Mutter Natur verstehen – Die Evolutionsforscherin Sarah Blaffer Hrdy

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Unsere Wissenschaftstraditionen und -diskussionen sind nach wie vor (auch in der Evolutions- und Religionsforschung) vor allem aus männlichem Blickwinkel geprägt worden. Das Ergebnis kann man sich z.B. immer wieder anschauen, wenn eine Zeitschrift über den Zusammenhang von Religiosität und Demografie schreibt, wie letztes Jahr der FOCUS (“Fruchtbarer Glaube”) oder diese Woche die ZEIT (“Religiöser werden für mehr Kinder?”). In den überwiegend von einigen sehr… von ihrer Überlegenheit überzeugten Herren verfaßten Kommentaren darauf geht es dann stets reflexhaft um und meist gegen Migranten, arbeitende Frauen, Politiker, Religionen. Eine Reflektion über die eigentlichen Familienthemen wie treue Liebe, Partner- und Gemeinschaft, Zusammenhalt der Generationen, Lebenssinn etc. findet kaum statt oder wird niedergehöhnt. Dabei, so zeigt sich zunehmend, fanden und finden genau in diesem Bereich die evolutionären Prozesse statt, die unsere Spezies prägten!

Sarah Hrdy – Neuer Blick auf die Evolution des Menschen

Vorhang auf für die Primatologin und Anthropologin Sarah Hrdy, die ich für eine der interessantesten Evolutionsforscherinnen unserer Zeit halte. In ihrem neuesten Buch “Mothers and Others. The Evolutionary Origins of Mutual Understanding” (Übers. in Arbeit: Mütter und Andere: Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat) stellt sie der seit Darwin vorherrschenden Macho-Lesart der menschlichen Evolution als Folge blutiger Stammeskämpfe mit siegreich erbeuteten Frauen eine weibliche Perspektive entgegen.

Was sind ihre Argumente? Hrdy weist ganz sachlich darauf hin, dass kein (anderer) Primat tun könnte, was wir Menschen täglich millionenfach tun: Unsere Kinder in die Obhut anderer, sogar Nichtverwandter zu geben – z.B. von Babysittern, Kindergärtnern, Lehrern, Freunden (z.B. für einen Kindergeburtstag) etc. Im Gegenteil: Unter den meisten Affenarten müssen die Mütter die Kleinen jahrelang vor den Angriffen anderer beschützen und abschirmen. Die Folge: Schimpansen und Orang-Utans haben längere Geburtenabstände und kürzere “Kindheiten” evolviert, die Bedrohungen setzen hier Grenzen. Menschenfrauen konnten und können dagegen in viel rascherer Folge Kinder gebären, die dazu noch ihre Gehirne und Fertigkeiten in langen Kindheits- und Jugendphasen ausprägen können.

Wie aber war und ist das möglich? Hrdys Antwort: Gemeinschaftlicher Kinderaufzug (Cooperative Breeding)! In allen gewachsenen Menschenkulturen werden Kinder gemeinschaftlich erzogen, nie nur auf die Kernfamilie oder Mütter verwiesen. Eine bedeutende Rolle spielen z.B. die Väter der Kinder, aber auch Großeltern (v.a. Großmütter), andere Eltern und schließlich gemeinschaftliche Vertrauenspersonen (z.B. Lehrer).

Umso mehr sich aber, so Hrdy, Kinder in soziale Netzwerke außerhalb der Mutter begaben, umso entscheidender wurden wiederum deren soziale Fähigkeiten: Kontakt mit anderen aufzubauen, Vertrauen zu schenken, aber auch Gefahren zu erkennen, Freundschaften zu schließen etc. Nicht also vornehmlich Kriegszüge und machiavellistische Intrigen, sondern die gemeinsame Sorge um Kinder prägte die sozialen, intellektuellen und schließlich kulturellen Fähigkeiten unserer Art!

Evolutionäre Großmütterforschung

Natürlich ist ein Blogbeitrag viel zu kurz, um Beobachtungen, Daten und Argumente erschöpfend darzustellen. Deswegen sei hier nur kursorisch auf das reiche Feld der evolutionären Großelternforschung hingewiesen, die erkundet, warum Menschen (und vor allem Menschenfrauen) so viel längere Lebensspannen auch nach ihrer fertilen Zeit evolviert haben. Hrdys Forschungen haben hierzu eine Vielfalt von (auch ethnologischen) Studien angestoßen, die aufzeigen: Agile Großeltern (und vor allem Großmütter) unterstützen ihre Kinder und Enkel sowie die weiteren Gemeinschaften durch Engagement, Aufsicht und auch Erfahrung. Die Avatar-Macher waren nicht nur technisch auf der Höhe: Wohl nicht der Schamane, sondern wahrscheinlich die Weise Frau und die Ahnen dürfte(n) am Anfang der Evolution von Religiosität gestanden haben!

Zur evolutionären (Groß-)mütterforschung kann ich den hervorragenden Tagungsband der internationalen Grandmotherhood-Konferenz in Delmenhorst 2002 (“Grandmotherhood. The Evolutionary Significance of the Second Half of Female Life.“, Hrsg. Eckart Voland, Athanasios Chasiotis und Wulf Schievenhövel) fachlich Interessierten sehr empfehlen!

Evolutionäre Religionsforschung

Sowohl Hrdy in ihrem “Mothers and Others” wie auch immer mehr weitere Ethnologen und Evolutionsforscher haben die Bedeutung religiöser Mythologien und Rituale für die Etablierung familienfreundlicher Gemeinschaften erkannt und teilweise auch formuliert. Von religionswissenschaftlicher Seite ist dagegen in diesem Bereich noch einiges zu leisten. Dabei liegen die Phänomene offenkundig beieinander: In steinzeitlicher Kunst überwiegen Frauen- und Müttermotive. Religiöse Gemeinschaften pflegen untereinander Familienbegriffe (Schwester, Bruder, Vater, Mutter etc.), nach Hrdy sehr schön: “as-if Kin”. Die ältesten Schulen, Waisenhäuser, Hospitäler usw. waren (und sind) weltweit religiöse Stiftungen – und auch in säkularen Gesellschaften (wie Deutschland West und Ost) werden religiöse Bildungseinrichtungen rege nachgefragt und neu gegründet. Nicht nur Christen bezeichnen z.B. ihre Gemeinschaft(en) als “Mutter Kirche”, auch Muslime sprechen von der Umma (von arab. umm = Mutter). Der Begriff “Nonne” ist etymologisch aus Bezeichnungen für Großmütter und Ammen hervorgegangen (vgl. Nun, Nanny etc.). Heutige Religionsgemeinschaften werden gerade auch in freiheitlichen Gesellschaften vor allem vom religiösem Engagement von Frauen getragen. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Und der durchschnittlich höhere Reproduktionserfolg religiöser Menschen wird vor diesem Hintergrund schlüssig erklärbar – der Zusammenhalt in Religionsgemeinschaften kann z.B. gewaltförmig missbraucht werden, evolvierte (und evolviert!) aber biologisch und kulturell vor allem aufgrund der Förderung von Familien und Kindern.

ReligionDemografieHomoreligiosus
Credit: Gehirn & Geist 04/2009, “Homo religiosus”

Weder die Evolution unserer Art insgesamt noch ihre sozialen und schließlich biokulturellen Fähigkeiten der Sprache, Musik oder Religion sind überwiegend aus Konkurrenz- und Kampfszenarien entstanden. Wie die Biologen aus Tübingen sogar schon mit Lied und Fussball-Video zu vermitteln versuchen: Es geht (mindestens bei sozialen Tieren) ums Überlieben! Aber andererseits mache ich mir da leider auch keine Illusionen: Es wird noch lange dauern, bis der dröhnende Machismo wenigstens in den Wissenschaften überwunden sein wird…

* Diesen Blogpost widme ich allen echten Männern da draußen.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

160 Kommentare

  1. Macho Evolution

    Dass Evolution nicht nur Kampf- und Konkurrenzszenarien enthielt, beweist ja schon die Endosymbionten-Theorie, nach der ohne Kooperation zwischen Bakterien (eins nimmt das andere auf und bildet es zu inneren Organen um) komplexes Leben gar nicht hätte entstehen können. Bezeichnenderweise setzte eine Forscherin (Lynn Margulis) diese Sicht in der männerdominierten Biologie durch. Der deutsche Neurologe unds Gen-Forscher Joachim Bauer vertrat eine solche Perspektive auch in seinem letzten Buch “Das kooperative Gen”.

  2. Milchbruder /-schwester

    Milchbruder/-schwester ist in diesem Zusammenhang ein sehr schöner Begriff. Es handelt sich um eigene und/oder fremde Kinder, welche gemeinsam von einer Amme/Mutter gesäugt wurden.
    Z.B. wurde der Prophet Mohammed von einer Amme namens Halima aufgezogen.

    Für ´Milchgeschwister´ gab es in verschiedenen Kulturen eigene Moralgesetze. Z.B. Durfte ein Mann nicht seine Amme oder Milchschwester heiraten.

  3. Kooperatives Brüten

    “Hrdy weist ganz sachlich darauf hin, dass kein (anderer) Primat tun könnte, was wir Menschen täglich millionenfach tun: Unsere Kinder in die Obhut anderer, sogar Nichtverwandter zu geben…”.

    Seltsamerweise scheint dies aber bei Vögeln möglich zu sein:
    http://www.nzz.ch/…vanne_haeufiger_1.547441.html

    Und auch bei Fischen:
    http://www.g-o.de/…-aktuell-9905-2009-05-13.html

    Haben sich die Menschen da etwas abgeschaut?

  4. @Mona: Ameisen

    Liebe Mona,

    ja, Hrdy benennt viele solcher Beispiele, die auch außerhalb der Primaten evolviert sind – in wenigen Fällen auch bei Säugetieren, z.B. die Nacktmulle. Das Paradebeispiel für kooperatives Brüten (allerdings fast immer unter sehr eng Verwandten) sind ja Ameisen und Bienen, die von einigen Forschern daher auch als kombinierte “Superorganismen” verstanden werden. Siehe hier:
    http://www.wissenschaft-online.de/artikel/1016788

    Übrigens handelt es sich dann in den meisten Fällen von Cooperative Breeding um (reine) Frauenstaaten, das menschliche Miteinander von Frau und Mann (bzw. unser Potential dafür) ist schon was Besonderes! 🙂

    Ernsthaft: Wunderbar kann man auch an diesen kleineren und einfacheren Organismen bereits sehen, wie gemeinschaftliche Brutpflege komplexes Sozialverhalten hervorbringt und belohnt. Und genau das ist es, was sich wohl auch bei unseren hominiden Vorfahren abgespielt und sie zu den Fähigkeiten des Homo sapiens und Homo religiosus geführt hat. Und die Evolution auch unserer Art geht ja, beobachtbar am differentiellen Reproduktionserfolg, dynamisch weiter.

  5. @Rüdiger Sünner @KRichard

    Vielen Dank für die Ermutigung und Beobachtungen! Ich würde auch zustimmen: Wenn man sich auf die Perspektive erst einmal eingelassen hat, werden viele Phänomene viel schlüssiger erklärbar. Hoffentlich trägt Hrdys Buch, wenn es denn bald in Deutsch erscheint, auch bei uns zu einer Debatte bei, die einigen die Augen für den kooperativen Reichtum (auch, aber nicht nur) menschlicher Biologie und Kultur öffnet.

  6. Homo religiosus

    @Michael
    Du schreibst, dass “komplexes Sozialverhalten” zum homo religiosus geführt hat. Hab ich das so richtig verstanden? Wäre das “Religiöse” dann nur eine Taktik, um Gruppen zusammenzuhalten, nach dem Motto: gemeinsame Rituale stabilisieren den Clan, um ihn fitter fürs Überleben zu machen. Bleibt da auch noch Raum für so etwas wie Staunen, Ehrfurcht vor der “Intelligenz” grösserer Naturzusammenhänge, Einheitserlebnisse, Erfahrungen des Lebendigen in der Natur etc? Ich habe immer ein bisschen komische Gefühle, wenn sprituelle Aktivitäten vorwiegend auf pragmatisch-soziale Überlebenstechniken reduziert werden. Aber vielleicht interpretiere ich dich da auch falsch. Ich würde gerne deine Ansichten zum evolutionären Ursprung von Religion noch genauer verstehen. Kernfrage wäre: Sind Mythen, Symbole etc. nur “Erfundenes” oder auch “Geschautes”?

  7. @Rüdiger Sünner

    Lieben Dank für Deine Fragen, auf die ich gerne eingehe!

    Du schreibst, dass “komplexes Sozialverhalten” zum homo religiosus geführt hat. Hab ich das so richtig verstanden?

    Ja. Die Vorstellung von relevanten übernatürlichen Akteuren benötigt z.B. Grundlagen der Empathie und Theory of Mind, die sich zuvor in sozialen Kontexten ausgebildet haben müssen. Religiosität evolvierte nach heutigem Kenntnisstand auf Basis vieler, v.a. aber auch sozial-kommunikativer Module und setzt also ein hohes Maß an Sozialität voraus.

    Wäre das “Religiöse” dann nur eine Taktik, um Gruppen zusammenzuhalten, nach dem Motto: gemeinsame Rituale stabilisieren den Clan, um ihn fitter fürs Überleben zu machen.

    Nein, denn niemand hat sich das ja taktisch ausgedacht. Vielmehr erweitert sich der Kreis der sozialen Interkationspartner um übernatürliche Akteure wie Ahnen, Geister, Götter, Gott. Und diese Überzeugungen bewirken dann (auch!) Kooperations- und Gemeinschaftsvorteile.

    Bleibt da auch noch Raum für so etwas wie Staunen, Ehrfurcht vor der “Intelligenz” grösserer Naturzusammenhänge, Einheitserlebnisse, Erfahrungen des Lebendigen in der Natur etc?

    Absolut! Wer das ausschließen wollte, müsste es ja auch für alle anderen Sinne ausschließen. Die religiöse Vergemeinschaftung stiftet und deutet Erfahrungen und eröffnet Zugang zu neuen Erfahrungskontexten. Der eine mag das als “Delusion” abqualifizieren (z.B. Dawkins), der andere als Schau einer höheren Wahrheit benennen (z.B. Teilhard de Chardin).
    http://www.chronologs.de/…u-wohin-evolvieren-wir

    Ich habe immer ein bisschen komische Gefühle, wenn sprituelle Aktivitäten vorwiegend auf pragmatisch-soziale Überlebenstechniken reduziert werden.

    Das geschieht hier ausdrücklich nicht. Die sozialen Fähigkeiten bilden die Grundlage, aus denen dann neue Merkmale evolvieren. Wir haben es hier mit einem emergenten Phänomen zu tun, wie auch bei Sprache, Musik oder Farbensehen. Die Grundlagen “reduzieren” das Merkmal nicht, sondern ermöglichen dessen Entfaltung.

    Aber vielleicht interpretiere ich dich da auch falsch. Ich würde gerne deine Ansichten zum evolutionären Ursprung von Religion noch genauer verstehen.

    Danke, zumal das ja ein derzeit sehr dynamisches Forschungsfeld ist. Neben dem Blog kann ich z.B. die (kostenfrei abrufbare) “Homo religiosus”-Titelgeschichte in Gehirn & Geist empfehlen:
    http://www.spektrumverlag.de/artikel/982255

    Und natürlich unser Buch, das ich ja gemeinsam mit Rüdiger Vaas (einem Biologen & Philosophen) verfasste:
    http://www.chronologs.de/…shop.de/artikel/969531

    Kernfrage wäre: Sind Mythen, Symbole etc. nur “Erfundenes” oder auch “Geschautes”?

    Gerade vor dem Hintergrund der evolutionären Erkenntnistheorie ist davon auszugehen, dass sich erfolgreiche Merkmale an der Realität bewähren, also mehr als “nur Illusionen” sind. Wer nach imaginären Ästen hechtete, gehört sicher nicht zu unseren Vorfahren. Aber eine ernsthafte und ergebnisoffene, erkenntnistheoretische Reflexion der Evolutionsforschung zur Religion hat erst begonnen (mit auch ganz neuen Stimmen, z.B. R. Wright “The Evolution of God”, oder M. Dowd “Thank God for Evolution”, beide 2009).

  8. Mutter Natur

    Vorab: Ich finde es schön, dass Sie das Thema bereits jetzt behandeln, lieber Michael. Und ich finde es echt beeindruckend, wie locker Sie hier einen Bogen über zwei Millionen Jahre evolutionärer Entwicklung schlagen, von der Entstehung des kooperativen Brutpflegeverhaltens bei frühen Hominiden bis hin zur “Mutter Kirche”. Respekt! 😉

    »In ihrem neuesten Buch […] stellt sie der seit Darwin vorherrschenden Macho-Lesart der menschlichen Evolution als Folge blutiger Stammeskämpfe mit siegreich erbeuteten Frauen eine weibliche Perspektive entgegen.«

    Na, ob Sarah Hrdy dem so zustimmen würde?

    Um Sarah Hrdys “weibliche Perspektive” bezüglich der Evolution der (sozialen) Intelligenz zu verdeutlichen, möchte ich hier noch einmal auf das verweisen, was sie selbst als den Kern ihrer Hypothese ansieht. In einem Interview beantwortete sie die Frage, wie die gemeinsame Brutpflege eine kooperative und intelligente Art hervorbringen konnte, so:

    »Hrdy: Der Schlüssel liegt bei den Kindern. Wenn sie von mehreren Bezugspersonen abhängig sind, brauchen sie mehr Fähigkeiten als ein Schimpansenkind, das alles von seiner Mutter automatisch bekommt: Sie müssen sich in ihre verschiedenen Pfleger hineinversetzen können und lernen, sie zu manipulieren. Je besser sie sich darauf verstehen, umso größer ihre Überlebenschance. So entstand unter den Kindern ein Wettbewerb hin zu immer mehr sozialer Intelligenz. Wenn Sie heute die Intelligenz eines Zweijährigen mit der eines Schimpansen vergleichen, werden Sie keine sehr großen Unterschiede bemerken – mit einer Ausnahme: Das Kleinkind kann die Sicht eines anderen annehmen, von ihm lernen und teilen. Und genau darauf kam es an.« (Hvm)
    (Quelle)

    Das heißt, hier geht es nicht um kuschelige Fürsorge durch die Gruppe, sondern um einen knallharten Überlebenskampf, dem die lieben Kleinen ausgesetzt waren. “Mutter Natur” ist grausam (aus antropozentrischer Sicht). Dazu passt auch, dass, laut Hrdy, unter den Primaten nur die Menschenmutter die Fähigkeit zur Kindstötung evolviert hat.

  9. @ Balanus

    Danke für Ihren Kommentar – und, ja, Zustimmung auch zum Zitat. Immerhin vertritt Sarah Hrdy keine abgehobene Esoterik (sonst würde ich sie nicht so loben 🙂 ), sondern nüchterne Evolutionsforschung. Und weist also genau nach, dass Überleben & Reproduktion bei vielen Tieren und ganz besonders beim Menschen durch die “soziale Intelligenz”, den Aufbau von Beziehungen, Gemeinschaften etc. begünstigt werden. Der Mensch ist in Familien- und Gemeinschaftsbeziehungen erfolgreich evolviert, nicht (primär) auf dem Schlachtfeld oder Börsenparkett. Und diese vermeintlich “weichen” Faktoren verdienen es endlich, stärker wahrgenommen und gewürdigt zu werden, wie es jüngere und dynamische Biolog(inn)en z.B. an der Uni Tübingen auch gegen die vorherrschenden Stereotype zu vermitteln versuchen. Zur Verdeutlichung haben sie dafür sogar ganz neue Begriffe geprägt wie “Überlieben” statt (nur) “Überleben” bzw. “Struggle for Love” statt (nur) “Struggle for Life”. http://www.chronologs.de/…erleben-oder-berlieben

    Sie müssen zugeben, dagegen formuliere ich hier doch noch sehr verhalten! 🙂

  10. Familie vs. Schlachfeld

    “Der Mensch ist in Familien- und Gemeinschaftsbeziehungen erfolgreich evolviert, nicht (primär) auf dem Schlachtfeld oder Börsenparkett.”

    Können Sie mir den Satz nochmal erklären?

    Ich würde es ja so formulieren: “Der Mensch ist nicht nur auf dem Schlachtfeld oder Börsenparkett sondern auch in Familien- und Gemeinschaftsbeziehungen erfolgreich evolviert.”

    Und damit käme ich übrigens auf eine völlig andere Bewertung des struggles for love. Ich würde es als Teil eines fatalen in group-out group Verhaltens interpretieren und damit als etwas, das (in seiner tribunalistischen Form) überwunden werden sollte. Struggle for reason, das wäre vielleicht mal etwas.

    Das alles vielleicht nach Nietzsches Vorschlag in einem Zweikammersystem des Geistes, die Vernunft in die eine Kammer, die den Weltbezug reguliert, und in die andere die ganze Struggelei.

  11. Frauen ohne Kinder

    Lieber Michael,

    laut Statistik bekommen ja immer weniger Frauen in Deutschland Kinder. Besonders dramatisch ist die Kinderlosigkeit unter Akademikerinnen im Westen. Soviel ich weiß, gibt es im Westen aber mehr Religiöse als im Osten. Trotzdem gibt es hier weniger Kinder, das wiederspricht ja Deiner Statistik. Könnte der Grund vielleicht gar nicht die Religion sein, sondern die Betreuungsangebote für Kinder, die sind im Osten ja bekanntlich besser, oder?

    Quelle: http://www.tagesspiegel.de/…rafie;art122,2860246

  12. @Michael Blume

    Fein, dann wäre ja geklärt, dass Vorstellungen von einem prähistorischen Kindergarten fehl am Platze sind. Für die frühen Menschenkinder ging es ums nackte Überleben.

    »Nicht also vornehmlich Kriegszüge und machiavellistische Intrigen, sondern die gemeinsame Sorge um Kinder prägte die sozialen, intellektuellen und schließlich kulturellen Fähigkeiten unserer Art!«

    Nicht zu vergessen die Konkurrenz—oder sollte ich sagen: Kampf?—der Kinder um die Aufmerksamkeit der Pflegenden. Die Kooperation bei der Brutpflege darf nicht mit einem allgemeinen Kooperationsverhalten verwechselt werden. Gut möglich, dass dieses spezielle Brutpflegeverhalten die Ursache für das Heranzüchten egoistischer Verhaltensmuster war.

    »Weder die Evolution unserer Art insgesamt noch ihre sozialen und schließlich biokulturellen Fähigkeiten der Sprache, Musik oder Religion sind überwiegend aus Konkurrenz- und Kampfszenarien entstanden.«

    Laut Sarah Hrdy waren sehr wohl Wettbewerb und Konkurrenz die Haupttriebfeder der menschlichen Evolution. Und Kampfszenarien dürften auch eine wichtige Rolle gespielt haben. Wie überhaupt sehr viele Faktoren eine wichtige Rolle gespielt haben dürften.

    Ich finde es immer problematisch, bei einem multifaktoriellen Entwicklungsgeschehen entscheiden zu wollen, welcher Faktor denn nun der wichtigste ist oder überwiegt. Oft ist es doch so, dass, wenn man einen Faktor herausnimmt, der gesamte Prozess zum Erliegen kommt oder zumindest anders verläuft.


    PS: “…jüngere und dynamische Biolog(inn)en…”: Ich hoffe doch sehr, Sie spielen hier nur auf dieses lustige Fussballspiel des biologischen Nachwuchses an? 😉

    PPS: Im Übrigen dürfte dieses Fussballspiel ganz im Sinne Gunnar Heinsohns gewesen sein: Starke Reproduktion verhilft zum Sieg!

  13. @ Jürgen Bolt

    Danke für Ihren Kommentar. Warum aber jedoch gemeinschaftliche Kinderbetreuung, die über Verwandschaftsverhältnisse hinaus greift, reine Ingroup-Prozesse sein sollten, erschließt sich mir nicht. Ganz im Gegenteil: Hier wird das Miteinander erweitert, wie Sie heute in jedem Kindergarten und jeder Schule beobachten können.

    Ich würde es als Teil eines fatalen in group-out group Verhaltens interpretieren und damit als etwas, das (in seiner tribunalistischen Form) überwunden werden sollte. Struggle for reason, das wäre vielleicht mal etwas.

    Nur zu! Mich würde es sehr interessieren, wenn Sie mir eine Population benennen könnten, die statt auf Liebe nur auf Vernunft setzt und damit ausreichend Nachwuchs generiert. Die Brights oder die Giordano-Bruno-Stiftung sind z.B. bisher nicht durch Bildungseinrichtungen, Kinderreichtum o.ä. aufgefallen (und haben ja auch nur sehr wenige weibliche Mitglieder – im Gegensatz zu den Religionen). Ich fände es auch spannend zu hören, welche reinen Vernunftgründe denn überhaupt für Familie und Kinder sprechen sollten?

    Das alles vielleicht nach Nietzsches Vorschlag in einem Zweikammersystem des Geistes, die Vernunft in die eine Kammer, die den Weltbezug reguliert, und in die andere die ganze Struggelei.

    Brrrh, nein danke, nicht noch eine Diktatur, die uns Menschen vorschreibt, wie wir “vernünftig” zu leben haben. Lieber Freiheit, auch zur Emotion, zur Vielfalt, zum prallen Leben, zum (stets freiwilligen) Philosophieren, Musizieren, Beten etc. Wenn Sie irgendeine Nietzsche-Gruppe gefunden haben, die drei, ach es reichen schon zwei Generationen hinweg sich demografisch erfolgreich selbst organisiert hat, fände ich das spannend. Bis dahin aber überlasse ich als empirischer Forscher Science-Fiction-Fantasien lieber anderen. 🙂

  14. @ Mona: Religion – Kinderreichtum

    Liebe Mona,

    diese Diskussion hat es im Blog schon immer wieder gegeben. Kein Mensch (hat) behauptet, dass Religiosität der einzige Faktor fürs Kinderkriegen ist: Dazu kommen weitere Bildung, Einkommen, andere Optionen (z.B. Karriere) etc. So haben Schweden und Franzosen ja auch höhere Kinderzahlen als Polen und Italiener. Und auch in oben gezeigter Grafik kannst Du ja sehen, dass z.B. monatlich Betende in Deutschland weniger Kinder haben als Nichtbetende in der Gesamtgruppe der WVS-Länder.

    Entscheidend ist: In bislang “jeder” untersuchten Gesellschaft entscheiden sich religiös vergemeinschaftete Menschen für MEHR Kinder als ihre Nachbarn auch in gleichen Lebensumständen. SOWOHL in Ost- wie Westdeutschland, Frankreich und Schweden und weltweit haben Religiöse mehr Kinder und stabilere Familien als jene Säkulare in vergleichbaren Lebensumständen. Ausführlicher z.B. hier:
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/…n.pdf

    In Fachdeutsch: Religiöse Vergemeinschaftung vermag das generative Verhalten nicht als die einzige, aber als eine einflußreiche Variable zu beeinflussen.

    Herzliche Grüße!

  15. @ Balanus

    Danke für den lebendigen Kommentar!

    Fein, dann wäre ja geklärt, dass Vorstellungen von einem prähistorischen Kindergarten fehl am Platze sind. Für die frühen Menschenkinder ging es ums nackte Überleben.

    Nun, auch wir heutigen Menschen schicken unsere Kinder nicht in Kindergarten oder Schule, weil uns nichts Besseres einfällt. Sie müssen betreut, versorgt und nach Möglichkeit auf das Leben vorbereitet werden. Ohne eine Vielzahl menschlicher Bezugspersonen, die sich um sie kümmern, überleben sie nicht. Seltsam, dass man das immer wieder erklären muss…

    Nicht zu vergessen die Konkurrenz—oder sollte ich sagen: Kampf?—der Kinder um die Aufmerksamkeit der Pflegenden. Die Kooperation bei der Brutpflege darf nicht mit einem allgemeinen Kooperationsverhalten verwechselt werden.

    Nö, aber es ermöglicht, darauf Kooperation aufzubauen. Z.B. in Gemeinschaften, die sich gerne auch als Familien oder gar Organismen (z.B. “Leib Christi”) verstehen, wenn natürlich auch stets nur Annäherungen an diese Kooperationsideale möglich sind. (Wie heißt es doch so schön? “Blut sei dicker als Wasser.”)

    Gut möglich, dass dieses spezielle Brutpflegeverhalten die Ursache für das Heranzüchten egoistischer Verhaltensmuster war.

    Im Vergleich zu anderen Primaten sind wir Menschen zueinander extrem kooperativ. Und die Egoisten unter uns bauen ja auch heute seltener funktionierende Familien auf.

    Laut Sarah Hrdy waren sehr wohl Wettbewerb und Konkurrenz die Haupttriebfeder der menschlichen Evolution. Und Kampfszenarien dürften auch eine wichtige Rolle gespielt haben. Wie überhaupt sehr viele Faktoren eine wichtige Rolle gespielt haben dürften.

    Ja, nur wurden bislang sehr einseitig die vermeintlichen “Männerdomänen” erkundet und diskutiert. Die Frau galt v.a. als Beute, die sich der erfolgreiche Krieger, Makler oder Blender angeeignet hätte, und Religiöse galten als rückständig. Aber am Beispiel Deutschlands kann man ja wunderbar sehen, dass eine sich als fortschrittlich wähnende Population inmitten von nie erreichten Levens an Freiheit, Wohlstand, Sicherheit und Bildung implodieren kann. Kinderreiche “Inseln” in Ost und West findet man fast ausschließlich unter religiösen Vorzeichen, und überwiegend von weiblichem Engagement getragen. Das ist doch der wissenschaftlichen Erkundung wert, oder!?

    Ich finde es immer problematisch, bei einem multifaktoriellen Entwicklungsgeschehen entscheiden zu wollen, welcher Faktor denn nun der wichtigste ist oder überwiegt. Oft ist es doch so, dass, wenn man einen Faktor herausnimmt, der gesamte Prozess zum Erliegen kommt oder zumindest anders verläuft.

    Genau deswegen war und ist es falsch, den Beitrag von Frauen und Gemeinschaften gerade auch in der Kindererziehung so lange ausgeblendet zu haben. Wir gehören schließlich zu den Säuge(!)tieren und sollten vielleicht auch mal einfach anfangen, den Machismo zu überwinden und die bislang unterdrückten Aspekte unserer Menschheitsgeschichte in den Blick zu nehmen.

    PS: “…jüngere und dynamische Biolog(inn)en…”: Ich hoffe doch sehr, Sie spielen hier nur auf dieses lustige Fussballspiel des biologischen Nachwuchses an? 😉

    Nee, nett sind die auch! 🙂

    PPS: Im Übrigen dürfte dieses Fussballspiel ganz im Sinne Gunnar Heinsohns gewesen sein: Starke Reproduktion verhilft zum Sieg!

    Dann brauchen vitale Religionsgemeinschaften ja auch keine Angst vor der Evolution zu haben! 🙂

  16. Diesen Blogpost widme ich allen echten Männern da draußen.

    Das ist nett ! Vielen Dank, Herr Blume !

    Unsere Wissenschaftstraditionen und -diskussionen sind nach wie vor (auch in der Evolutions- und Religionsforschung) vor allem aus männlichem Blickwinkel geprägt worden.

    Oha ! Jetzt kommts …

    In den überwiegend von einigen sehr… von ihrer Überlegenheit überzeugten Herren verfaßten Kommentaren darauf geht es dann stets reflexhaft um und meist gegen Migranten, arbeitende Frauen, Politiker, Religionen.

    Das ist jetzt aber inkonsequent. Wenn schon, dann mit grossem Binnen – I, also MigrantInnen und PolitikerInnen. Es kann ja wohl nicht angehen, dass Frauen nur mitgemeint sind.

    Eine Reflektion über die eigentlichen Familienthemen wie treue Liebe, Partner- und Gemeinschaft, Zusammenhalt der Generationen, Lebenssinn etc. findet kaum statt oder wird niedergehöhnt. Dabei, so zeigt sich zunehmend, fanden und finden genau in diesem Bereich die evolutionären Prozesse statt, die unsere Spezies prägten!

    Darf ich übersetzen ? Während weibliche Eigenschaften wie treue Liebe, Partner – und Gemeinschaftssinn eigentlicher Motor der menschlichen Evolution sind, ist der Mann auf einer tieferen Evolutionsstufe stehengeblieben.

    Ähnliches behauptete auch der Genetiker
    Steve Jones in einem im Spiegel veröffentlichten Artikel mit dem Titel “Eine Krankheit namens Mann”.

    Als Fötus sind sie empfindlicher, in der Schule scheitern sie häufiger, sie neigen zu Gewalt und Kriminalität, und sie sterben früher: Sind Männer die Mangelwesen der Natur? Nun offenbaren auch noch die Biologen: Das Y-Chromosom ist ein Krüppel, der Mann dem Untergang geweiht.

    Herr Blume, ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie vulgärbiologistische Thesen wie die eines Steve Jones ( und vielen anderen ) vertreten.

    Aber ein Grundsatz der Kommunikationstheorie besagt, dass nicht entscheidend ist, was der Sender sendet, sondern was beim Empfänger ankommt.

    In diesem Sinne

    Freundliche Grüsse

    Peter Bosshard

  17. @ Peter Bosshardt

    Vielen Dank für den munteren Kommentar!

    Diesen Blogpost widme ich allen echten Männern da draußen.

    Das ist nett ! Vielen Dank, Herr Blume !

    Gerne geschehen! 🙂

    Das ist jetzt aber inkonsequent. Wenn schon, dann mit grossem Binnen – I, also MigrantInnen und PolitikerInnen. Es kann ja wohl nicht angehen, dass Frauen nur mitgemeint sind.

    Nein, die erwähnten Kommentatoren nehmen solche Differenzierungen für gewöhnlich nicht vor. Oder finden Politikerinnen eher noch schlimmer als Politiker.

    Darf ich übersetzen ? Während weibliche Eigenschaften wie treue Liebe, Partner – und Gemeinschaftssinn eigentlicher Motor der menschlichen Evolution sind, ist der Mann auf einer tieferen Evolutionsstufe stehengeblieben.

    Ganz im Gegenteil, lieber Herr Bosshardt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Spezies haben wir Menschenmänner ja auch die Veranlagungen, um z.B. zu lieben, Partner- und Gemeinschaften aufzubauen. Wir sind eben nicht nur Drohnen, sondern können weit mehr! Gerade dann, wenn wir vom hohen Ross auch mal runterkommen! 🙂

    Ähnliches behauptete auch der Genetiker Steve Jones in einem im Spiegel veröffentlichten Artikel mit dem Titel “Eine Krankheit namens Mann”.

    Von mir werden Sie so etwas nicht lesen. Wir Männer sind keine Krankheit, aber eben auch nicht die alleinigen Gestalter. Warum ist es denn so schwer, sich mal in der Mitte einzuordnen? Als starke, verläßliche Partner beispielsweise? Warum glauben einige von uns sofort, sie würden zur Krankheit erklärt, wenn einmal auch die Bedeutung und Perspektive der Frauen gewürdigt wird? Wenn Sie oben nochmal lesen: Bisher dominierten männliche Perspektiven, nun kommen auch (!) weibliche Bezüge ins Spiel. Davor muss man doch nicht gleich Angst haben…

    Als Fötus sind sie empfindlicher, in der Schule scheitern sie häufiger, sie neigen zu Gewalt und Kriminalität, und sie sterben früher: Sind Männer die Mangelwesen der Natur? Nun offenbaren auch noch die Biologen: Das Y-Chromosom ist ein Krüppel, der Mann dem Untergang geweiht.

    Übrigens schon überholt. Das Y-Chromosom scheint deswegen “verstümmelt”, weil es in schnelleren Raten evolviert:
    http://www.nytimes.com/…/14gene.html?ref=science

    Also, lassen Sie sich doch nicht so leicht erschrecken, auch nicht von Biologen! Haben Sie Selbstvertrauen! 🙂

    Eine Ameisenart, die wohl ihre Männer wieder abgeschafft hat, ist übrigens neulich tatsächlich gefunden worden. Aber dort spielen die Männlein ja auch keine Rolle beim “Familienleben”, waren also leicht zu verschmerzen. Wir Menschenmänner (oder genauer: einige von uns) machen es da doch besser, nicht wahr!?
    http://www.sciencedaily.com/…08/090825203339.htm

    Herr Blume, ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie vulgärbiologistische Thesen wie die eines Steve Jones ( und vielen anderen ) vertreten.

    Da hätten Sie sich auch getäuscht! 🙂

    Aber ein Grundsatz der Kommunikationstheorie besagt, dass nicht entscheidend ist, was der Sender sendet, sondern was beim Empfänger ankommt.

    Interessant. Bis vor Kurzem waren v.a. Religiöse durch die Evolutionsforschung verunsichert, das hat man gerne auch höhnisch verstärkt (z.B. Richard Dawkins). Und über die angebliche Minderwertigkeit und mangelnde Intelligenz der Frauen konnten sich Biologen über ein Jahrhundert auslassen. Zur unsäglichen Geschichte der “Intelligenzforschung” ist z.B. sehr zu empfehlen, das Buch von Frey & Frey “Fallstricke”, Rezi hier:
    http://www.chronologs.de/…b-cherfunde-in-deutsch

    Jetzt aber, wo neuere Befunde die Rolle von Frauen, Gemeinschaften und auch Religionen neu würdigen, sollen die Evolutionsforscher doch bitte ganz leise werden, um ja keinen zu verschrecken…

    In diesem Sinne

    Freundliche Grüsse

    Peter Bosshard

    Ganz herzlichen Dank! Und entschuldigen Sie bitte, falls ich Sie verunsichert haben sollte. Ich finde, Sie sind sehr reflektiert damit umgegangen!

    Auch Ihnen also freundliche Grüße!

  18. Schwache – starke Männer

    Es war in keiner Weise abgesprochen, aber Peter Schipek hat in seinem Brainlog gerade ein Interview mit dem Hirnforscher Gerhard Hüther eingestellt. Ich zitiere mal einfach dessen Antwort auf die Frage nach dem starken Mann:

    “Der moderne Mann wäre einer, der seine Stärke nutzt, um anderen zu helfen und nicht, wie das die alleingelassenen Jungs heute noch immer üben, um andere in den Sack zu hauen und fertig zu machen. Der moderne Mann müsste ein Liebender werden.”

    Das ganze Interview hier:
    http://www.brainlogs.de/…prof.-dr.-gerald-h-ther

  19. Von mir werden Sie so etwas nicht lesen. Wir Männer sind keine Krankheit, aber eben auch nicht die alleinigen Gestalter. Warum ist es denn so schwer, sich mal in der Mitte einzuordnen? Als starke, verläßliche Partner beispielsweise? Warum glauben einige von uns sofort, sie würden zur Krankheit erklärt, wenn einmal auch die Bedeutung und Perspektive der Frauen gewürdigt wird?

    Lieber Herr Blume

    Sich in der Mitte einzuordnen ist nicht ganz einfach, wenn man ausgegrenzt wird. Ich fühle mich keineswegs wohl in der Mitte einer Gesellschaft, welche die Verachtung gegenüber Männern in allerlei flachgeistigen Publikationen zelebriert, eine Misandrie, die mittlerweile für jeden, der kein Ignorant ist, als ein alltägliches Phänomen wahrgenommen wird.

    Warum glauben einige von uns sofort, sie würden zur Krankheit erklärt, wenn einmal auch die Bedeutung und Perspektive der Frauen gewürdigt wird?

    Was bei Ihnen, und so vielen anderen “modernen Männern” unweigerlich mit einer Abwertung des Männlichen an sich einhergehen muss.
    Kann es sein, dass Sie aus einem Paralleluniversum schreiben ? Anders kann ich mir ihre Bemerkung “auch einmal die Bedeutung und Perspektive der Frauen zu würdigen” nicht erklären. Die letzten 30 bis 40 Jahre sind spurlos an Ihnen vorübergegangen !

    Bisher dominierten männliche Perspektiven, nun kommen auch (!) weibliche Bezüge ins Spiel. Davor muss man doch nicht gleich Angst haben…

    Warum nicht ? Darf ein Mann keine Angst haben, ist das unmännlich ? Sind Frauen nie eine Gefahr, weil es nur Frauen sind ?
    Herr Blume, ihr Beschützerinstinkt in Ehren, aber patriarchale Verhaltensmuster in die Postmoderne transformieren, das ist nicht der Weg.

    Eine Ameisenart, die wohl ihre Männer wieder abgeschafft hat, ist übrigens neulich tatsächlich gefunden worden. Aber dort spielen die Männlein ja auch keine Rolle beim “Familienleben”, waren also leicht zu verschmerzen. Wir Menschenmänner (oder genauer: einige von uns) machen es da doch besser, nicht wahr!?

    Ihre Assoziationen sind aufschlussreich.

    Ich stelle aber mit Genugtuung fest, dass für Sie ein Genozid an Männern keine Option ist, da sie im Gegensatz zu Ameisen eine Funktion im Bereich “Familienleben” zu erfüllen vermögen.

    Also zusammenfassend : Männer sind kein Ungeziefer und ein Genozid ist keine Option. Gut, dass das mal gesagt wurde.

    Und über die angebliche Minderwertigkeit und mangelnde Intelligenz der Frauen konnten sich Biologen über ein Jahrhundert auslassen.

    Ja, das ist wahr. Und wie ist es heute ? Ist eine Spiegeltiteleschichte “eine Krankheit namens Frau” denkbar, welche nichts weniger als die genetische Minderwertigkeit der Frau behauptet ?

    Eben. Wieder was dazugelernt.

  20. @ Peter Bosshardt

    Danke für Ihren Kommentar, auf den ich wieder gerne eingehe!

    Sich in der Mitte einzuordnen ist nicht ganz einfach, wenn man ausgegrenzt wird.

    Da stimme ich Ihnen absolut zu. Deswegen wende ich mich ja gegen Ausgrenzung von Frauen, Männern, Minderheiten. Wenn die evolutionäre Perspektive etwas stärkt, dann ist es die Wertschätzung von Vielfalt! Und immerhin ist die Geschichte der sexuellen Fortfplanzung insgesamt eine Erfolgsgeschichte und hat gerade beim Menschen eine enorme Sozialkompetenz auf den Weg gebracht!

    Ich fühle mich keineswegs wohl in der Mitte einer Gesellschaft, welche die Verachtung gegenüber Männern in allerlei flachgeistigen Publikationen zelebriert, eine Misandrie, die mittlerweile für jeden, der kein Ignorant ist, als ein alltägliches Phänomen wahrgenommen wird.

    Können Sie verstehen, dass es Frauen, Muslimen etc. mitunter auch so geht? Gerade auch auf dem Feld der Wissenschaft?

    Was bei Ihnen, und so vielen anderen “modernen Männern” unweigerlich mit einer Abwertung des Männlichen an sich einhergehen muss.

    Nein, lieber Herr Bosshardt, das stimmt einfach nicht. Sie werden bei mir nirgendwo eine “Abwertung des Männlichen an sich” finden und sogar diesen Beitrag, in dem ich für die Beachtung auch (!) der weiblichen Perspektiven in der Evolutionsforschung eintrete, widmete ich Männern! Andere anzuerkennen schwächt doch die eigene Identität nicht!

    Kann es sein, dass Sie aus einem Paralleluniversum schreiben ? Anders kann ich mir ihre Bemerkung “auch einmal die Bedeutung und Perspektive der Frauen zu würdigen” nicht erklären. Die letzten 30 bis 40 Jahre sind spurlos an Ihnen vorübergegangen !

    Sagen wir: In der Evolutionsforschung sind sie kaum angekommen, da es gerade auch auf dem Feld der Naturwissenschaften gegenseitige Berührungsängste gab. Sie müssen sich nur mal anschauen, was sich Sarah Hrdy alles so anhören musste, bevor sich ihr Ansatz schließlich doch durchsetzte.

    Darf ein Mann keine Angst haben, ist das unmännlich ?

    Selbstverständlich dürfen Sie Angst haben. Ich versichere Ihnen ja nur, dass dafür kein Grund besteht. Schon gar nicht hier in diesem Blog! 🙂

    Sind Frauen nie eine Gefahr, weil es nur Frauen sind ?

    Wieder die Frage: Hat das hier irgendjemand behauptet? Gerade erst kürzlich diskutierten @Mona und ich auch über weiblichen Infantizid.

    Herr Blume, ihr Beschützerinstinkt in Ehren, aber patriarchale Verhaltensmuster in die Postmoderne transformieren, das ist nicht der Weg.

    1. Gönnen Sie doch Männern auch ein paar Instinkte. Und 2. Ich schrieb von Partnerschaft, das ist etwas mehr als Schutz…

    Ich stelle aber mit Genugtuung fest, dass für Sie ein Genozid an Männern keine Option ist, da sie im Gegensatz zu Ameisen eine Funktion im Bereich “Familienleben” zu erfüllen vermögen. Also zusammenfassend : Männer sind kein Ungeziefer und ein Genozid ist keine Option. Gut, dass das mal gesagt wurde.

    Ich halte Genozid nie für eine Option, egal an wem! Aber es freut mich, dass auch angekommen ist: Im evolvierten Sozialgefüge des Menschen spielt der Mann eine nicht reduzierbare Rolle, ja!

    Und wie ist es heute ? Ist eine Spiegeltiteleschichte “eine Krankheit namens Frau” denkbar, welche nichts weniger als die genetische Minderwertigkeit der Frau behauptet ?

    Oh ja, der Spiegel. Ich lese ihn gerne, aber auch mit kritischer Distanz. Ist Ihnen z.B. aufgefallen, wie dieser z.B. über Muslime berichtet? Hagen Rether schon:
    http://www.youtube.com/watch?v=QL65dcC_UNM

    Dennoch würde ich jedem Muslim widersprechen, der sich vom Spiegel in eine Opferrolle drängen ließe. Soviel Macht sollten wir keinem Medium einräumen.

    Wieder was dazugelernt.

    Genau dafür sind Blogdialoge da! Vielen Dank!

  21. Religion trifft Gender

    Als Mutter eines Sohnes muss ich Peter Bosshard z.T. recht geben. Während es zu meiner Zeit noch gang und gäbe war, dass Frauen und Mädchen benachteiligt wurden, scheint sich der Trend nun umzukehren. In unserer Stadt gibt es steuerlich geförderte Mädchentreffs, die Schulen veranstalten jährlich einen „Girls‘ Day“, der Mädchen an technische Berufe heranführen soll, einen Tag der Jungen für soziale Berufe sensibel machen soll gibt es nicht. Ein weiteres Problem scheint zu sein, es gibt für Jungen keine Identifikationsfiguren mehr, denn im Kindergarten und in der Grundschule gibt es nur weibliche Personen. Mädchen werden allgemein als sozial kompetenter angesehen, da sie nicht so häufig raufen, dafür sind sie oft intriganter, aber damit haben die Lehrer weniger Probleme.
    Siehe auch:
    http://www.spiegel.de/…sen/0,1518,612997,00.html

    Und hier:
    http://www.erziehungstrends.de/…teiligung/Jungen

    Grundsätzlich muss aber gesagt werden, dass die massive Benachteiligung von Frauen immer noch nachwirkt, so bekommen alte Frauen eine viel geringere Rente als Männer und sind damit am meisten von Altersarmut betroffen.

    Benachteiligung und Ausgrenzung sind also für beide Geschlechter abzulehnen.
    Hier noch ein Link:
    Sind Jungen benachteiligt? – Ein Gespräch mit Professor Wassilios Fthenakis:
    http://www.familienhandbuch.de/…lung/s_2636.html

  22. Bierernstes @P.Bossard, @ M.Blume

    Hallo, Herr Bossard, Sie haben vollkommen recht: Frauen sind gefährlich. Mir ist sogar ein Fall bekannt, in dem eine Frau einen Mann, den sie als Macho identifiziert hatte, mit eben diesem von Ihnen zitierten Spiegel-Artikel aus dem Jahr 2003, der Ihnen bemerkenswerterweise ganze 7 Jahre im Gedächtnis blieb, in einem e-mail-Schlagabtausch geärgert hat.

    Da Männer angeblich auszusterben drohen, schlug sie vor, die wenigen Prachtexemplare unter den heutigen Männern einzufrieren, um sie später in einer Art Zoo zwecks Amusement und Inspiration wieder aufzutauen.
    “Wie können Sie es wagen” war die Antwort ihres Gesprächspartners, und es entspann sich ein flottes Streitgespräch zwischen den beiden, in dessen Verlauf er sie bat, ihre Intelligenz doch etwas zu verbergen, schließlich hätte Eva im Paradies ihren Kopf ausschließlich besessen, um ihre Haaare zusammenzuhalten.
    Als sie ihm nun gestand, daß ihr ihr Verstand im Zustand paradiesischer Verzückung ja auch gänzlich abhanden käme, was ihr dann auch recht peinlich wäre, wurde er sprachlos.
    Und als letzte Gemeinheit entschuldigte sie sich bei ihm und erklärte, unter dem schlechten Einfluß eines Gemäldes in ihrem Schlafzimmer zu stehen: “Judith” von G.Klimt. Ja, sie brachte ihn sogar dazu, die Geschichte in der Bibel nachzulesen – die Geschichte eines stellvertretenden Mordes an einem Macho als Folge einer zweifellos unglücklichen Ehe.
    (Judiths Motive werden erst am Ende der Geschichte verständlich, als sie – gefeiert als Nationalheldin und als bildschöne Witwe mit vielen Heiratsanträgen bedacht – alle Bewerber ausschlägt, um lieber alleine zu bleiben.)

    Frauen sind wirklich gefährlich. Fast scheint es, als hätte Mutter Natur als Ausgleich für die Toleranz des Mannes – und an dieser läßt sich nicht zweifeln: Männer vergeben sich selbst jegliche Torheit und darum auch Anderen – die weibliche Rachsucht erfunden.
    Wirklich, lieber Herr Blume! Und diese Tatsache hatte auch religionsgeschichtliche Auswirkungen. Denn es gibt Glaubensinhalte in unserer Religion, die nur dem männlichen Geist entsprungen sein können, wie beispielsweise die Vergebung der Sünden.
    Ich behaupte, das wäre einer Frau nicht im Traum eingefallen.
    Aber dieser unser Charakterfehler ist uns Frauen bewußt. Wir vergeben uns nicht (man sieht das z.B. an den geringen Rückfallquoten von Straftäterinnen) und Anderen schon gar nicht.
    Ach, es ist zum Heulen!

  23. Da stimme ich Ihnen absolut zu. Deswegen wende ich mich ja gegen Ausgrenzung von Frauen, Männern, Minderheiten. Wenn die evolutionäre Perspektive etwas stärkt, dann ist es die Wertschätzung von Vielfalt!

    Eine sympathische Sichtweise.

    Allerdings :

    Vor einigen Wochen publizierte die Wochenzeitschrift “die Weltwoche” einen Artikel, der in die entgegengesetzte Richtung weist, dass nämlich die Organisation der Hominiden in Gruppen, die Unterscheidung zwischen Zugehörigen und Fremden, die “Xenophobie”, eine evolutionäre Notwendigkeit sei.

    Ich halte biologische Begründungen menschlichen Verhaltens für problematisch, weil der Darwinismus sehr viel mehr Argumente für Konkurrenz, Kampf und Ausgrenzungen liefert als für Kooperation und Altruismus. Nicht ganz von ungefähr spricht man von Sozialdarwinismus, wenn Fürsorge und Solidarität aufgekündigt wird.

    Nein, lieber Herr Bosshardt, das stimmt einfach nicht. Sie werden bei mir nirgendwo eine “Abwertung des Männlichen an sich” finden und sogar diesen Beitrag, in dem ich für die Beachtung auch (!) der weiblichen Perspektiven in der Evolutionsforschung eintrete, widmete ich Männern! Andere anzuerkennen schwächt doch die eigene Identität nicht!

    Die weibliche Perspektive ? Jetzt sind wir beim Kern des Problems angelangt.

    Sie implizieren, es gäbe eine ( typisch ) weibliche Sicht, und eine ( typisch ) männliche.
    Die weibliche Sicht assoziieren Sie mit Fürsorge, Altruismus, Sozialkompetenz. Die männliche Sicht mit Konkurrenz und Kampf, wobei Sie einen mehr oder weniger eleganten Bogen zu Islamophobie und Frauenverachtung schlagen. Damit werten Sie, und es ist aus dem Kontext offensichtlich, wo das Gute und wo das Schlechte verortet wird.

    Sie haben richtig erkannt : Biologie ist nicht mein Fachgebiet. Trotzdem eine Anmerkung zu ihrer These : “Die Evolution des Altruismus” war eine der Hauptkritiken, denen Darwin begegnen musste. Diese Kritik wurde vor mehr als 100 Jahren von männlichen Kritikern erhoben.

    Eine männliche und weibliche Sichtweise zu behaupten erscheint mir mehr stereotypen Charakterisierungen des “Männlichen” und “Weiblichen” geschuldet als den tatsächlichen Begebenheiten.

    Noch kurz ein paar Gedanken zu den von Ihnen angedeuteten Verknüpfungen zwischen “von ihrer Überlegenheit überzeugten Herren verfaßten Kommentaren” und allerlei obszönen politischen Überzeugungen.

    Ich hab die Kommentare nicht gelesen. Es sind einfach zu viele. Ich kann mir aber in etwa vorstellen, was da so an Argumenten rüberkam.

    Herr Blume : Sie provozieren. Die Reaktionen darauf sind ohne Zweifel teilweise völlig unangemessen und bestätigen Sie in ihrer Sichtweise, dass ihre Kritiker hauptsächlich Frauenverachter sowie xenophobe und islamophobe Trottel sind. Ich bin mir auch sicher, dass Sie eine Menge an Belegen zur Hand hätten.

    Haben Sie sich aber schon mal die simple Frage gestellt, warum es derlei Tendenzen bei feminismuskritischen Männern gibt, etwas, das ich keineswegs bestreite ?

    Die Misandrie ist eine etablierte Anschauung, welche mittlerweile durch Institutionalisierungen eine politische Wirkmächtigkeit entfaltet und in der von Ihnen so geschätzten Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Was ursprünglich von der politischen Linken ausging, ist seit einiger Zeit Konsens in nahezu allen Parteien, ausser, und das ist das Problem, in der äussersten politischen Rechten.
    Genau da will ma sie haben, da wollte man sie haben, da hat man sie hingeschoben und da sind sie nun, die Unbelehrbaren, am äussersten rechten Rand, ohne politischen Einfluss in den grossen Parteien. Die Ausgrenzung war erfolgreich, und jetzt darf man mit dem Finger auf sie zeigen.

    Ein ziemlich übles Spiel ist das, und nicht ganz ungefährlich. Vielleicht ist Angst berechtigt, was meinen Sie ?

  24. Böse Männer, Gute Frauen

    Interessant, wie hoch plötzlich die emotionalen Wogen auf einem Wissenschaftsblog schlagen, wenn über bestimmte Geschlechterzuordnungen gesprochen wird. Obwohl Bosshardt in einigem Recht hat, verstehe ich Blume etwas anders: er wollte vor allem auf “weibliche” Tendenzen in der Wissenschaftsgeschichte hinweisen, auf Perspektivwechsel, die die Kooperation, die Rolle der Frau in der frühen Kunst etc. mehr betonen. Das ist legitim und könnte sogar noch radikaler erfolgen. Die gesamte moderne Naturwissenschaft seit Descartes leidet unter der Dominanz eines bestimmten Blickes, der z.B. Intuition, Einfühlung, Empathie, ästhetische Fähigkeiten völlig ausklammert und dazu neigt, in der Natur eher tote Objekte oder Maschinen zu sehen. Man kann natürlich immer sagen, dass sei nicht typisch männlich, aber es sind schon Blicke, die auf Verfügungsgewalt und Herrschaft ausgerichtet sind. Francis Bacon, beeinflusst von den Hexenprozessen seiner Zeit, sah bin der Natur eine Hure, die auf dem Streckbrett des Labortisches zu Geständnissen gezwungen werden müsse. Hier sieht man sogar Einflüsse des patriarchalen Klerus auf die wissenschaftliche Denkweise. Wissenschaft ist nicht wertfrei, sondern steht in gesellschaftlichen Kontexten drin, die jahrhundertlang einfach mehr von Männern bestimmt wurden. Das ist eine Tatsache, die bis in die heutige Zeit reicht. Die amerikanische Wissenschaftsphilosophin Evelyn Fox Keller hat darüber Brilliantes geschrieben und gesagt: http://www.cbc.ca/…/science/index.html#episode14
    Sie berichtet auch, wie herablassend sie als junge Biochemie-Studentin im männerdominierten akademischen Milieu behandelt wurde (kann nicht richtig rational denken) und dehnt ihre Studien bis auf Sprachgewohnheiten in der Gen-Forschung aus. Die gesamte technische Metaphorik der Biochemie scheint oft wie eine Fortsetzung des Jungens-Baukastens zu sein, mit der ohne viel Sensibilität an der Natur herumgefuhrwerkt wird.

  25. @Sünner: Perspektivwechsel

    Herr Sünner, Sie haben es erfasst, es geht um Perspektivenwechsel.
    Einfach mal ganz locker die Argumente der Frau Hrdy – aus ihrer Perspektive – durchdiskutieren. Davon geht die Welt nicht unter. 🙂

    Dass eine neue Perspektive durchzudenken nicht schadet sollte man spätestens seit Einstein wissen. Sich gedanklich auf der Spitze eines Lichtstrahls fort zu bewegen – was für ein Unsinn.

  26. @ Mona @ Katarina

    Erst einmal allen Mitdiskutanten ein herzliches Danke für die lebendige Diskussion und die unterschiedlichen Sichtweisen!

    Als Vater einer Tochter und eines Sohnes kann ich nur sagen: Die Wirklichkeit ist nicht eindimensional. So haben Jungs in Kindergärten und Grundschulen so gut wie keine männlichen Bezugspersonen und Vorbilder, dagegen gibt es am hiesigen Mädchengymnasium plötzlich eine Physik-AG, weil es dort (auch von Gleichaltrigen) nicht mehr heißt, das sei nichts für sie. Ich persönlich kann also weder eine generelle Diskriminierung des einen oder anderen Geschlechtes (mehr) erkennen, sondern vor allem den Bedarf daran, sowohl die Perspektiven von Jungs wie Mädchen gelten zu lassen und dafür zu sorgen, dass sich Kinder optimal entwickeln können. Und damit sind wir doch auch schon wieder beim menschlichen Zug des kooperativen Kinderaufzuges, die meisten Spezies würden sich für die Kinder von Nichtverwandten gar nicht interessieren.

    Also von mir: Einen begeisterten Dank für die vielfältige Debatte!

  27. “Erst einmal allen Mitdiskutanten ein herzliches Danke für die lebendige Diskussion und die unterschiedlichen Sichtweisen!”

    oder

    “Danke für Ihren Kommentar, auf den ich wieder gerne eingehe!”

    Lieber Herr Blume. Ich weiß ja nicht, wie es anderen geht, aber wäre es möglich, diese Floskeln wegzulassen? Es hat so etwas süßliches, katholisch-italienisches. Ich weiß nicht. Ich mag saure Gurken lieber.

  28. @ Peter Bosshardt

    Gerne greife ich Ihre Anregungen wieder auf.

    Vor einigen Wochen publizierte die Wochenzeitschrift “die Weltwoche” einen Artikel, der in die entgegengesetzte Richtung weist, dass nämlich die Organisation der Hominiden in Gruppen, die Unterscheidung zwischen Zugehörigen und Fremden, die “Xenophobie”, eine evolutionäre Notwendigkeit sei.

    Ein evolutionärer Atavismus, um genau zu sein. Unser menschliches Zusammenleben (z.B. in Städten) wäre gar nicht denkbar, hätten wir ihn nicht schon teilweise abgebaut. Das war auch hier im Blog schon Thema:
    http://www.chronologs.de/…ution-von-homo-sapiens

    Ich halte biologische Begründungen menschlichen Verhaltens für problematisch, weil der Darwinismus sehr viel mehr Argumente für Konkurrenz, Kampf und Ausgrenzungen liefert als für Kooperation und Altruismus.

    Da gebe ich Ihnen Recht! Evolutionsforschung soll Verhalten erklären, nicht begründen. So weise ich immer und immer wieder darauf hin, dass der beobachtbare, evolutionäre Erfolg von Religiosität noch kein Wert- oder gar Wahrheitsurteil impliziert. Wir sollten die gewachsenen Naturen und Kulturen erkunden, und dann über das Vorgefundene reflektieren. Deswegen begrüße ich in der Wissenschaft z.B. die Unterscheidung von (empirischer) Religionswissenschaft einerseits und Theologien bzw. Philosophien andererseits, die miteinander im Dialog stehen, aber je Beschreibung bzw. Bewertung leisten (können).

    Nicht ganz von ungefähr spricht man von Sozialdarwinismus, wenn Fürsorge und Solidarität aufgekündigt wird.

    Exakt! Und dieser ging auch mit einer brutalen Herabsetzung der Frauen einher, die nur noch als Beute und Gebärmaschinen betrachtet wurden. Frühe Stimmen, die sich gerade mit biologischen Argumenten gegen diesen Missbrauch von Wissenschaft wandten wie z.B. Antoinette Brown Blackwell
    http://en.wikipedia.org/…oinette_Brown_Blackwell

    oder der von mir besonders geschätzte Alfred Russel Wallace
    http://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Russel_Wallace

    wurden dagegen viel zu lange ignoriert, ja verhöhnt. Und daran, das sollten wir doch zugeben können, waren nun wirklich nicht “die Frauen”, Feministinnen o.ä. Schuld…

    Sie implizieren, es gäbe eine ( typisch ) weibliche Sicht, und eine ( typisch ) männliche. Die weibliche Sicht assoziieren Sie mit Fürsorge, Altruismus, Sozialkompetenz. Die männliche Sicht mit Konkurrenz und Kampf, wobei Sie einen mehr oder weniger eleganten Bogen zu Islamophobie und Frauenverachtung schlagen.

    Rüdiger Sünner hat dazu schon geantwortet, ich sehe es genau wie er. Die lange Männerdominanz in den Wissenschaften hat neben hervorragenden Leistungen eben auch Unterlassungen und Fehler produziert – wie es genau so jede andere Tätigkeit betroffen hätte, in der nur ein Geschlecht vertreten wäre (z.B., siehe oben, derzeit Kindergärten und Grundschulerziehung!) Und niemand hatte männlichen Biologen verboten, die besondere Bedeutung des gemeinschaftlichen Kinderaufzuges für die Evolution des Menschen heraus zu arbeiten. Über wenige, erfreuliche Ansätze ist das jedoch nicht heraus gekommen, bis Sarah Hrdy hartnäckig geblieben ist und sich dafür Übles anhören musste.

    M.E. wird jede homogene Gruppe (ob kulturell, geschlechtlich, altersmäßig etc.) einerseits Stärken aufweisen und andererseits dazu tendieren, unbewusst bestimmte “blinde Flecken” auszublenden. Werden dann die Teams gemischt bzw. Stimmen aus anderen Perspektiven zugelassen, können diese blinden Flecken erkannt und aufgelöst werden. Genau für diesen Prozess spreche ich mich aus!

    Ein weiteres Beispiel war übrigens die Primatologie, die von westlichen Wissenschaftlern lange sehr abwertend betrieben wurde. Hier brachten japanische Forscher den Durchbruch, da es in Shintoismus und Buddhismus eine lange Tradition der Wertschätzung gegenüber Affen gegeben hatte. Siehe dazu hier, “Abendländischer Dualismus”:
    http://www.chronologs.de/…iokulturelle-evolution

    Damit werten Sie, und es ist aus dem Kontext offensichtlich, wo das Gute und wo das Schlechte verortet wird.

    Nein, ich weise auf die Bedeutung von Vielfalt hin. Westliche Männer haben in der Wissenschaft viel geleistet und manche Fehler gemacht. Jede andere, dominante Gruppe hätte eine ähnlich gemischte Bilanz. Heute sollten wir einfach fähig sein, von den Beiträgen auch z.B. von Frauen oder Japanern zu lernen, damit Wissenschaft insgesamt weiterkommt. Und Sarah Hrdy ist ein Beispiel dafür, ihr “Mothers and Others” ist ein Augenöffner.

    Sie haben richtig erkannt : Biologie ist nicht mein Fachgebiet. Trotzdem eine Anmerkung zu ihrer These : “Die Evolution des Altruismus” war eine der Hauptkritiken, denen Darwin begegnen musste. Diese Kritik wurde vor mehr als 100 Jahren von männlichen Kritikern erhoben.

    Absolut! Und ich möchte hier noch einmal auf die Werke der oben erwähnten Blackwell (weibl.) und Wallace (männl.) verweisen, die ja vorlagen und die richtigen Fragen formulierten, aber viel zu lange ignoriert wurden.

    Eine männliche und weibliche Sichtweise zu behaupten erscheint mir mehr stereotypen Charakterisierungen des “Männlichen” und “Weiblichen” geschuldet als den tatsächlichen Begebenheiten.

    Wie geschrieben: Jede dominante Gruppe wird Stärken und blinde Flecken entwickeln. Ohne die japanische Primatologie hätte es z.B. wohl keine Fossey and Godall gegeben. Großartig dazu Frans de Waal: “Der Affe und der Sushimeister”.

    Herr Blume : Sie provozieren. Die Reaktionen darauf sind ohne Zweifel teilweise völlig unangemessen und bestätigen Sie in ihrer Sichtweise, dass ihre Kritiker hauptsächlich Frauenverachter sowie xenophobe und islamophobe Trottel sind. Ich bin mir auch sicher, dass Sie eine Menge an Belegen zur Hand hätten.

    Ja, und das leider vor allem aus der Anfangszeit, als ich stets nur sachte, leise und lieb argumentiert hatte. Das wurde aber von intellektuellen Halbstarken nur als Schwäche ausgelegt. Leider herrscht im Internet ein rauherer Umgangston, als ich ihn z.B. aus der Wissenschaft kenne. Und wie Sie an den oben erwähnten Kommentaren zum Focus- oder Zeitartikel schon sehen können, wird polemisiert, sobald etwas Relevantes erscheint. Damit muss man also leider wohl umgehen, wegducken bringt da nichts.

    Haben Sie sich aber schon mal die simple Frage gestellt, warum es derlei Tendenzen bei feminismuskritischen Männern gibt, etwas, das ich keineswegs bestreite ?

    Ja, vor allem auch bei den fremden-, frauen- und religionsfeindlichen Polemiken. Allerdings verstehe ich mich als Wissenschaftsblogger, nicht als Psychologe oder Seelsorger. Mein Angebot richtet sich an (religions-)wissenschaftlich Interessierte und ich bemühe mich um einen freundlichen Umgangston. Aber es wäre wohl vermessen, würde ich mir einbilden, von hier aus Leute mit Ängsten vor Frauen, Kindern, Muslimen, Kirchen etc. therapieren zu können.

    Die Misandrie ist eine etablierte Anschauung, welche mittlerweile durch Institutionalisierungen eine politische Wirkmächtigkeit entfaltet und in der von Ihnen so geschätzten Mitte der Gesellschaft angekommen ist.

    Ganz ehrlich: Ich sehe es eher als Problem, dass es in Deutschland einen ständigen Wettlauf um den Opferstatus gibt. Ich fühle mich nicht diskriminiert, auch wenn es unbestritten z.B. Männer-, Christen- und Wissenschaftsfeindlichkeit gibt. Aber wir haben als Deutsche doch alle Möglichkeiten, mit Qualität zu überzeugen und könnten doch endlich unsere Leben gestalten, statt nur zu jammern.

    Was ursprünglich von der politischen Linken ausging, ist seit einiger Zeit Konsens in nahezu allen Parteien, ausser, und das ist das Problem, in der äussersten politischen Rechten.

    Andersherum: Sowohl die extreme Linke wie die extreme Rechte gerieren sich stets als arme Verfolgte der bösen Gesellschaft. Was m.E. aber fehlt, ist konstruktives Engagement, Lust am Gestalten. Wir haben heute Chancen, von denen unsere Großeltern nicht einmal träumen konnten!

    Genau da will ma sie haben, da wollte man sie haben, da hat man sie hingeschoben und da sind sie nun, die Unbelehrbaren, am äussersten rechten Rand, ohne politischen Einfluss in den grossen Parteien. Die Ausgrenzung war erfolgreich, und jetzt darf man mit dem Finger auf sie zeigen.

    Genau so würde ein extremer Linker argumentieren, ein Islamist, ein israelischer Nationalist, ein US-Amerikaner, der mit dem Wahlsieg Obamas nicht klarkommt etc. Nur das ominöse “man” wäre stets ein anderes, stets würden andere als Urheber der vermeintlichen Weltverschwörung benannt. Würde es Ihnen denn wirklich helfen, wenn ich hier auch noch mitjammern würde?

    Ein ziemlich übles Spiel ist das, und nicht ganz ungefährlich. Vielleicht ist Angst berechtigt, was meinen Sie ?

    Deutschland hat leider keinen Mangel an Ängsten, eher doch an Zuversicht, Optimismus, Kreativität. Ich achte Ihre Ängste. Aber bitte verlangen Sie nicht von mir, dass ich sie auch noch verstärke. Es wäre mir viel lieber, Sie würden hier für sich und andere Mut gewinnen!

    Herzliche Grüße!

  29. @ Rüdiger Sünner

    Was soll ich da schreiben – außer: Genau so sehe ich es auch! Danke!

    Vielleicht ist der folgende Text für Dich und andere thematisch Interessierte spannend, in dem der Mitentdecker der Evolutionstheorie, Alfred Russel Wallace, bereits vieles vordenkt, was damals leider fast völlig überhört wurde.
    Alfred Russel Wallace 1893, “Woman and Natural Selection”:
    http://people.wku.edu/…es.smith/wallace/S736.htm

    Beste Grüße!

  30. @ Dietmar Hilsebein

    Danke für… Oh, entschuldigung, dass soll ich ja nicht mehr schreiben…

    Tja, was soll ich machen? Herr Bosshardt meint, ich schriebe zu provokant, Sie finden mich zu “italienisch-katholisch” und wollen lieber mehr “saure Gurken”… Da erinnere ich mich doch glatt an die Weisheit meiner Oma: Es allen Menschen Recht getan, ist eine Kunst, die keiner kann.

    Ist es noch okay, wenn ich an dieser Stelle auch noch @KRichard für seinen ermutigenden Kommentar danke? 🙂

    Süß-saure Grüße!

  31. @ Blume

    Liebster Herr Blume. Ich mußte gerade brüllen vor lachen als ich las, daß Floskel Blümchen heißt. Ich hoffe Sie verstehen mich richtig: ich bin heute etwas nah am Humor gebaut!

  32. Hrdy: Bank der Armen

    Die Argumente von Frau Hrdy zu überdenken lohnt es sich, wenn man z.B. die in Indien gegründete Bank der Armen betrachtet.
    Dort bekommen bevorzugt Frauen Kleinkredite, mit denen sie sich eigenständige Existenzen für sich und ihre Familie aufbauen können.
    Dieses Modell ist mittlerweile so erfolgreich, dass es auch in andere Länder übertragen wurde.
    Es wurde auch versucht, an Männer Kredite zu vergeben, aber diese hatten nicht das gleiche Interesse, für die Familie zu arbeiten – wie die Frauen

  33. Mikrokredite @KRichard

    „Es wurde auch versucht, an Männer Kredite zu vergeben, aber diese hatten nicht das gleiche Interesse, für die Familie zu arbeiten – wie die Frauen.“

    Hm, woher wissen Sie das? Ich will ja den vielen Männern hier, die Frauen für die besseren Menschen halten nicht in den Rücken fallen, aber es sind auch nicht alle Männer schlecht 🙂 Letztendlich sind ja auch Männer das Produkt einer falschen Erziehung, die ihnen jahrhundertelang einredete, dass sie die weiblichen Einflüsse in die Wissenschaftsgeschichte, und nicht nur da, zu ignorieren hätten. Einen Perspektivwechsel gibt es bei uns ja erst seit kurzer Zeit, nicht zuletzt auch durch das Posting von Michael Blume hier. Allerdings soll man auch die weibliche Sicht der Dinge nicht kritiklos hinnehmen, ich finde manche Schlüsse die Sarah Hyrd zieht nicht gut. Besonders ihre Ansichten zum Infantizid, wie sie da manche Statistiken interpretiert, kann ich nicht nachvollziehen. Ich gebe Herrn Balanus recht, der am 29.01.2010 an Michael Blume schreibt: „ Ich finde es immer problematisch, bei einem multifaktoriellen Entwicklungsgeschehen entscheiden zu wollen, welcher Faktor denn nun der wichtigste ist oder überwiegt. Oft ist es doch so, dass, wenn man einen Faktor herausnimmt, der gesamte Prozess zum Erliegen kommt oder zumindest anders verläuft.“

    Jetzt aber zurück zu den Kleinkrediten. Es ist zwar unbestritten, dass Frauen, gerade in der dritten Welt, noch immer massiv unterdrückt werden. Die von Ihnen aufgeführten Kleinkredite (Mikrokredite) werden in der Tat überwiegend an Frauen vergeben. Die Grameen-Bank und ähnliche Institute in Indien, verliehen früher sogar ausschließlich an Frauen. Der Grund war, dass arme Frauen natürlich keinen Besitz und damit keine Sicherheit hatten, weswegen sie von einer „normalen“ Bank nie einen Kredit erhalten hätten. In Indien wurde jedoch vielerorts der Status der Gemeinnützigkeit dieser Banken bereits aufgegeben um sich die Kapitalmärkte als zusätzliche Finanzierungsquellen zu erschließen. Neuerdings heißt es: „Die Ärmsten der Armen kämen als Kreditnehmer nicht mehr in Frage, da es ihnen an Möglichkeiten mangele, Einkommen zu erzielen und Kredite zurückzuzahlen. Die Fokussierung auf die reine Kreditvergabe ohne Ergänzung einer Spar-Möglichkeit führe häufig auch zu einer Schuldenfalle, aus der gerade die weibliche Hauptzielgruppe nur schwer herauskomme. Überdies verändere die Vergabe von Mikrokrediten nicht die wirtschaftlichen Makrostrukturen und fördere auch keine transformativen Rahmenbedingungen.“

    Quelle:
    http://www.handelsblatt.com/…tebringer;2232544;0

    Letztes Zitat von hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Mikrokredit

    In anderen Teilen der Welt, wie Marokko, „… müssen sich die Kreditnehmerinnen bei Zakoura vertraglich zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern und zur Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Religionen verpflichten. “Es geht nicht nur um Kapital, sondern auch um Werte. In Marokko brauchen wir eine Kultur des Vertrauens und Respekts vor dem Anderen”, erklärt Noureddine Ayouch.“:

    http://de.qantara.de/….php/_c-468/_nr-759/i.html

  34. Aber es wäre wohl vermessen, würde ich mir einbilden, von hier aus Leute mit Ängsten vor Frauen, Kindern, Muslimen, Kirchen etc. therapieren zu können.

    Ach ja, immer diese diffusen Ängste !

    Ich kann Ihnen aber versichern, dass nicht jeder, die Ihre Meinungen nicht teilt, notwendigerweise therapiebedürftig sein muss.

    freundliche Grüsse
    PB

  35. @KRichard, @Mona

    Von der Diskussion hominider Evolution zu heutigen Mikrokreditbanken – was für ein kreativer und interessanter Querverweis!

    M.E. ist aber hier von Euch sehr gut erfasst, worum es mir ging und warum ich Sarah Hrdys Buch empfehle: Das Verständnis von Entwicklungen wird verbessert und vertieft, wenn wir auch (!) bislang oft verdrängte Perspektiven einbeziehen. Nicht als neue Eindimensionalität, sondern als Entdecken von Wechselwirkungen, die das menschliche Miteinander in seiner besonderen Gemeinschaftlichkeit prägten. Ich bin gespannt, ob das Erscheinen der deutschen Übersetzung auch in Deutschland eine entsprechende Debatte beflügelt und möchte gerne dazu beitragen.

  36. @Peter Bosshardt

    Sie schrieben: Ich kann Ihnen aber versichern, dass nicht jeder, die Ihre Meinungen nicht teilt, notwendigerweise therapiebedürftig sein muss.

    Ja, da sind wir einer Meinung! 🙂 Und ich möchte hinzufügen, dass ich sowohl Ergänzungen wie Ermutigungen und auch Kritik von Lesern hier sehr viel verdanke, spannende Kommentare einer der Gründe für mein Blogengament ist. Ich bin hier auch als Lernender. Wenn es mir umgekehrt gelänge, hin und wieder etwas zu vermitteln, Neugier und Offenheit zu befördern, so wäre ich schon mehr als zufrieden! (Und freue mich auch, wenn sich @Hilsebein prächtig unterhält! 🙂 ).

    Der einzige Wissenschaftler, der auf Natur des Glaubens bislang eine eigene Kategorie bekommen hat, ist Friedrich August von Hayek – ein Mann, dessen evolutionäre Studien, die ihn weit über die Ökonomie hinaus führte, ich außerordentlich bewundere.
    http://www.chronologs.de/…-glaubens/fa-von-hayek

    Frauen und Männer, Japaner und Europäer, Ökonomen, Primatologen und Soziologen, Heutige und Vergangene – es ist die Vielfalt der Perspektiven, die uns weiterbringt. Für Ihre klugen und fairen Kommentare danke ich daher sehr! (Sorry, @Hilsebein! 😉 )

  37. @Mona: Mikrokredite

    Bei Männern hat man schlechtere Erfahrungen gemacht als mit Frauen. Männer neigten eher dazu, sich Statussymbole anzuschaffen oder Geld mit Alkoholkonsum zu verbrauchen.

    Mir geht es hier nicht um Wertung Männer/Frauen sondern das sind praktische Erfahrungswerte über die es sich im Zusammenhang mit Hrdy´s Thesen mal nachzudenken lohnt.

    Auch Hrdy´s Thesen sollte man erst mal durchdenken bevor man in Schwarz/Weiß-Denken verfällt oder sich auf den Schlips getreten fühlt. Denkanstöße sind dazu da, dass sie das Denken anstoßen – und das ist gut so.

  38. A. R. Wallace

    Danke für den Link—Wallace äußerte ja wirklich interessante Gedanken in diesem Interview.

    Offenbar war er der Meinung, dass, wenn Frauen sich den Ehepartner aussuchen dürften (was zu seiner Zeit nicht selbstverständlich war), die Gesellschaft von den oder dem Untauglichen (“unfit”) gereinigt würde, und zwar als Folge der natürlichen bzw. sexuellen Selektion. Starke These… 😉

    Andererseits: Auch wenn diese Idee vielleicht etwas (sozial)darwinistisch anmutet, ist sie im Kern doch richtig. Unsoziale und unfähige Typen mit niedrigem Status würden von der Fortpflanzung häufiger ausgeschlossen als soziale Männer mit hohem Status. Am Ende hätten wir dann eine Gesellschaft mit überwiegend fähigen, statusbewussten Männern.

  39. Weißbüschelaffen

    Lieber Michael, Sie schrieben:

    »Das Verständnis von Entwicklungen wird verbessert und vertieft, wenn wir auch (!) bislang oft verdrängte Perspektiven einbeziehen.«

    Also, ich für meinen Teil wüsste nicht, welche Perspektiven ich verdrängt hätte. Dass man nichts alles mitkriegt, was so erforscht wird, ist ja klar. So wusste ich nicht, dass es bei Menschenaffen keine gemeinsame Brutpflege gibt, die einzige Affenart mit kooperativer Brutpflege sind offenbar jene südamerikanischen Weißbüschelaffen, die Sarah Hrdy im o.g. Zeit-Interview erwähnt hat. Ergänzend hierzu folgender Link zur Universität Zürich:

    http://www.uzh.ch/news/articles/2007/2797.html

  40. @Balanus: Verdrängt?

    Lieber Balanus,

    danke für die Kommentare! Zu “verdrängt” vorab: Ich denke, dass da nur vereinzelt bewußtes Ausblenden oder Leugnen von Daten vorlag, vielmehr entwickelten sich in den lange zu homogenen Teams einfach gruppendynamische Schwerpunkte und blinde Flecken. Hätten z.B. japanische Frauen ein Jahrhundert die Biologie dominiert, wären andere Stärken, aber eben auch andere blinde Flecken hervor getreten. Deswegen bin ich froh, dass das aufbricht – und möchte noch einmal betonen, dass ich da keinem persönliches Verdrängen attestiere.

    Zu Wallace: Interessanterweise wendete sich ja Wallace mit dem Hinweis auf “female choice” schon 1893 und dann noch einmal 1913 ausdrücklich gegen den sozialdarwinistischen Mainstream, der z.B. Eugenik und Kriege befürwortete. Nach Wallace war das unnötig, da freie und gebildete Frauen ohnehin v.a. geeignete Männer wählen und weniger Kinder gebären würden.

    Was aber mindestens ebenso spannend ist: Während Darwin sein Konzept der sexuellen Selektion auf äußere, ornamentale Merkmale bezieht (wie Haut, Stimme, Kraft), erweitert Wallace das Konzept auf die Auswahl characterlicher Eigenschaften – wie z.B. gute Vaterschaft. Und nimmt damit heutige Forschungen vorweg – wobei dies schon wieder mehr als genug Stoff für kommende, weitere Posts darstellt! Ich denke, da haben wir die kommenden Monate noch viel zu debattieren, und freue mich darauf! 🙂

  41. @Michael Blume: Nietzsche

    Mir scheint, Sie haben Nietzsches Zweikammersystem der Natur völlig mißverstanden. Ist auch okay, niemand muß sich damit beschäftigen.

    Was aber nicht okay ist, ist, daß Sie mich mit Mitgliedern der Giordano-Bruno-Stiftung (die ich überhaupt nicht kenne) und der Brights (denen ich – übrigens als reine Karteileiche – angehöre) in einen Topf schmeißen und Antipathien, die Sie denen gegenüber offenbar haben, auf mich übertragen.

    Ein bißchen mehr wechselseitigen Respekt würde ich mir wünschen, und darum ging es mir vor allem auch in meinem Kommentar. Daß Sie anerkennen, daß man begründet anderer Meinung sein kann als Sie, auch wenn Sie die Argumentation nicht teilen. Es sind nicht alle ewiggestrige Hardliner, die sich Teilen Ihrer Aussagen nicht anschließen mögen. Ich bin es jedenfalls nicht. Und ich würde mir wünschen, daß wir sich ergebende Chancen zum Dialog nicht aufgrund unnötiger Animositäten ungenutzt lassen.

  42. Missverständnis @KRichard

    „Mir geht es hier nicht um Wertung Männer/Frauen sondern das sind praktische Erfahrungswerte über die es sich im Zusammenhang mit Hrdy´s Thesen mal nachzudenken lohnt.“

    Schon klar, haben Sie denn meinen Smyli nicht gesehen? Außerdem habe ich hier bezüglich Sarah Hryd lediglich meine persönliche Meinung kundgetan. Ich schrieb: „… ich finde manche Schlüsse die Sarah Hyrd zieht nicht gut. Besonders ihre Ansichten zum Infantizid, wie sie da manche Statistiken interpretiert, kann ich nicht nachvollziehen…“. Es ging um das verlinkte Interview zu ihrem Buch „Mutter Natur – Die weibliche Sicht der Evolution“:

    http://www.zeit.de/2009/48/Klein-Muetter-48?page=5

    Meine Antwort: http://www.chronologs.de/…eutung/page/3#comments

    Unter: Der Faktor Armut @Balanus 27.01.2010 | 09:13

    Es geht in einer Diskussion doch nicht nur darum irgendwelche Sachen abzunicken. Sie können von Hrdys Thesen ja 100%ig überzeugt sein, dass stört mich nicht. Im Gegenzug erwarte ich aber auch keine Vorwürfe wie: „Auch Hrdy´s Thesen sollte man erst mal durchdenken bevor man in Schwarz/Weiß-Denken verfällt oder sich auf den Schlips getreten fühlt. Denkanstöße sind dazu da, dass sie das Denken anstoßen – und das ist gut so.“

    Schauen Sie sich doch die Leserkommentare unter dem oben verlinkten Interview an, da finden Sie auch konträre Meinungen.

  43. @ Jürgen Bolt

    Danke für Ihre Erwiderung!

    Sie schrieben: Was aber nicht okay ist, ist, daß Sie mich mit Mitgliedern der Giordano-Bruno-Stiftung (die ich überhaupt nicht kenne) und der Brights (denen ich – übrigens als reine Karteileiche – angehöre) in einen Topf schmeißen und Antipathien, die Sie denen gegenüber offenbar haben, auf mich übertragen.

    Hier darf ich Sie beruhigen: Ich hege gegenüber Mitglieder der GBS (zu denen u.a. mein Doktorvater gehört) sehr freundliche Empfindungen, zumal ich die Freude habe, mit einigen von ihnen immer wieder zusammen zu arbeiten. Erst neulich habe ich sie hier im Blog gegen allzu pauschale Kritik in Schutz genommen:
    http://www.chronologs.de/…iordano-bruno-stiftung

    Gleichwohl stimmt Ihre Vermutung, dass ich angenommen hatte, Sie würden hier noch einmal postulieren, dass man die Lebensorientierung von Religion(en) doch “einfach” durch Vernunft ersetzen solle. Und diese Diskussion ist aus Sicht der Evolutionsforschung einfach unergiebig, da sich bislang empirisch keine “rationalen” Gemeinschaften ausfindig machen ließen, denen dies z.B. demografisch dauerhaft gelungen wäre. Daher mein Hinweis: Wenn das Zweikammersystem von Nietzsche (oder sonst eine philosophische Übung) für die empirische Evolutionsforschung interessant werden soll, wäre es schön, wenn es irgendwo evolutionär erfolgreich gelebt würde. Solange das nicht der Fall ist, bleibt die Frage, ob diese oder andere Definitionen von “Vernunft” an die Stelle der Religion treten könnten, reine Spekulation.

    Ein bißchen mehr wechselseitigen Respekt würde ich mir wünschen, und darum ging es mir vor allem auch in meinem Kommentar.

    Den möchte ich Ihnen auch keinesfalls versagen – wobei ich ja weiter oben auch schon dafür gerüffelt wurde, allzu freundlich zu sein… *Seufz*

    Daß Sie anerkennen, daß man begründet anderer Meinung sein kann als Sie, auch wenn Sie die Argumentation nicht teilen.

    Das erkenne ich nicht nur an, sondern begrüße es sogar! Allerdings diskutieren wir im Rahmen von empirischer Evolutionsforschung eben nicht in erster Linie “Meinungen” (z.B. ob Gott die Welt in 7 Tagen a 24 Stunden geschaffen hat, ob dereinst Maschinen den Menschen ablösen werden, ob Luther oder Nietzsche in die Zukunft sehen konnten etc.), sondern empirisch zugängliche Fragestellungen. Deswegen mein Hinweis: Wenn Sie mir eine beobachtbare Gemeinschaft benennen könnten, die sich auf Nietzsches Zweikammernsystem bezieht, so wäre ich hoch interessiert!

    Es sind nicht alle ewiggestrige Hardliner, die sich Teilen Ihrer Aussagen nicht anschließen mögen. Ich bin es jedenfalls nicht.

    Das nehme ich erfreut auf – habe jedoch hier im Blog keine Stelle finden können, an der Sie irgendjemand des ewiggestrigen Hardlinertums geziehen hätte…

    Und ich würde mir wünschen, daß wir sich ergebende Chancen zum Dialog nicht aufgrund unnötiger Animositäten ungenutzt lassen.

    Ja, da sind wir einer Meinung! Zumal sich m.E. über empirisch zugängliche Befunde auch viel sachlicher und fruchtbarer diskutieren läßt als über utopische Gesellschaftsentwürfe, philosophische oder theologische Absolutheitsansprüche. Der Evolutionsforschung hat es m.E. nie gut getan, wenn sie sich hat auf diese Felder ziehen lassen, deswegen grenze ich das gerne deutlich ab. Verletzen wollte ich Sie freilich damit nicht.

  44. @Michael Blume

    Ich will ja gar nicht in Abrede stellen, dass die Sozialisation der Forscher und Forscherinnen bei wissenschaftlichen Fragestellungen auch eine gewisse Rolle spielt. Was mich betrifft, kann ich auch nicht ausschließen, dass ich Arbeiten von männlichen Autoren hin und wieder—unbewusst—höher bewerte als solche von Frauen (und/oder vice versa). Dennoch würde ich meinen, dass es mir bislang egal war, ob eine wissenschaftliche Publikation aus der Feder eines Mannes oder einer Frau stammt (und ich hoffe, es bleibt auch so).

    Mag sein, dass ich das Sex- bzw. Gender-Problem nicht erkannt oder übersehen habe, aber ich wäre wohl nicht auf die Idee gekommen, Hrdys Thesen unter “weibliche Perspektive” einzuordnen (ich habe von Frau Hrdy zum ersten Mal durch das Interview in der ‘Zeit’ erfahren, und nach meiner Erinnerung habe ich bei der Lektüre keine Gedanken darüber gemacht, dass diese Thesen von einer Frau stammen und darum etwas Besonderes sind—obgleich Hrdy (auch) als Feministin vorgestellt wurde).

    Zu A. R. Wallace:
    Während Darwin sein Konzept der sexuellen Selektion auf äußere, ornamentale Merkmale bezieht (wie Haut, Stimme, Kraft), erweitert Wallace das Konzept auf die Auswahl characterlicher Eigenschaften – wie z.B. gute Vaterschaft. Und nimmt damit heutige Forschungen vorweg…

    Dann war Wallace wohl der erste Evolutionspsychologe 😉

    In seinem Buch “Darwinism” (1889) meint Wallace, dass der menschliche Geist bzw. das Bewusstsein nicht allein durch natürliche Selektion zu erklären sei, sondern nur durch das Wirken einer höheren Macht. Diese Idee ist ja nun, nicht zuletzt dank Hrdy, vom Tisch.

    Aber Wallace war ja zudem der Auffassung, die Evolution hätte die Entwicklung des Menschen zum Ziel gehabt. Und das ist noch nicht vom Tisch, oder irre ich mich da?

  45. @Balanus

    Also, nach unseren guten und lebhaften Diskussionen hätte ich auch im Traum nicht daran gedacht, dass Sie weibliche Publikationen schlechter bewerten würden als männliche. Deswegen werbe ich ja auch hier für Sarah Hrdys Werk – m.E. sollte man es gelesen haben, wenn man sich für die Evolution des Menschen interessiert.

    Mag sein, dass ich das Sex- bzw. Gender-Problem nicht erkannt oder übersehen habe, aber ich wäre wohl nicht auf die Idee gekommen, Hrdys Thesen unter “weibliche Perspektive” einzuordnen

    Oh doch, wir Männer haben die Bedeutung des (gemeinschaftlichen) Kinderaufzuges unterschätzt, weil (und solange) wir damit weniger befasst waren und es also unbewusst oft als “funktioniert doch von alleine” abgetan hatten. Wir haben dagegen riesige Theoriegebäude um Gruppenkriege und Werkzeuggebrauch entwickelt, aber mit wenigen Ausnahmen wie F.A. von Hayek z.B. den Reproduktionserfolg bestimmter Religionsgemeinschaften (z.B. der Amish) als irrelevant abgetan.

    Übrigens hat nicht nur Wallace darauf hingewiesen, dass die Rolle der Frau in der männlich dominierten Evolutionsforschung unterschätzt wurde, sondern schon lange vor ihm – und als direkte Antwort auf Charles Darwin -, die beeindruckende Antoinette Brown Blackwell (1825 – 1921).
    http://en.wikipedia.org/…oinette_Brown_Blackwell

    Ihre Antwort auf Darwin und Spencer erschien 1875 unter dem Titel “The Sexes Throughout Nature” und ist hier kostenlos einsehbar:
    http://www.archive.org/details/cu31924031174372

    Und, lassen Sie mich raten, es kam in den Vorlesungen und Literaturverzeichnissen der etablierten Biologie bislang kaum vor, stimmts? 🙂

  46. Weibliche Perspektiven

    @Michael Blume

    Ich finde, wenn man eine wissenschaftliche Arbeit unter “weibliche” resp. “männliche Perspektive” einordnen kann, dann deutet das auf eine mangelnde Aussagekraft hin. Idealerweise sollte eine Forschungsarbeit umfassend und objektiv sein und etwas über die beobachtbare Wirklichkeit aussagen, unabghängig vom Geschlecht des Forschers und dessen Forschungsinteresse.

    Es mag ja sein, dass Hrdys Buch vor allem eine weibliche Sicht auf die Evolution des Menschen präsentiert. Aber für ihre Kernthese trifft dies wohl eher nicht zu.

    Und die lautet meines Wissens: Vor allem Frauen haben per gemeinsamer Brutpflege und den dadurch bedingten starken Selektionsdruck die Evolution von Intersubjektivität und der Fähigkeit zum “Gedankenlesen” (Theory of Mind) befördert, also letztlich das überaus rasante Wachstum des menschlichen Hirnvolumens vorangetrieben.

    Wir Männer, schreiben Sie, hätten die “Bedeutung des (gemeinschaftlichen) Kinderaufzuges unterschätzt”. Wenn ich Hrdy recht verstehe, dann haben wir Männer die wahre und eigentliche Bedeutung dieser Brutpflege sogar völlig falsch eingeschätzt—und nicht erkannt, dass es durch diese kooperative Brutpflege zu einer sozialen Selektion tauglicher Kinder kam: ‘survival of the socially fittest’, könnte man das nennen.

    Das ist auch insofern interessant, als menschliches Handeln und Tun ja in der Regel darauf abzielt, bestimmte natürliche Selektionsfaktoren zu minimieren oder gar zu eliminieren. Zu Beginn der Menschheitsgeschichte war es also—laut Hrdy—genau anders herum, das menschliche Brutverhalten selbst wirkte als starker Selektionsfaktor.

    Da stellt sich doch die Frage, wann es mit dieser innerartlichen Selektion der sozial tauglichen Kinder vorbei war. Schreibt Hrdy etwas zu dieser Frage?

    Man könnte auch fragen, ab wann das Prinzip des “Überliebens” wichtiger wurde als das des “Überlebens”. Obgleich: Hat das Prinzip des “Überliebens” überhaupt den gleichen evolutiven Anpassungswert wie die Selektion?


    Zu Antoinette Brown Blackwell:

    »Und, lassen Sie mich raten, es kam in den Vorlesungen und Literaturverzeichnissen der etablierten Biologie bislang kaum vor, stimmts? 🙂 «

    Was hat Frau Blackwell denn Substanzielles zur Biologie beigetragen? Die Literaturverzeichnisse der Biologen quellen ohnehin schon über, da ist strenges Selektieren angesagt 😉

    Im Übrigen hat Sarah B. Hrdy in ihrem Aufsatz “Raising Darwin’s Consciousness – Female Sexuality and the Prehominid Origins of Patriarchy” es auch nicht für nötig befunden, Antoinette B. Blackwell zu zitieren. Dabei erstreckt sich ihre Literaturliste über 12 Seiten…

  47. @ Balanus

    Nun, im Grundsatz sind wir uns natürlich einig: Wissenschaftliche Qualität ist wissenschaftliche Qualität und hat erst einmal weder etwas mit Kultur noch Geschlecht zu tun.

    Allerdings sollten Sie so ehrlich sein, zuzugeben, dass eben keinesfalls gleichverteilt ist, was überhaupt unter welcher Fragestellung von wem erforscht, wahrgenommen und bewertet wird. Und da ist es schon fast ein wenig sarkastisch zu fragen, was Blackwell denn für die Biologie geleistet habe – sie wurde schließlich völlig ignoriert, obwohl sie einige sehr gute Beobachtungen und Thesen gerade zum hier angesprochenen Thema formuliert hatte. (Darüber werde ich zu gegebener Zeit aber mal gesondert publizieren.)

    Zu Hrdy: Aus ihrer Sicht ist der evolutionäre Prozess noch gar nicht abgeschlossen. Ob ihr der differentielle Reproduktionserfolg im Bezug auf religiöse Vergemeinschaftung schon bekannt ist, weiß ich nicht. Aber ich bin der Auffassung, dass ihr Buch Ihnen und anderen Biologen manches Aha-Erlebnis bescheren wird: Wenn Ihr ihr die Chance dazu gebt. 😉

    Beste Grüße!

  48. @Michael Blume

    Allerdings sollten Sie so ehrlich sein, zuzugeben,…
    Habe ich doch schon, am 01.02.2010 | 22:50

    Vielleicht hat Blackwell, was die Biologie angeht, zu früh gelebt. Dafür hat sie aber ansonsten viel bewegen können.

    Schöne Grüße zurück!

  49. Wissenschaft

    @Michael: “Wissenschaftliche Qualität ist wissenschaftliche Qualität und hat erst einmal weder etwas mit Kultur noch Geschlecht zu tun.”
    Das stimmt und stimmt auch nicht. Wissenschaftler sind keine Automaten, die isoliert im Vakuum schweben, sondern auch Menschen. Die wissenschaftliche Methode (sagen wir mal Logik und empirische Beobachtung) versucht zwar einen intersubjektiven Rahmen abzustecken, aber Blickrichtungen, Vorlieben, Perspektiven sind immer auch von Kultur, Geschlecht, Glaubensdingen etc. mitbestimmt. Auch der Entdeckungszusammenhang einer Theorie, in den sogar metaphysische und religiöse Vorannahmen fallen können. Kopernikus und Kepler traten bspw. für den Heliozentrismus nicht aus empirischen, sondern aus spirituellen Gründen ein: Die Sonne als majestätisches Inbild göttlichen Lichtes musste einfach ruhig in der Mitte stehen und die Planeten als “Ort der Sünde” drumherumlaufen. Etwas anderes wäre für sie nicht denkbar gewesen. Erst Jahrzehnte später konnte man den Heliozentrismus wirklich empirisch nachweisen. Auch Ethnologen sind bei ihrer Feldforschung stark von persönlichen Motiven geprägt, die in Theoriebildung und Selektion der “Fakten” einfliessen. Auch Archäologen, die gegenüber spirituellen Aspekten ihrer Themen oft seltsam blind sind. Wäre schön, wenn hier ab und zu auch mal über Wissenschaft selbst reflektiert würde.

  50. vive la différence

    Man kann Ihnen nur zustimmen, Herr Sünner: Ohne perönliche Einflüsse, auch des Geschlechts, ist Wissenschaft nicht zu haben. Das hat aber auch Vorteile, z.B. die Vorzüge einer weiblichen wissenschaftlichen Perspektive.

    Louann Brizendine beschrieb in “The Female Brain”, wie sehr das Denken und Wahrnehmen von Frauen auf Kooperation ausgerichtet ist.

    http://www.weltwoche.ch/…d-so-denken-frauen.html

    Diese vermehrte Kooperationsbereitschaft mit Anderen findet eine (vielleicht zufällige) Entsprechung in der Tatsache, daß bei Frauen beide Hemisphären stärker kooperieren als bei Männern. Nur während der Menstruation funktioniert ihr Gehirn so asymmetrisch wie beim Mann.

    http://www.gehirn-und-geist.de/…22&_z=798884

    Das heißt, übergreifende, verbindende, Beziehungen herstellende Gedankengänge, die über das Naheliegende hinausgreifen, sind eher möglich oder auch “vernetztes Denken” wie Fritjof Capra es nennt, oder “systemisches Denken”.

    http://www2.uni-erfurt.de/…stemischesDenken.html

    Die Frage ist, wie diese Fähigkeit, die ich Männern damit natürlich nicht abspreche, bestmöglich genutzt werden kann. Mir fallen da Frauen wie Elisabeth Hevelius, Maria Kirch, Emilie du Châtelet und Elisabeth von Böhmen ein, die Männern zuarbeiteten, ohne jemals in der Wissenschaftswelt selbst in Erscheinung zu treten. (Liebe und ansteckende Begeisterung dürften das Hauptmotiv dieser Frauen gewesen sein.) Das war meiner Meinung nach eine gute Lösung; zumindest bewahrte sie vor Konkurrenzängsten zwischen den Geschlechtern.
    Heute ist es zwar möglich, als Frau selbst die Meriten für eigene Leistungen zu ernten, dafür müssen sich Wissenschaftlerinnen aber meist männliche Denkweisen und Handlungsstrategien aneignen. Ihr größtes Potential, ihr weiblicher Intellekt, droht, dabei auf der Strecke zu bleiben und geht der Wissenschaft verloren.

    Stellen wir doch bei der Betrachtung evolutionären Zusammenwirkens von Mann und Frau dem cooperative breeding das Ideal des cooperative researchings zur Seite – also die optimale kulturelle Nutzung unterschiedlicher kognitiver Prozesse bei Mann und Frau.

  51. ärgerlich

    ein technischer Fehler: die Quellenangabe wird verkürzt gedruckt…bitte unter Google “Systemisches Denken, Capra” suchen

  52. Yin und Yang

    Ich stimme Herrn Sünner ebenfalls zu. Jedoch würde ich, anders als Katharina, die Lösung nicht darin sehen den Männern weiter nur zuzuarbeiten. Viele Frauen haben heutzutage eine sehr gute Ausbildung, in vielen Fällen sogar eine bessere als Männer. Ich glaube kaum, dass diese sich weiter damit zufrieden geben wollen nur Handlangerdienste zu leisten. Man kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen und das Spiel (des Lebens) kann nicht (wie ein Computerspiel) einfach wieder von neuem gespielt werden. In dieser Hinsicht hat sich zu viel verändert. Auch gewinnt die weibliche Sicht der Dinge, trotz allem, immer mehr an Boden.

    Als Anhängerin einer ganzheitlichen Betrachtungsweise sehe ich die Geschlechter nicht antagonistisch, sondern komplementär.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Yin_und_Yang

  53. Noch einmal Blackwell und Hrdy / @M. Blume

    Meine Frage, was Antoinette Blackwell denn Wesentliches zur Biologie beigetragen habe, war durchaus nicht (nur) sarkastisch gemeint. In Blackwells Antwort auf Darwin und Spencer (danke übrigens für den Link) hatte ich so auf die Schnelle nichts Aufregendes entdecken können. Also nichts, was etwa Sarah Hrdy oder sonst wer hätte zitieren müssen in einer Arbeit über die Evolution der Geschlechter oder über die sexuelle Selektion (nun ja, 1875 liegt ja auch schon ganz schön lange zurück).

    Zu Hrdy: Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie tatsächlich davon ausgeht, dass der von ihr postulierte Selektionsmechanismus aktuell noch bedeutsam ist. Vor zwei Millionen Jahren herrschten doch völlig andere Bedingungen als heute. Damals haben von geschätzten 8-12 Kindern 2-3 die kooperative Brutpflege überlebt. Heute überleben praktisch alle. Deshalb haben doch in vielen Gesellschaften die Frauen die Zahl der Geburten drastisch reduziert. Weil, wie Hrdy richtig festgestellt hat, auch den Frauen der Status evolutionsbedingt wichtiger ist als die Fortpflanzung.


    Noch eine Anmerkung zum “differentiellen Reproduktionserfolg” aufgrund eines bestimmten Merkmals:
    Kann man den wirklich von einem solchen sprechen, wenn die Zahl der Individuen mit dem betreffenden Merkmal in einer Population nicht zunimmt?

    Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Es gibt Fruchtfliegen, die können Alkohol besser verstoffwechseln als andere. Wenn man nun in einem gemischten Fliegen-Gefäß dem Nährsubstrat etwas Alkohol zusetzt, dann steigt nach einigen Generationen die Zahl der Alkohol vertragenden Individuen an, sie haben sich also erfolgreicher reproduziert.

    Gesetzt nun den Fall, die Alkohol-Fliegen produzieren zwar mehr Nachkommen als die Normalos, aber am Ende—nach etlichen Generationen—schwirren trotzdem nicht mehr Alkohol-Fliegen im Glas herum als zu Anfang (wegen mangelnder Erblichkeit des Merkmals). Dann kann man doch schwerlich von einem Reproduktionserfolg sprechen, oder sehe ich das falsch?

  54. @Rüdiger

    Lieber Rüdiger,

    ein klasse Kommentar! Ja, so würde ich es auch sehen. Vor allem diese Sätze würde ich sofort unter- bzw. abschreiben 🙂 :

    Wissenschaftler sind keine Automaten, die isoliert im Vakuum schweben, sondern auch Menschen. Die wissenschaftliche Methode (sagen wir mal Logik und empirische Beobachtung) versucht zwar einen intersubjektiven Rahmen abzustecken, aber Blickrichtungen, Vorlieben, Perspektiven sind immer auch von Kultur, Geschlecht, Glaubensdingen etc. mitbestimmt. Auch der Entdeckungszusammenhang einer Theorie, in den sogar metaphysische und religiöse Vorannahmen fallen können.

    Wir haben diese Diskussion übrigens auch durchaus innerhalb der Religionswissenschaft, und zwar sowohl im Bezug auf verschiedene religiöse Traditionen wie auch auf Geschlechter. Da gibt es einerseits die Auffassung, wonach die gewachsene Religionswissenschaft keine entsprechenden Impulse mehr braucht, sondern vielmehr selbst zur wissenschaftlichen Religionskritik neigen sollte. Auf der anderen Seite stehen Wissenschaftler, die anmahnen, dass auch unsere je eigenen Perspektiven durch die beständige Ergänzung anderer angewiesen sind und deshalb stets offen bleiben sollte für neue Ansätze, Wirklichkeitsauffassungen etc. Wie vielleicht schon deutlich geworden ist, neige ich der zweiten Ansicht zu, wobei sich m.E. wissenschaftliche Erklärungen am Ende auch immer an empirischen Beobachtungen zu bewähren haben.

  55. @Katharina

    Liebe Katharina,

    @Hilsebein schimpft ja mit mir, wenn ich mich zu sehr über Kommentare meiner Leser freue – aber was soll ich machen!? Ich fand den Ihren sehr belebend!

    Und den vorgeschlagenen Begriff des “Cooperative Research” übernehme ich gerne in den Wortschatz! Wobei ich ihn auf die Zusammenarbeit der Geschlechter, aber auch der Generationen und Kulturen erweitern würde. Oder, wie es der kognitive Fehlerforscher Ulrich Frey in seinem Blog so schön formuliert hat: Gruppen, die mit ihrer Heterogenität verschiedene Meinungen und Ansichten produzieren, können damit (auch) viele Fehler vermeiden.
    http://www.wissenslogs.de/…er-vermeiden-aber-wie

  56. Ergänzung

    Die Frauen, die ich nannte, wären zurecht gekränkt, würde man ihr Zuarbeiten als “Handlangerdienste” bezeichnen. Von ihnen stammen zündende wissenschaftliche Ideen. Auch war das Zusammenspiel weiblichen und männlichen Denkens in diesen Partnerschaften im besten Sinne komplementär, keine Frage.

    Ich glaube aber auch, daß Frauen heute andere Ansprüche haben als früher und meinen, ihr Glück eher in der namentlichen öffentlichen Anerkennung eigener Leistungen zu finden als in der Liebe zum Partner, die nun mal die beste Inspirationsquelle ist, und zwar für beide Seiten und damit die Zusammenarbeit.

    Es erscheint mir aber zu schwierig, im Wissenschaftsbetrieb typisch weibliches Denken zu bewahren und zu nutzen. Und daß Männer dort, wo Frauen (oft neben Familie und Kindern) beruflich “ihren Mann stehen”, zum “schwachen Geschlecht” werden, ist doch klar. Wie sollen sie sich denn vorkommen?

    Die Idee des “Überliebens” ist wunderbar und nichts Anderes,als ich hier propagiere, aber es funktioniert nicht, wenn ein Teil chronisch als der Schwächere dasteht. Als die Schwächeren gelten heute: der Mann neben seiner (wie oben beschrieben) omnipotenten, zwitterhaften Frau sowie die nicht berufstätige Frau neben ihrem erfolgreichen Mann. Tja, schade, daß Mona recht hat und man die Geschichte nicht zurückdrehen kann-

    Dabei war die alte Rollenverteilung für meine Begriffe recht ausgewogen. Man kann den männlichen Geist nämlich durchaus als spezialisierter als den weiblichen verstehen – er vermag zielstrebiger Gedankengebäude aufzubauen ohne sich durch Gegenargumente ablenken zu lassen und verfolgt Ideen beharrlicher.
    Das entspricht der männlichen biologischen Entwicklung:

    http://www.bild-der-wissenschaft.de/…id=10092091
    (bild der wissenschaft online: Eva war zuerst da)

    Die Spezialisierung erhöhte m.E. aber auch die Fragilität. (Männer leben kürzer; ihre Entwicklung zum erwachsenen Mann ist unbestimmter und schwieriger; in der Kinderpsychiatrie findet man überwiedend Jungen…)
    Deshalb ist es sinnvoll, Männern führende Rollen zu überlassen, am besten unter der Vorausetzung, daß ihnen privat starke Frauen zur Seite stehen – stabilisierend und dezent korrigierend bis subtil indoktrinierend 😉
    (@Balanus weiß, was “subtil” hier bedeutet.)
    Und das sollten beide Parteien nicht genießen?

  57. @Balanus

    Ich finde es wirklich klasse, dass Sie mit den Themen hier so intensiv ringen und damit die Debatten beflügeln!

    Zu Blackwell:

    Also nichts, was etwa Sarah Hrdy oder sonst wer hätte zitieren müssen in einer Arbeit über die Evolution der Geschlechter oder über die sexuelle Selektion (nun ja, 1875 liegt ja auch schon ganz schön lange zurück).

    Ja, so ist es gelaufen. Für 1875 wären einige von Blackwells Thesen und Hypothesen wirklich wertvoll gewesen. Beispielsweise betont sie bereits die Bedeutung des Cooperative Breeding und stellt dem Standardmodell des Pfaus für sexuelle Selektion Tiere gegenüber, in denen sich die Väter am Kinderaufzug beteiligen.

    Ob sie über ein Jahrhundert später noch biologisch Aufregendes zu bieten hat, wird sich erweisen. Dennoch finde ich ihre wenigstens rückwirkende Würdigung nicht nur moralisch wichtig, sondern auch als Ermutigung, dass wir heute und in Zukunft auch Stimmen und Talenten außerhalb des jeweiligen Mainstreams Gehör und Chance schenken sollten. Auch erinnern uns die Beiträge von Blackwell und Wallace daran, dass es zu frauenfeindlichen, rassistischen und gewaltbejahenden Lesarten des (Sozial-)Darwinismus schon immer auch intellektuelle und wissenschaftliche Alternativen gab.

    Zu Hrdy: Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie tatsächlich davon ausgeht, dass der von ihr postulierte Selektionsmechanismus aktuell noch bedeutsam ist. Vor zwei Millionen Jahren herrschten doch völlig andere Bedingungen als heute. Damals haben von geschätzten 8-12 Kindern 2-3 die kooperative Brutpflege überlebt. Heute überleben praktisch alle. Deshalb haben doch in vielen Gesellschaften die Frauen die Zahl der Geburten drastisch reduziert. Weil, wie Hrdy richtig festgestellt hat, auch den Frauen der Status evolutionsbedingt wichtiger ist als die Fortpflanzung.

    So ist es. Und genau deswegen ist heute das Angebot an (säkularen und religiösen) Bildungs- und Betreuungsplätzen, Familien-Netzwerken, helfenden Großeltern etc. – also Cooperative Breeding – ein sehr starker Faktor für Geburtenentscheidungen. Ich sehe also nicht, dass der von Hrdy geschilderte Prozess an sein Ende gekommen wäre.

    Gesetzt nun den Fall, die Alkohol-Fliegen produzieren zwar mehr Nachkommen als die Normalos, aber am Ende—nach etlichen Generationen—schwirren trotzdem nicht mehr Alkohol-Fliegen im Glas herum als zu Anfang (wegen mangelnder Erblichkeit des Merkmals). Dann kann man doch schwerlich von einem Reproduktionserfolg sprechen, oder sehe ich das falsch?

    Das wäre dann der Fall, wenn die Veranlagung Religiosität nur “lamarckistisch” (also zu 100% via Kultur oder Epigenetik) vererbt würde. Das wäre bei einem so komplexen Merkmal aber nicht nur seltsam (Darwin vermutete z.B. selbstverständlich eine ererbte, natürliche Veranlagung), alle vorliegenden Daten (z.B. aus der Zwillingsforschung) sprechen auch dagegen:
    http://www.chronologs.de/…-der-verhaltensgenetik

    Und gerade auch Säkularisierungsprozesse lassen sich m.E. auch so lesen, dass sie eine Verschiebung von extrinsischen zu intrinsischen Motiven religiöser Praxis beschreiben: Menschen glauben nicht (mehr) v.a. aufgrund äußerer Zwänge, sondern aus innerem Antrieb. Das wäre freilich mal ein eigenes Thema, das ich im englischen Blog aber schon mal aufgegriffen hatte:
    http://www.scilogs.eu/…ss-good-news-for-religion

    Dass selbst massive, antireligiöse Kampagnen wie z.B. in der Sowjetunion oder DDR die Religionen nicht völlig auslöschen konnten, spricht m.E. ebenfalls gegen einen Lamarckismus. Man kann ihn natürlich weiter vermuten, wissenschaftlich gesehen hätte ich aber schon gerne ein paar Belege dafür.

  58. @ M. Blume

    Danke, Herr Blume! Freut mich, wenn Sie den Begriff “cooperative researching” gebrauchen können. Ihre Erweiterung finde ich prima!

  59. @Michael Blume

    Lieber Michael, ich ringe nicht mit den Themen, sondern mit Ihnen um das richtige Verständnis der Hrdyschen These 😉

    (außerdem habe ich derzeit viel Zeit)

    »Ich sehe also nicht, dass der von Hrdy geschilderte Prozess an sein Ende gekommen wäre.«

    Das wäre aber doch schrecklich…

    Denn Hrdy spricht im Zusammenhang mit “cooperative breeding” ja nicht von Geburtenentscheidungen, sondern von “Natural Selection”, also von der Auslese der “Untauglichen”. Für mich sind das zwei verschiedene Paar Schuhe.

    (und müsste man dann, wenn dieser Selektionsprozess noch läuft, in Zukunft nicht noch genauer hinschauen, wenn Babys/Kinder zu Tode kommen?)


    Zum Begriff “Reproduktionserfolg”:

    Vielleicht haben Sie mich da missverstanden. Mit “mangelnder Erblichkeit” meinte ich nicht fehlende Erblichkeit, sondern eine verminderte, etwa auf 0,5 oder 50%.

    Es geht also darum dass ein Merkmal eine Verbreitung von sagen wir 30% hat und diese Häufigkeit über viele Generationen hinweg stabil bleibt, und das, obwohl die Merkmalsträger eine höhere Fertilität aufweisen als die übrigen Individuen. Können wir bei diesem empirischen Befund noch von einem “Reproduktionserfolg” der Merkmalsträger sprechen? “Erfolg” würde dann doch nur bedeuten, dass das Merkmal erhalten bleibt (was natürlich auch bereits als Erfolg gesehen werden kann).

    Also, ich fände es merkwürdig, wenn bei dem oben erwähnten Fliegen-auf-Alkohol-Experiment von einem ‘Reproduktionserfolg’ gesprochen würde, obgleich sich der relative Anteil der Alkohol vertragenden Fliegen nicht verändert hat—höhere Fertilität hin oder her.

  60. Wissenschaft und Geschlecht

    “Wissenschaftliche Qualität ist wissenschaftliche Qualität und hat erst einmal weder etwas mit Kultur noch Geschlecht zu tun.” (@Michael)

    Das ist völlig richtig. Die wissenschaftliche Qualität einer Arbeit beurteilt sich aus der Arbeit heraus und ist unabhängig vom kulturellen Hintergrund des Autors oder dessen Geschlecht, Leidenschaften oder was auch immer. Anders verhält es sich mit der wissenschaftlichen Leistung, die eine(r) erbringen kann, da mögen Kultur und Geschlecht eine Rolle spielen. Und selbstverständlich ist das Forschungsinteresse individuell verschieden und äußerst vielfältig (wäre schlimm, wenn es anders wäre).

    Wenn man wissenschaftliche Aussagen auf ihre Stichhaltigkeit hin prüft, sollte man Geschlecht und Herkunft des Autors tunlichst ausblenden (auch, wenn’s schwer fällt). Allein schon deshalb, weil bei jeder Wertung die eigene subjektive Wahrnehmung ohnehin mit einfließt und bereits genügend Verzerrungen produziert. Da sind zusätzliche Spekulationen über eine männlich oder weiblich geprägte Sicht des Autors oder Mutmaßungen über dessen Qualifikation wenig hilfreich (beim historischen Rückblick mögen andere Maßstäbe gelten).

    An Kommentar Nr. 1 lässt sich schön aufzeigen, was ich meine und worauf es mir ankommt. Dort schreibt Herr Sünner:

    »Dass Evolution nicht nur Kampf- und Konkurrenzszenarien enthielt, beweist ja schon die Endosymbionten-Theorie, nach der ohne Kooperation zwischen Bakterien (eins nimmt das andere auf und bildet es zu inneren Organen um) komplexes Leben gar nicht hätte entstehen können. Bezeichnenderweise setzte eine Forscherin (Lynn Margulis) diese Sicht in der männerdominierten Biologie durch.«

    Nun ist die Endosymbionten-Frage noch längst nicht abschließend geklärt. Diese Theorie wurde vor über 100 Jahren erstmals von männlichen (!) Vertretern der Wissenschaft formuliert. Doch warum setzte sich diese Idee damals nicht durch? Sie erschien den Kollegen schlicht zu fantastisch. Erst mit der Entdeckung der mitochondrialen und Plastiden-DNA in den 1960ern konnte sich diese Idee nicht zuletzt dank der Arbeiten von Lynn Margulis durchsetzen. Ob das Geschlecht der Forscherin dabei eine “bezeichnende” Rolle spielte, sei mal dahingestellt, erscheint mir aber sehr fraglich.

    Denn der dahinter stehende Gedanke würde lauten: Weil Lynn Margulis eine Frau ist, fiel es ihr leichter, an eine “Kooperation” zwischen verschiedenen Bakterien zu denken. Nun ist es aber keineswegs so, dass hier zwangsläufig eine “friedvolle” Kooperation stattgefunden hat, sofern man bei einer Symbiose überhaupt von Kooperation sprechen kann. Ebenso gut kann am Anfang eine Räuber-Beute-Beziehung bestanden haben, wobei der Räuber das parasitisch eindringende Bakterium und die Beute die Wirts-Bakterienzelle war. Dieses Szenario einer prokaryotischen Fusion erscheint mir um Einiges wahrscheinlicher als jenes von Frau Margulis.

    Was lehrt uns das? Man sollte sich die Welt nicht schöner reden als sie ist, vor allem, wenn es um Wissenschaft geht.

    Eine letzte Anmerkung zur weiblichen Sicht der Dinge, da wir gerade bei Lynn Margulis und Fusionen sind. Letztes Jahr hat die Dame dafür gesorgt, dass in PNAS ein Artikel zur Evolution der Raupen und Schmetterlinge erschien (geschrieben vom Meeresbiologen Donald Williamson—ein wahrer “Querdenker”, lieber Herr Sünner). Darin wird behauptet, dass Tiere, die eine Metamorphose durchlaufen, durch eine Fusion von zwei verschiedenen Arten entstanden sind (http://www.pnas.org/content/106/47/19901).

    Was hat Frau Margulis wohl dazu bewogen, diesen Artikel zu kommunizieren? Weil sie als Frau ein Faible für “kooperative” Theorien hat? Ist das die gewünschte “weibliche Sicht der Dinge”?

  61. Eben gefunden

    zum Thema Cooperative Breeding:

    »Die europäische Organisation ILGA (International Lesbian and Gay Association) fordert, dass es möglich sein muss, dass ein Kind mehr als zwei Eltern hat. Welche Auswirkungen hat dies für das Kindeswohl?«

    …schreibt Dr. Christl Vonholdt in ihrem Blog.

    (Mein Dank gilt Herrn Martin Huhn für den folgenden Link: http://www.freiewelt.net/…ns-grundgesetz%3F.html)

  62. Margulis

    @Balanus
    Ich bin kein professioneller Biologe, aber ich versuche mein Anliegen mal differenzierter zu sagen: die Sprache von Lynn Margulis verrät viel über ihren “weiblichen Blick”, der sich aber bei ihr mit exakter Forschung sehr gut verträgt. In ihrem lehrreichen und schönen Buch “Die andere Evolution” spricht sie über die Symbiose früher Bakterien eben nicht als “Räuber-Beute-Beziehung”, sondern als ein “Zusammenschliessen”, “Verschmelzen”, als “Waffenstillstand”, eine Symbiose eben, in der nicht der eine getötet wurde, sondern beide davon profitierten. Das ist schon anders als Richard Dawkins’ Rede von “egoistischen Genen”, die wie Chikago-Gangster hantieren etc. Margulis spricht auch über das Gaia-Konzept der selbstregulierenden Erde anders als normale Geologen (James Lovelock ausgenommen), wenn sie sagt: “Gaia, das verwobene Geflecht alles Lebendigen, ist in allen ihren Zellen, Körpern und Gesellschaften in unterschiedlichem Masse wahrnehmungsfähig und bewusst.” Solche Töne findet man extrem selten bei männlichen Biologen, aber etwa auch bei der berühmten Gen-Forscherin Barbara McClintock. Zufall? Ich stimme ihnen aber voll zu, dass man mit pauschalen Zuschreibungen aufpassen muss. Man müsste vielleicht andere Begriffe finden, die präzisieren, was hier mit “weiblich” gemeint ist: etwa ein ganzheitliches Denken, das Logik und Intuition, rationale und ästhetische Betrachtungsweise, Verstand und Gefühl nicht so stark trennt. Die herkömmliche wissenschaftliche Rationalität tendiert einfach dazu, das stärker zu trennen und die wurde in der Geschichte nun mal nicht von Frauen entwickelt.
    Sprache verrät viel über den “Blick” und der prägt dann auch die wissenschaftliche Forschung mit.

  63. Na,

    ..ob sich nicht doch ein Biologe findet, der sich an der Diskussion beteiligen möchte?
    @R.Sünner:
    Der Begriff, den Sie suchen, lautet: systemisches Denken.

  64. @Balanus

    Sie schrieben: Denn Hrdy spricht im Zusammenhang mit “cooperative breeding” ja nicht von Geburtenentscheidungen, sondern von “Natural Selection”, also von der Auslese der “Untauglichen”. Für mich sind das zwei verschiedene Paar Schuhe.

    Jetzt möchte ich aber doch mal fragen, ob Sie ihr Buch zum Thema denn schon gelesen haben? Denn Ausgangspunkte von Hrdy sind ja u.a. gerade die unterschiedlich langen Geburtenabstände und z.B. auch Infantizide. Zwar sprechen wir hier sicher nicht von rational durchgeplanten Entscheidungen, wohl aber von evolutionär erfolgreichen Stragien im Bezug auf Geburten, deren “Spacing” und die Frage, ob und wie sich der Aufzug lohnt.

    Können wir bei diesem empirischen Befund noch von einem “Reproduktionserfolg” der Merkmalsträger sprechen? “Erfolg” würde dann doch nur bedeuten, dass das Merkmal erhalten bleibt (was natürlich auch bereits als Erfolg gesehen werden kann).

    Reproduktionserfolg bezieht sich m.E. doch stets auf die Organismen insgesamt, die an (eigene oder nahe verwandte) Nachkommen Genkopien weitergeben. Und wenn ein Merkmal eine (über mehrere Generationen hinweg) höhere Fertilität bewirkt und auch nur in Bruchteilen genetisch veranlagt ist – wie sollte sich dann das Merkmal im Genpool nicht ausbreiten??? Zumal genau dies ja auch dem archäologischen Befund entspricht – (proto-)religiöses Verhalten wie Bestattungen oder symbolische Kunst tritt erst bei späteren Homo aus und ist heute eine menschliche Universalie:
    http://www.chronologs.de/…auch-der-neandertaler.

    Ganz offensichtlich haben sich die entsprechenden Veranlagungen also nicht “nur erhalten”, sondern entfaltet. Und scheinen dies weiter zu tun. Ich sehe zumindest derzeit keine Befunde, die komplizierte Alternativen nahelegen würden.

  65. Rätsel

    Und bevor ich mich nach meinen hochtrabenden wissenschaftlichen Betrachtungen wieder in Schweigen hülle, möchte ich sie als Resumé in einem Rätsel zusammenfassen:
    Was ist das Beste an Präsident Obama?
    (Die Lösung befindet sich unter “Evolutionsprinzip Überleben – oder Überlieben”)

  66. Kam gerade rein…
    Quasi als Bestätigung, dass wir hier kritisch-konstruktiv und up-to-date debattieren. 🙂

    International, interdisciplinary conference

    GENDERED WAYS OF KNOWING?
    GENDER, HUMANITIES AND NATURAL SCIENCES

    Trento (Italy), Fondazione Bruno Kessler December 1-4, 2010

    The aim of this congress is to push the question about the epistemological function of the category “gender” further, in particular from the perspective of multi-disciplinary and interdisciplinary research. Since the “rupture epistemologique” of the late 18th century science has fabricated tools for sexualizing the objects of the world, while modern anthropology and biology have contributed to the universalization of gender cosmologies and the ontologization of binary gender codes. While gender studies have challenged this binary construction, they have also had a share in the naturalization of gender by using it as an independent variable. In recent years, however, the critique of gender studies has contributed to a self-critical reflection about methodologies and presumptions underlying research activities in different fields (including gender studies themselves), questioning the notion of knowledge itself.

    We invite proposals for papers to be sent by email to gender2010@fbk.eu by April 30, 2010.

    Online registration for the conference opens on May 1, 2010, and is 50 Euros (30 Euros for students).

    For further information please see the call for papers in the attachment and our homepage:http://gender2010.fbk.eu

  67. @Michael Blume

    »Jetzt möchte ich aber doch mal fragen, ob Sie ihr Buch zum Thema denn schon gelesen haben?«

    Nein, habe ich nicht, ich wiederhole nur, was Sarah Hrdy im Interview selbst gesagt hat. Und um sicher zu gehen, dass ich sie nicht falsch verstanden habe, habe ich noch eine Rezension ihres Buches gelesen (Kristen Hawks, in: Evolutionary Anthropology 18:228–229). Mir geht es nur um diesen einen zentralen Punkt mit der natürlichen Selektion durch “cooperative breeding”.

    »Und wenn ein Merkmal eine (über mehrere Generationen hinweg) höhere Fertilität bewirkt und auch nur in Bruchteilen genetisch veranlagt ist – wie sollte sich dann das Merkmal im Genpool nicht ausbreiten???«

    Da stochere ich zugegebenermaßen noch im Nebel herum. Meine vielleicht naive Vorstellung ist, dass, wenn von zwei Nachkommen nur ein Nachkomme Merkmalsträger ist (Heritabilität des Merkmals = 50%), sich das Merkmal nicht ausbreiten kann, sondern allenfalls konstant bleibt. Das müsste eigentlich leicht durchzurechnen sein, wenn man denn weiß, wie’s geht.

    Außerdem gehe ich von der Annahme aus, dass in prähistorischen Zeiten die Fähigkeit zur Spiritualität/Religiosität verbreiteter war als heute (quasi als notwendige Beigabe zum neu entwickelten Bewusstsein und der Erkenntnisfähigkeit). Spätere archäologische Funde zeigen m.E. nur, dass es eine ganze Weile (Jahrzehntausende) gedauert hat, bis religiöse Rituale entwickelt wurden. Und wenn das Merkmal früher verbreiteter war als heute, dann gab es keine relative Zunahme des Merkmals, sondern eine relative Abnahme (jeweils bezogen auf die Gesamtpopulation).

    Leider können wir ja in die Köpfe unserer verblichenen Vorfahren nicht hineinschauen. So bleibt alles nur Spekulation und Interpretation.

  68. @Balanus

    ich wiederhole nur, was Sarah Hrdy im Interview selbst gesagt hat. Und um sicher zu gehen, dass ich sie nicht falsch verstanden habe, habe ich noch eine Rezension ihres Buches gelesen.

    Okay, danke, das hilft mir, die eine oder andere Frage nachzuvollziehen.

    Da stochere ich zugegebenermaßen noch im Nebel herum. Meine vielleicht naive Vorstellung ist, dass, wenn von zwei Nachkommen nur ein Nachkomme Merkmalsträger ist (Heritabilität des Merkmals = 50%), sich das Merkmal nicht ausbreiten kann, sondern allenfalls konstant bleibt. Das müsste eigentlich leicht durchzurechnen sein, wenn man denn weiß, wie’s geht.

    Entschuldigung, dem kann ich logisch nicht folgen. Warum sollte denn Religiosität nur über einen Nachkommen weitergegeben werden? Alle Forscher in dem Gebiet gehen übrigens von einer polygenen Veranlagung aus, zumal sich Religiosität und Spiritualität ja nicht als Ein-Aus-Merkmal ausprägen, sondern in unzähligen Abstufungen. Auf die entsprechenden Befunde aus der Zwillingsforschung habe ich verwiesen: Diese unterscheiden sich einfach nicht von anderen polygenen Veranlagungen wie Musikalität. Warum auch?

    Außerdem gehe ich von der Annahme aus, dass in prähistorischen Zeiten die Fähigkeit zur Spiritualität/Religiosität verbreiteter war als heute (quasi als notwendige Beigabe zum neu entwickelten Bewusstsein und der Erkenntnisfähigkeit).

    Und worauf begründen Sie diese “Annahme”? Wir haben keine entsprechenden Funde z.B. unter Australopithecinen bis Homo Habilis, dann aufsteigend immer mehr bei frühen Sapiens und Neanderthalensis, heute weltweite Verbreitung und einen messbaren Reproduktionsvorteil. Sie müssten also erklären, wie ein Merkmal erst entstand und dann – entgegen der Befundlage – wieder verschwand, bevor es dann in der Neuzeit doch wieder Wirkung entfaltete… Entschuldigung Sie meine Skepsis…

    Spätere archäologische Funde zeigen m.E. nur, dass es eine ganze Weile (Jahrzehntausende) gedauert hat, bis religiöse Rituale entwickelt wurden.

    Also offensichtlich eine Entwicklung stattgefunden hat – oben vermuteten Sie ja noch eine Abnahme… *Rätselt*

    Und wenn das Merkmal früher verbreiteter war als heute, dann gab es keine relative Zunahme des Merkmals, sondern eine relative Abnahme (jeweils bezogen auf die Gesamtpopulation).

    Und die belegen Sie woran? Die Funde nahmen zu, auf die Entstehung von Ritualen haben Sie verwiesen, wir haben sehr spät das Auftreten religionsbezogener Kunst, schließlich religiöse Bauwerke, heute den Reproduktionsvorteil. Wo, bitte, können Sie eine Abnahme belegen?

    Leider können wir ja in die Köpfe unserer verblichenen Vorfahren nicht hineinschauen. So bleibt alles nur Spekulation und Interpretation.

    Ja, das sagen Kreationisten ja auch immer. Dabei haben wir es hier doch viel besser als die Saurierforscher – denn wir haben nur wenige Jahrzehntausende zurück zu blicken und heute noch Milliarden Exemplare von Homo sapiens, deren Religiosität und Auswirkungen wir empirisch beobachten können.

  69. @Michael Blume

    »Entschuldigung, dem kann ich logisch nicht folgen. Warum sollte denn Religiosität nur über einen Nachkommen weitergegeben werden?«

    Das ist meines Wissens Stand der Forschung. Ganz zu Anfang meiner Schreiberei hier hatte ich einfach mal so vermutet, dass nur etwa die Hälfte der Kinder religiöser Paare selbst wieder aktive Religiöse werden. Später hat sich meine Vermutung lustigerweise bestätigt, es gibt tatsächlich einige Studien, die genau das belegen (ein Musiker-Ehepaar kriegt auch nicht nur hochmusikalische Kinder).

    Vielleicht sollte ich noch einmal erwähnen, dass in meinen Augen die angeborene Religiosität dazu führt, dass der Glaubende nicht frei über seine Gläubigkeit resp. Religiosität (übernatürliche Akteure etc.) entscheiden kann (entsprechend hochmusikalisch). Wer weniger musikalisch oder unmusikalisch ist, bewegt sich dann irgendwo zwischen Atheismus und Deismus. Über die spreche ich aber nicht.

    »Und worauf begründen Sie diese “Annahme”?«

    Habe ich doch geschrieben: Alle Hominiden haben im Zuge der Menschwerdung ein höheres Bewusstsein mit der Fähigkeit zur Spiritualität/Religiosität erlangt (eine Folge des Selektionsdrucks durch cooperative breeding). Das erscheint mir biologisch logisch und plausibel. Ohne diese bereits vorhandene Fähigkeit hätten sich später keine Religionen entwickeln können. Vielleicht gab es schon immer einige Aspirituelle oder Areligiöse, aber ich frage mich, wie die sich die Welt erklärt haben.

    Oder anders herum: Als die ersten bewusstseinsfähigen Menschen Afrika verließen, besaßen sie auch die entsprechende Fähigkeit zur Spiritualität/Religiosität. Das erklärt, warum Spiritualität/Religiosität heute allen Menschen weltweit zu Eigen ist. Religiöse Rituale sind spätere Erfindungen, die an vielen Orten der Welt stattfanden. Leider sehen wir nur diese späten Entwicklungen, was die Menschen in den Jahrtausenden davor dachten und träumten, können wir nur vermuten.

    »Also offensichtlich eine Entwicklung stattgefunden hat – oben vermuteten Sie ja noch eine Abnahme… *Rätselt*«

    Ist das Rätsel jetzt gelöst? Die langsame Entwicklung der religiösen Rituale fand innerhalb von Gesellschaften statt, die bereits durch und durch religiös oder zumindest spirituell geprägt war. Säkulare oder Zweifler wird es sicherlich auch einige gegeben haben, aber wie haben die es sich wohl erklärt, wenn ihnen des Nachts die verstorbenen Ahnen erschienen sind?

    Zusammenfassend: Die Zahl der Funde religiöser Artefakte korreliert nicht mit der genetischen Verbreitung der Spiritualität/Religiosität in den jeweiligen Gesellschaften. Das ist zwar jetzt nur eine Behauptung, erscheint mir aber recht plausibel. In jedem Dorf finden Sie eine Kirche, aber nicht mal die Hälfte der Bewohner glaubt an ein Leben nach dem Tod. Umgekehrt sagt eine einzelne gefundene Grabstelle nichts über die tatsächliche Verbreitung religiöser Vorstellungen.

    Leider können wir ja in die Köpfe unserer verblichenen Vorfahren nicht hineinschauen. So bleibt alles nur Spekulation und Interpretation.

    »Ja, das sagen Kreationisten ja auch immer.«

    Das sagen seriöse Wissenschaftler, wenn zum Beispiel Evolutionspsychologen mit ihren “Erkenntnissen” mal wieder übers Ziel hinausschießen.

    Die Menschwerdung war vor 200000 Jahren abgeschlossen. Was die Menschen damals dachten und fühlten und in welchen sozialen Strukturen sie lebten, können wir heute nur ahnen und vermuten, aber nicht wirklich wissen.

    Mir scheint, was die wissenschaftliche Erkenntnisfähigkeit angeht, da bin ich bescheidener als Sie, lieber Michael 😉

  70. @Balanus

    Ganz zu Anfang meiner Schreiberei hier hatte ich einfach mal so vermutet, dass nur etwa die Hälfte der Kinder religiöser Paare selbst wieder aktive Religiöse werden. Später hat sich meine Vermutung lustigerweise bestätigt, es gibt tatsächlich einige Studien, die genau das belegen (ein Musiker-Ehepaar kriegt auch nicht nur hochmusikalische Kinder).

    Ach sooo – dann hatte ich Sie falsch verstanden. Dass Religiosität (wie Musikalität) partiell vererbt wird, sehe ich ganz genau so – ich hatte schon befürchtet, Sie wollten sagen, dass es immer nur zu 100% an einen Nachkommen weiter gegeben wird. 🙂

    Mir scheint, was die wissenschaftliche Erkenntnisfähigkeit angeht, da bin ich bescheidener als Sie, lieber Michael 😉

    Lassen Sie uns Jungen doch den Übermut und Sturm und Drang, solange wir ihn haben! Wissenschaft hätte sich ja nicht entwickelt, wenn wir uns alle immer nur bestätigt hätten, was NICHT geht. Und Sie glauben gar nicht, wie oft ich von “besorgten” Kollegen gewarnt worden bin, mich auf diese seltsamen Biologen einzulassen, bei denen gebe es eh nichts zu lernen. Ich bin einfach sehr froh, es trotzdem gewagt zu haben (und weiter zu wagen)! 🙂

  71. @Michael Blume @Balanus

    Ich finde Euren Dialog ja recht spannend, hätte zu folgendem aber noch einige Fragen.

    Herr Balanus schreibt: „Vielleicht sollte ich noch einmal erwähnen, dass in meinen Augen die angeborene Religiosität dazu führt, dass der Glaubende nicht frei über seine Gläubigkeit resp. Religiosität (übernatürliche Akteure etc.) entscheiden kann (entsprechend hochmusikalisch). Wer weniger musikalisch oder unmusikalisch ist, bewegt sich dann irgendwo zwischen Atheismus und Deismus. Über die spreche ich aber nicht.“

    Warum geht man davon aus, „dass der Glaubende nicht frei über seine Gläubigkeit resp. Religiosität (übernatürliche Akteure etc.) entscheiden kann…“? Geht man hier zu stark von unserem eigenen Kulturkreis aus? Braucht Religiosität übernatürliche Akteure?

    Ich beschäftige mich ja auch mit Yoga, besonders interessant ist da natürlich das „höhere“ Yoga, welches über die im Westen bekannten Wellnessübungen hinausgeht. Im Yoga gibt es viele verschiedene Schulen , jedoch kann man, grob gesagt, zwei Richtungen unterscheiden, zum einen die Variante ohne Gott, so ähnlich wie im Zen-Buddhismus und die Variante mit Gott/dem Göttlichen, welche wohl nur von sehr spirituellen Menschen betrieben wird. Letztere Variante vertritt Sri Aurobindo , er schreibt in seinem Buch „Licht auf Yoga“ (S. 29): „ Shradda (Opfergabe, d. Ü.) und Riten wenden sich tatsächlich an den vitalen Teil des Menschen. Sie sollen ihm helfen, von den Schwingungen des Vitals freizukommen, die ihn noch an die Erde oder die Welten des Vitalen fesseln, damit er schnell zur Ruhe im Frieden des Psychischen gelangen kann.“

    Anscheinend sieht er Opfergabe und Riten als reines Hilfsmittel, sozusagen als „Meditationshilfe“ an. Ist Religion und Spiritualität also nicht dasselbe, oder warum gibt es Menschen, die zwar an keinen persönlichen Gott glauben, die aber, wie im integralen Yoga, ganz stark an eine höhere Macht glauben?

    Um bei dem Beispiel von Herrn Balanus zu bleiben, muss der hochmusikalische Yogi sich unbedingt zu einer „üblichen Religion“ bekennen, oder kann er diese übersteigen und frei improvisieren?

    Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie beide auf meine Fragen eingingen.

  72. @Rüdiger Sünner

    Danke für den Hinweis auf Margulis’ Buch “Die andere Evolution”. Auf Amazon habe ich kurz einen Blick hineingeworfen. Jetzt verstehe ich, wieso sie Williamsons Aufsatz in PNAS kommuniziert hat.

    Zur Endosymbiose: In der Wissenschaft geht es darum, Naturvorgänge so zu beschreiben, wie sie sich der Beobachtung nach darstellen. Weit zurück liegende Ereignisse können nur indirekt erschlossen werden. Also werden Thesen und Modellvorstellungen entwickelt. Die eine These mag von einem graduellen, “friedlichen” Zusammenfinden zweier oder mehrerer Prokaryoten ausgehen, die andere von einem parasitären Eindringen in eine Wirtszelle. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Vorgänge, die folgerichtig mit unterschiedlichem Vokabular beschrieben werden müssen. Welche Variante dem Leser nun besser gefällt, bleibt diesem überlassen (gleiche Plausibilität der Modelle mal vorausgesetzt). Welches Modell sich am Ende durchsetzt, kann nur im wissenschaftlichen Diskurs entschieden werden, weltanschaulich begründete Vorlieben sollten da keine Rolle spielen.

    Bei der Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse und Befunde sollte es allein auf sprachliche Präzision ankommen. Ich finde, von der “wissenschaftlichen Rationalität” kann es gar nicht genug geben, das ist und bleibt ein wichtiges angestrebtes Ziel und Ideal. Gibt man das auf, kommen Bücher heraus wie etwa jenes von Joachim Bauer, der da meint, sich vom Darwinismus verabschieden zu müssen (Darwinismus verstanden als ein zentrales Evolutionsprinzip). Das mag dem Publikum gefallen, aber die Wissenschaft bringt das nicht voran.

    Noch eine Anmerkung zum Räuber-Beute-Verhältnis: Im Grunde handelt es sich dabei doch auch um eine Art Kooperation, weil dieses Verhältnis auf Dauer beiden nützt. Beim Menschen sieht die Sache etwas anders aus. Der hat sich als einer der effektivsten Räuber auf dem Erdenrund entpuppt. Der betrachtet praktisch die ganze Natur als Beute. Man darf gespannt sein, wie lange das gut geht.

  73. Wissenschaft und Sprache

    @Balanus
    Sie haben völlig Recht, wenn sie die Wichtigkeit “wissenschaftlicher Rationalität” hervorheben, zumal in Zeiten von zunehmenden religiösem Fundamentalismus und anderen obskuren Erscheinungen. Das ist die eine Seite. Mir kam es nur darauf an zu zeigen, wie “wissenschaftliche Rationalität” eben auch immer von “nichtwissenschaftlichen” Elementen (nicht abwertend gemeint) geprägt ist. Das ist heute common sense in der Wissenschaftstheorie. Auch die empirische Beschreibung von beobachteten Naturvorgängen ist nie wertfrei, weil sie immer eine Theorie voraussetzt, die das Sehen mitbestimmt. Wir sehen nicht nur mit den Augen, sondern mit unserer gesamten seelisch-geistigen und auch historischen Ausstattung, deshalb kann man auch Dinge “übersehen” oder “neu sehen”.
    Margulis sieht eben in der Endosymbiose aus solchen – vielleicht auch unbewussten – Vorentscheidungen etwas anderes, als andere Biologen. Daher besteht ja Wissenschaft (gottseidank) aus der Kontroverse um viele Deutungsprozesse und nicht aus absoluten Wahrheiten.
    Joachim Bauer, den ich auch für meinen Film interviewt habe, ist übrigens kein so dezidierter Darwingegner, wie es jetzt immer dargestellt wird. Er schätzt die Evolutionstheorie hoch ein, aber weist auch auf verstecktere Aussagen Darwins zu Kooperation und Emphase hin, sowie auf den Verlust seines ästhetischen Zugangs zur Natur, den der spätere Darwin selbst beklagt hat.

  74. @Balanus Antwort auf Rüdiger Sünner

    Mit Ihrem letzten Kommentar haben Sie mir wirklich aus dem Herzen geprochen!

    Allgemein stimme ich Ihnen meistens zu, aber in dieser Diskussion verstehe ich Sie in einem Punkt nicht: “Vielleicht gab es schon immer einige Aspirituelle oder Areligiöse, aber ich frage mich, wie die sich die Welt erklärt haben.” Wollen Sie damit sagen, daß religiöse Modelle unentbehrlich waren, solange keine rationalen Werkzeuge für protowissenschaftliche und später wissenschaftliche Arbeit entwickelt worden waren? Demnach wäre Religiosität dann doch ein Epiphänomen?

  75. @Rüdiger Sünner

    Weitgehende Zustimmung. Jede wissenschaftliche Aussage mit einem Fragezeichen zu versehen, ist nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig.

    Ich würde mir nur wünschen, dass auch sogenannte “Querdenker” häufiger mit dieser skeptischen, wissenschaftskritischen Haltung bedacht würden.

  76. @Jürgen Bolt

    Danke, Herr Bolt, schön, dass Sie noch dabei sind 🙂

    »“Vielleicht gab es schon immer einige Aspirituelle oder Areligiöse, aber ich frage mich, wie die sich die Welt erklärt haben.” Wollen Sie damit sagen, daß religiöse Modelle unentbehrlich waren, solange keine rationalen Werkzeuge für protowissenschaftliche und später wissenschaftliche Arbeit entwickelt worden waren? Demnach wäre Religiosität dann doch ein Epiphänomen?«

    Ich frage mich halt, was die Menschen vor 200.000 Jahren gesagt oder gedacht haben, als die Wendung: “Dafür gibt es eine natürliche Erklärung” noch nicht zur Verfügung stand. Ohne die Annahme von über- oder außernatürlichen Kräften und Mächten wären die doch wahnsinnig geworden (und wir würden uns heute keine Gedanken darüber machen können).

    Ich stelle mir das so vor, dass mit der evolutiven Entwicklung der geistigen Fähigkeiten und den ersten Wahrnehmungen von Ursache und Wirkung gleichzeitig die Fähigkeit entstehen musste, die Wahrnehmungen irgendwie einordnen zu können. Dieses Einordnenkönnen scheint mir ein ganz elementares Bedürfnis zu sein. Man weiß ja, wie irritierend es ist, wenn man für eine Beobachtung keine Erklärung hat. Und bei diesem Einordnen ansonsten unerklärlicher Phänomene war die grundlegende Fähigkeit zur Spiritualität hilfreich und evolutiv von Vorteil. Ob man diese ausgeprägte spirituelle Fähigkeit bereits als Religiosität bezeichnen kann, erscheint mir aber fraglich. Aber sie war wohl die Basis für das spätere Verhalten gegenüber übernatürlichen Akteuren (=Religiosität).

    Ist die Religiosität also ein Epiphänomen? Wenn die Definiton dieses Begriffs in Wikipedia zutrifft, dann würde ich meinen, nein. Ich würde Religiosität eher als eine zwangsläufige Folge oder als ein Neben- oder Begleitprodukt der Gehirnentwicklung bezeichnen.

  77. Religion zum Einordnen

    Es wird hier vermutet, dass frühe Menschen, um nicht wahnsinnig zu werden, mythologische oder spirituelle Einordnungssysteme erfinden mussten. Das klingt zunächst einmal sehr plausibel. Die Frage wäre: woher nahmen sie die dazu nötigen Symbole? Erfindet man die einfach? Symbole, Metaphern, Gleichnisse, Bilder liegen ja nicht einfach so herum. Ich finde die Frage nach der Entstehung des symbolischen Denkens hochspannend, das ja überhöht und nicht abbildet. Eine sehr schwere Frage, wie ich finde.
    Religiöse Menschen wie Kepler sagten, dass Gott die Symbole in uns hineinlegte, damit wir damit dann die Natur begreifen konnten. Damit können natürlich heutige Wissenschaftler nicht so viel anfangen. Aber auch die Wissenschaft kennt Symbole, vor allem die Mathematik. Hier taucht dieselbe Frage auf: Wo kommen sie her? Zahlen, Gesetze liegen nicht in der Natur herum. Wie ist es möglich, dass der Mensch z.B. mathematische Formeln ersinnt, die dann etwas in der Natur genau treffen? Der Physiker Wolfgang Pauli vermutete, dass da vielleicht eine Abstimmung zwischen Innerem und Äusserem vorliegen müsse, die rational schwer zu erklären ist. Er suchte (gemeinsam mit C.G.Jung) nach diesem übergreifenden Prinzip, aber kam nicht mehr dazu, es weiter zu erforschen

  78. @Mona

    »Ist Religion und Spiritualität also nicht dasselbe, oder warum gibt es Menschen, die zwar an keinen persönlichen Gott glauben, die aber, wie im integralen Yoga, ganz stark an eine höhere Macht glauben?«

    Zu dieser Frage könnte man eine ganze Dissertation verfassen. Klären wir zunächst die Begriffe. Ich verstehe unter Spiritualität eine angeborene, also evolutiv erworbene Eigenschaft des menschlichen Gehirns, sich Dinge vorstellen zu können, die nicht existieren. Jeder denkende, gesunde Mensch besitzt Spiritualität. Die weitgefasste Definition von Spiritualität in Wikipedia kommt meinen Vorstellungen recht nahe.

    Religiosität definiere ich so wie @Michael, also eher eng gefasst als ein Verhalten gegenüber übernatürlichen Akteuren. Hier gibt es Überschneidungen mit dem enggefassten Begriff der Spiritualität.

    Die grundlegende Spiritualität (“Grund-Spiritualität”) ist für mich das Fundament für eine höhere Spiritualität und/oder Religiosität, die der Mensch im Laufe seines Lebens erwirbt. Dieses Erwerben geschieht sowohl durch Lernen als auch durch die strukturelle, genetisch bedingte Reifung des Gehirns (die erst im Alter von rund 20 Jahren abgeschlossen ist). Ein kleines Kind kann demnach noch nicht religiös sein, wohl aber spirituell in weitem Sinne.

    Menschen können nun in ganz unterschiedlichem Maß eine höhere Spiritualität oder Religiosität erwerben. Wichtig ist, dass sie keinen Einfluss darauf haben, wie der Prozess verläuft und was am Ende dabei herauskommt (lustigerweise sind die meisten dennoch davon überzeugt, sie seien aus guten Gründen religiös oder eben nicht religiös)

    Ein Teil der Menschheit kommt über eine Grund-Spiritualität nicht hinaus, ein anderer Teil hingegen vertraut voll auf übernatürliche Akteure. Und dann gibt es Menschen, die werden hoch spirituell, ohne religiös im obigen Sinne zu sein.

    Soweit meine begriffliche Trennung von Spiritualität und Religiosität. Meist schreibe ich ja “Spiritualität/Religiosität”, um den unterschiedlichen Interpretationen Rechnung zu tragen. Da kann sich der/die Leser(in) dann das Passende aussuchen 😉

    Einen Aspekt möchte ich aber noch ansprechen. Religiosität wird ja gerne mit Musikalität verglichen. Aber da gibt es meiner Ansicht nach einen gravierenden Unterschied. Musikalität bewegt sich zwischen unmusikalisch und hochmusikalisch, da existiert ein ganzes Kontinuum an Ausprägungen.

    Bei der Religiosität hingegen, so wie ich sie oben in Anlehnung an die gängige religionswissenschaftliche Praxis definiert habe, kann es ein solches fließendes Kontinuum nicht geben. Entweder ich glaube an das Wirken übernatürlicher Akteure, oder eben nicht. Oder ich schwanke zwischen diesen beiden Möglichkeiten hin und her. Dann bin ich ein Zweifler und stehe mental an der Grenze zwischen Glaube und Unglaube.

    Nach meinen Vorstellungen sind beim Zweifler die Hirnstrukturen derart ausgebildet, dass situationsbedingt leicht zwischen den beiden Zuständen Religiosität und Areligiosität hin- und hergeschaltet werden kann.

    Das heißt, strukturell, von der genetischen Disposition her, ist die Trennung von Religiosität und Areligiosität keineswegs scharf. Aber für die tradierte Vorstellung von übernatürlichen Akteuren kann es m.E. keine fließenden Übergänge geben.

    Nichtsdestotrotz verwenden wir in der Alltagssprache den Begriff “religiös” so, als gäbe es wie bei “musikalisch” beliebig viele Abstufungen der Begabung. Aber dieses “religiös” bezieht sich auf die religiöse Praxis, welchen Stellenwert die Religion für jemanden hat und so fort und hat mit der Religiosität als solcher wenig zu tun. So gilt jemand, der nur einmal in Jahr zur Kirche geht, als wenig religiös (und kriegt auch nur wenige Kinder), während derjenige, der wöchentlich die Kirche besucht, als sehr religiös eingestuft wird.

    Tja, liebe Mona, so sehe ich das 🙂


    @Rüdiger Sünner

    Gute Frage, da muss ich mal eine Weile drüber nachdenken…

  79. @Mona

    Du fragtest: Ist Religion und Spiritualität also nicht dasselbe, oder warum gibt es Menschen, die zwar an keinen persönlichen Gott glauben, die aber, wie im integralen Yoga, ganz stark an eine höhere Macht glauben?

    In dieser Frage sind sich @Balanus und ich inzwischen wohl recht einig geworden – auch ich würde Spiritualität (als Tendenz zu Erweiterungs- und Transzendenzerfahrungen) und Religiosität (als Glauben an bzw. Verhalten zu übernatürlichen Akteuren) unterscheiden und werde dazu in den kommenden Wochen wohl auch etwas zu einer neuen Spiritualitäts-Studie schreiben. Soviel vorab: Obwohl die beiden Merkmale durchaus (auch statistisch) zusammen hängen, gibt es doch tief religiöse Menschen, die noch nie eine spirituelle Erfahrung gesucht oder gemacht haben und umgekehrt sehr spirituelle Menschen, die aber jeden Glauben an eine übernatürliche Personalität ablehnen.

    Bei aller Übereinstimmung mit @Balanus etwas optimistischer bin ich beim Vergleich Musikalität – Religiosität, die ja schon der Religions- und Musiksoziologe Max Weber verband (“religiös unmusikalisch” sein etc.). Denn so wie es un- und hochmusikalische Menschen gibt, gibt es auch nicht- und hochreligiöse Menschen, mit unfassbar vielen Varianten und Abstufungen dazwischen. Nur wenige Glaubende erfahren sich z.B. in jedem Moment von den Übernatürlichen beobachtet, Vergessen und Zweifel gehören zum religiösen Alltag. Spannend dazu auch die Studien des Religionsmonitor:
    http://www.chronologs.de/…t-der-religionsmonitor

    Um bei dem Beispiel von Herrn Balanus zu bleiben, muss der hochmusikalische Yogi sich unbedingt zu einer „üblichen Religion“ bekennen, oder kann er diese übersteigen und frei improvisieren?

    Er kann das natürlich. Allerdings repräsentieren gewachsene Traditionen natürlich eine höhere Erfolgsquote (sonst hätten sie kaum Generationen überdauert), wogegen spirituelle Privatoffenbarungen durchaus auch in die Vereinsamung (und damit biologische und kulturelle Sackgasse) führen können. Wirklich tragfähige religiöse und spirituelle Strömungen scheinen je Bewährtes und “neue Varianten” miteinander zu verknüpfen.

    @Jürgen Bolt: Auch von mir ein herzliches Willkommen!

  80. @Balanus-Blume

    Vielen Dank für das warme Willkommen. Es gab Mißverständnisse, sie wurden ausgeräumt, und damit ist das Thema für mich beendet. Schließlich gibt es hier immer etwas zu lernen. Ich habe die von Ihnen verlinkte Rezension gelesen und werde morgen in meiner Buchhandlung Hrdys ‘Mothers and others’ bestellen. Danke für die Hinweise!

    Ich möchte mich revanchieren mit der Empfehlung von David ‘multilevel selection’ Wilsons ‘Darwins Cathedral’. Darin weist er Ihr Argument zurück und präsentiert überzeugende Alternativen (p 98 ff).

    Ich glaube, Ihr Argment unterschätzt den Rationalismus unserer Vorfahren und überschätzt unseren eigenen. Natürlich konnte man vor einer Theorie der Elektrizität das Phänomen des Blitzes nicht naturalistisch erklären und hat sich mit übernatürlichen Erklärungen eines anthropomorphen Gottes beholfen. Für andere meteorologische Erscheinungen trifft das aber nicht zu. Sicherlich wußten unsere Vorfahren recht gut, bei welchem Wetter und zu welcher Jahrezeit sie Fische fangen oder Obst ernten konnten, und sie konnten zwischen alternativen Theorien hierüber korrekt unterscheiden.

    Und genauso sicher können wir es heute nach wie vor in relevanten Fragestellungen nicht. In meinem Metier weiß man z.B. nicht, wann ein Rheumapatient seinen nächsten Krankheitchub bekommen wird, welchen Verlauf er nehmen wird und welche Gelenke betroffen sein werden. Und viele Kollegen werden dann religiös und haben verschiedene Namen für Gott, ‘idiopathisch’, ‘primär’, ‘essentiell’, in diesem Fall ‘primär’: ‘Sie haben Primär chronische Polyarthritis’. Zugegeben, man bemüht seltener einen übernatürlichen Akteur mit menschlicher Psychologie, aber insgesamt hat sich nur die Grenze zwichen dem Wenigen, was wir wissen, und dem Unendlichen, das wir nicht wissen, ein wenig verschoben.

    In meinem Fall auch aufgrund Ihrer Anregungen. Dafür noch einmal meinen Dank.

    Da fällt mir noch etwas ein. Sie fragen, wie sich ein Merkmal mit einer Heretabilität von 50% in einer Population aubreiten kann. Die Hypothese ist doch, daß Religiosität in Stammesgesellschaften positiv selektiert wurde. Von den 50% religiöser Nachkommen schafften es also mehr ins reproduktionsfähige Alter als von den 50% Nichtreligiösen, z.B. durch bessere soziale Vernetzung. Oder sehe ich das falsch?

  81. @Jürgen Bolt

    Ja, die beschränkten Möglichkeiten der Online-Kommunikation laden leider immer mal wieder zu Missverständnissen ein. Umso wichtiger, dass man diese dann doch wieder gütlich klären kann – danke dafür!

    Ich habe die von Ihnen verlinkte Rezension gelesen und werde morgen in meiner Buchhandlung Hrdys ‘Mothers and others’ bestellen. Danke für die Hinweise!

    Super! Ich bin sicher, es wird Ihnen zusagen! Sollten Sie Lust auf einen Gastkommentar hier dazu bekommen, sehr gerne – zumal die deutsche Übersetzung ja in den kommenden Wochen erscheinen und, so ist zu hoffen, neues Nachdenken anregen wird.

    Ich möchte mich revanchieren mit der Empfehlung von David ‘multilevel selection’ Wilsons ‘Darwins Cathedral’. Darin weist er Ihr Argument zurück und präsentiert überzeugende Alternativen (p 98 ff).

    Ihr Widerspruch galt, wenn ich es Recht verstand, @Balanus. Von mir ein “Ja”, Darwin’s Cathedral ist ein gelungenes Grundlagenwerk zur Evolutionsforschung im Bereich von Religiosität und Religionen. Mit David stehe ich in regelmäßigem Kontakt, er lud mich auch in das Forschernetzwerk der Evolutionary Religious Studies ein. Verkürzt gesagt deutet vieles darauf hin, dass religiöse Überzeugungen Gemeinschaften begründen können, die Überleben und Reproduktion (und besonders Cooperative Breeding) zu organisieren vermögen. Ein Paradebeispiel dazu sind die Amischen, zu denen ich bald Neues zu verlinken habe. 🙂
    http://www.chronologs.de/…n-16-jahren-verdoppelt

    Zugegeben, man bemüht seltener einen übernatürlichen Akteur mit menschlicher Psychologie, aber insgesamt hat sich nur die Grenze zwichen dem Wenigen, was wir wissen, und dem Unendlichen, das wir nicht wissen, ein wenig verschoben.

    Das finde ich eine sehr glaubwürdige Selbsteinschätzung von (uns) Wissenschaftlern. Ergänzend möchte ich hinzufügen, dass religiöse Deutungen nicht nur und nicht einmal primär Wissenslücken schließen müssen, sondern vielen die Warum-Frage beantworten helfen. Wittgenstein dazu schön präzise: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist.“ Konkret: Auch wenn wir wissenschaftlich gut erklären, wie es z.B. zu Kinderlein kommt, ergibt sich daraus noch längst keine Motivation, welche zu haben. Das eine bezieht sich auf “Wie”-Erklärungen, das andere auf “Warum”. Deswegen kann auch ein Naturalist Theist sein.

    Da fällt mir noch etwas ein. Sie fragen, wie sich ein Merkmal mit einer Heretabilität von 50% in einer Population aubreiten kann. Die Hypothese ist doch, daß Religiosität in Stammesgesellschaften positiv selektiert wurde. Von den 50% religiöser Nachkommen schafften es also mehr ins reproduktionsfähige Alter als von den 50% Nichtreligiösen, z.B. durch bessere soziale Vernetzung. Oder sehe ich das falsch?

    Ich sehe es ganz genau so (plus inklusive Fitness durch Verwandte). Und genau darauf deuten ja alle uns vorliegenden Befunde hin.

  82. @Balanus

    Vielen Dank für Ihre interessante Antwort!

    „Religiosität definiere ich so wie @Michael, also eher eng gefasst als ein Verhalten gegenüber übernatürlichen Akteuren. Hier gibt es Überschneidungen mit dem enggefassten Begriff der Spiritualität.“

    Es gibt ja religiöse und nichtreligiöse Yogis. Wobei die Methoden zur Erlangung einer höheren Einsicht für beide Gruppen ziemlich gleich sind und sie sich im selben Kulturkreis befinden. Erstaunlich, nicht!

    „Menschen können nun in ganz unterschiedlichem Maß eine höhere Spiritualität oder Religiosität erwerben. Wichtig ist, dass sie keinen Einfluss darauf haben, wie der Prozess verläuft und was am Ende dabei herauskommt (lustigerweise sind die meisten dennoch davon überzeugt, sie seien aus guten Gründen religiös oder eben nicht religiös)“

    Da bin ich etwas anderer Meinung. Gerade Zen-Buddhismus und Yoga schulen ja die Spiritualität. Anders als bei uns hat sich, z:B. in Asien man denke an die Hindureligion, eine Mystik/Religion herausgebildet, die nicht in einem starren Gefüge gefangen ist, sondern spirituelle Menschen können „ihren Glauben“ weiterentwickeln. Grundlage ist eine Toleranz der Gesellschaft diesem Glauben gegenüber und so kann jeder sein Heil nach eigener Anschauung finden. Ich meine wir fassen den Begriff Religion einfach zu eng. Wie will man denn z.B. die Urvölker einordnen, wo Alltag, Spirituelles, Sakrales und Profanes ganz nah nebeneinander lagen? Christliche Missionare sprachen diesen Völkern ja sogar ab eine Religion zu haben.
    „Ein Teil der Menschheit kommt über eine Grund-Spiritualität nicht hinaus, ein anderer Teil hingegen vertraut voll auf übernatürliche Akteure. Und dann gibt es Menschen, die werden hoch spirituell, ohne religiös im obigen Sinne zu sein.“

    Ja, das hängt wohl auch von der Veranlagung und vom jeweiligen Kulturkreis ab.

    „Bei der Religiosität hingegen, so wie ich sie oben in Anlehnung an die gängige religionswissenschaftliche Praxis definiert habe, kann es ein solches fließendes Kontinuum nicht geben. Entweder ich glaube an das Wirken übernatürlicher Akteure, oder eben nicht. Oder ich schwanke zwischen diesen beiden Möglichkeiten hin und her. Dann bin ich ein Zweifler und stehe mental an der Grenze zwischen Glaube und Unglaube.

    “Nach meinen Vorstellungen sind beim Zweifler die Hirnstrukturen derart ausgebildet, dass situationsbedingt leicht zwischen den beiden Zuständen Religiosität und Areligiosität hin- und hergeschaltet werden kann.“

    Eine ganz erstaunliche Annahme. Wobei sie nicht wirklich neu sei dürfte, man findet in der sog. schöngeistigen Literatur Beispiele dafür zuhauf, z.B. den Roman von Dostojewski „Die Brüder Karamasow“, wo sich der Autor durch die verschiedenen Seelenzustände seiner Protagonisten schreibt, er muss also sowohl Gläubige, wie auch Ungläubige verstehen können. Der Mensch ist ein fantasiebegabtes Wesen und gerade der Literaturbetrieb lebt ja davon.
    „Das heißt, strukturell, von der genetischen Disposition her, ist die Trennung von Religiosität und Areligiosität keineswegs scharf. Aber für die tradierte Vorstellung von übernatürlichen Akteuren kann es m.E. keine fließenden Übergänge geben.“

    Ja, denn die den Religionen zugrundliegende Mystik wurde ja seit der Zeit der Aufklärung totgeschwiegen. „Richtige“ Religion scheinen nur mehr Christentum, Judentum und Islam zu sein. Unser heutiger Religionsbegriff stammt aus der bürgerlichen Welt des vorletzten Jahrhunderts, ältere Religionsbegriffe werden nicht mehr verwendet. Für die alten Griechen wäre doch unsere Gottesvorstellung unbegreiflich. Einen Gott, der nach seinem Willen schalten und walten konnte, kannten die gar nicht.

  83. @Michael Blume

    Lieber Michael,
    danke für die Antwort. Ich dachte Deine Meinung würde etwas stärker von der von Balanus abweichen.

    „Denn so wie es un- und hochmusikalische Menschen gibt, gibt es auch nicht- und hochreligiöse Menschen, mit unfassbar vielen Varianten und Abstufungen dazwischen. Nur wenige Glaubende erfahren sich z.B. in jedem Moment von den Übernatürlichen beobachtet, Vergessen und Zweifel gehören zum religiösen Alltag.“

    Ich glaube auch dass es da viele Varianten gibt und der Praxis haben wohl viele Menschen auch Zweifel. Allerdings kenne ich auch ehemalige kath. Mitschüler, die sich gerade in der Pubertät wegen ihrer Sexualität geschämt haben und deshalb sehr verklemmt wurden. Zum einen fühlten sie sich von Gott beobachtet und zum anderen mussten sie im Beichtstuhl „Geständnisse“ ablegen, insofern wäre wohl ein kritisches Hinterfragen des eigenen Glaubens nicht immer nur von Nachteil. Vielleicht teste ich mich mal mit dem Religionsmonitor, bin gespannt ob das Ergebnis meiner Selbsteinschätzung nahe kommt.

    „ Er (der Yogi) kann das natürlich. Allerdings repräsentieren gewachsene Traditionen natürlich eine höhere Erfolgsquote (sonst hätten sie kaum Generationen überdauert), wogegen spirituelle Privatoffenbarungen durchaus auch in die Vereinsamung (und damit biologische und kulturelle Sackgasse) führen können. Wirklich tragfähige religiöse und spirituelle Strömungen scheinen je Bewährtes und “neue Varianten” miteinander zu verknüpfen.“

    Den Unterschied zwischen unseren christlichen Gott und dem was die Yogis als „Göttliches“ bezeichnen, sehe ich darin, dass „unser“ Gott mit dem Wohl und Wehe der Menschen verbunden ist, genauso wie übrigens die Ahnenkulte. Man muss sich mit diesen Gott, oder auch den Ahnen, also gutstellen, d.h. Gebote beachten und Riten abhalten. Der Gott der Yogi hingegen ist ein unpersönlicher, er kann von den Menschen weder durch kultische Handlungen noch durch Gebete erreicht werden. Allerdings kann sich der Mensch mit dem Göttlichen verbinden, indem er seine menschlichen Eigenschaften durchschaut und sich so zu einer immer höheren Erkenntnis vortastet bis es zuletzt zu einer Vereinigung mit dem Göttlichen kommt. Natürlich kann diese „spirituelle Privatoffenbarung“ schlechter in eine „gewachsene“ Religion eingebunden werden, denn kultische Praxis macht ja den Kern des Begriffs „religio“ aus. Das Christentum ist ja eine Glaubensreligion, wo Glaubenssätze im Vordergrund stehen. Religion hat sich bei uns sogar zu einer Gefühlsangelegenheit entwickelt, wie Liebe. Unser Begriff von Frömmigkeit ist also etwas anderes, schon aus diesem Grund dürfte es schwer sein Vergleiche zu ziehen.

    Im Zusammenhang mit Religion meine ich, dass das von Sarah Hrdy aufgeführte kooperative Brüten nur ein Teilaspekt ist. Letztendlich mussten die Menschen ja bei vielen Arbeiten kooperieren, sei es auf der Jagt, beim Hausbau oder bei der Feldarbeit, je aufwändiger die Arbeit, desto mehr musste kooperiert werden. Die sog. Urvölker schufen sich nach und nach eine Kultur und einen Mythos, wobei man unter „Mythos“ natürlich auch Religion verstehen kann.

    Interessant wäre natürlich die Frage, die hier aufgeworfen wurde, woher die frühen Menschen ihre mythologischen oder spirituellen Einordnungssysteme hernahmen und wo sie Symbole, Metaphern, Gleichnisse und Bilder fanden.
    Herr Sünner schreibt: „… woher nahmen sie die dazu nötigen Symbole? Erfindet man die einfach? Symbole, Metaphern, Gleichnisse, Bilder liegen ja nicht einfach so herum. Ich finde die Frage nach der Entstehung des symbolischen Denkens hochspannend, das ja überhöht und nicht abbildet. Eine sehr schwere Frage, wie ich finde.
    Religiöse Menschen wie Kepler sagten, dass Gott die Symbole in uns hineinlegte, damit wir damit dann die Natur begreifen konnten. Damit können natürlich heutige Wissenschaftler nicht so viel anfangen. Aber auch die Wissenschaft kennt Symbole, vor allem die Mathematik. Hier taucht dieselbe Frage auf: Wo kommen sie her? Zahlen, Gesetze liegen nicht in der Natur herum. Wie ist es möglich, dass der Mensch z.B. mathematische Formeln ersinnt, die dann etwas in der Natur genau treffen? Der Physiker Wolfgang Pauli vermutete, dass da vielleicht eine Abstimmung zwischen Innerem und Äusserem vorliegen müsse, die rational schwer zu erklären ist. Er suchte (gemeinsam mit C.G.Jung) nach diesem übergreifenden Prinzip, aber kam nicht mehr dazu, es weiter zu erforschen“

    Ich muss zugeben, der Gedanke an C.G. Jung kam mir früher schon mal, deshalb hatte ich noch einen Link auf Lager, sehr erstaunt stellte ich fest, dass der Autor des Beitrages Herr Sünner ist: http://www.ruedigersuenner.de/drachen.html

    Übrigens, bei uns wird im Sommer ein „Studium Generale“ angeboten, welches u.a. auch die Weltreligionen behandelt. Der Religionswissenschaftler Dr. Gereon Vogel behandelt das Thema: „ Das religiöse Erbe der Naturvölker – Die Geschichte der Erforschung der Religionen schriftloser Völker; Lebensformen und religiöse Konzepte; Geistwesen und Ahnen, Mythen und Gebete; Sakrale Handlungen: Opfer, Zauber und Orakel.“ Da Du mich ja gebeten hast wieder einen Gastbeitrag für Dein Blog zu schreiben wollte ich über Naturvölker, wie die Indianer, schreiben. Das obige Thema passt nun super dazu, ich werde es mir auf keinen Fall entgehen lassen. Wenn Du möchtest schreibe ich über dieses Thema.

  84. @Mona: religiös-spirituelle Individualentwicklung

    Als ich schrieb, der Mensch hätte keinen Einfluss auf den Verlauf seiner spirituell-religiösen Entwicklung, da hatte ich den heranwachsenden Menschen im Sinn. Er wächst in einer gegebenen Umgebung auf und kann auch nicht beeinflussen, was Umwelteindrücke bei ihm bewirken. Dass er aktiv seine Spiritualität schulen kann (durch Meditationstechniken oder ähnlichem), ist richtig. Ob diese Schulung aber von Erfolg gekrönt ist, liegt nicht wirklich in seiner Macht (das heißt, es genügt nicht, zu wollen, man muss auch können). So wollte ich das verstanden wissen.

  85. @Rüdiger Sünner – Symbole und Zahlen

    »Es wird hier vermutet, dass frühe Menschen, um nicht wahnsinnig zu werden, mythologische oder spirituelle Einordnungssysteme erfinden mussten.«

    Diese Darstellung trifft nicht ganz meine Vermutung. Die Fähigkeit, auch mit unerklärlichen Wirkzusammenhängen umgehen zu können, wurde m.E. nicht erfunden, sondern hat sich evolutiv entwickelt. Das geschah wohl alles im Zuge der hocheffektiven Auslese (durch cooperative breeding und anderer Selektionsmechanismen).

    Das bewusste Erkennen von Ursache und Wirkung dürfte für frühe Menschen (also kurz nach der Menschwerdung) überlebenswichtig gewesen sein. Dabei mussten Wirkungen und Ereignisse ohne erkennbare Ursache natürlich auch irgendwie verarbeitet werden können. Das war m.E. gewissermaßen der Beginn des abstrakten, spirituellen Denkens, der Fähigkeit, sich nicht vorhandene oder nicht existierende Dinge vorstellen zu können. Religiöse Symbole und Rituale sind hingegen spätere kulturelle Erfindungen.

    »Aber auch die Wissenschaft kennt Symbole, vor allem die Mathematik. Hier taucht dieselbe Frage auf: Wo kommen sie her? Zahlen, Gesetze liegen nicht in der Natur herum.«

    Doch, irgendwie schon. Sonst hätten wir sie nicht. Das sagt zumindest die evolutionäre Erkenntnistheorie.

    A. R. Wallace, von dem hier schon die Rede war, war ja überzeugt, dass die Fähigkeit zur Mathematik nicht evolutiv entstanden sein konnte. Ich weiß nun nicht, was die Evolutionspsychologen sagen, aber Mathematik hat ja eine enge Beziehung zur Musik (Harmonien etc.). Vielleicht ist die Rechenkunst ein Nebenprodukt der evolutiven Entwicklung unserer Musikalität. Und Musikalität dürfte eng mit der Entwicklung der Sprachfähigkeit zusammenhängen.

    Grundsätzlich stellt sich bei den einzelnen Begabungen, Fähigeiten und Merkmalen schon die Frage, ob diese einst einen selektiven Vorteil hatten oder sich einfach so nebenher entwickelt haben, begleitend zu anderen Anpassungsmerkmalen. Da ist noch Vieles ungeklärt.

    »Der Physiker Wolfgang Pauli vermutete, dass da vielleicht eine Abstimmung zwischen Innerem und Äusserem vorliegen müsse, die rational schwer zu erklären ist. Er suchte (gemeinsam mit C.G.Jung) nach diesem übergreifenden Prinzip, aber kam nicht mehr dazu, es weiter zu erforschen«

    Auch hier könnten evolutionstheoretische Überlegungen weiterhelfen.

  86. Evolution der Mathematik

    Der Evolutionspsychologe Pinker sagt dazu:

    ‘Drei Bären gehen in eine Höhle. Zwei verlassen sie wieder. Ist es eine gute Idee, in die Höhle zu gehen?’

  87. @Mona: Zu Gereon Vogel

    Das ist eine super Idee! Du schriebst: Der Religionswissenschaftler Dr. Gereon Vogel behandelt das Thema: „ Das religiöse Erbe der Naturvölker – Die Geschichte der Erforschung der Religionen schriftloser Völker; Lebensformen und religiöse Konzepte; Geistwesen und Ahnen, Mythen und Gebete; Sakrale Handlungen: Opfer, Zauber und Orakel.“ Da Du mich ja gebeten hast wieder einen Gastbeitrag für Dein Blog zu schreiben wollte ich über Naturvölker, wie die Indianer, schreiben. Das obige Thema passt nun super dazu, ich werde es mir auf keinen Fall entgehen lassen. Wenn Du möchtest schreibe ich über dieses Thema.

    Das machen wir auf jeden Fall, auf den Gastbeitrag freue ich mich! Und grüße Gereon bitte herzlich von mir, wir kennen uns und hatten schon verschiedentlich (und positiv) miteinander zu tun! 🙂

  88. @Rüdiger Sünner – Korrektur:

    Mein letzter Satz sollte lauten:

    Auch hier könnten erkenntnistheoretische Überlegungen weiterhelfen.

  89. @Jürgen Bolt – Argument

    »Ich möchte mich revanchieren mit der Empfehlung von David ‘multilevel selection’ Wilsons ‘Darwins Cathedral’. Darin weist er Ihr Argument zurück und präsentiert überzeugende Alternativen (p 98 ff).

    Ich glaube, Ihr Argment unterschätzt den Rationalismus unserer Vorfahren und überschätzt unseren eigenen.«

    Vielen Dank für die Empfehlung. Wenn ich Sie recht verstehe, dann ist Wilson anderer Ansicht als ich, was die evolutive Entwicklung der spirituellen Fähigkeit und des abstrakten Vorstellungsvermögen angeht. Auf Seite 98 ff. habe ich auf die Schnelle aber nichts in der Richtung finden können. Vielleicht liegt das daran, dass Wilson dort über die Gott-Person-Beziehung spricht. Ich hingegen bezog mich auf eine evolutionäre Entwicklungsstufe, die weit davor lag. Deshalb glaube ich nicht, dass ich den Rationalismus der ersten Menschen, also am Übergang vom Affen zum Menschen, unterschätze. Unseren eigenen Rationalismus hingegen überschätze ich schon hin und wieder… 😉

    Zu Heritabilität und Reproduktionserfolg:

    »Die Hypothese ist doch, daß Religiosität in Stammesgesellschaften positiv selektiert wurde. Von den 50% religiöser Nachkommen schafften es also mehr ins reproduktionsfähige Alter als von den 50% Nichtreligiösen, z.B. durch bessere soziale Vernetzung.«

    Dass nur die Hälfte der Kinder ebenso religiös wird wie ihre Eltern, ist ein Befund aus der Gegenwart (in England).

    Ich unterstelle jetzt mal, dass heutzutage Religiosität nicht mehr positiv selektiert wird. Alle Nachkommen erreichen das fortpflanzungsfähige Alter. Die Verbreitung des Merkmals kann also nur über eine gesteigerte Fortpflanzungsrate erfolgen.

    Vielleicht reicht eine Heritabilität von 50% ja aus, um ein Merkmal in einer Population zu verbreiten. Was mich nur stutzig macht, ist, dass Religiosität ja per Gruppenselektion in die Welt gekommen sein soll. Also sollte doch Religiosität heute allen Menschen zu Eigen sein. Nun haben wir aber nicht wenige Menschen, die definitiv nicht religiös sind. Den Einwand, dass auch nicht alle Menschen musikalisch sind, lasse ich nicht gelten, da für die Musikalität keine Gruppenselektion postuliert wird.

    Noch einmal:

    Wenn seit dem Auszug aus Afrika vor 200.000 Jahren Religiosität ein evolutives Erfolgsmodell war, wieso kann man heute, nach 10.000 Generationen, in Deutschland nur 10% der Bevölkerung als “Traditions-Christen” bezeichnen? (1) Da stimmt doch etwas nicht. Selbst wenn man die knapp 18% “spirituellen Sinnsucher” noch hinzuzählt, scheint es mir gewagt, von einem noch immer andauernden Reproduktionserfolg der religiösen Menschen zu sprechen.

    Das Einfachste wäre, man rechnet das mal durch, dann bräuchte man nicht zu spekulieren.

    (1) nach Daten der deutschen Spiritualitäts-Studie von 2006, Identitiy Foundation

  90. @Balanus: Habs jetzt verstanden

    Glaube ich jedenfalls. Wenn wir die Hypothese aufrecht erhalten wollen, Religiosität sei adaptiv, dann könnte uns das zu der Frage führen, ob auch Areligiosität positiv selektiert wurde. Es sei denn, jemand rechnet das mal durch und kommt auf die knapp 30% Religiöser in Deutschland. Was Sie bezweifeln. Oder wir geben die Ausgangshypothese auf. Interessanter Gedanke.

    Cochran und Harpending argumentieren ja in ‘The 10.000 year explosion’, daß die Evolution des Homo sapiens weitergeht, und das beschleunigt. Übrigens auch eine Empfehlung von Ihnen, Sie sollten mal die Verlage wegen Provisionszahlungen kontaktieren.

  91. Symbole, Zahlen, Klänge

    @Balanus
    1) Wo kommen denn Symbole und Zahlen in der Natur vor? Wenn irgendwo drei Bäume nebeneinander stehen, ist nicht auch gleich die Zahl Drei da. Das Argument, dass wir sie sonst nicht hätten, überzeugt mich nicht so ganz.
    2) Ist Musik und Mathe wirklich so verwandt? Hat ein Musiker z.B. ein Bewusstsein von den Zahlenproportionen der Harmonien, die er gerade spielt?
    Im Gegensatz zu Zahlen gibt es ja Klänge in der Natur und die könnten imitiert worden sein. Interessant aber wird es, wenn aus der Imitation etwas Autonomes, Eigenes, Neues wird, das sich ganz von unmittelbaren Funktionen löst: eine Melodie, selbstvergessenes Improvisieren.
    Das gilt auch für Symbole: man mag z.B. die frühen Sonnen- und Kreissymbole der Megalithzeit auch von der realen Sonne ableiten, aber dann setzt im Inneren der Tempel (Newgrange, Knowth, Gavrinis) das Spiel damit ein, das jeden Naturalismus übersteigt. Ebenso bei den Tierdarstellungen in Lascaux z.B., die wahrscheinlich keine Abbildfunktion haben, sondern zu ganz neuen Formen führen, weswegen Picasso sie so bewundert hat. Mich interessiert jeweils der “Überschuss” übers pragmatisch Herleitbare, letztlich vielleicht der Ursprung von Kreativität. Die simple These mancher Evolutionsbiologen, dass irgendein Clanchef damit seine Weibchen beeindrucken oder die Gruppe stabilisieren wollte, ist mir zu wenig.

  92. @Balanus

    Sie schrieben: Die Verbreitung des Merkmals kann also nur über eine gesteigerte Fortpflanzungsrate erfolgen.

    Ja, und diese ist nachgewiesen. Sowohl als statistische Korrelation europa- und weltweit wie auch in Fallstudien mit extrem kinderreichen Gesellschaften.

    Vielleicht reicht eine Heritabilität von 50% ja aus, um ein Merkmal in einer Population zu verbreiten. Was mich nur stutzig macht, ist, dass Religiosität ja per Gruppenselektion in die Welt gekommen sein soll. Also sollte doch Religiosität heute allen Menschen zu Eigen sein.

    Nochmal: Gruppenselektion finde ich sehr interessant, aber hier geht es zunächst einfach einmal nur um den differentiellen Reproduktionserfolg und die partielle Heritabilität. Die Hypothesen zur Frage, warum es auch heute noch Nichtreligiöse gibt, wurden übrigens hier auch schon mal diskutiert:
    http://www.chronologs.de/…gibt-es-noch-atheisten

    Und hier eine Veröffentlichung dazu:
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/…9.pdf

    Herzliche Grüße!

  93. @Michael Blume

    Das heißt also, dass man zwar fast überall eine höhere Fertilität religiöser Menschen beobachten kann, eine zunehmende Verbreitung der Religiosität aber nur vereinzelt (wie z.B. bei den Amischen oder in Israel)?!

  94. @Michael Blume

    „Das machen wir auf jeden Fall, auf den Gastbeitrag freue ich mich! Und grüße Gereon bitte herzlich von mir, wir kennen uns und hatten schon verschiedentlich (und positiv) miteinander zu tun! :-)“

    Klar, mach ich! Aber wie gesagt es ist erst im Sommer soweit.

    Hier habe ich zur aktuellen Diskussion noch ein paar Links zusammengeglaubt:

    Anscheinend funktionieren die Gehirne von Gläubigen tatsächlich anders, dies gilt leider auch für den Aberglauben.
    http://www.welt.de/…laeubigen-funktionieren.html

    Und Gläubige haben auch mehr Kinder:
    http://www.max-weber-preis.de/…wue/wue_02_07.pdf

    Grundsätzlich läuft es aber wohl doch auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hinaus:
    http://www.kath.net/detail.php?id=16375

    In den USA bekommt man noch mehr Kinder:
    http://idwf.org/…s/religiositaet_und_familie.pdf

    Insgesamt scheint es Gläubigen besser zu gehen.
    http://www.kvp.ch/text.php?txid=293

  95. @Rüdiger Sünner – intelligentes Genom

    »Die simple These mancher Evolutionsbiologen, dass irgendein Clanchef damit seine Weibchen beeindrucken oder die Gruppe stabilisieren wollte, ist mir zu wenig.«

    Derartiges hört vor allem aus dem Munde mancher Evolutionspsychologen.

    Dass der Mensch Mathematik betreiben kann, ist in der Tat höchst erstaunlich. Es scheint so, als hätten die Zahlen schon immer existiert und nur darauf gewartet, vom Menschen entdeckt zu werden. Und im Grunde ist es tatsächlich so.

    Ein bisschen Zählen können ja bereits manche Tiere, besonders einige Vögel können das ganz gut, glaube ich. Der Mensch hat zehn Finger, und wir haben ein Dezimalsystem. Nun gut, das mag auch andere Gründe haben. Aber strecken Sie mal drei in Finger in die Luft und betrachten Sie das Symbol für Drei (3). Fällt Ihnen was auf?

    Das menschliche Gehirn ist dank der Evolution so konstruiert, dass es bestimmten Lauten und Zeichen Bedeutung beimessen kann. Insofern kommen Zahlen und Symbole in der Natur vor.

    Denn es ist ja keine Frage, dass auch die funktionale Struktur des menschlichen Gehirns ein Produkt der natürlichen, evolutiven Entwicklung ist, und zwar einer überaus rasanten Entwicklung (was sehr für einen außerordentlich starken Selektionsdruck spricht).

    Einen Hinweis darauf, wie die Evolution das leisten konnte, liefert vielleicht die Beobachtung, dass kognitive Fähigkeiten stark mit den emotionalen Fähigkeiten zusammenhängen. Wenn wir über ein schwieriges mathematisches Problem nachdenken, dann ist die Lösung des Problems begleitet von einem Gefühl der Freude. Diese Art zu denken und Probleme zu lösen hat sich evolutiv offenbar bewährt. Das richtige Erkennen und Verstehen eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs wird endogen belohnt.

    Und nicht zuletzt: Wenn es möglich war, dass sich so abstrakte Dinge wie Religiosität und Gottesvorstellungen evolutiv entwickeln konnten, ohne dass tatsächlich übernatürliche Erscheinungen in der Natur beobachtet werden konnten, wieso dann nicht auch mathematische und künstlerische Fähigkeiten? Oder die Archetypen C. G. Jungs?

    Wenn man also fragt, wie die “Abstimmung zwischen Innerem und Äusserem” rational zu erklären sei, dann liegt der Schlüssel zur Antwort in den Genen.

    Denn die Tatsache einer evolutiven Entwicklung des Gehirns bedeutet nichts weniger, als dass die Instruktionen für den strukturellen Aufbau des Gehirns und damit auch ein a-priori-Wissen über die Welt in den Genen gespeichert sind. Und nicht nur das, auch die Instruktionen dafür, wie auf Wahrnehmungen und Umweltreize während der Individualentwicklung zu reagieren ist, also das epigenetische Programm, ist in den Genen verankert.

    Kein Wunder, dass manche von einem intelligenten Genom sprechen.

  96. Intelligentes Genom

    Danke für die anregenden Bemerkungen.
    Wenn ich sagte, Symbole, Begriffe und Zahlen kommen nicht in der Natur vor, meinte ich die äussere, sichtbare Natur. Die 3 hat tatsächlich Ähnlichkeit mit drei Fingern, aber ist das bei anderen Zahlen auch so?
    Die Freude, die bei der Lösung eines mathematischen Problems oder der Erkenntnis eines Naturgesetzes aufkommt, könnte auch damit zusammenhängen, dass hier mein Geist mit geistigen Zusammenhängen ausser mir zur Deckung kommt. Und vielleicht hängen beide auch auf einer tiefgründigen Ebene zusammen
    (so denken jedenfalls manche Quantenphysiker heute).
    Einstein – der ja nun wahrlich kein Esoteriker war – definierte seine “kosmische Religiosität” als ein Staunen über eine “überlegene Vernunft” im Kosmos, der gegenüber das menschliche Denken nur ein “nichtiger Abglanz” sei. Eine interessante Erklärung auch zur Herleitung von Mathematik, Kunst, Religion. Dann würde in gelungenen Operationen unseres symbolischen Denkens unsere “innere” mit dieser “äusseren Vernunft”vorübergehend zur Deckung kommen, was auch Phänomene wie Intuition, Inspiration, Eingebung etc. erklären würde.
    Dazu bedarf es keines übernatürlichen Akteurs oder monotheistischen Gottes, aber die Frage bliebe offen, woher diese “kosmische Vernunft” kommt. Einstein beantwortet diese Frage nicht, verharrt in andächtiger Ehrfurcht, was ich eine schöne Haltung finde. So bewundernswert die heutige Evolutionstheorie ist, so sehr verführt sie einen auch dazu, alles und jedes in dieses Modell hineinzupacken.
    Dabei ist sehr vieles noch unklar, auch die Rolle der Gene, die ohne das sie umgebende Ganze ja nichts sind und auch erst entstanden sein müssen.

  97. ergänzend

    Der große Mathematiker Ramanujan sagte: “Eine Gleichung hat keinen Sinn. Es sei denn, sie drückt einen Gedanken Gottes aus.”

    Michael Stelzner, der sich mit Zahlensymbolik befaßte, findet: Die Zahl gehört zwei Welten an, der konkreten Welt und der Welt der Ideen. Zahlen sind älter als Worte. Ihre Existenz ist wirklicher als die Existenz von Zeit und Raum. Sie sind präexistent und das Abstrakte an sich.
    Nur deshalb, so Stelzner, lassen sich Raum und Zeit durch sie ordnen.

    Übrigens: In der Religion der Maya waren die einzelnen Götter mit Zahlen einfach identisch.

  98. und..

    Naja, an das Präexistentielle muß man natürlich auch erst ´mal glauben. “Man glaubt nicht, was man alles glauben muß, um ungläubig zu sein.” (Ulrich Lüke)

  99. @Rüdiger Sünner

    „Die Freude, die bei der Lösung eines mathematischen Problems oder der Erkenntnis eines Naturgesetzes aufkommt, könnte auch damit zusammenhängen, dass hier mein Geist mit geistigen Zusammenhängen ausser mir zur Deckung kommt. Und vielleicht hängen beide auch auf einer tiefgründigen Ebene zusammen
    (so denken jedenfalls manche Quantenphysiker heute).“

    Da empfehle ich das Buch von Fritjof Capra: Das Tao der Physik
    Hier kurz vorgestellt:
    http://de.wikipedia.org/…apra#Das_Tao_der_Physik

    Auch interessant:
    http://radszun.de/leere_und_form.htm

  100. Capra und Dürr

    ..sind systemische Denker.
    Hans-Peter Dürr verdeutlicht in seinem neuesten Buch “Warum es ums Ganze geht”, u.a. den von ihm aus der neuen Physik hergeleiteten Zusammenhang zwischen Religion und Wissenschaft. Sehr spannend. Er erläutert die begrenzte Gültigkeit der von Herrn Sünner angesprochenen Außensicht.

  101. @Rüdiger Sünner : Evolution, Einstein und Quanten

    »So bewundernswert die heutige Evolutionstheorie ist, so sehr verführt sie einen auch dazu, alles und jedes in dieses Modell hineinzupacken.«

    Tja, aber welche Alternative bleibt uns denn, wenn wir akzeptieren, dass alles Leben auf Erden sich evolutiv entwickelt hat? Dann muss man doch zwangsläufig alle Erscheinungen des Lebens unter Berücksichtung evolutionärer Entwicklungsprozesse, soweit wir sie kennen, versuchen zu erklären. Es wäre höchst unwissenschaftlich, wenn man sich nicht um eine solche evolutionäre Erklärung bemühen würde, sondern gleich das Wirken rein geistiger oder sonst wie gearteter Kräfte postulierte.

    Ich kann mir schon vorstellen, was Einstein mit der “überlegenen Vernunft” im Kosmos gemeint hat, nämlich die Tatsache, dass es keine naturgesetzlichen Widersprüche gibt, dass alles perfekt zueinander passt und wunderbar aufeinander abgestimmt erscheint.

    Vielleicht sollte man sich mit diesem Bild vor Augen auch die evolutionäre Entwicklung des Gehirns vorstellen, und zwar beginnend mit den allerersten Nervenzellen in einfachst gebauten Vielzellern. Nervenzellen sind darauf geeicht, Reize aus der Umwelt (außen) zu empfangen und den Organismus (innen) adäquat reagieren zu lassen. In der ganzen langen Entwicklungsreihe bis hin zum Menschen ging es immer um eine korrekte, zweckmäßige innere Abbildung der Außenwelt. Angesichts dieser langen Schulungsphase und dem erreichten Komplexitätsgrad des Nervensystem wäre es doch viel erstaunlicher, wenn das Gehirn nicht in der Lage wäre, einige der Gesetzmäßigkeiten der Natur zu erkennen.

    Doch machen wir uns nichts vor: Alle individuellen Erkenntnisse haben nichts mit einem evolutionären Erkenntnisfortschritt zu tun.

    Sie sprechen die Quantenphysik an. Ich finde, da muss man ganz klar trennen zwischen den atomaren Grundbausteinen, die wohl in der Tat alle irgendwie zusammenhängen (ergibt sich logisch aus dem vermuteten Urknall), und den darauf aufbauenden höheren Strukturen, die ja völlig neue Eigenschaften besitzen. Aus den Eigenschaften der einzelnen Atome lassen sich beispielsweise nicht die Eigenschaften des Wassers vorhersagen, und aus den Eigenschaften der Biomoleküle nicht die lebender Systeme. Und die Eigenschaften einzelner Nervenzellen verraten uns nichts über das menschliche Bewusstsein. Die Welt ist hierarchisch konstruiert, insofern sehe ich keinen direkten Zusammenhang zwischen zufälligen Quantenphänomenen und zielgerichteten Denkprozessen.

    Vieles ist noch unklar, da haben Sie Recht. Was aber die Rolle der Gene betrifft, da haben wir inzwischen schon recht gute Vorstellungen über deren Funktion im “umgebenden Ganzen”. Aber natürlich kann man nicht von den Struktureigenschaften der DNA auf das dazugehörige Lebewesen schließen (siehe oben).

  102. Was ist Geist?

    Die Allergie von Naturwissenschaftlern gegenüber “Geist” und “Gott” ist insofern verständlich, als diese Begriffe jahrhundertelang als von der Materie getrennt gedacht wurden. Schon in der Bibel schwebt der Geist “über” den Wassern statt “in” ihnen.
    Wie wäre es mit einem “Geist” IN statt ÜBER der Materie? Das muss auch nicht im Widerspruch zur Evolutionstheorie stehen, es kommt eben ganz auf den Geistbegriff an. Für mich ist es eher das kreative Potential der Natur, das nicht auf Chemie oder Physik zu reduzieren ist, kein über den Wolken schwebender Nebel oder ein streng vorherbestimmter Plan im Sinne eines “intelligent design”. Eher etwas, zu dem auch Zufall, Spiel, Überschuss und Überraschung gehört. Goethe und Haeckel sagten, die Natur sei eine Künstlerin: der Geistbegriff, der darin steckt, gefällt mir ganz gut.

  103. Zitat

    …aus “Warum es ums Ganze geht” (Dürr):
    “Am Ende allen Zerteilens von Materie bleibt etwas, das mehr dem Geistigen ähnelt – ganzheitlich, offen, lebendig: Potentialität, die Kann-Möglichkeit einer Realisierung. …Das mag eine schlechte Nachricht für diejenigen bedeuten, die Natur manipulieren und letztlich fest in den Griff bekommen wollen. Denn wir können prinzipiell nicht genau wissen, was unter vorgegebenen Umständen in Zukunft passieren wird. Und dies, wohlgemerkt, nicht aus noch mangelnder Kenntnis, sondern als Folge der Sowohl-als-auch-Struktur der Potentialität, die mehr die lose Verknüpfungsstruktur freier Gedanken besitzt beziehungsweise einer “Ahnung” gleicht.”

  104. @Michael Blume: Gastkommentar

    Vielen Dank für Ihre Einladung zu einem Gastkommentar. Ich wußte und weiß immer noch nicht, ob ich das freundliche Angebot annehmen möchte. Deshalb habe ich ‘religiös’ reagiert, Ihre Einladung verdrängt und vergessen, daß ich Ihnen eine Antwort schulde. Tut mir leid!

    Das Buch soll heute bei meinem Händler eintreffen, und da ab Donnerstag hier in Köln eine mir etwas zu ethanophile Brauchtumspflege stattfindet und das öffentliche Leben blockiert, werde ich auch Zeit haben, es zu lesen. Wenn ich dann denke, daß ich etwas dazu zu sagen habe, das Ihre Leser interessieren könnte, melde ich mich gerne bei Ihnen.

  105. Die Idee existiert nicht außerhalb des Geistes

    Als Künstler hat man natürlich eine andere Arbeitsweise, wie ein Naturwissenschaftler und daraus erwächst in der Regel auch eine andere Sicht der Dinge. Die Vorgehensweise eines Künstlers ist eine ganzheitliche und wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Ahnen ebenfalls ein ganzheitliches Denken hatten. Ich frage mich schon seit längerer Zeit ob es einen Zusammenhang zwischen Spiritualität und Kunst gibt. Gerade für die „frühen“ Künstler war ja Kunst und spiritueller Ausdruck in der Regel dasselbe. Zum Beispiel schult man im Rinzai-Zen die Spiritualität nicht nur durch Meditation, sondern auch durch die Betätigung mit Kunst, Musik und Literatur/Dichtkunst. Spiritualität ist m.E. die Fähigkeit, hinter die Grenzen zu blicken. Das Werkzeug dazu liefert uns das meditative Bewusstsein. Für die Menschen der Urzeit war der erste Tempel in dem sie spirituelle Wahrnehmung erfahren haben die Natur. Sie war alleinige spirituelle Lehrmeisterin für Schamanen, Seher, Druiden, Yogis und Weise aller Art. Naturvölker sprechen von einem Geist, der in allen Dingen wohnt und alles durchfließt. Erst mit dem Aufkommen der dualistischen Philosophien durch die griechischen Klassiker kam es zu einem Bruch. Die „östlichen“ Philosophien haben diesen Bruch nicht in dieser Weise vollzogen, daher fällt es dort vielleicht leichter den Geist in den Dingen zu sehen, anstatt außerhalb, wie wir.

    Das Eine
    nicht zu durchdringen
    bedeutet,
    beides zu verfehlen.

    von Meister Sosan

  106. Die Kunst des Übersetzens

    Künstler und Wissenschaftler, die Ahnung haben i.S. Dürrs (s.o.), haben zur Platonischen Welt der Ideen einen guten Draht. Sie sind darüber hinaus in der Lage, als Mittler und Übersetzer des Unsagbaren zu fungieren; d.h., sie können es für Andere nachvollziehbar machen.
    (Vergleichbar wird im Bereich der Esoterik dem Medium bei einer spirituellen Sizung eine ähnliche, grenzüberschreitende Fähigkeit zugetraut.)

  107. Platonische Ideen

    Ich glaube wiegesagt auch, dass in der Evolution neben Mutation und Selektion noch etwas anderes tätig ist, aber mit dem platonischen Ideenhimmel muss man vorsichtig sein, da er mit dem Entwicklungsgedanken schwer vereinbar ist. Die Platonischen Ideen haben etwas Starres, Statisches, Ewiges, weshalb sie auch von unserem Papst so geliebt werden. Aber Evolution ist ein offener, kreativer Prozess, wo auch evt. dahinter wirkende Götter, Geister oder Ideen nicht so genau wissen, wo es hinläuft. Das muss so sein, weil wir sonst keine Freiheitsräume hätten, weil sonst das Zufallsprinzip in der Evolution ignoriert werden müsste und wir auch keine Antwort auf die Existenz des Bösen hätten.
    Interessant ist, dass christlich orientierte Physiker eher zum platonischen Ideenhimmel neigen, Biologen wie Rupert Sheldrake eher zu Aristoteles, der “Ideen” nicht ausserhalb, sondern innerhalb der sich entwickelnden Formen annimmt.
    Dürr ist, glaube ich, auch kein Platoniker.

  108. Künstlerin Natur verstehen

    Für Sarah Hrdy ist “Mutter Natur” eine Metapher für die Evolution. Ebenso gut können wir “Künstlerin Natur” als Metapher für die gesamte Evolution nehmen, also einschließlich des nichtbiologischen Anfangs.

    Aber was wäre damit gewonnen, wenn wir eine Geist IN der Materie annehmen?

    Wäre es ein Fortschritt, wenn wir die Knallgas-Reaktion als Ausdruck des “kreativen Potentials der Natur” sähen? Oder befriedigen solche oder ähnliche Vorstellungen nur unser ästhetisches Empfinden?

    Was wären denn die praktischen Konsequenzen? Wenn wir dem Geist in der Materie keine Wirkkraft zuschreiben, bliebe für den Ingenieur, den Naturforscher, den Arzt, den Automechaniker und eben alle, die täglich mit Materie umgehen müssen, alles so wie bisher. Oder sollen wir annehmen, dass der Geist sich in den physikalischen Kräften zeigt? Aber auch dann bliebe diese Vorstellung ohne praktischen Nutzen.

    Ich habe den starken Eindruck, bei all diesen Geist- und Gottes-Vorstellungen geht es letztlich nur um das seelische Wohlbefinden. Weil es schwer fällt, die letzten Warum-Fragen einfach offen zu lassen. Daran hat sich im Laufe der menschlichen Evolution offensichtlich nichts geändert.

  109. @R.Sünner

    Ich habe mir eben “Das schöpferische Universum” von Sheldrake bestellt. Vielleicht haben Sie recht, daß das platonische Modell zu statisch ist. Aber ich muß mir das erst überlegen. Bislang fand ich es unübertroffen.

  110. Ästhetik

    Das sehe ich anders. Metaphern, die das kreative oder ästhetische Potential der Natur hervorheben, sind sehr freilassend, schliessen Forschung nicht aus und betonen das Wunderbare, Geheimnisvolle der Natur, verstärken auch Gefühle des Sich-Sorgens um die Natur, Ökologie etc.
    Jeder normale Mensch kennt so etwas, vielen Wissenschaftlern wurde dies im Studium systematisch abtrainiert, was sicher keine reichere Persönlichkeit aus ihnen gemacht hat.
    Ohne Metaphern geht auch in der Naturwissenschaft gar nichts, Biologie und Physik wimmeln selbst von Bildern und Gleichnissen: Urknall, Schwarzes Loch, Kraft, Partikel, Atomkern, Feld, Welle, dunkle Materie, genetischer Code, Schaltungen der Synapsen, Programme, Gen-Schalter. Diesen Bildern könnte man auch ihren Nutzen absprechen, ja sie verzerren möglicherweise sogar unser Verständnis der Natur, denn warum sollte diese ausgerechnet so wie unsere Maschinen oder Computer funktionieren?
    Ästhetische Gleichnisse und Denkmodelle sind also keine hübsche oder sogar überflüssige Zugabe zur Wissenschaft, sondern sind bei den grossen Pionieren sogar am Entstehungsprozess von Theorien beteiligt (siehe die ungemein lesenswerten Bücher von Ernst-Peter Fischer dazu).
    Sogar Darwin selbst beklagte im Alter den “seltsamen Verlust der höheren ästhetischen Empfindungen … Mir scheint, mein Geist ist eine Maschine geworden.”
    Welche bitteres Resumée eines solch genialen Forscherlebens.

  111. praktische Bedeutung

    Würde Geist nicht in der Materie wirken, und sähe man ein göttliches Prinzip sich nicht in jedem Geschöpf verwirklichen sondern verträte die reduktionistische Ansicht, so wären alle Geschöpfe vogelfrei, d.h., nur wertvoll im Hinblick auf ihre (auch evolutive) Funktion.
    Sofern diese Funktion nicht mehr erfüllt werden kann, z.B. durch Krankheit, oder auch noch nicht erfüllt werden kann, also beim Embryo, sind sie wertlos. Dann kann man mit ihnen machen, was man will.
    Es gibt einen Befürworter der verbrauchenden Embryonenforschung und der aktiven Sterbehilfe, der seine Haltung auf diese Weise begründet. (Lüke kritisiert ihn scharf und treffend, @Balanus! Er zeigt das Menschenverachtende dieser Haltung auf.)

    Das sind schon recht praktische Dinge, an denen sich die Geister scheiden – da geht es durchaus um mehr als um´s Wohlbefinden.

  112. @Rüdiger Sünner: Konkret

    Welche der bewährten naturwissenschaftlichen Metaphern (erdacht von neugierigen, wissensdurstigen, schöpferischen Wissenschaftlern mit viel Sinn für Ästhetik) würden Sie denn durch andere Metaphern ersetzen wollen, eben durch solche, die das „ästhetische Potential“ der Natur hervorheben?

    Naturwissenschaftler entzaubern die Natur doch allenfalls für jene Zeitgenossen, die aus dem Stand der Sterne etwas über das eigene Schicksal erfahren wollen. Für die Übrigen wächst mit jeder neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnis das Staunen über die wunderbar komplexe Natur, wo eins ins andere greift.

  113. Polarisierung

    @Balanus
    Sie beginnen eine polemisch getönte Polarisierung, die meines Erachtens unnötig ist, die aber heute bei Diskussionen zum Verhältnis von Wissenschaft und Spiritualität weit verbreitet ist. Man müsste mal fragen, warum eigentlich.
    Es gibt nicht nur die präzise forschenden Naturwissenschaftler und diejenigen, die- wie sie schreiben – sich nach dem Stand der Sterne richten. Ernst Haeckel z.B. war Darwinist und hat sehr wohl das ästhetische Potential der Natur hervorgehoben. Er näherte sich den Radiolarien auch als Zeichner und sprach von den “Kunstformen der Natur”. Ebenso der berühmte Biologe Adolf Portmann. Sogar der heute lebende Gen-Forscher Sean Carroll schreibt in seinem Buch “Evo Devo” über bestimmte Gen-Mechanismen:
    “Diese fantastischen Instrumente überführen die Geographie des Embryos teils wie ein genetischer Computer, teils wie ein Künstler in genetische Instruktionen, mit deren Hilfe dann dreidimensionale Formen entstehen.” Warum schreibt er das?
    Man kann diese Dinge verbinden, sie sprechen ja selbst vom ästhetischen Sinn der Naturwissenschaftler. Wenn dieser Sinn zu Erkenntnissen führt, muss er ja mehr als blosse Projektion oder Esoterik sein und vielleicht ein Pendant in der Natur selbst haben. Es muss erlaubt sein, solche Fragen wenigstens zu stellen.
    Zu den Metaphern: Urknall ist ein völlig idiotischer und irreführender Begriff, zu diesem Zeitpunkt der Evolution war es still und dunkel im Universum, da hat nichts geknallt. Richard Dawkins “egoistisches Gen” ist von derselben irreführenden, aber verkaufsfördernden Machart.

  114. Naturwissenschaft – Ästhetik

    Ich kann nicht finden, daß Balanus hier eine ‘polemisch getönte Polarisierung’ beginnt. Er paraphrasiert im wesentlichen den Schluß von Darwins ‘Origin’. Übrigens stammt der Originaltitel von Carrolls wunderbarem Buch, ‘Endless forms most beautiful’, auch daraus.

    Ich finde nicht, daß man das verbinden kann, sondern plädiere noch einmal für Nietzsches Zweikammersystem. Die Naturwissenschaften in der einen Kammer, die Spiritualität und Ästhetik in der anderen. Und wir brauchen allerdings beide.

    Die Naturwissenschaften bereiten uns das Vergnügen, uns von den Irrtümern und Vorurteilen unserer Intuitionen zu befreien. Daneben stehen unsere ästhetischen Bedürfnisse, die diesen Anspruch nicht haben dürfen, aber genauso unentbehrlich sind. Ähnlich äußert sich übrigens Kant in der ‘Kritik der praktischen Vernunft’: Der ‘bestirnte Himmel über mir’ steht für das naturwissenschaftliche Vermögen, das ‘moralische Gesetz in mir’ ist zwar nicht die Ästhetik – die folgte erst in seiner dritten Kritik – aber vielleicht darf man die beiden letzteren in einer Kammer vereinen.

    Nietzsche distanzierte sich hier, wie ich meine zurecht, von seiner Verehrung für Wagners Gesamtkunstwerk, ohne den Genuß der Wagnerschen Musik aufgeben zu müssen. Andere Menschen lieben vielleicht nicht Wagner sondern religiöse Texte, das ist Geschmacksache und nicht zu kritisieren. Aber den Anspruch von Künstlern oder Religiösen, eine höhere Wirklichkeit zu beschreiben, muß man, denke ich, zurückweisen.

  115. ergänzend

    Auch Einstein sah in der Schönheit einer Formel ein Indiz für ihre Richtigkeit.
    Einen interessanten Aufsatz über Chemie und Schönheit schrieb Achim Müller (meistzitierter deutscher Chemiker)
    http://www.uni-bielefeld.de/(de)/ZIF/Publikationen/99-4-Mueller.pdf
    , worin er von der Begabung der Materie zur Kreativität spricht.
    Er schließt mit einem Zitat von Schiller:
    “Nur durch das Morgentor des Schönen drangst du in das Erkenntnisland.”

  116. Zweikammersystem

    Der Verzicht auf die Verbindung von wissenschaftlichem, ästhetischen und spirituellen Vermögen im Menschen klingt mir zu resignativ und endgültig. Neben Kant gab es auch noch viele andere Philosophen, die gerade diese Trennung bekämpften. Und übrigens auch Naturwissenschaftler.
    Heute leben wir im Zeitalter einer überspezialisierten Forschung, wo schon in der wissenschaftlichen Ausbildung kein Wert mehr auf eine künstlerische Annäherung an Phänomene wie Form, Gestalt, Metamorphose etc. gelegt wird. Ich kann durch Bilder oder Texte von Paul Klee genausoviel über die Natur lernen wie durch das Buch von Sean Carroll. Wieso kann man das nicht verbinden, als gegenseitige Anregung? Ich finde sogar, das die Trennung von Rationalität und Spiritualität beide Bereiche nachhaltig beschädigt: heraus kommt auf der einen Seite hirnlose und wissenschaftsfeindliche Esoterik, auf der anderen Seite dogmatischer und kalter Rationalismus, der nur der entfesselten Naturbeherrschung dient.

  117. Philosophie @Jürgen Bolt

    „Aber den Anspruch von Künstlern oder Religiösen, eine höhere Wirklichkeit zu beschreiben, muß man, denke ich, zurückweisen.“

    Es gibt hier kein oben oder unten – denn alles ist letztendlich miteinander verbunden und greift ineinander. Insofern ist das „Zweikammersystem“ allmählich ein Auslaufmodell. Leider findet in Deutschland kaum eine Auseinandersetzung zwischen philosophischen Traditionen in Europa und Asien statt, obwohl es Übereinstimmungen in der Gedankenwelt von Kant, Nietzsche und Heidegger mit dem Zen-Buddhismus und seinem Vertreter Dogen gibt.
    Das Buch „Deutsche Philosophie und Zen-Buddhismus/Komparative Studien“, von Kogaku Arifuku, beschäftigt sich mit diesem Thema.

  118. @Rüdiger Sünner: Klee und Carroll

    ‘Wieso kann man das nicht verbinden, als gegenseitige Anregung?’ Als gegenseitige Anregung natürlich immer.

    ‘Ich kann durch Bilder oder Texte von Paul Klee genausoviel über die Natur lernen wie durch das Buch von Sean Carroll.’ Über Sean Carroll können wir uns wahrscheinlich einigen – wissenschaftliche Aussagen sind intersubjektiv überprüfbar. Bei Klee muß ich passen, ich liebe van Gogh, Cezanne und Monet. Wir können einander vielleicht anregen, neue Schönheiten in Kuntwerken zu entdecken, müssen aber letztlich anerkennen, daß es Geschmacksache und nicht intersubjektiv überprüfbar ist.

  119. @Mona: Auslaufmodell

    Mag sein, daß das ein Auslaufmodell ist, aber warum soll ich mit der Mode gehen?

    Übrigens wäre ich vorsichtig mit Aussagen, ‘in Deutschland…’. Das trifft weder allgemein noch auf mich persönlich zu. Ich habe beide Bände des Shobogenzo zuhause und viel studiert, neben anderen Werken des Buddhismus und Daoismus, jahrelang Zenmeditation praktiziert, sowohl in Soto- als auch Rinzai-Klöstern, etc. Wenn ich mich Nietzsches Plädoyer anschließe, dann nicht aus Ignoranz, sondern weil ich die Attraktivität asiatischer Spiritualität erlebt habe, sowie Nietzsche dem Zauber Wagners erlegen war.

    Sie kennen wahrscheinlich die Zen-Geschichte des Maler-Mönches, der für ein Porträt einer Kurtisane einen so hohen Preis verlangte, daß sie ihm Materialismus und Geldgier vorwarf. Bis sich herausstellte, daß er seine Honorare genutzt hatte, um soziale Projekte zu finanzieren. Man sollte eben nicht übereilt über die Motive seiner Mitmenschen spekulieren.

  120. Wissenschaft und Malerei

    @Jürgen Bolt
    Würden sie zustimmen, wenn ich sage, die von ihnen genannten Maler eröffnen Zugänge zur Natur, wie es ein Molekularbiologe nie könnte? Und dass diese Zugänge zusammen mit denen des Biologen uns näher an das rücken können, was man mit “Wirklichkeit” bezeichnet?

  121. Fächerübergreifender Unterricht @Jürgen Bolt

    „Mag sein, daß das ein Auslaufmodell ist, aber warum soll ich mit der Mode gehen?“

    Ich hatte eigentlich den “fächerübergreifendenden ” Unterricht im Hinterkopf, der vor einigen Jahren in unseren Schulen eingeführt wurde. „ Dieser hat zum Ziel, in besonderer Weise die Vermittlung von Sachkompetenz, Sozialkompetenz, Methodenkompetenz und, wenn möglich, Moralkompetenz (verstanden als Fähigkeit, Handlungsalternativen moralisch zu beurteilen) miteinander zu verbinden (Peterßen 2000: 65). Diese Zielsetzung steht unter dem Primat einer auf die Handlungsfähigkeit in der außerschulischen Realität abzielenden Handlungsorientierung.“

    Von hier: http://de.wikipedia.org/…verbindender_Unterricht

    Und in den Naturwissenschaften: http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/2043/

    „Übrigens wäre ich vorsichtig mit Aussagen, ‘in Deutschland…’. Das trifft weder allgemein noch auf mich persönlich zu. Ich habe beide Bände des Shobogenzo zuhause und viel studiert, neben anderen Werken des Buddhismus und Daoismus, jahrelang Zenmeditation praktiziert, sowohl in Soto- als auch Rinzai-Klöstern, etc. Wenn ich mich Nietzsches Plädoyer anschließe, dann nicht aus Ignoranz, sondern weil ich die Attraktivität asiatischer Spiritualität erlebt habe, sowie Nietzsche dem Zauber Wagners erlegen war.“

    Ich wollte hier keinem zu nahe treten und freue mich natürlich, dass Sie sich da auskennen. Außerdem schrieb ich „Leider findet in Deutschland kaum eine Auseinandersetzung (…)statt“, das war also nicht generell gemeint. Mir geht es hier auch nicht darum die Meinung anderer Menschen zu diskreditieren, sondern ich freue mich neue Argumente zu hören und zu lernen.

  122. @Rüdiger Sünner: Malerei

    Ich würde dem eingeschränkt zustimmen: für mich ist das so, wenn ich in meinem Lieblingsbuch, Campbell/Reeces Biologie, lese, dann schlage ich auch immer ein Buch mit einem Gemälde van Goghs auf. Aber das ist mein subjektiver Zugang, und ich erwarte nicht, daß ihn irgendjemand teilt. Von Biologie erwarte ich das dagegen, und ich bin überzeugt, daß wir einen solchen Konsens brauchen, um friedlich miteinander umgehen zu können.

  123. @Mona: keine Sorge!

    Sie sind mir nicht zu nahe getreten. Ich wollte Sie nur auf eine Schwäche Ihrer aufmerksam machen. Daß ich ein Beispiel für eine Person bin, die sich sowohl in Biologie als auch in Zen ein bißchen auskennt, ist reiner Zufall und gar nicht wichtig.

    Daß ich Ihnen zustimme, wenn Sie sich für eine solide Allgemeinbildung aussprechen, ist, denke ich, offensichtlich. Mir scheint allerdings, daß die Probleme einseitiger Bildung weniger auf Seiten der Naturwissenschaftler liegen. Ich erinnere nur an Lars Fischers großartigen Blogbeitrag ‘Konstanz, Stadt am Formaldehyd’ und die sich anschließende Komödie in den Kommentaren.

  124. Zweikammersystem

    @Rüdiger Sünner

    Entschuldigen Sie bitte meinen leicht polemischen Unterton im letzten Kommentar. Da stand ich offenbar noch unter dem Eindruck Ihrer Aussage, dass vielen Wissenschaftlern im Studium der Sinn für Schönheit und Ästhetik “systematisch abtrainiert” wird. Derartige Äußerungen werden auch durch das einschränkende “viele” nicht besser und führen bei gerne zu gewissen allergischen Reaktionen.

    Darüber hinaus wollte ich aber wirklich mal konkret wissen, wie Sie sich eine “durchgeistigte” Naturwissenschaft vorstellen und welche “bewährten naturwissenschaftlichen Metaphern” Sie durch andere ersetzen würden.

    Sie haben den “Urknall” und das “egoistische Gen” als Beispiele genannt. Nun weiß ich nicht, ob der “Urknall” (Big Bang—tolle Wortschöpfung) in der Astrophysik wirklich gebräuchlich ist. Von “egoistischen” Genen redet aber kaum ein Biowissenschaftler. Beide Metaphern haben mit seriöser Wissenschaft also wenig zu tun.

    @Jürgen Bolt

    Sie schlagen Nietzsches Zweikammersystem vor (“Die Naturwissenschaften in der einen Kammer, die Spiritualität und Ästhetik in der anderen”). Wenn ich nicht irre, verfährt Herr Blume nach diesem Prinzip (Stichwort: Methodischer Naturalismus/Agnostizismus).

    Ich für meinen Teil brauche kein Zweikammersystem, für mich gehören Naturwissenschaften und Ästhetik oder Schönheit zusammen (außerdem beschränkt sich mein religiöser Glaube auf die Wissenschaft) ;-). Wenn man sich durch eine starke binokulare Lupe oder ein Mikroskop die biologischen Feinstrukturen anschauen, gehen einem die Augen über.

    Aber stimmt schon, wenn man vernünftige Forschungsergebnisse erzielen will, ist ein nüchterner Blick und Rationalismus angesagt. Insofern muss man dann schon hin und wieder Arbeit und Vergnügen trennen.

  125. Geist und Wissenschaft

    @Balanus
    Das mit dem “Abtrainieren” im Naturwissenschaftsstudium habe ich konkret bei Bekannten erlebt und auch bei den Bio- und Physiklehrern meiner früheren Schulzeit. Die haben mir Naturwissenschaften gründlich verleidet, so dass ich mir einen Zugang zum Faszinierenden dieser Disziplinen später selbst erarbeiten musste.
    Aber Sie haben Recht, das war auch ein bisschen pauschal und polemisierend. Dann ist es ja gut, wenn Sie in ihrer wissenschaftlichen Arbeit das Ästhetische berücksichtigen (ich habe allerdings noch nicht recht verstanden, wie). Leider sind sie nicht auf Haeckel und Portmann eingegangen.
    Ihre Probleme mit dem Geistbegriff kann ich sogar verstehen, er ist sehr deutsch und metaphysisch belastet, vielleicht auch unglücklich. Ich bin mir da noch nicht so sicher. Im anglo-amerikanischen Raum versteht ihn kaum keiner.
    Aber manche Quantenphysiker sprechen heute davon, dass Materie eigentlich aus Information besteht und dass das ja etwas Geistähnliches ist. Diese Physiker fragen: Wenn die DNA ein Informationsträger ist, woraus besteht dann die Information? Aus Materie oder Zusammenhängen? Sind Zusammenhänge nicht etwas Geistiges? Der Informationsbegriff könnte also heute eine aktuelle Version früherer Geistbegriffe sein.
    Ich verstehe Spiritualität übrigens (abgeleitet von spiritus = Geist, Hauch) als eine Denkweise, die davon ausgeht, dass Geist nicht nur ein Produkt unserer Gehirnverschaltungen ist, sondern auch draussen im Kosmos existiert. So etwas meinte ja auch Einsteins Rede von der “höheren Vernunft” im All oder der Satz des Astrophysikers James Jeans, das Universum gliche eher einem grossen Gedanken als einer Maschine. Eine Spiritualität in diesem Sinne müssten sie eigentlich ablehnen, oder?

  126. Bildung @Jürgen Bolt

    „Daß ich Ihnen zustimme, wenn Sie sich für eine solide Allgemeinbildung aussprechen, ist, denke ich, offensichtlich. Mir scheint allerdings, daß die Probleme einseitiger Bildung weniger auf Seiten der Naturwissenschaftler liegen. Ich erinnere nur an Lars Fischers großartigen Blogbeitrag ‘Konstanz, Stadt am Formaldehyd’ und die sich anschließende Komödie in den Kommentaren.“

    Ich würde jetzt nicht unbedingt annehmen, dass Naturwissenschaftler pauschal eine bessere Allgemeinbildung haben, das hängt wohl immer von der einzelnen Person ab. In dem Beitrag von Lars Fischer stand ja eine Werbefirma in der Kritik, soweit ich mich erinnere. Gerade in Bezug auf Werbung kann man ja häufig nicht von sachlich richtigen Aussagen ausgehen, denken Sie doch einmal an die vielen „Anglizismen“ die hier verbraten werden, die gibt es in der Originalsprache oft gar nicht.

    Grundsätzlich hat man in der Bildungspolitik aber sehr wohl erkannt, dass es nicht gut ist nur Spezialisten zu züchten. Mit Einführung des G8 (verkürztes, ganztägiges Gymnasium) wurde auch das Kurssystem abgeschafft, wo man missliebige Fächer einfach abwählen konnte. Es gibt nun wieder einen verbindlichen Fächerkanon, wie ganz früher. Auch will man die Kinder nicht mehr so stark zu Einzelkämpfern erziehen. Gruppenarbeit und Teams sind Pflicht und sollen auf das spätere Berufsleben vorbereiten. Im Hinblick auf die momentanen Probleme in der Welt sicher eine gute Absicht. Allerdings darf man nicht vergessen, dass unsere Welt weder von Wissenschaftlern noch von Künstlern oder Ethikern dominiert wird, sondern von Ökonomen und Wirtschaftlern aller Couleur. Im Hinblick auf die Krise in welche uns gierige Bänker gestürzt haben würde ein Paradigmenwechsel nicht schaden, oder?

  127. @Rüdiger Sünner : Wissenschaft und Geist

    Ich habe bei meiner wissenschaftlichen Arbeit das Ästhetische nicht berücksichtigt, sondern einfach nur erfahren und erlebt. Ich bin ja auch nur ein Mensch mit gewissen geistigen und sinnlichen Bedürfnissen. Darüber hinaus ist mir unklar, wie bei einer experimentellen Arbeit das Ästhetische zu berücksichtigen wäre.

    Was Ihre früheren Bekannten betrifft: Könnte es nicht einfach sein, dass sie sich im Zuge des Studiums weiterentwickelt haben, ganz ohne “Abtrainieren”?

    Portmann hatte ich im Nachbar-Thread (“Venus-Figurinen”, glaube ich) als Zeugen dafür aufgeführt, dass schon eine ganze Weile vor Sarah Hrdy die Bedeutung der sozialen Kinderaufzucht erkannt wurde (natürlich ohne diese These mit der natürlichen Selektion).

    Haeckels Zeichnungen finde ich genial. Das er und wir diese Radiolarien als schön empfinden können, verdanken wir dem Verlauf unserer Evolution (die Evolution ist halt ein Alleserklärer, wennn es um Phänomene des Lebens geht).

    Habe ich ein Problem mit dem Geistbegriff? Ja, doch, wohl deshalb, weil dieser Begriff so schillernd ist. Einen Geist, der nichts bewirkt, mit nichts wechselwirkt, von dem keiner irgend etwas Definitives sagen kann, ein “Ding”, das weder messbar, wahrnehmbar, beschreibbar, erklärbar noch sonst etwas ist, halte ich für intellektuell unbefriedigend. Wenn sich einmal zeigen sollte, dass neben den vier physikalischen Kräften noch eine geistige Kraft wirken muss, dann müsste ich wohl neu darüber nachdenken.

    “Kunstformen der Natur” (Haeckel), “wie ein Künstler in genetische Instruktionen” (Carroll), “höhere Vernunft im All” (Einstein)

    Gegen derartige Wendungen habe ich nichts, sofern ich mir sicher sein kann, dass hier in Bildern gesprochen wird und nicht von einer geistigen, aber dennoch wirkmächtigen “Wesenheit”. Kurz: “Geist” als Metapher lasse ich gelten (insbesondere im Zusammenhang mit der Hirnaktivität).

    Bei James Jeans weiß ich nicht, was er damit meint, wenn er sagt, “das Universum gliche eher einem grossen Gedanken als einer Maschine”.

    Ich käme ja schon nicht auf den Gedanken, das Universum gliche einer Maschine. Und wenn ich das mit der Maschine schon nicht nachvollziehen kann, was fange ich dann erst mit dem “großen Gedanken” an? Sind Gedanken nicht etwas Immaterielles? Für was steht hier die Metapher “Gedanke”?

    Eine Spiritualität, die ich nicht verstehe, kann ich schlecht ablehnen. Für mich bedeutet Spiritualität vor allem, sich als denkendes Wesen unter denkenden Wesen zu begreifen.

    Wenn gesagt wird, dass “Materie eigentlich aus Information” besteht, dann ist das doch auch wieder nur so ein Bild für etwas, was wir kaum verstehen. Auf der Ebene der Quanten mag das Universum ein großes, zusammenhängendes Eins sein, da existieren wir als denkende Individuen gar nicht. Aber wie ich schon schrieb, unsere erfahrbare Welt ist hierarchisch aufgebaut, für uns gibt es mehr als Quantenphänomene.

    Und was heißt überhaupt (genetische) “Information”: Haben wir es hier nicht mit einer weiteren, irreführenden Metapher zu tun? Was ist Information eigentlich? Es ist sicher sinnvoll und praktisch, von der “genetischen Information” zu sprechen, wir wissen mehr oder weniger, was damit gemeint ist. Aber enthält die DNA wirklich Information im eigentlichen Sinne? Würden Sie sagen, dass ein Buch “Information” enthält?

  128. Metaphern

    @Balanus
    Damit wir uns nicht missverstehen: Ich bin nicht fest vom Wirken eines geistähnlichen Prinzips in der Natur überzeugt, bin wohl eher Agnostiker. Aber die Berücksichtigung und metaphorische Umschreibung von so etwas ist genauso legitim wie die Annahme, dass alles durch “Selbstorganisation” (schicker Modebegriff) der Materie entstanden ist. Oder dass die Evolution ein “Alleserklärer” auch für Schönheitsempfinden ist. Das wissen wir nicht, solche Feststellungen sind erstmal auch nur reine Glaubensannahmen und Sie haben da – glaube ich – viel festere Überzeugungen als ich. Man muss auch einmal berücksichtigen, dass die Trennung von Geist und Materie erst ca. 400 Jahre alt ist und z.B. durch Philosophen wie Descartes erfolgte. Das hatte seine Vor- und Nachteile. Die Jahrtausende davor wäre es den Menschen absurd vorgekommen, Geist und Materie zu trennen und deshalb haben sie auch in anderen Metaphern von der Natur gesprochen. Wenn Sie heute Naturwissenschaft studieren, werden Sie in diese erkenntnistheoretische
    Grundvoraussetzung eingebunden, bewusst oder unbewusst. Diese Trennung wird als absolut hingestellt, die Methode wird nicht hinterfragt.
    Interessant ist, dass Sie mit “intelligentes Genom” selber eine Metapher verwenden, die den Genen geistähnliche Aktivitäten unterstellt.
    Der renommierte Evolutionsbiologe Simon Conway Morris macht in seinem Buch “Jenseits des Zufalls” auf den heimlichen Animismus seiner Zunft aufmerksam, wenn von “unsterblichen, allmächtigen, allwissenden Genen” oder “Monster-Mutanten” gesprochen wird. Ganz ohne so etwas scheint man also wohl nicht auszukommen.
    Wenn sie die Metaphern von Haeckel, Carroll und Einstein akzeptieren, können wir uns einigen – auch ich sehe sie ausdrücklich als Bilder und nicht als Überzeugungen von der Existenz einer Wesenheit. Aber wozu verwenden wir Bilder: um Ahnungen Ausdruck zu verleihen oder in Gebiete hineinzufühlen, die noch dunkel sind? Um einen Blick auf Natur herzustellen, der etwas mit unserem seelischen Erleben zu tun hat, um einem Gefühl von Rührung, Staunen und Fürsorge Ausdruck zu verleihen? In diesem Zusammenhang sind für mich bestimmte Metaphern günstiger als andere.
    Das Wort “Information” habe nicht ich in die Debatte gebracht, es ist heute gängig und umschreibt letztlich auch noch unbekannte Sachverhalte. Es macht auf den Eigenwert von Zusammenhängen und Bedeutungen aufmerksam. Wenn sie dieselbe Information per e-mail, Fax und Brief erhalten, ist der materielle Träger unwesentlich, die Information steht sozusagen unabhängig vom Träger da. Der geistige Inhalt eines Buches ist auch nicht durch die Analyse von Papier und Druckerschwärze zu erreichen. Ist es vielleicht bei der DNA auch so? Ist sie eine Art Bibliothek, wo wir nicht wissen, wer die Bücher hineingestellt hat und bei der ein Leser nötig ist, um Buchstaben in Bedeutung zu verwandeln?

  129. @Balanus

    “Vielleicht reicht eine Heritabilität von 50% ja aus, um ein Merkmal in einer Population zu verbreiten. Was mich nur stutzig macht, ist, dass Religiosität ja per Gruppenselektion in die Welt gekommen sein soll. Also sollte doch Religiosität heute allen Menschen zu Eigen sein. Nun haben wir aber nicht wenige Menschen, die definitiv nicht religiös sind.”

    Ich hab mich grad mit Interesse durch die Diskussion hier gelesen und möchte zu obigem Statement meinen populationsgenetischen Senf dazugeben.
    Wenn ich diese und frühere Aussagen von Ihnen zur Heritabilität des Merkmals Religiosität nicht missverstehe, dann interpretieren Sie 50% Heritabilität insofern, als dass im Schnitt nur einer von zwei Nachkommen eines religösen Menschen ebenfalls das Merkmal religiös erbt.
    Das ist allerdings so nicht ganz korrekt. Rein technich bedeutet eine Heritabilität von 50%, dass 50% der phänotypischen Variabilität des Merkmals Religosität auf Umwelteinflüsse zurückzuführen sind und 50 % auf genetische Einflüsse. Lass uns mal ganz konkret annehmen es gäbe dieses Religionsgen R (dass das so sicher nicht stimmt is mir schon klar) mit einem Allel R- (keine Religosität) und einem Allel R+ (Religiosität). Nehmen wir weiters an die beiden Allele seien kodominant. Dann würden (bei einer Heriatbilität von 0.5) 50% der R+/R+ Homozygoten phänotypisch religiös mit dem entsprechenden Fitnessvorteil sein; 25% der R-/R+ Heterozygoten phenotypisch religös mit Fitnessvorteil sein, aber keiner der R-/R- Homozygoten wären phänotypisch religös bzw würden die mit Religosität verbundenen Fitnessvorteile lukrieren (ich gehe hier davon aus, dass wir uns am Anfang der Entfaltung von Religosität befinden und es noch keinerlei Zwänge für R- Individuen gibt einen Phänotypen Religion vorzutäuschen).

    Durch dieses (fiktive!) Beispiel sollte klar werden, dass der Grad der Heritabilität keinen Einfluss darauf hat OB ein (positiv selektiertes) Allel sich in einer Population ausbreitet sonder nur darauf WIE SCHNELL es sich ausbreitet (im übigen wäre eine H von 0.5 für ein Verhaltensmerkmal schon verdammt hoch)

    “Nun haben wir aber nicht wenige Menschen, die definitiv nicht religiös sind.”

    Zum einen kriegen wir bei einer H von 0.5 eben immer auch R+/R+ Individuen (um beim obigen Modell zu bleiben) die das Merkmal phänotypisch gar nicht ausprägen. Zum anderen könnte es zB sein dass R- nicht R sondern r ist (also dass Atheismus rezessiv ist :-). Dann würde sich das Atheismusallel in den R+/r- Heterozygoten verstecken und in jeder Generation hätt’ ma (im Hardy-Weinberg Gleichgewicht) 25% R+/R+ homozgygote Gläubige, 50% R+/r- heterozygot Gläubige und 25% r-/r- homozygote Atheisten. (Natürlich würde die Frequenz der phänotypisch Gläubigen durch Umwelteinflüsse davon abweichen und da Religosität immer noch positiv selektiert wird sind wir nicht in HWG, aber um die Atheisten da ganz raus zu kriegen bräuchte es schon einen Mörder-Selektionskoeffizienten)

    Beste Grüße,

    Gerhard Schöfl

  130. @Gerhard Schöfl: Danke!

    Vielen Dank für diesen interdisziplinären Beitrag, dem ich zu 100% zustimmen kann. (Wobei für komplexe Merkmale wie Musikalität, Spiritualität und Religiosität sicher überaus komplexe Polygenität – also nicht nur ein An-/Aus-Gen – anzunehmen ist. Aber Sie haben ja auch betont, dass das Einzelgen hier als Beispiel dient.) Also danke für die fachkundige Klarstellung, gerne mehr davon! 🙂

  131. @Rüdiger Sünner — Metaphern

    Ich halte den Begriff “Selbstorganisation” weder für schick noch für modisch, sondern für die bestmögliche Beschreibung dessen, was im Universum passiert.

    Sie schreiben, Sie seien “nicht fest vom Wirken eines geistähnlichen Prinzips in der Natur überzeugt”. Nun, als geist-“ähnlich” könnte man ja die der Materie innewohnenden elementaren Eigenschaften bezeichnen. Denn diese sind es, die “Selbstorganisation” ermöglichen, die Wasserstoff mit Sauerstoff zu Wasser reagieren lassen. Nun kann man ja sagen, dass dem letztlich ein geistiges Prinzip zugrunde liegt—aber das war’s auch dann schon. Weitere Folgerungen hat die Rede von einem zugrunde liegenden geistigen Prinzip m.E. nicht.

    Apropos feste Überzeugungen: Wir kommen ja nicht umhin, uns irgendwie ein Bild von der Welt zu machen (und in Metaphern zu reden). Zu meinem Bild gehören eben Selbstorganisation und daraus folgend Evolution (ich bin ein bescheidener Mensch ;-)). Dieses zugegeben schlichte Bild hat nach meinem Empfinden den Vorteil, dass ich mit weniger Annahmen auskomme. Wenn Evolution wirklich als ein sich selbst organisierender Prozess stattgefunden hat, dann erklärt sich alles Lebendige aus diesem Entwicklungsprozess. Das erscheint mir logisch und konsequent. Das Dumme ist nur, dass wir die Evolution selbst noch nicht vollständig verstanden haben und dass ein historischer Entwicklungsprozess nie in allen Einzelheiten rekonstruiert werden kann.

    Meiner Ansicht nach reden wir in Bildern, weil wir kaum anders können. Ich sehe da eine gewisse Diskrepanz zwischen den evolvierten Hirnstrukturen und den darauf basierenden Denkmöglichkeiten. Unser Sprechen von den “Dingen” wird wohl noch eine ganze Weile Behelf bleiben.

    Sie greifen meine Rede vom “intelligenten Genom” noch einmal auf und meinen, diese Metapher “unterstelle” den Genen “geistähnliche Aktivitäten”. Nun, auch hier bleibt für mich die Metapher eine Metapher und impliziert nichts Derartiges.

    Aber dennoch ist nicht abzustreiten, dass es so scheint, als gäbe es ein intelligentes Prinzip in der materiellen Natur—doch das führt uns geradewegs wieder zu den elementaren Eigenschaften der “Teilchen”, dem Prinzip der Selbstorganisation und der hierarchisch strukturierten Welt..

    »Wenn sie dieselbe Information per e-mail, Fax und Brief erhalten, ist der materielle Träger unwesentlich, die Information steht sozusagen unabhängig vom Träger da.«

    Mehr noch, erst beim verständigen Lesen wird aus den Zeichen eine “Information”. Sie sagen es selbst, dass ein Leser nötig ist, um “Buchstaben in Bedeutung zu verwandeln”.

    DNA und zelluläre Proteine stehen in einer zirkulären Wechselbeziehung, das Ganze funktioniert als ein sich selbst erhaltender Prozess in Reaktion auf und im Austausch mit einer gegebenen Umwelt. Solange Energie zur Verfügung steht und die Umweltbedingungen stimmen, läuft dieser Prozess weiter, sind Struktur und Funktion eins.

    Nach meinem Verständnis hat “Mutter Natur” die Bücher in die DNA-Bibliothek gestellt 😉

  132. @Gerhard Schöfl

    Absolut korrekt, Ihr “populationsgenetischer Senf” zur Heritabilität, Herr Schöfl, besten Dank dafür 😉

    Da hätte ich mal besser bei den deutschen Begriffen Erblichkeit oder Vererbung (heredity, inheritance) bleiben sollen. Heritabiliät beschreibt also für ein bestimmtes Merkmal lediglich den genetischen Anteil relativ zu anderen Einflüssen.

    »Wenn ich diese und frühere Aussagen von Ihnen zur Heritabilität des Merkmals Religiosität nicht missverstehe, dann interpretieren Sie 50% Heritabilität insofern, als dass im Schnitt nur einer von zwei Nachkommen eines religösen Menschen ebenfalls das Merkmal religiös erbt.«

    Eigentlich ist es umgekehrt: Ich habe die Beobachtung, dass nur 50% der Nachkommen das gleiche religiöse Verhalten (R) zeigen wie ihre Eltern, fälschlich als Heritabilität bezeichnet.

    Also noch einmal von vorne: 50% der Nachkommen zeigen das gleiche religiöse Verhalten (R) zeigen wie ihre Eltern. Wenn also R in der Elterngeneration zu 100% verbreitet ist, dann ist R in der F1-Generation zu 50% verbreitet, in der F2-Generation zu 25% und so fort, der Anteil der Religiösen wird also immer kleiner.

    Das ist zugegebenermaßen ein extrem schlichtes Modell, und ganz sicher steckt da irgendwo ein Denkfehler, aber wo?

    Unterschlagen habe ich, dass weniger als 10% der Nachkommen areligiöser Eltern religiöses Verhalten zeigen und etwa 25% der Nachkommen von Eltern, bei denen nur ein Elternteil religiös ist.

    Dankbare Grüße

  133. @Michael Blume : Heritabilität

    Lieber Michael, wenn Sie Herrn Schöfl zu 100% zustimmen, dann sind Sie also wie er der Meinung, dass eine Heritabilität von 0,5 für ein Verhaltensmerkmal wie die Religiosität “verdammt hoch” wäre.

    Dann hätte ich doch gerne mal gewusst, wie hoch Sie die Erblichkeit (also Heritabilität) der Religiosität einschätzen, so Pi mal Daumen. Wie hoch ist der erbliche Anteil und wie hoch der der Umwelt?

    Herzlichen Gruß

  134. @ Balanus: Biokulturelle Weitergabe

    Lieber Balanus,

    gerne gehe ich auf Ihre Frage(n) wieder gerne ein, möchte zunächst aber noch auf diese Aussage von Ihnen eingehen:
    Ich habe die Beobachtung, dass nur 50% der Nachkommen das gleiche religiöse Verhalten (R) zeigen wie ihre Eltern, fälschlich als Heritabilität bezeichnet.

    Es erscheint mir hier wichtig, darauf hinzuweisen, dass genetische Heritabilität nicht bedeuten muss, dass sich “gleiches Verhalten” ausprägt. Wenn wir z.B. genetische Veranlagungen zur Sprachfähigkeit von unseren leiblichen Eltern übernehmen, so können wir darauf aufbauend doch völlig andere Sprachen (z.B. von Adoptiveltern) übernehmen. Und selbst wenn wir bei leiblichen Eltern aufwachsen und deren (Mutter-)Sprache erlernen, wird diese auch durch das andere Umfeld, Peers, eigene Vorlieben etc. geprägt sein und gerade nicht identisch sein. Wer z.B. besonders viel Sprachbegabung “erbt”, wird mitunter deutlich vom Sprachgebrauch der Eltern abweichen, neue Formen testen, weitere Sprachen lernen etc. Für Musikalität, Spiritualität und Religiosität würde ich entsprechendes erwarten. Um mit Heraklit zu sprechen: Wir steigen nie zweimal in den gleichen Fluss.

    Dann hätte ich doch gerne mal gewusst, wie hoch Sie die Erblichkeit (also Heritabilität) der Religiosität einschätzen, so Pi mal Daumen. Wie hoch ist der erbliche Anteil und wie hoch der der Umwelt?

    Ich arbeite als empirischer Forscher, nicht als Zauberkünstler, lieber @Balanus. 🙂 Die ersten Gen- und v.a. Zwillingsstudien, die recht hohe Quotienten ergaben, habe ich hier vorgestellt:
    http://www.chronologs.de/…-der-verhaltensgenetik

    Dennoch bin auch ich der Meinung, dass eine Heritabilität von 0,5 schon sehr hoch wäre! Zwar können sich die Befürworter eines so hohen Wertes auf die vergleichsweise kurze Evolutionsgeschichte von Religiosität (soweit wir sie bislang überblicken) verweisen:
    http://www.chronologs.de/…auch-der-neandertaler.

    Meine Zweifel beziehen sich aber v.a. darauf, dass die bisherigen Studien vorwiegend aus den USA stammen, in denen Religiosität auch kulturell wertgeschätzt wird und Religionsgemeinschaften viele Funktionen übernehmen. Auch sind die Begriffe noch zu unscharf und die Ns noch zu klein. Um meine Vorsicht an einem Beispiel deutlich zu machen: Von den (zahlreichen) Kindern der Old Order Amischen entscheiden sich seit langem mehr als 80% für die Erwachsenentaufe und also den Verbleib, und das ganz sicher aus einer Vielfalt von Gründen.

    In Deutschland dominiert dagegen seit längerem ein religionskritischer Mainstream und viel mehr gemeinschaftliche Funktionen werden vom Staat übernommen. Entsprechend gelingt hier die Tradition religiösen Verhaltens viel schwächer (konnte aber selbst in der religionsfeindlichen DDR nicht abgeschnitten werden).

    Nach meiner Einschätzung wird es also noch (mindestens) Jahrzehnte interdisziplinärer Arbeit brauchen, bis wirklich exakte und global validierbare Angaben zur genetischen Heritabilität von Religiosität und Spiritualität möglich sind. Klar und zunehmend unangefochten scheint m.E. zu sein, dass H hier je größer als 0 ist und damit also auch biologische Evolutionsprozesse stattfinden. Das interdisziplinäre Weiterforschen lohnt also, daher auch meine Freude über den Beitrag von Gerhard Schöfl.

  135. @Balanus

    Hallo Herr Balanus,

    Sie schreiben: “50% der Nachkommen zeigen das gleiche religiöse Verhalten (R) zeigen wie ihre Eltern. Wenn also R in der Elterngeneration zu 100% verbreitet ist, dann ist R in der F1-Generation zu 50% verbreitet, in der F2-Generation zu 25% und so fort, der Anteil der Religiösen wird also immer kleiner. Unterschlagen habe ich, dass weniger als 10% der Nachkommen areligiöser Eltern religiöses Verhalten zeigen und etwa 25% der Nachkommen von Eltern, bei denen nur ein Elternteil religiös ist.”

    Ok, jetzt sehe ich das Problem, und muß auch gleich gestehen, dass die Antwort die ich geben kann nicht besonders befriedigend sein wird.

    Tatsächlich ist, wenn man mit diesen nackten Zahlen rechnet, nach 4-5 Generationen die Luft draußen, bzw bleibt es bei einer Grundpopulation von 10% Religiösen die sich quasi spontan bilden. Schlimmer noch, selbst wenn man positive Selektion auf Religiosität einführt kommt man auf keinen grünen Zweig. Wenn man spaßeshalber religösen Familien im Schnitt 2.5 Nachkommen zubilligt, Familien mit einem religiösen Elternteil 2 Nachkommen und areligösen Familien 1.5 Nachkommen ist ein Population von ursprünglich 10000 Familien nach ca 35 Generationen praktisch ausgestorben. Wenn man “halbreligösen” Familien auch 2.5 Nachkommen zugesteht verzögert sich das Ende um ein paar Generation. Wenn man areligösen Familien 2 Nachkommen zugesteht, bekommt man eine stetig wachsende Population mit einem konstant 10%igen Anteil an Religösen.

    Ein Haken an der Sache ist dass man mit Phänotypenfrequenzen so etwas nicht wirklich rechnen kann. Man kann einfach nicht sagen wie die den Phänotypen zugrundeliegenden Genotypen ausschauen könnten weil sowohl dem gleichen Phänotyp verschiedene Genotypen als auch verschiedenen Phänotypen die gleichen Genotypen zugrundeliegen können (bei einem Merkmal das starken Umwelteinflüssen unterliegt). Will man Änderungen von Genfrequenzen über Generationen berechnen geht das nur über ein genetisches Modell. Man rechnet dann mit Allel- und Genotypenfrequenzen und modelliert Phänotypen mit Genotypen als Ausgangspunkt – dadurch behält man im Model oder in einer Simulation immer Kontrolle über die konkreten Allele die dem Phänotypen eines bestimmten Individuums zugrundeliegen und weiß genau was das Individuum in die nächste Generation weitergibt. Hätte man ein genetisches Modell, könnte man nach Parameterkombinationen (zB Selektionshoeffizienten, Umweltparameter) suchen die evtl Phänotypenverteilungen generieren die der beobachteten Verteilung entsprechen. Allerdings ist das, wenn man von einem komplexen polygenischen Model ausgeht, alles ziemlich illusorisch.

    Ein anderer Haken ist wahrscheinlich das das Szenario welches Sie mir hier beschreiben nur eine Momentaufnahme (Beobachtungen von 2-3 Generationen?) in einem hochkomplexen Prozess von Wechselwirkungen genetischer Disposition und unterschiedlicher Ebenen von Umwelteinflüssen (Elternhaus, Freundeskreis, Gesellschaft und was weiß ich noch alles) ist und das alles nicht unter kontrollierten Laborbedingungen mit kontrollierten Kreuzungen getestet wurde, was mich als Insektengenetiker nervös macht 🙂

    Beste Grüsse

  136. @Gerhard Schöfl

    Vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort, die ich—entgegen Ihrer Annahme—voll befriedigend finde 🙂

    Erstens, weil ich ohnehin nicht erwartet habe, dass die genannten Zahlen weitergehende populationsgenetische Aussagen erlauben würden, und zweitens, weil Ihre Antwort meine Kritik am Begriff “Reproduktionserfolg” im Zusammenhang mit religiösem Verhalten stützt. Es kommt eben nicht nur auf die Zahl der Kinder an, sondern unter anderem auch darauf, wie viele davon Träger des “religiösen” Erbguts sind (schließlich geht es hier um aktuelle und künftige evolutive Entwicklungen und nicht um kulturelle Phänomene).

    Wenn also in bestimmten heutigen Gesellschaften Menschen mit religiösem Verhalten mehr Kinder haben als Säkulare, dann kann man nicht daraus folgern, dass die Religiosität in diesen Gesellschaften wachsen wird. Das kann sein, muss aber nicht.

    Die von mir genannten Zahlen stammen wie gesagt aus Großbritannien und erstrecken sich über einen Zeitraum von 20 Jahren. Wie valide sie sind, kann ich nicht beurteilen. Erschienen sind sie im Journal for the Scientic Study of Religion 2006, 45:567–584, unter dem Titel: Generations of Decline: Religious Change in 20th-Century Britain (Alasdair Crockett & David Voas). Die methodischen Schwierigkeiten fangen ja schon mit der “Messung” der Religiosität an.

    Schöne Grüße zurück

  137. @ Gerhard Schöfl

    Sie schrieben: Ein anderer Haken ist wahrscheinlich das das Szenario welches Sie mir hier beschreiben nur eine Momentaufnahme (Beobachtungen von 2-3 Generationen?) in einem hochkomplexen Prozess von Wechselwirkungen genetischer Disposition und unterschiedlicher Ebenen von Umwelteinflüssen (Elternhaus, Freundeskreis, Gesellschaft und was weiß ich noch alles) ist und das alles nicht unter kontrollierten Laborbedingungen mit kontrollierten Kreuzungen getestet wurde, was mich als Insektengenetiker nervös macht 🙂

    Ja, so ist es! Leider (oder doch besser: erfreulicherweise!?) ist eben menschliches Verhalten und dessen biokulturelle Tradierung doch noch mal um ein paar Dimensionen komplexer als jenes von Insekten.

    Künftige Forschungen dürfte das eher beflügeln und wechselseitige Anregungen sind heute schon möglich. So fand ich es ja schon ausnehmend klasse, dass E.O. Wilson als Einleitungszitat zu seinem “Sociobiology” ein Zitat aus der Bhagavad Gita wählte! Und kreativ-klug gewählt war der kleine Dialogausschnitt zudem! 🙂

  138. ergänzend

    Platon/Potentialität/Transzendenz

    Daß die Platonischen Ideen einen statischen Charakter haben und damit im Gegensatz zur neuesten wissenschaftlichen Weltsicht gesehen werden können, wie Herr Sünner schrieb, hat mich irritiert.
    Bei genauerer Prüfung komme ich zu dem Schluß, daß ersteres stimmt, letzteres jedoch eine unzulässige Einschränkung der “platonischen Idee” ist. Denn diese Ideen – wie das Gute, das Wahre, das Schöne – sind ja keine inzwischen überholten physikalischen Gesetze oder Pläne, sondern Urbilder göttlicher Qualität, auf die sich alle Erkenntnis und das, was wir als Realität verstehen, richten. Sie sind Voraussetzung alles Seienden und damit immergültig und ewig. Jede Realität ist Abbild einer Idee.
    Wenn wir der Idee des Wahren heute das Prinzip der Potentialität zuordnen, so widerspricht das Platons Auffassung m.E. in keiner Weise.
    Auch Platons Feststellung, daß Logos und Mythos gleichwertige Zugänge zur Wahrheit sind, ist absolut aktuell und entspricht dem, was wir hier als ganzheitliches oder systemisches Denken bezeichnet haben.
    Da letzteres so en vogue ist, wird heute, so hörte ich, an vielen Fakultäten der Mathematiker und Philosoph A. N. Whitehead (1861-1947) gerühmt, der eine transdisziplinäre Metaphysik entwickelte (und dessen ca. 60 Jahre alte Definition von Materie als Abfolge von Ereignissen der heutiger Quantenphysiker entspricht!) (s. “Prozess und Realität”, Wikipedia)
    Bemerkenswert ist auch sein Gottesbegriff: Gott als Ursache und Bestandteil aller Potentialiät, dabei im Einklang des Werdens mit jedem anderen kreativen Akt. Er sagte: “Es ist genauso wahr, zu sagen, daß Gott die Welt transzendiert, wie zu behaupten, daß die Welt Gott transzendiert.” Übrigens stammt von ihm die vielzitierte Bemerkung, die Philosophie sei eine bloße Sammlung von Fußnoten Platons.
    Die Erfahrung der Transzendenz beschreibt Dürr entsprechend als erlebte Schöpfung, als Realisierung von Potentialität, wobei der Sinn sich immer aus der Beziehung des Einzelnen zum Hintergrund ergibt. “In der Erfahrung dieser Beziehung begegnen wir dem Religiösen.” (Warum es ums Ganze geht, S. 164)
    – Ob Dürr sich als Platoniker bezeichnen würde, weiß ich auch nicht. Aber vielleicht hat Herr Sünner Gelegenheit, ihn im Rahmen seiner aktuellen Arbeit persönlich darauf anzusprechen. –

  139. @Kunar: Bonobos

    Oh ja, ich erinnere mich! 🙂 Der angeblich niedrigere IQ von Frauen, Afrikanern und Religiösen schien und scheint für manchen wichtig zu sein, um sich in der weißen Männlichkeit bestätigt zu erfahren. Blöd nur, dass die Daten da längst nicht mehr mitspielen… 😉

  140. @ Mona

    Liebe Mona, Du schriebst hier: Allerdings darf man nicht vergessen, dass unsere Welt weder von Wissenschaftlern noch von Künstlern oder Ethikern dominiert wird, sondern von Ökonomen und Wirtschaftlern aller Couleur. Im Hinblick auf die Krise in welche uns gierige Bänker gestürzt haben würde ein Paradigmenwechsel nicht schaden, oder?

    Meine Nachfrage: Wo bleiben die Mütter, Väter, Erzieher(innen), Lehrer(innen)? Weltbeherrschung und Weltbetrachtung finde ich selbstverständlich ganz hervorragend, doch kommt es wohl auch immer darauf an, dass Menschen das Leben nicht nur für sich annehmen, sondern auch weitergeben – biologisch und kulturell. Ohne das gelebte Ja zu Kindern gestalten selbst Ethiker und Künstler keine tragfähige Zukunft. Was meinst Du?

  141. Kinder @Michael Blume

    Lieber Michael,

    „Meine Nachfrage: Wo bleiben die Mütter, Väter, Erzieher(innen), Lehrer(innen)? Weltbeherrschung und Weltbetrachtung finde ich selbstverständlich ganz hervorragend, doch kommt es wohl auch immer darauf an, dass Menschen das Leben nicht nur für sich annehmen, sondern auch weitergeben – biologisch und kulturell. Ohne das gelebte Ja zu Kindern gestalten selbst Ethiker und Künstler keine tragfähige Zukunft. Was meinst Du?“

    Wenn gierige Menschen unsere Wirtschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören, dann stellt sich die Frage nach Müttern, Vätern, Erzieher(innen), Lehrer(innen)gar nicht mehr. Eine Menge Leute in diesem Land haben Existenzängste, dass mag auch ein Grund für den Geburtenrückgang sein. Wer hier nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde hat es schwer. Kinder werden immer mehr zu einem Armutsrisiko. Die Witwenrente wurde schrittweise abgeschafft und damit auch die Hausfrauenehe. Jeder muss also selbst Rentenansprüche erwerben, d.h. die Kinder in eine Betreuung geben. Krippenplätze gibt es in meiner Stadt gar nicht, da muss also auf „privat“ zurückgegriffen werden. Ein Kindergartenplatz mit Mittagessen ist so teuer, dass viele Frauen die mit Lohnsteuerklasse fünf arbeiten gar nichts mehr verdienen, da die „Betreuung“ alles auffrisst. Es ist fast unmöglich sein Kind selber aufzuziehen, da dies auch massive berufliche Nachteile bringt, wenn man ein paar Jahre „draußen“ war und man nicht das Glück auf eine Arbeitsplatzgarantie durch den Staat hat. Im Falle einer Scheidung muss (nach dem neuen Scheidungsrecht) die Mutter wieder arbeiten, sobald das Kind drei Jahre alt ist. Momentan kann manchmal noch auf eine Oma zurückgegriffen werden, die Hausfrau ist. Doch in einigen Jahren werden auch die letzten Hausfrauen ausgestorben sein. Was ich damit sagen will ist, wir haben uns komplett den Bedürfnissen der Wirtschaft angepasst. Alternative Lebensentwürfe lassen sich immer seltener verwirklichen. Manchmal können einem auch die Kinder leid tun, der Druck in den Schulen und im Studium hat sich massiv erhöht, wer da nicht mitmachen will oder kann, der wird sein Leben im Niedriglohnsektor oder mit Hartz IV verbringen müssen. Ich kenne eine Lehrerin welche an einer Berufsschule unterrichtet und die erzählte, dass manche Auszubildende von ihren Betrieben wie Sklaven behandelt werden. Viele Leute finden es da besser nur sich selber durchbringen zu müssen und verzichten auf Kinder.

    Was ich persönlich traurig finde ist, wie will man sein Kind nach einem ganzen Tag in der Schule und wenn es dann noch zu lernen hat überhaupt noch für etwas begeistern? Unterstützung von Lehrern und Erziehern bekommt man als Eltern kaum, da diese Leute ja auch ihr Soll erfüllen müssen. Als mein Sohn den Kindergarten besuchte waren 28 Kinder in seiner Gruppe – mit einer Erzieherin und einer Kindergärtnerin, und in der Schule war er noch in keiner Klasse mit unter 30 Schülern.

    Manche Leute nehmen es einem ja total übel, wenn in Bezug auf Kinder nach dem Staat gerufen wird. Will man sich dem nicht aussetzen verzichtet man eben auf Kinder. Ich habe mir hier oft genug den Mund verbrannt, wenn ich mich z.B. für bessere Schulbusverbindungen eingesetzt habe.

    „Ohne das gelebte Ja zu Kindern gestalten selbst Ethiker und Künstler keine tragfähige Zukunft. Was meinst Du?“

    Ja, da hast Du sicher recht, aber was kann man da machen?

  142. @ Mona

    Ja, dann meinen wir das Gleiche! Mich irritierte, dass Du scheinbar verschiedene öffentliche Akteure als entscheidend gesetzt, die Familien aber nicht erwähnt hattest. Wenn ich Dich jetzt aber Recht verstehe, geht es Dir ja gerade um die Rahmenbedingungen, in denen Leben gelingen kann oder eben nicht.

    Einerseits stimme ich Dir sehr zu. Andererseits bin ich aber schon der Meinung, dass wir auf sehr hohem Niveau klagen. Schulen, Aufstiegschancen, Arbeitszeiten, Pro-Kopf-Einkommen etc. waren früher noch deutlich schlechter. Nie war die Lebenserwartung in Deutschland höher, Generationen kennen keine Kriege im Inland mehr. Manchmal denke ich, dass auch wir selber in dem Rattenrennen von Immer-mehr-immer-besser gefangen sind, dessen psychologische, kulturelle und ökologische Folgen wir dann beklagen. So ist es ja nicht nur “die Wirtschaft”, die gewaltigen Leistungsdruck aufbaut – oft sind es gerade auch Eltern, die aus jedem ihrer wenigen Kinder “unbedingt etwas machen” wollen. Früher, so erzählte mir neulich ein Älterer seufzend, sei es kein Problem gewesen, wenn von drei Kindern eines in der Schule nicht geglänzt habe. Heute würde “ständig optimiert”.

    Muss Veränderung also nicht auch bei uns selber anfangen?

    Nachdenkliche Grüße!

  143. Veränderungen @Michael Blume

    „Einerseits stimme ich Dir sehr zu. Andererseits bin ich aber schon der Meinung, dass wir auf sehr hohem Niveau klagen. Schulen, Aufstiegschancen, Arbeitszeiten, Pro-Kopf-Einkommen etc. waren früher noch deutlich schlechter. Nie war die Lebenserwartung in Deutschland höher, Generationen kennen keine Kriege im Inland mehr. Manchmal denke ich, dass auch wir selber in dem Rattenrennen von Immer-mehr-immer-besser gefangen sind, dessen psychologische, kulturelle und ökologische Folgen wir dann beklagen. So ist es ja nicht nur “die Wirtschaft”, die gewaltigen Leistungsdruck aufbaut – oft sind es gerade auch Eltern, die aus jedem ihrer wenigen Kinder “unbedingt etwas machen” wollen. Früher, so erzählte mir neulich ein Älterer seufzend, sei es kein Problem gewesen, wenn von drei Kindern eines in der Schule nicht geglänzt habe. Heute würde “ständig optimiert”.

    Jain, in Deutschland klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinander und hängt es immer stärker davon ab an welchem Ende der Skala sich jemand befindet.

    „Aufstiegschancen, Arbeitszeiten, Pro-Kopf-Einkommen etc. waren früher noch deutlich schlechter.“

    Nein, die waren früher eher besser, wobei ich mit früher natürlich nicht die Verhältnisse nach dem Krieg meine, sondern die Zeit danach. Deutschland ist das einzige Land in Europa, das aktuell sinkende Reallöhne hat. Die Arbeitszeiten hat man in den letzten Jahren wieder verlängert und es werden immer mehr unbezahlte Überstunden verlangt. Arbeitsplätze und Aufstiegschancen gab es früher auch für Kinder, die die Schule nicht schafften. Die goldenen Zeiten sind lange vorbei, wem es nicht betrifft, der soll sich glücklich schätzen.

    Da ich ja nur ein Kind habe, habe ich die abgelegte Kinderkleidung früher immer dem Kinderschutzbund gespendet. Was meinst Du was man da für Leuten begegnet? Viele können ihren Kindern keine warme Jacke kaufen obwohl sie arbeiten, aber halt im Niedriglohnsektor.

    „Andererseits bin ich aber schon der Meinung, dass wir auf sehr hohem Niveau klagen.“

    Ja, dass kann man diesen Leuten wohl kaum vorwerfen, ein so großer Zyniker könnte selbst ich nicht sein.

    „Muss Veränderung also nicht auch bei uns selber anfangen?“

    Ja, man sollte einfach die Menschen nicht vergessen denen es weniger gut geht und die sich ihr Essen hier holen müssen:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Tafel_(Organisation)

  144. Nachtrag @Michael Blume

    Gunter Dueck hat in seinem Blog, die Mechanismen der Wirtschaft und die Angst der Mittelschicht vor dem Stranden beschrieben recht anschaulich beschrieben. Absolut lesenswert!
    http://www.wissenslogs.de/…-02-27/menschenpuffer

  145. Nächster Versuch

    Da der Link nicht funktionieren will, kann man nur „Tafel (Organisation) – Wikipedia“ in die Suchmaschine eingeben.

    „Tafel ist die Bezeichnung für eine gemeinnützige Hilfsorganisation, die qualitativ einwandfreie Lebensmittel, die im Wirtschaftskreislauf nicht mehr verwendet und ansonsten vernichtet würden, an Bedürftige verteilt.“

  146. Eine Frage der Erwartung

    “Einerseits stimme ich Dir sehr zu. Andererseits bin ich aber schon der Meinung, dass wir auf sehr hohem Niveau klagen. Schulen, Aufstiegschancen, Arbeitszeiten, Pro-Kopf-Einkommen etc. waren früher noch deutlich schlechter. Nie war die Lebenserwartung in Deutschland höher, Generationen kennen keine Kriege im Inland mehr.”

    Zwei Sachen stimmen nicht: Die Reallöhne sinken seit über zehn Jahren, was inzwischen schon Probleme im EU-Wirtschaftsraum erzeugt. Die Aufstiegschancen sind ungenügend, was z.B. im Rahmen von internationalen Schulvergleichen immer wieder beklagt wird.

    Was das Jammern auf hohem Niveau betrifft, stelle man sich folgendes vor: Ein Mensch wird in ein ca. 10 Meter hohes Fass geworfen. Es ist mit Wasser gefüllt und hat einen solchen Radius, dass man maximal an einer Seite anfassen kann. Nun stößt man den Menschen immer dann, wenn er sich irgendwo festhalten will, mit einer Stange zurück in die Mitte. Irgendwann wird der Mensch müde und ertrinkt – 10 Meter vom Erdboden entfernt! Hat er kein Recht, sich über seine Situation zu beklagen?

    Wie gut jemand dasteht, läßt sich auch als Differenz zwischen Erwartungen und Realität ausdrücken. Wir haben einen der höchsten Lebensstandards der Welt, aber auch mit die höchsten Anforderungen.

    Die jetzige Generation der 20-40-jährigen wird ihre Eltern nicht mehr übertreffen, sondern bestenfalls auf gleichem Niveau bleiben – aber nur, wenn sie deutlich mehr leistet (Schulabschluss, Karriereanstrengungen). Die Erwartungen sind diesem Umstand jedoch noch nicht angepasst. Entsprechend ergibt sich immer große Überraschung, wenn frische Uni-Absolventen überhaupt kein Bein auf die Erde bekommen. Ich höre das von allen Seiten, dass die Eltern vorher absolut zuversichtlich und danach völlig entgeistert, wie die Verhältnisse wirklich sind.

    Meine Theorie: Gut gebildete Menschen setzen Kinder in die Welt, wenn sie der Meinung sind, dass sie soviel geschuftet haben, dass ihre Finanzen in einigermaßen trockenen Tüchern sind (und sie die Erwartungen soweit erfüllt haben). Das wird jedoch absichtlich immer weiter hinausgezögert, weil man der Ansicht ist, dass die jungen Arbeitnehmer “bissig” und “gierig” bleiben sollen.

    Ich versuche es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Eine Gesellschaft funktioniert, wenn breite Teile mit ihrer Arbeit eine Familie ernähren und die tüchtigsten unter ihnen aufsteigen können. Ist diese Bedingung über einen längeren Zeitraum verletzt, hat sie keine Zukunft – zurecht.

  147. @ Mona, Kunar

    Noch vor wenigen Jahrzehnten war Deutschland nicht nur wirtschaftlich und demografisch, sondern auch kulturell und moralisch am Boden. Es gab Hunger, Verzweiflung, zerstörte Familien. Aber die Menschen packten an, sie schafften den Aufstieg, weil sie ihn schaffen WOLLTEN.

    Und heute? Natürlich gibt es auch heute Not – nicht zuletzt, weil Rekordausgaben der Sozialsysteme viele Menschen eher eingeschläfert als ermutigt haben. Und es sind nicht “die” Politiker oder Unternehmen schuld – wir alle sind in einer Demokratie “die” Politiker, die Kunden, die Unternehmer.

    Mich stört, dass wir uns in Deutschland fast nur noch als Opfer definieren – die Debatten drehen sich darum, wer am meisten Mitleid verdient. Dadurch aber verlieren wir die Kraft, uns nach vorne zu bewegen und den wirklich Bedürftigen zu helfen. (Die Tafeln sind solch ein gutes Beispiel für echtes, ehrenamtliches und kirchliches Engagement!)

    Auch wenn es in unseren obrigkeitshörigen Traditionen noch immer viele glauben wollen: Besser wird es nicht durch “die da oben”. Besser wird es nur, wenn wir selbst wieder beginnen, uns mehr zuzutrauen. Jammern und “die Gesellschaft” verantwortlich zu machen lähmt und ist m.E. keine Lösung.

  148. Nachkriegszeit

    “Noch vor wenigen Jahrzehnten war Deutschland nicht nur wirtschaftlich und demografisch, sondern auch kulturell und moralisch am Boden. Es gab Hunger, Verzweiflung, zerstörte Familien. Aber die Menschen packten an, sie schafften den Aufstieg, weil sie ihn schaffen WOLLTEN.”

    Das ist eine gefährliche Argumentation, weil man sie leicht umdrehen kann: Wer es nicht schafft, der will es auch nicht. Und tatsächlich hört man das häufig: Wer wirklich arbeiten will, der findet auch was.

    Die demografische und wirtschaftliche Situation nach dem Zweiten Weltkrieg machte niemanden überflüssig – jede Hand wurde gebraucht. Auch über dreißig Jahre nach Kriegsende konnte man noch etwas werden ohne Uni-Abschluss. Heute hingegen gibt es nur noch Negativ-Definitionen: Wer dies und jenes nicht schafft, der hat sowieso keine Chance. Auf die Weise muss jeder Angst haben vor der nächsten, kann sich aber nicht freuen, wenn er sie geschafft hat.

    “Und heute? Natürlich gibt es auch heute Not – nicht zuletzt, weil Rekordausgaben der Sozialsysteme viele Menschen eher eingeschläfert als ermutigt haben.”

    Es sind nicht die Summen, es ist die Frage, wie man sie einsetzt. Wieso hören wir z.B. immer wieder, dass es an Kinderbetreuung fehlt? Warum gibt es andererseits kostspielige Verfahren, um irgendwo unzulässig gezahlte Kleckerbeträge einzutreiben?

    “wir alle sind in einer Demokratie “die” Politiker, die Kunden, die Unternehmer.”

    Ich würde in kein Geschäft ein zweites Mal gehen, in dem man mir das Gefühl gibt, nichts zu sagen zu haben oder irrelevant zu sein. Genau das höre ich jedoch, wenn ich mich mal irgendwo einmische. Das ist eben Politik.

    Um das zu ändern, müssten die Regeln geändert werden (Volksentscheide, direkte Demokratie). Da das aber ein Machtverlust für diejenigen wäre, die das entscheiden können, löst sich der Knoten nicht auf.

    Ich habe keine Illusionen: Direkte Demokratie würde Deutschland nicht über Nacht in ein blühendes Land verwandeln. Aber sie würde die schlimmsten Auswüchse von Kungelei und Vetternwirtschaft verhindern. Die Reaktionen von Politikern auf Projekte wie Wikileaks o.ä. zeigen, dass sie vor den normalen Menschen und noch mehr vor aufgeklärten Bürgern Angst haben.

    “Auch wenn es in unseren obrigkeitshörigen Traditionen noch immer viele glauben wollen: Besser wird es nicht durch “die da oben”. Besser wird es nur, wenn wir selbst wieder beginnen, uns mehr zuzutrauen.”

    Ich glaube in der Tat, dass wir noch viel zu obrigkeitshörig sind. Wir werden in der Hinsicht nicht einfach so ein Land wie die USA werden können, aber wir könnten uns einige Kniffe abgucken. Ich denke da an das angelsächsische Verständnis von Presse- und Meinungsfreiheit. Das ist überhaupt das schönste: Wenn man sieht, wie Demokratie woanders funktioniert. Dann weiß man, dass man kein Spinner ist, wenn man das für das eigene Land einfordert.

  149. Demokratie @Kunar

    Ich stimme Ihren Ausführungen weitestgehend zu. Deutschland kommt wohl auch so schnell nicht mehr auf die Beine. Die Schulden, die nach der Finanzkrise aufgenommen werden mussten, werden wohl die Zukunft unserer Kinder noch lange Zeit belasten.

    „Ich denke da an das angelsächsische Verständnis von Presse- und Meinungsfreiheit. Das ist überhaupt das schönste: Wenn man sieht, wie Demokratie woanders funktioniert. Dann weiß man, dass man kein Spinner ist, wenn man das für das eigene Land einfordert.“

    Dies ist der einzige Punkt bei dem ich Bedenken habe. Amerika ist nicht mehr das Land, das wir aus Filmen kennen. Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001, weht da ein anderer Wind. Nach dem internationalen Demokratieindex belegen die europäischen Nordstaaten, wie Schweden, Island, Holland und Norwegen, die vordersten Plätze.

    Quelle:
    http://www.economist.com/…RACY_INDEX_2007_v3.pdf

  150. @ Kunar: Genau!

    Lieber Kunar,

    Politik ist ja nun nicht Thema dieses Blogs, aber m.E. sehen wir mindestens teilweise durchaus das gleiche Problem. Du schriebst:

    Heute hingegen gibt es nur noch Negativ-Definitionen: Wer dies und jenes nicht schafft, der hat sowieso keine Chance. Auf die Weise muss jeder Angst haben vor der nächsten (Hürde?, Prüfung? Herausforderung?), kann sich aber nicht freuen, wenn er sie geschafft hat.

    Hier sehe ich auch die Gefahr: Wenn wir uns in Deutschland – inmitten von Niveaus an Wohlstand, Sozialstaat, Demokratie und Bildung, von denen weite Teile der Weltbevölkerung nur träumen können – immer nur vorjammern, wie schlecht alles sei und wer alles daran schuld sei, schaffen wir uns selbst ein Klima der Angst, der Missgunst und der Lähmung. Natürlich sind Wirtschaft, Politik, Schulen etc. dringend verbesserungsbedürftig – wo wären sie es nicht? Aber wer sich und anderen ständig vermittelt, “die Gesellschaft” hindere ihn oder sie an der Entwicklung, wird eben gerade keine aktive Lebenseinstellung befördern. Wie kommt es, dass in Deutschland so viele nur noch ein möglichst laut jammerndes Opfer vermeintlich böser Mächte sein wollen?

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