umgang mit der Pandemie ist eine beachtliche gesellschaftliche Herausforderung. Es gibt einige gegenläufige, und auch einige scheinbar gegenläufige Interessen – scheinbar gegenläufig sind aus meiner Sicht jene Lockerungs-Forderer, die mit der Forderungen nach kurzfristigen Lockerungen mit einiger Wahrscheinlichkeit mitgeholfen haben, uns in die jetzige auch für ihre Interessen schädliche Situation zu bringen. Siehe meine Abschätzung kürzlich dazu, dass wir eine Mehrheit der Corona-Toten und langfristig geschädigten hätten vermeiden können, hätten wir als Gesellschaft im Oktober 2020 die R-Werte als Maß dafür, wieviele weitere Menschen ein*e Infizierte*r ansteckt, bereits soweit gesenkt bekommen wie es im Januar/Februar 2021 dann tatsächlich der Fall war.

Insofern: Ja, darüber müssen wir diskutieren. Es ist wichtig, die unterschiedlichen Interessen auch öffentlich sichtbar zu machen. Und die Entscheidungen darüber, wie es weiter geht, können selbstverständlich nicht die Wissenschaftler*innen treffen. Gerade weil es dabei um Abwägungen geht, müssen das die gewählten Vertreter*innen tun.

Aber warum erfahren wir an jener Stelle so wenig über die Grundlagen? Warum ist es nicht selbstverständlich, dass uns die Politiker*innen bei jener Gelegenheit sagen: Hier, das sind unsere Modellrechnungen. Das ist unsere Erwartung dafür, was passiert, wenn wir Maßnahmenbündel X treffen, das, wenn wir Maßnahmenbündel Y treffen. Wir haben uns daher für Maßnahmenbündel X entschlossen.

Diese Art von Transparenz hätte entscheidende Vorteile. Wenn Grenzwerte wie 100 oder 200 oder 165 aus dem Hut gezaubert werden, ist das gerade mangels sachlicher Verankerung nicht recht greifbar. Wenn gesagt wird: von Maßnahmenbündel X erwarten wir eine Reduktion um ein Drittel bis ein Viertel im Bereich von ein bis zwei Monaten, dann kann man das nachprüfen. Für diejenigen, die auf jener Grundlage Entscheidungen getroffen haben, ist es ein Anlass, nachzubessern bzw. eine Kurskorrektur vorzunehmen. Kurskorrekturen sind legitim; dazuzulernen ist Teil effektiver Politik.

Modellrechnungen offenzulegen wäre außerdem eine wichtige Form politischen Wettbewerbs. Wenn die Opposition sagt “Nein, hier ist unsere eigene Modellrechnung, es werden die folgenden negativen Konsequenzen eintreten” dann kann man am Ende eben vergleichen, wer die Lage besser eingeschätzt hat.

Da könnte dann auch Kritik ansetzen. Nicht mehr indirekt wie bei “Der Mann, der dauernd falsch liegt, aber immer wieder als Corona-Experte gebucht wird”, sondern direkt in Form von: “Modell A hat den bisherigen Verlauf der Welle besser beschrieben als Modell B, warum richtet die (Bundes-, Landes-)Regierung ihre Maßnahmen trotzdem nach Modell B aus?”

Auch Kritik an Modellrechnungen muss angemessen sein

Natürlich muss auch die Kritik an Modellrechnungen angemessen sein. Dass das leider nicht selbstverständlich ist, hat jüngst der eher peinliche Umgang mit jener exponentiellen Extrapolation gezeigt, die Angela Merkel in der Pressekonferenz am 29.9.2020 kurz skizziert hatte. Das war die einfachste Art von quantitativem Denken: in den vergangenen drei Monaten habe es drei Verdopplungen gegeben, “wenn das in den nächsten drei Monaten […] weiter so wäre” (wörtliches Zitat Merkel), dann käme bis Weihnachten eine Zahl von 19200 Infektionen pro Tag dabei heraus.

Eigentlich ein schöner Beispielfall für angemessene und schiefliegende Kritik an Modellrechnungen. Erstens ist bei der Kommunikation über Modelle wichtig: Um was für eine Art Modell handelt es sich; was ist der Anspruch? Bereits das haben einige der Reaktionen auf Merkels Rechnung nicht richtig hinbekommen. Merkel sagt in dem Video recht klar, worum es geht: Darum, zu illustrieren, wie exponentielle Entwicklung funktioniert. Dass man auf diese Weise selbst mit der damaligen Entwicklung recht schnell auf hohe Infektionszahlen kam. Und sie hat im Nachgang auch dazu gesagt: Die von ihr für die Rechnung angenommene Verdopplungszeit war eher lang. In Großbritannien war die Verdopplungszeit vor kurzem deutlich kürzer geworden, das, so Merkel, konnte natürlich auch in Deutschland geschehen, insbesondere mit Einsetzen weniger guter Witterung.

Bereits diesen Kontext gibt beispielsweise Olaf Gersemann, Ressortleiter Wirtschaft, Finanzen, Immobilien bei der WELT, in diesem Artikel falsch wieder. Aus der Beispielrechnung für exponentielles Wachstum ist dabei eine “Hochrechnung”, eine “Prognose” geworden. Aus der bei einfachen Beispielen üblichen Rundung am Anfang, wo Merkel für Juni von 300 Fällen pro Tag ausgeht (nur noch eine signifikante Stelle!), ist absurderweise und mit direkter Verkehrung der Absicht ins Gegenteil ein Genauigkeitsanspruch geworden, zitat Gersemann: “19.200? Auf den Hunderter genau will die Kanzlerin wissen, wie viele neue Corona-Fälle es zu Weihnachten in Deutschland geben könnte, wenn die Pandemie nicht rasch wieder eingedämmt wird?”

Besser hat das damals zum Beispiel Elena Erdmann von der ZEIT eingeordnet – sogar mit interaktiver Grafik mit R-Wert-Schieberegler, und ohne die Beispielrechnung zur konkreten Prognose zu stilisieren.

Insofern: Wenn wir einmal soweit sind, über konkrete Modellrechnungen zu diskutieren, muss das natürlich fair und sachkundig geschehen. Und da gibt es offenbar zumindest bei einigen Journalist*innen Fortbildungsbedarf.

Hier ist übrigens der Vergleich der Merkel-Exponentialfunktion, mit dem was tatsächlich geschah:

Die Modellrechnung von Merkel im Vergleich zum tatsächlichen VerlaufEs trat nämlich das ein, was Merkel im Anschluss direkt zu bedenken gegeben hatte: Die Verdopplungszeit wurde deutlich geringer. Am Ende kam zu Weihnachten zufällig (!) der Wert heraus, den man auch mit dem Merkelschen Modell bekommen hätte, aber eben auf ganz andere Weise, und erst nach entsprechenden Stufen an Gegenmaßnahmen. Zwischenzeitlich lagen die Neuerkrankungszahlen sogar deutlich höher. Und an denen, die nach der Presskonferenz von einem “Horror-Szenario” oder einer “Schock-Zahl” geredet und geschrieben hatte sieht man sehr gut, dass Merkels Lektion “Vorsicht, exponentielles Wachstum nicht unterschätzen!” durchaus wichtig war – nur bei einigen von denen, die sie am nötigsten gehabt hätten, leider nicht ankam.

Die beste Kritik ist eine Gegen-Modellrechnung

Unsere Welt ist komplex. Modelle sind immer Vereinfachungen. Politiker*innen müssen Entscheidungen auf Basis derjenigen Daten und Modelle treffen, die sie zum Entscheidungszeitpunkt zur Verfügung haben. Insofern ist klar, was auch unangemessene Kritik darstellt: Ein Modell kritisieren, ohne zumindest im Prinzip eine Alternative anbieten zu können.

Idealerweise sollte Kritik an einer Modellrechnung immer mit einer Gegen-Modellrechnung kombiniert werden. Dann kann man im Nachhinein nämlich sehen, welche der Modellrechnungen besser war. Das bemisst sich nicht nur nach der Vorhersage – siehe die Merkel-Exponentialrechnung oben, die ja für den angestrebten Vorhersagezeitpunkt “Weihnachten 2020” tatsächlich mit einiger Genauigkeit zutraf, aber eben nur zufällig. Was zu diesem Wert geführt hat, beschreibt das Modell überhaupt nicht richtig.

Und Kritik, die ohne alternative Modellrechnung ankommt, sollte man entsprechend kritisch sehen. Alle Modelle sind vereinfacht. Einfach nur eine Reihe von Aussagen zu einem Modell zusammenstellen und zu sagen “Hier, hier und hier ist das Modell vereinfacht” ist keine Kunst, und wenig aussagekräftig. Solche Kritik kann, darf, soll man äußern. Aber um zu begründen, warum man zu anderen Vorhersagen kommt als die kritisierten Modellierer ist sie zu wenig. “Modell X ist am Punkt Y zu vereinfacht, daher vertrete ich abweichend Schlussfolgerug Z” ist ein rhetorischer Taschenspielertrick. Um von “Punkt Y wird vernachlässigt” zu “es gilt Schlussfolgerung Z” zu gelangen, muss man selbst eine Modellrechnung vornehmen, und sei es eine einfache Abschätzung. Die sollte offengelegt werden. Andernfalls hat man nur sein eigenes Bauchgefühl, Wunschdenken, Vorurteil gepusht, ohne das transparent darzustellen.

Wenig wäre fataler, als wenn wir Transparenz in der Politik – das Offenlegen von Modellrechnungen, Annahmen, Abschätzungen – dadurch bestrafen würden, dass die damit zusätzlich verfügbare Information unfair ausgeschlachtet wird, als Munition, der all diejenigen, die intransparent bleiben, nicht ausgesetzt sind. Das wäre ein beträchtlicher Anreiz für Intransparenz.

Modellrechnungen machen es schwieriger, in Vagheiten zu flüchten

Wenn die zugrundeliegenden Modellrechnungen nicht transparent sind, werden neben der Sachebene andere, ablenkende Aspekte wichtig. Ob der/die betreffende Politiker*in sich in einer Talkshow angesichts kritischer Nachfragen gut schlägt. Ob er oder sie ansprechende und/oder beruhigende Worte findet. Letztlich können uns die Betreffenden viel erzählen, wenn sie sich nicht festlegen müssen: Was ihnen am Herzen liegt, was sie berücksichtigt haben, was ihnen sehr wichtig war. Wenn wir dazu wüssten: Das hier waren die zugrundeliegenden Modellrechnungen, diese Entscheidungen wurden getroffen, diese negativen Folgen wurden in Kauf genommen, dann könnten wir deutlich besser einschätzen, was da gelaufen ist.

Solange Politiker*innen sich nicht festlegen müssen, weil ganz selbstverständlich ist, dass die zugrundeliegenden Modellrechnungen nicht genannt werden, wird die Sachebene relativ unwichtiger – weil wir schlicht nicht die nötigen Informationen haben – im Vergleich zu den Sekundärtugenden der politischen Selbstdarstellung.

Warum ist das bei uns so eingerissen, dass es niemanden wundert, wenn bei entsprechenden Ansagen – sei es zur Pandemiebekämpfung, sei es zum Klimaschutz – keine Modellrechnungen mitgeliefert werden? Auch für die Politik gilt eigentlich: Es war noch nie so einfach, zu kommunizieren. Die genutzten Daten im Web zu veröffentlichen. Selbst anspruchsvollere Dokumente zur Verfügung zu stellen, weil das im Internet einfacher ist als je zuvor.

Ein Fall für den Journalismus

Letztlich sehe ich an dieser Stelle die Journalistinnen und Journalisten in der Pflicht. Ihr seid diejenigen, die eine Kontrollfunktion haben, die den Politiker*innen kritisch auf die Finger schauen sollen. Wieso besteht ihr nicht darauf, dass man euch Modellrechnungen mitliefert?

Klar, wenn das bisher nicht üblich ist, muss sich das erst einmal einspielen. Aber bestimmte Möglichkeiten dazu hättet ihr. Ihr könntet bei den Ministerien ebenso nachfragen wie bei denjenigen, die in den Regierungsparteien Gesundheits- oder auch Klimaschutzpolitik machen. Ihr könntet dranbleiben und öffentliche Kritik äußern, wenn von denen nichts kommt. Und beim nächsten Mal wieder nachhaken. Durchaus auch bei denen, die nicht in der ersten Reihe ihrer Parteien stehen, aber ja vielleicht die entsprechende Sacharbeit machen. Falls ihr die Modellrechnungen von einigen, aber nicht von anderen der Akteure bekommt, könnt ihr das herausstellen. Darüber, wenn einige der Akteure nachweislich planmäßig vorgehen und dann noch transparent, während bei anderen noch nicht einmal klar ist, ob sie überhaupt anhand von Modellrechnungen anstelle von Bauchgefühl entscheiden, kann man ja durchaus berichten.

Man könnte das recht groß aufziehen. Die Lage ist ja nun einmal ernst. Warum nicht öffentlich sagen: Jetzt ist die Lage so ernst, unsere Gesellschaft so gespalten, dass wir Transparenz brauchen? Öffentlich auffordern: Legt die Modellrechnungen offen?

Eigentlich ist ja absurd, was sich da eingeschliffen hat. Dass die Grundlagen zur Beurteilung der Konsequenzen politischer Entscheidungen nicht transparent gemacht werden. Dass wir bei konkurrierenden Vorschlägen nicht auf der Sachebene nachsehen können: von welchen Voraussetzungen geht das aus, und wie gut haben sich die genutzten Modelle in der Vergangenheit bewährt.

Insofern: Zeigt her eure Modellrechnungen! Und überzeugt andere, sie herzuzeigen. Auf dieser Basis könnten wir deutlich sachbezogener weiterreden.

 

Anmerkung zu Kommentaren: Bei Themen wie Covid-19 sind kontroverse und zum Teil auch unkonstruktive Diskussionen zu erwarten. Kommentare in diesem Blog sind moderiert und werden von mir meist innerhalb von ein paar Tagen freigegeben, je nachdem wieviel ich sonst noch um die Ohren habe, kann es auch etwas länger dauern. Bitte nutzen Sie die Kommentarfunktion zu diesem konkreten Blogbeitrag nicht für allgemeine Diskussionen über die Pandemie; ich behalte mir vor, Kommentare, die sich nicht direkt auf den Blogbeitrag beziehen, nicht freizuschalten. Beleidigungen und böswillige Unterstellungen haben in einer konstruktiven Diskussion keinen Platz; auch die schalte ich nicht frei. Last but not least: Die Zeit der hier Mitlesenden ist begrenzt. Bitte fassen Sie sich kurz. Kommentare mit mehr als rund 1200 Zeichen behalte ich mir vor, ebenfalls nicht freizuschalten.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

28 Kommentare

    • Danke für den Link! Wobei da natürlich immer der Einfluss geänderter Maßnahmen hinzukommt. Das kann ein epidemiologisches Modell nicht vorhersagen. Spannend wäre vor allem der Bereich für die Entwicklung in Phasen, in denen die getroffenen Maßnahmen ungefähr gleichgeblieben sind.

  1. In der Politik haben wissenschaftliche Erkenntnisse und Modellrechnungen schon immer eine untergeordnete Rolle gespielt. Entscheiden ist, was dem Großteil Wähler einfach und emotional vermittelbar ist. Dazwischen liegen Welten. Leider.

  2. Eine Modellrechnung macht letztendlich nur dann Sinn, wenn man halbwegs die relevanten Einflussgrößen kennt, alles andere sind mathematisch verklausulierte Weissagungen oder Befürchtungen/Hoffnungen.
    Jede gesellschaftliche Gruppe, jede Unternehmung behauptet von sich, nicht der Treiber zu sein, wir wissen nicht einmal, wie sich Shutdown von Geschäften und Lockdown für die Menschen direkt auf das Infektionsgeschehen auswirken, indirekt sehen wir etwas, können es aber nicht zuordnen, nur registrieren. Ich hätte mir gewünscht, dass es inzwischen bei der Zusammenführung der Daten über unterschiedliche Gesellschaften ( Staaten ), deren Maßnahmen und die Wirkung auf das Infektionsgeschehen bei allen Unsicherheiten der Erfassung doch inzwischen eine bessere Datenlage für Modellrechnungen/Simulationen gäbe.

    • Das “mathematisch verklausuliert” finde ich dabei gerade falsch. Die Befürchtungen/Hoffnungen/etc. haben die Politiker*innen ja auch, wenn sie nach Bauchgefühl entscheiden. Aber in der Situation kann man dann überhaupt nicht nachvollziehen, an welchen etwaigen falschen Annahmen es haperte. Insofern gilt im Gegenteil: Modellrechnungen verklausulieren nicht, sondern machen im Gegenteil sichtbar. Deutlich sichtbarer als ohne.

      • Ich kann Ihren Einwand nachvollziehen, eine Modellrechnung gilt allgemein als “objektiv”, ein “Bauchgefühl” versagt in den allermeisten Fällen, wenn es um andere Verläufe als f'(x) = const geht. Bei einer Modellrechnung allerdings, bei der Faktoren unbekannt sind und deshalb nur angenommen und/oder geschätzt werden, kommt aber womöglich genau dabei auch das “Bauchgefühl” des Modellierers zum Einsatz. Ich habe mir deshalb mal die Coronazahlen der Inseln “Taiwan” und “Neuseeland” angeschaut, dazu die Bevölkerungsdichte und die Gesamtbevölkerung, unter der Annahme, dass deren Zahlen einigermaßen korrekt sind. Wenn eine Modellierung mit nachvollziehbaren Faktoren/Einflussgrößen und deren logisch begründeter Größe den Verlauf der jeweiligen Infektionszahlen nachbilden kann, dann lohnt es sich, diese Version weiter zu verfolgen, vielleicht auch bei einem “offenen” System wie Deutschland, um sie zu verifizieren. Ansonsten bleibe ich bei meiner Einschätzung von solchen Simulationen als Zahlenspielerei.

        • …und ich bleibe umgekehrt dabei: Wer von Modellen zuviel verlangt und daraus schließt, dass man dann offenbar noch nicht einmal den Versuch quantitativer Beschreibung machen muss, schüttet das Kind mit dem Badewasser aus, und schraubt gleichzeitig die Ansprüche an Politik deutlich weiter herunter, als es sinnvoll ist.

          • Ich bin ein Freund der Modellrechnungen, verlange aber zumindest, dass die Modellrechnung die Vergangenheit innerhalb kleiner Fehlergrenzen “exakt” beschreibt, um dann eine glaubhafte Vorhersage für die ( nahe ) Zukunft machen zu können. Ich nehme auch fehlgeschlagene Modellrechnungen zum Anlass, die Voraussetzungen dafür zu überprüfen, welche Parameter falsch eingeschätzt oder gleich ganz vergessen oder gar übersehen wurden.
            Und ich erwarte von der Politik, dass sie sich an Realitäten und Möglichkeiten ( wozu auch plausible Modellrechnungen zählen ) orientiert und den Weg/die Maßnahmen dahin aufzeigt – und nicht, wie anscheinend bisher, durch Umfragen das allgemeine “Bauchgefühl” erkundet und dann zum “alternativlosen” Weg zur erhofften Erlösung propagiert.

          • Da steckt der Teufel dann im Detail. Aus meiner Sicht ist selbst eine Beschreibung innerhalb von moderaten Fehlergrenzen besser als ein “Primat des Bauchgefühls”, wo dann von Fehlergrenzen noch nicht einmal mehr die Rede ist, und umso mehr auf Rhetorik gesetzt wird, um die eigenen Desiderate durchzusetzen. Beim letzten Absatz ist mir derzeit gar nicht klar, worauf er sich bezieht – dass in punkto Infektionsschutz keine klaren Maßnahmen mehr getroffen werden, sondern die Sache ohne Angabe konkreter Ziele so hinläuft, widerspricht ja gerade den entsprechenden Umfragewerten dafür beispielsweise, ein wie großer Teil der Menschen derzeit angesichts der Botschaften der Intensivmediziner stärkeres Durchgreifen für richtig hielten.

  3. Es gibt einen hervorragenden Artikel bei “Quanta” zum Thema: “The Hard Lessons of Modeling the Coronavirus Pandemic” (https://www.quantamagazine.org/the-hard-lessons-of-modeling-the-coronavirus-pandemic-20210128/). Vielleicht eine Basis, um allgemein vernünftiger über Grenzen und Möglichkeiten von Modellen zu sprechen – sowohl in der Wissenschaftsgemeinschaft als auch in der Kommunikation nach außen bis hin zur Politikberatung.

    Warum gibt es eigentlich so selten entsprechend nüchtern und kompetent geschriebene Wissenschafts-Artikel zum Thema in Deutschland? Außer Kai Kupferschmidt fallen mir da momentan nur wenige Autoren in Bezug auf “Corona” ein. Liegt es an den Medien, die ihr Publikum mit durchaus vielschichtigen Darstellungen nicht “überfordern” wollen? Aber ich schweife schon ab …

  4. In diesem Artikel in der “Welt”
    https://www.welt.de/wirtschaft/plus230671817/Corona-Pandemie-Oekonomen-zweifeln-am-Sinn-von-Lockdowns.html
    wird beschrieben:
    ” …. Er hat dafür 80 wissenschaftliche Studien zu Covid-19 untersucht und kommt zu einem bedenklichen Ergebnis: Viele Forschungsarbeiten würden auf falschen Annahmen beruhen. Der gravierendste Fehler sei demnach, dass zahlreiche Wissenschaftler in ihren Berechnungen einen wichtigen Effekt vernachlässigten: das Verhalten des Menschen.”
    Außerdem:
    “Gleichzeitig würden die Kosten des Lockdowns laut Allens Analyse in vielen Modellen unterschätzt. Bildungsausfälle großen Ausmaßes durch Schulschließungen, zunehmende soziale und gesellschaftliche Probleme würden in vielen Berechnungen ausgeblendet.”
    Leider liegt der Artikel hinter einer Zahlschranke.

    • Über all diese Dinge könnte man sachlich diskutieren, wenn die verschiedenen an der Diskussion Beteiligten ihre Modelle, Grundannahmen, Überschlagsrechnungen herzeigen würden. Ohne Butter bei die Fische bleibt es halt vage. Analog genau so, wie ich ohne Zugang zu jenem Artikel nicht einschätzen kann, wie angemessen oder auch nicht jene kritischen von Ihnen zitierten Sätze die Sachlage beschreiben.

  5. Die beste Kritik ist eine Gegen-Modellrechnung

    Ketzerisch, muss nicht kommentarisch freigeschaltet (Dr. W mag eigentlich, seinem Wesen nach nicht so-o pflichtige manuelle Freischaltung, wenn sich doch schon ein Kommentator Mühe gegeben hat) werden, ist es aus diesseitiger Sicht nicht selten so, dass ‘Kritik’, auf Daten (hoffentlich) beruhende Analyse, auch schlicht sozusagen aus dem Handgelenk abgelehnt werden kann, von dafür befugten Entscheidern.

    Soll heißen, Dr Webbaer, der politisch und wirtschaftlich a bisserl unterwegs gewesen ist, mag auch die Total-Ablehnung von Idee, die auch Modellrechnung meinen kann.
    Kritik und ihre Ablehnung muss weder konstruktiv, noch solidarisch sein.

    Mathematiker, dies darf vielleicht an dieser Stelle verraten werden, dienen in der Wirtschaft dem Geschäft, sind so Ratgeber und verstehen im Fachlichen nicht selten einiges nicht, rechnen dafür sozusagen um so besser.

    ‘Gegen-Modellrechnungen’ kann eine wie gemeint bestellende, Mathematiker meinend, Kraft idR nicht beibringen.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

  6. Markus Pössel
    28.04.2021, 16:14 Uhr

    “Aus meiner Sicht ist selbst eine Beschreibung innerhalb von moderaten Fehlergrenzen besser als ein “Primat des Bauchgefühls” …”

    Da sind wir uns doch einig, dass die häufig schlechteste Annäherung an eine Lösung das Bauchgefühl ist, danach kommt die Modellrechnung mit aus dem Bauchgefühl heraus gewählten und dimensionierten Parametern. Mein Ansinnen ist, dass ein “Modellrechner” erst dann mit seiner Rechnung zufrieden sein kann, wenn die Abweichungen für die Berechnung der Vergangenheit vom IST möglichst minimal sind, wie minimal, hängt vom Problem ab und der Erwartung an die Vorausberechnung bei Variation der Parameter. Dazu gehört aber auch nicht nur die sinnvolle Anpassung der Faktoren, sondern auch die Frage, welche sonstige, bisher unbeachtete Einflussgrößen hinzu genommen werden müssen.

    Bei meinem letzten Absatz ging ich von der Erfahrung aus, das die Experten zur Eindämmung der Pandemie sehr häufig die Aktion “A” empfohlen, wohingegen die Politiker dann häufig die Aktion “B” angeordnet haben. Und “B” waren meistens eben nicht die strengen Maßnahmen, ich verorte jene Entscheidungen dann doch eher bei “volksnah”.

      • Auch wenn ich im letzten Satz noch “volksnah” durch “gefühlt volksnah” ersetzen würde.

        Würde ich nachträglich gelesen ebenso, auch darin sind wir uns einig.

      • Das ” Volk ” war ja über weite Strecken zu mehr bereit und fand Maßnahmen zu lasch. Ich denke,vdaß Veto der Wirtschaft in 2020: “Mit UNS wird es keinen zweiten Lockdown geben ” führte Regie. Von daher wurden auch Betriebe bis zuletzt aus dem Fokus genommen und zur Null Virus Region erklärt und viele fragliche Verordnungen erlassen, die aber immer die Betriebe bewusst aussparen.

        • Nein, das war nicht die Zweiteilung – es gab soweit ich erinnere durchaus auch Wirtschaftsverbände, die eine Niedriginzidenzstrategie gefordert haben. Also da durchaus eine weitere Teilung in “kurzsichtige Wirtschaft” und “längerfristig denkende Wirtschaft”. Nur dass sich erstere leider durchgesetzt hat.

  7. Was halten Sie denn von dieser Modellrechnungen von unserer Kanzlerin? Ich halte ihre Risikoabschätzung für falsch,. Der Grund ist einfach der, daß die Wahrscheinlichkeit für das Treffen eines nicht geimpften mit einem nicht geimpften 50% ist. Daher ändert sich das Risiko für eine Ifektion für ihn nicht.

    Gruß
    Rudi Knoth

    • Ich kann nachvollziehen, was die Kanzlerin da sagt. Wenn wir alle Alltagsbegegnungen gleich häufig und gleich intensiv halten (also alle externen Maßnahmen Schließungen vs. Öffnungen gleich), aber eine komplett ungeimpfte Population mit einer zu 50% geimpften Population vergleichen, dann sollten auch die Inzidenzzahlen deutlich fallen – die Hälfte derer, die da anderen begegnet, steckt sich dabei ja nicht mehr an. Fällt die Inzidenz im Gegenteil dazu nicht, muss eine der Annahmen falsch sein. Mit größter Wahrscheinlichkeit, dass die Alltagsbegegnungen häufiger sind und damit die Häufigkeit von möglichen Ansteckungssituationen eben auch.

      • Das ist einleuchtend. Ich bin eher davon ausgegangen, daß Frau Merkel eine Population meinte, die zu 50% geimpft ist. dann wäre eine gleich hohe Inzidenz schon verdächtig. Dann kann eine der Annahmen nicht stimmen.

        Ich kann mich dunkel an meine Kindheit erinnern, daß ich gegen TBC geimpft wurde und deswegen der Tubercolin-Test (von der Schule) positiv war. Aber ich wurde nicht behandelt und lebe immer noch.

        Gruß
        Rudi Knoth

  8. Politische Entscheidungen fallen gefühlt volksnah, thats it.
    Ich präzisiere mein obiges Statement:

    Entscheiden ist, was dem Großteil Wähler vermeintlich einfach und emotional vermittelbar ist.

    Diese extrem ärgerliche Problematik wurde im Lanz-Talk, gestern in der Sendung vom 29. April ab ca. Minute 17 von Prof. Michael Meyer-Hermann, hautnah geschildert. Der Immunologe Meyer-Herrmann gehört zu den wissenschaftlichen Beratern der Regierung und der Ministerpräsidenten.
    Die Politik hat sogar entgegen einer Mehrheit (laut Umfragen) gehandelt, die härtere und konsequentere Maßnahmen befürwortet hätte.
    Die anschließende Analyse, warum das so ist, blieb leider im Ansatz stecken. Frau Prof. Alena Buyx vom Ethikbeirat merkte an, dass wohl bei den Entscheidern die Meinung von Minderheiten gleichwertig der Meinung von Mehrheiten gegenübergestellt werde. Diesen Eindruck habe ich generell auch. Wäre das ein typisches Problem von Demokratien? In der Schweiz lief es jedenfalls auch nicht anders, eher noch etwas schlechter. Meines Erachtens sind die Zusammenhänge sehr komplex. Eine Rolle spielt hier wohl auch, dass ein exponentielles Wachstum vom ungeübten Verstand schwer greifbar ist. Eine genauere Analyse der politischen Entscheidungen ist schwierig, könnte aber sehr fruchtbar und wichtig für den Erhalt und Weiterentwicklung unserer Demokratie sein.
    Markus Lanz

    • … dass wohl bei den Entscheidern die Meinung von Minderheiten gleichwertig der Meinung von Mehrheiten gegenübergestellt werde. Diesen Eindruck habe ich generell auch. Wäre das ein typisches Problem von Demokratien?

      In dem Zusammenhang kam mir das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht in den Sinn, obwohl ganz anders gelagert ist. Der Eindruck der Frau Prof. Alena Buyx lässt mich an folgendes Schema denken: Nicht die Stimme an sich zählt, sondern das Produkt aus Stimme*Lautstärke², was besonders wirksam in unserer – dem Augenschein nach – “Socialmediakratie” zur Geltung kommt. Das Prinzip ist ( biologisch ) tief verwurzelt und es gibt eindrucksvolle Schilderungen aus der Geschichte: Wenn wenige ganz viel Lärm machen, wird ihre Anzahl massiv überschätzt … und so sind schon Gefechte entschieden worden.

  9. Modellrechnungen retten die Welt.
    Der 3. Weltkrieg wurde durch Modellrechnungen verhindert.
    Die Klimakatastrophe wird wahrscheinlich durch Modellrechnungen abgeschwächt.
    Die Folgeschäden der Pandemie werden durch Modellrechnungen abgeschwächt.
    Gemeint ist damit die Wirtschaft.

    Jeder , der Vor- und Nachteile einer Maßnahme abwägt, macht eine Modellrechnung.
    Die bekannteste Modellrechnung ist die Milchmädchenrechnung, die aber am Ende nicht aufgeht.

  10. Lieber Herr Kollege Pössel,

    Sie verkennen, dass es zwischen Klimamodellen und Epidemiemodellen (so wie sie eingesetzt wurden) eine massive Kluft hinsichtlich des Grads der Validierung gibt, und auch bedeutende wissenschaftssoziologische Unterschiede. Klimamodelle fußen im Kern auf gut verstandenen physikalischen Gleichungen, und wo Effekte parametrisiert werden müssen, kann man die relativ gut messen. Überhaupt hat man einen Haufen Daten zur Kalibrierung und Validierung zur Verfügung. Wenn z.B. ökonomische Modelle drangekoppelt werden, ist man auf weniger sicherem Terrain, aber da gibt es wenigstens strukturierte Prozesse um den Erkenntnisstand zu ermitteln und zu bewerten, der sich dann in IPCC-Berichten niederschlägt.

    Epidemien sind ähnlich komplex, aber es ist viel schwieriger, diese Komplexität mit prädiktiven Modellen zu erfassen. Die einfache Rechnung – Person 1 steckt R0 zufällig ausgewählte Kontakte an, und die R0^2 usw. – stimmt halt so nicht. Echte Epidemien spielen sich in heterogenen Bevölkerungen ab, in der die Kontaktzanzahl, das Expositionsrisiko, der Gesundsheitsstatus, usw. individuell stark variieren, und wo die Kontakte nicht zufällig sind. Die meisten einfachen Modelle vernachlässigen dass, und deshalb ist es schwer, mehr als kurzfristige Extrapolationen zu liefern. Und diese Komplikationen spielen eine Rolle, was in Lehrbüchern auch schon gut dargelegt ist (https://press.princeton.edu/books/hardcover/9780691116174/modeling-infectious-diseases-in-humans-and-animals, siehe auch mein kurzes Papier https://www.monitor-versorgungsforschung.de/autoren/Bernhard-Mueller%20). Gehen Sie nur von einem zufälligen Netzwerk zu einem skalenfreien Netzwerk, und Sie können schon das exponentielle Wachstum verlieren. Deshalb sind naive Fortsetzungen R(t)=const. ohne Maßnahmen Unsinn. Und realistische Modelle erfordern meist mehr Informationen als man hat und einbauen kann; selbst agentenbasierte Modelle sind da nicht perfekt.

    Das bemerkenswerte an der Modellierung in Deutschland ist noch, dass die Gruppen aus Göttingen und Braunschweig vorher keinen Fuß in der Infektionsepidemiologie hatten. Und die sind nicht nach oben gekommen, weil sie plötzlich Dinge entdeckt hätten, die den Infektionsepidemiologen unbekannt gewesen wären. Es ist so, als hätte man die Lehrbücher aus dem Fenster geworfen und entscheiden, wir machen alles neu, inklusive der Fehler der Vergangenheit. Dementsprechend lagen die Modelle immer wieder krachend daneben. Das lag nicht am “Präventionsparadoxon”, es lag daran, dass man die Grenzen der Modelle nicht erkannt hat bzw. nicht erkennen wollte.

    • Generell Zustimmung, aber Sie blenden soweit ich sehen kann den entscheidenden Aspekt aus. Sicher ist es richtig auf die Schwierigkeiten hinzuweisen. Aber der Begriff Modell wird in meinem Text ja bewusst allgemein verwendet. Und da wird es problematisch, wenn man bei einer Aufzählung der Schwierigkeiten derer, die sich zumindest bemühen, das Geschehen abzubilden und mit Hilfe vereinfachter (klar!) Annahmen zumindest etwas zu extrapolieren – “prädiktiv” ist dabei in der Tat sehr ehrgeizig, aber die Extrapolation sagt ja auf alle Fälle: wenn die Annahmen so zutreffen, dann können wir erwarten, dass es so-und-so weitergeht – stehenbleibt. Die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen, wird dadurch ja nicht eliminiert. Und auch jemand, der die Simulationen wegen ihrer Schwächen aus dem Fenster wirft, entscheidet letztlich aufgrund dann eben noch deutlich kruderer Modelle und Annahmen. Mit naiven Extrapolationen nach dem Motto “Ach, es ist bislang nie so schlimm gekommen wie vorhergesagt, dann wird das jetzt auch so sein” oder “Wenn wir jetzt alles laufen lassen, wird es schon nicht so schlimm kommen.” Das ist ein wesentlicher Punkt in meinem obigen Text: Man kann nicht nicht auf diese Weise vorgehen. Eine Wenn-Dann-Erwartung dürfte mit jeglicher politischer Entscheidung assoziiert sein. Aber wenn man die quantitativen Modelle pauschal wegwirft, bleiben die (dann typischerweise von Vorurteilen, Erwartungen, Eigeninteressen) geprägten qualitativen Modelle als Entscheidungsgrundlage übrig. Und die sind noch schlechter aufgestellt als Versuche, die quantitativen Verhältnisse ehrlich abzubilden (so schwierig das sein mag) um uns gut durch eine Herausforderung wie die Pandemie zu führen.

  11. Lieber Herr Pössel, ich denke schon, dass es ein Problem ist, wenn man von Anfang an Modelle verwendet, von denen man weiß, dass sie nicht dem Stand der Kunst entsprechen. Es ist ja nicht so, daß Priesemann & Co. irgendetwas großartiges entwickelt hätten. Was auf den Markt geworfen wurde, hätten auch mittelmäßige Studierende machen können. Und spätestens als die Modelle und die Wirklichkeit divergierten, hätten man sich am Kopf kratzen müssen, anstatt auf fragwürdigen Annahmen zu beharren. Wir wissen eigentlich, wie es besser geht, dass man z.B. besser daran täte erst einmal gute beschreibende Statistik und darauf aufbauend kurzfristige Extrapolationen (mit gleitendem R(t)) zu machen. Das hat z.B. ein Leopoldina-Mitglied (nicht Herr Luckhaus) getan, der sich vor 30 Jahren schon mal mit Epidemiologie beschäftigt hat, und das halt noch in Erinnerung hatte. Einige etablierte Biostatisiker sind ähnlich verfahren. Und erfahrene Infektionsepidemiologen (ich habe einige gesprochen) waren auch extrem skeptisch bzgl. naiver Anwendung von SIR-Modellen, und haben sich selbst ruhig gehalten, um keinen Unsinn in die Welt zu setzen.

    Das Problem ist halt wie so oft: “A little knowledge is a dangerous thing.” Erfahrenen Leute beschränken sich bewusst auf sehr qualitative Aussagen und versuchen lieber die Prinzipien zu vermitteln, als unhaltbare Zahlen mit systematischen Fehlern rauszuhauen. Mit mehr Erfahrung kommt man oft an den Punkt zurück, wo auch die vermeintlichen mathematischen Laien stehen, nur dass man besser versteht, woher die qualitativen Prinzipien kommen. Sie werden bis auf ein paar Paradiesvögel ja auch wenige Leute in der Wissenschaft finden, die einfach “alles Laufen lassen” wollten. Das sind zum größten Teil polemische Unterstellungen; bitte endlich mal anerkennen. Im Gegenteil, wegen des Fokus auf Modelle waren z.B. die Pflege und Krankenhaushygiene in den Beratunggstrukturen nicht adäquat repräsentiert, was wahrscheinlich viel geholfen hätte. Im Vereinigten Königreich hat das Matt Keeling (der als Epidemiemodellierer wirklich Weltklasse ist) auch anerkannt: “We dropped the ball on care homes.”

    Und wenn man das Instrument nicht einmal vernünftig versteht, das man einsetzt, ist es natürlich noch gefährlichlier als bei den Profis. Die Modellierungsversuche von Priesemann, Meyer-Hermann und Nagel (Brockmann lasse ich mal außen vor, der hat zumindest ein wenig Hintegrund) musste deshalb fast zwangsläufig scheitern. Ich kann nicht von 0 auf 100 plötzlich in ein neues, erwachsenes Gebiet einsteigen und wasserdichte angewandte Forschung liefern (wofür ja andere Standards gelten als für Grundlagenforschung). Das ist Hybris und läuft der Struktur der Wissenschaft zuwider (vgl. Webers Bemerkungen zur notwendigen Spezialisierung in “Wissenschaft als Beruf”).

  12. Lieber Herr Pössel, ich habe offenbar vergessen, meine Antwort abzuschicken. Dass gute eingeordnete quantitative Abschätzungen nützlich sein können, ist zweifelsohne richtig. Aber Sie übersehen im konkreten Fall zwei Komplikationen.

    Erstens sollten die Modelle halbwegs dem Stand der Kunst entsprechen und müssen auf jeden Fall korrigiert werden, wenn sie mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Spätestens im Sommer 2020 und nach deutlichen Warnungen aus berufenen Kreisen hätten die deutschen Modellierer da hellhörig werden müssen. Stattdessen hat man sich immer mit dem Münchhausen-Trick aus der Affäre gezogen: Die Modelle beeinflussen das Verhalten der Menschen und deshalb treten die Prognosen nicht ein, oder man deutet Prognosen nachträglich als Szenarien um, übersehend dass man mit Szenarien immer noch die Bandbreite der mögichen Entwicklungen abdecken müsste.

    Zweitens ist die Darstellung der Alternative einfach nicht richtig. Die wenisten, denen das unterstellt wird, wollen “alles laufen lassen”. Und quantitative Abschätzungen können nicht nur unsere Staatsmodellierer. Nur haben erfahrene Leute sich halt von Anfang nicht an Modellen festgehalten, deren Grenzen sie nur allzu gut kennen. Mit hinreichender Erfahrung und einem Sinn für die Komplexität des Geschehens (Kollateralschäden) kommt man schnell wieder an den Punkt, wo man simplistische Modelle wieder aufgibt. Aber man kann Johan Giesecke oder Sunetra Gupta jetzt nicht unterstellen, sie hätten von Epidemiemodellen keine Ahnung; sie wissen halt nur, wie man sie einordnen muss.

    Wenn man einem strukturierten Entscheidungsprozess gefolgt wäre, hätte man sich über Modelle Gedanken gemacht. Aber man hätte z.B. erst eruiert, was die Möglichkeiten und Grenzen sind, bekannte Prinzipien der Epidemiemdynamik zusammengefasst, dann ggf. Arbeitsaufträge zu offenen aber lösbaren Fragen an verschiedene Gruppen formuliert und Review-/bzw. Qualitätssicherungsstrukturen etabliert, die Nutzen-Schaden-Bilanz von Maßnahmen angeschaut, systematische Risikomanagement gemacht usw., und das neben der Berücksichtigung anderer Perspektiven (Public Health, usw.). Viele fromme Wünsche wie der epidemiologische Schlieffenplan “NoCovid” hätten sich da sehr schnell zerschlagen. Aber so ist das leider nicht gemacht worden. Stattdessen haben wir unsere Zeit mit naiven Interpretationen von schlechten Zeitreihendaten verplempert und der praktischen Arbeit (Versorung, Pflege, vertrauenswürdige Kommunikation etc.) zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

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