Apps als “DiGA” auf Rezept? Nutzen und Risiken

Künftig können Ärzte und Psychotherapeuten medizinische Apps auf Kassenrezept verordnen. Doch was ist bei diesen digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) zu beachten? Ein kurzer Überblick zum gegenwärtigen Stand.

Eines ist sicher: Die Corona-Krise wirkt wie ein Turbo auf die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens. Es ist verständlich, dass dies nicht komplett ohne Risiken und Nebenwirkungen abläuft.

Medizinische Apps versprechen viel: Einige können Blutzuckerwerte speichern und Migräne-Patienten bei der Therapieoptimierung begleiten. Andere können eine korrekte Medikamenteneinnahme oder Frauen in einer Schwangerschaft unterstützen.

DiGA – gesetzliche Grundlagen und “Zulassungsprozess”

Auf Basis des Digitale-Versorgungs-Gesetzes (DVG) und der Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) können die etwa 73 Millionen Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherungen künftig in den Genuss von medizinischen Apps kommen, die wie Arzneimittel verschrieben werden. [1,2]

DiGA sind Medizinprodukte mit geringem (Risikoklasse I) bis maximal mittlerem Risiko (Risikoklasse IIa). Ein strenges Zulassungsverfahren wie Arzneimittel müssen sie somit nicht durchlaufen.

Die Kostenübernahme der Nutzung einer DiGA durch die gesetzlichen Krankenkassen erfordert jedoch eine Bewertung der App durch das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Erst dann wird die DiGA in einem Verzeichnis erstattungsfähiger digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA-Verzeichnis) gelistet. Seit Anfang Juni können DiGA-Anbieter Anträge zur Aufnahme in das BfArM-Verzeichnis stellen.

Laut Auskunft des BfArM handelt es sich bei allen DiGA “um zertifizierte Medizinprodukte, das CE-Zertifikat muss zum Zeitpunkt der Antragsstellung bereits vorliegen. Das BfArM nimmt im Rahmen des DiGA-Fast-Track-Verfahrens keine Zertifizierung vor.” [3]

Eine Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis des BfArM kann außerdem nur dann erfolgen, wenn die Hersteller positive Aspekte für die Versorgung nachweisen können. Falls dies bei Antragstellung nicht direkt möglich ist, kann das BfArM für ein Jahr eine vorläufige Erstattung genehmigen. Die Hersteller bekommen damit 12 Monate Zeit, die Nachweise der Wirksamkeit zu erbringen.

DiGA – gegenwärtig noch viele Risiken?

Damit birgt diese prinzipiell gute Idee zur Modernisierung des Gesundheitswesens derzeit noch einige Risiken. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) mahnte am 17. September 2020 zur Vorsicht bei der Verordnung und Nutzung von sogenannten “Gesundheits-Apps”. [4, 5] Dr. Wolfgang Krombholz, Dr. Pedro Schmelz und Dr. Claudia Ritter-Rupp vom Vorstand der KVB warnten:

“Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist nicht aufzuhalten und macht in vielen Bereichen durchaus Sinn. Bei den Gesundheits-Apps, die künftig von den Ärzten und Psychotherapeuten verordnet oder von den Krankenkassen veranlasst und von diesen auch erstattet werden können, sehen wir allerdings das große Problem der Intransparenz in Bezug auf Qualität und Datenschutz.”

Weiterhin betonte der KV-Vorstand:

“Die Patienten dürften nicht zu den ‘Versuchskaninchen’ der IT-Industrie und der App-Programmierer gemacht werden.”

Klar ist – Hausärzte und Kliniken stehen derzeit vor etlichen und erheblichen Herausforderungen. Modernisierungen müssen daher in erster Linie entlasten und nicht noch mehr Belastungen schaffen. Wer haftet beispielsweise, falls die eingesetzte App falsche oder widersprüchliche Daten liefert? Erfolgt eine zusätzliche Vergütung, falls die Patienten sich statt an die Hersteller bei Problemen mit der App doch lieber an den Arzt oder die Ärztin ihres Vertrauens wenden?

Laut Auskunft des BfArM liegt das Haftungsrisiko bei den Herstellern. Doch was, wenn falsche Werte zu falschen Entscheidungen führen? Jeder Nutzer von Fitness-Trackern weiß, wie gut oder schlecht solche Aufzeichnungen sein können und welche Schlüsse Nutzer daraus ziehen können bzw. besser nicht sollten.

Daher fordert der Vorstand der KVB, dass das BfArM nur Apps mit nachgewiesener Sicherheit und Unbedenklichkeit in die Liste aufnimmt. Hier liegt auch die Trennlinie zwischen Gesundheits-Apps und medizinischen Apps.

Derweil weist die KV darauf hin, dass Gesundheits-Apps kein Bestandteil einer leitliniengerechten, evidenzbasierten und qualitätsgesicherten medizinischen Versorgung sind. Praxen sind nicht verpflichtet, solche Apps zu verordnen.

Vor Nutzung: Prüfung und Checkliste empfohlen

Bereits heute nutzen Hunderttausende Menschen Apps für Sport, Yoga, Ernährungsberatung, Rauchentwöhnung oder zur Verlaufskontrolle chronischer Krankheiten. Dabei verlassen sich viele Nutzer vor allem auf die Bewertungen anderer User im Download-Store. Oft überwiegt das Bauchgefühl, da allgemeine Qualitäts- und Sicherheitsstandards fehlen.

Digitale Souveränität ist und bleibt ein Thema zum Mitgestalten für alle und betrifft nicht nur “Gesundheits-Apps”. Volker Wittpahl, Leiter des Instituts für Innovation und Technik – iit in Berlin, sagte vor etwa zwei Jahren bei einem – im Prä-Corona-Zeitalter noch analogen – Stammtisch-Treffen der Berliner WPK-Wissenschaftsjournalisten:

“Wer nicht selbst gestaltet, wird gestaltet.”

Seine Publikationen zu dem Thema, z.B. den Themenband “Digitale Souveränität”, sollte jeder Mensch kennen. Dank Open Access sind die Veröffentlichungen frei verfügbar. [6]

Der Krebsinformationsdienst am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) rät Anwendern, digitale Gesundheits-Apps mithilfe einer vom Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) erstellten Checkliste zu prüfen. [7]

Mit diesem einfachen Tool können Zweck und Funktionalität der App, das Vorhandensein von Prüfsiegeln, Impressum, das Vorhandensein einer Datenschutzerklärung oder Zertifizierung sowie Finanzierungshintergründe getestet werden. [8] Die Auswertung ermöglicht eine bessere Einschätzung der App.

Dr. Susanne Weg-Remers, Leiterin des Krebsinformationsdienstes am DKFZ rät den Nutzern:

“Werden die Kriterien nicht oder nur teilweise erfüllt, ist Skepsis angebracht.” [7]

Nützliche Diabetes- und Migräne-Apps

Beispiel 1: Migräne App M-sense

Blog-Nachbar Markus A. Dahlem (Graue Substanz) veröffentlicht immer wieder interessante Artikel über Migräne-Apps, sinnvolle Digitalisierung und Datensicherheit. Er selbst forscht seit Jahren zum Thema Migräne und hat als Gründer und Geschäftsführer der Newsenselab GmbH die Migräne-App M-sense entwickelt. [9, 10]

Kopfschmerzpatienten können hier einen “digitalen Phänotyp” ihrer Erkrankung erstellen – ein Muster aus Lebensstil und Vitalzeichen. Darauf basierend erfolgt eine Analyse für die Nutzer, die zu einer maßgeschneiderten Therapie mit verbessertem Therapieerfolg führt. Die App M-sense Migräne ist Teil der Initiative “Zukunftsregion Digitale Gesundheit” (ZDG) des Bundesministeriums für Gesundheit und soll demnächst als DiGA von den Krankenkassen verschrieben werden können.

Beispiel 2: Diabetes App Virta Health

Auch für die Verwendung von Diabetes-Apps wurde bereits ein medizinischer Nutzen gezeigt. So konnte die Verwendung der Diabetes-App Virta Health durch Blutzucker-Monitoring plus Unterstützung bei Lebensstil- und Diätgewohnheiten ein Fortschreiten der Diabetes (Typ2) umkehren. [11]

Dass viele Insulin-produzierende Betazellen bei Typ-2-Diabetikern gar nicht unwiederbringlich zerstört sind und wie diese Erkenntnisse in Zukunft die Diabetes-Therapie verbessern könnten, habe ich vor einiger Zeit hier erklärt – “Diabetes: Stress kann Betazellen reversibel verändern”. [12] Damals ging es noch um ein Mausmodell, heute können diese Erkenntnisse dank digitaler Unterstützung sinnvoll angewendet werden.

Damit sind Markus’ Migräne-App M-sense wie auch die Diabetes-App Virta Health gute Beispiele für eine nützliche und sinnvolle Digitalisierung der Medizin. Gleichzeitig zeigen sie aber auch den oft langjährigen und nicht immer einfachen Prozess von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung am Patienten.

Verzeichnis der bereits bewerteten DiGA

Medizinische Apps, die das Bewertungsverfahren durch das BfArM erfolgreich durchlaufen haben und somit verschreibungsfähig sind, werden unter www.bfarm.de/diga online gelistet.

Laut Auskunft des BfArM werden “in Kürze die ersten DiGA im Verzeichnis” erwartet. Auf meine Anfrage nach genaueren Informationen für Nutzer und Leistungserbringer antworte das sehr nette DiGA-Team des BfArM:

“Mit Start des Verzeichnisses werden sehr umfangreiche Informationen im Allgemeinen sowie speziell zur jeweiligen DiGA für Nutzer und Leistungserbringer wie Ärzte zur Verfügung gestellt. Wir bitten Sie daher noch um etwas Geduld.”[3]

Es bleibt also spannend. Ob mit oder ohne DiGA – passt auf euch auf und bleibt gesund!

Quellen / weiterführende Literatur:

  1. Bundesministerium für Gesundheit: Ärzte sollen Apps verschreiben – Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG, veröffentlicht am 22.04.20 (online)
  2. hih – health innovation hub des Bundesministeriums für Gesundheit: Die DiGAs kommen! Informationen sind gefragt. 2020, online unter: https://corona-digital.de/die-digas-kommen-informationen-sind-gefragt/ [01.10.20]
  3. Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): DiGA (und persönliche Kommunikation)
  4. KVB-Vorstand zu Gesundheits-Apps:
    “Patienten nicht zu Versuchskaninchen machen!” Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB), veröffentlicht am 17.09.2020, online unter: https://www.kvb.de/fileadmin/kvb/dokumente/Presse/Presseinformation/2020/KVB-PI-200917-Gesundheitsapps.pdf
  5. KV Bayerns mahnt zur Vorsicht bei digitalen Gesundheitsanwendungen, aerzteblatt.de, 17.09.2020
  6. Wittpahl, V (Herausgeber): iit-Themenband Digitale Souveränität. Springer Vieweg (Open Access) 2017. DOI 10.1007/978-3-662-55796-9
  7. DKFZ empfiehlt App-Checkliste, Ärztezeitung, 05. März 2020
  8. Aktionsbündnis Patientensicherheit: Checkliste für die Nutzung von Gesundheits-Apps
  9. Dahlem, M.A., Roesch, A., Neeb, L. et al. MMW – Fortschritte der Medizin (2018) 160: 51. https://doi.org/10.1007/s15006-018-0153-5
  10. Dahlem, M.A. : Was leisten Migräne-Apps? [Blog Graue Substanz der SciLogs.Spektrum.de], veröffentlicht am 11.02.2018, online unter: https://scilogs.spektrum.de/graue-substanz/was-leisten-migraene-apps/
  11. Laura Lovett: Study: Virta’s monitoring app plus low-carb diet reverses diabetes progression. HIMSS, Feb 08, 2018
  12. Schumacher, K: Diabetes: Stress kann Betazellen reversibel verändern. [Blog Medicine & More der SciLogs.Spektrum.de], veröffentlicht am 11.10.2012, online unter:
    https://scilogs.spektrum.de/medicine-and-more/diabetes-stress-kann-betazellen-reversibel-ver-ndern/

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Dr. Karin Schumacher bloggte zunächst als Trota von Berlin seit 2010 bei den SciLogs. Nach dem Studium der Humanmedizin in Deutschland und Spanien promovierte sie neurowissenschaftlich und forschte immunologisch in einigen bekannten Forschungsinstituten, bevor sie in Europas größter Universitätsfrauenklinik eine Facharztausbildung in Frauenheilkunde und Geburtshilfe abschloss. Hierbei wuchs das Interesse an neuen Wegen in der Medizin zu Prävention und Heilung von Krankheiten durch eine gesunde Lebensweise dank mehr Achtsamkeit für sich und seine Umwelt, Respekt und Selbstverantwortung. Die Kosmopolitin ist leidenschaftliche Bergsportlerin und Violinistin und wenn sie nicht gerade fotografiert, schreibt oder liest, dann lernt sie eine neue Sprache. Auf Twitter ist sie übrigens als @med_and_more unterwegs.

7 Kommentare

  1. M-sense und Virta-Health scheinen beides Smartphone-Anwendungen zu sein bei denen der Benutzer selbst Einträge machen muss. Bei M-sense in Form eines Migräne-Tagebuchs, bei Virta-Health in Form von selbst erhobenen Laborwerten.
    Etwas ähnliches also wie wenn man ein (Papier-) Notizbuch führt, nur mit dem Unterschied, dass die Daten an ein Zentrum übermittelt werden, wo dann eine Rückmeldung stattfindet. Bei Virta Health könnte die Rückmeldung folgende sein (Zitat aus der Virta-Health-WebSite: „Hi Kim, you blood sugar readings are looking great!“).
    Ständige Rückmeldungen bei der Überwachung des eigenen Gesundheitszustandes sollen den Patienten also wieder auf die richtige Spur bringen. Dafür gibt es in der Tat eine Reihe von Anwendungen. Das scheint mir geeignet vor allem für chronische Beschwerden/Krankheiten oder für längere Rehabilitationsphasen, für die Suchtbehandlung oder auch zur Behandlung von psychischen Störungen, die der Patient durch Reflektion und Verhaltensänderungen unter Kontrolle bringen will wobei ihm ein Arzt/Gesundheitsfacharbeiter ständig über die Schulter schaut.

    Diese Kategorie von DiGA würde ich als Kombination von schwach strukturierten Eingaben (M-Sense: Migräne-Tagebuch; Virta-Health: selbsterhobene Blutzuckerwerte etc) und einer Chat-/Rückmeldungskomponente einstufen. Bei dieser Anwendungsgruppe sehe ich kaum Sicherheitsrisiken im Sinne der obigen Empfehlung “nur Apps mit nachgewiesener Sicherheit und Unbedenklichkeit zulassen“, denn wenn solche Apps Sicherheitsrisiken darstellen, dann stellt auch jeder Psychologe/Psychiater oder jeder Hausarzt, der Patienten in der Rehabilitation oder mit chronischen Krankheiten behandelt, ein Sicherheitsrisiko dar.

    Bei der Gerätekategorie der Fitness./Gesundheitstracker sieht es vielleicht schon etwas anders aus, denn die Datenberge, die ja anfallen, können für vieles verwendet werden – nicht nur für die Überwachung und Behandlung des Patienten. Ich sehe da eine Ähnlichkeit zum Autopilot-System von Tesla-Motors: Wer das Assistenzsystem von Tesla-Autos benutzt, der stellt seine Daten automatisch der Firma Tesla zur Verfügung, die diese Daten für die ständige Verbesserung ihres Systems benutzt. Nun, sehr vernünftig und sinnvoll, die Frage ist nur wo das endet und ob beispielsweise be einem Unfall so erhobene Daten gegen den Autofahrer verwendet werden können und sollen. Auch medizinische Apps haben ein ähnliches Bedürfnis der ständigen Systemverbesserung durch Datenauswertung und auch bei ihnen gibt es die mögliche Frage ob der Patient etwa die Schuld an der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes trägt und ob das die Krankenkasse übernehmen oder nicht übernehmen soll.

    Ich denke aber, dass die Zukunft des Gesundheitsbereich in jedem Fall die ständie Überwachung von Gesundheitsparametern sein wird – denn das entspricht einfach dem Trend zum ständigen UpToDate sein. Heute will man nicht mehr einfach überrascht werden sondern vorbereitet sein um jederzeit eingreifen zu können – beuspielsweise bei einer Schwangerschaft, einem HangOver, einer Nachbehandlung einer Fraktur etc, etc. Vielleicht wird man irgendwann die Fragestellung sogar umkehren und bestimmen müssen was man nicht digital überwacht – denn es könnte normal werden alles zu überwachen.

  2. Bei DiGA geht es letztlich um medizinische Produkte, die von der Krankenkasse vergütet werden. Damit sollten sie ähnlichen Qualitätskriterien unterliegen wie andere medizinische Produkte. Doch DiGAs mit Medikamenten zu vergleichen führt wohl meistens in die Irre, denn DiGAs wie etwa etwa Virta-Health senden ja Daten an einen Betreuer oder an die Firma, die das Produkt vertreibt und der automatische oder auch die reale, humane Betreuerin regiert dann auf diese Daten mit Empfehlungen, eventuell sogar Zuweisungen an den Hausarzt oder gar das Spital . Mindestens bei Virta-Health, einem digitalen Diabetes-Überwachungsprogramm ist das der Fall. Dort, bei Virta-Health scheint es ja echte oder virtuelle (?) persönliche Betreuer des Diabetikers, der Diabetikerin zu geben, die Virta-Health benutzt. So wirbt die Firma mit einem Virta Provider namens Nicole Recine, die dem Kunden/Patienten folgendes schreibt:

    Hi Kim, your blood sugar readings are looking great! I am very pleased with your improvements so far. Let’s stop your Lantus insulin starting today. We will continue to monitor your biomarkers and watch for opportunities to reduce your other medications. Congratulations and keep up the great work! Today – 10:32 AM

    Das sind medizinisch relevante Empfehlungen, die da per Smartphone „verabreicht“ werden. Konkret ist es hier die Anweisung Lantus Insulin zu stoppen, also nicht mehr zu injizieren. Hier taucht doch sofort die Frage auf, wer solch eine Anweisung geben darf: ein Software-Programm oder ein Mediziner. Man liest auf der Virta-Health WebSite, dass es über ein Team von erfahrenen Klinikern, also von Medizinern verfügt. Tatsächlich scheint mir das nötig. Eine App jedenfalls kann niemals selbst entscheiden, ob die Injiektion von Lantus Insulin gestoppt werden soll.

  3. Vielen Dank für die ausgezeichneten Anmerkungen und Ergänzungen. Ich denke auch, dass die Fragen rund um den Datenschutz / Datennutzung recht knifflig und vermutlich ein Grund sind, warum der geplante Start der DiGA auf Rezept schon einige Male verschoben wurde… Die Nutzung dieser Apps wird freiwillig sein. Wie sich die Medizin diesbezüglich in Zukunft weiterentwickelt, ist natürlich schwer vorauszusehen.

    Die Diabetes-App Virta Health ist vor allem in den USA beliebt und anscheinend entsprechend auf den dortigen Markt zugeschnitten. Es ist ein Fernbehandlungsmodell mit individueller Animation zur Lifestyle-Änderung und Ernährungsumstellung (Low-Carb bzw. Keto-Ernährung). Jeder Patient erhält ein Fern-Pflege-Team – d.h. Gesundheitsberater und Mediziner.

    Werte können so zeitnah bei Bedarf telemedizinisch abgeklärt werden, was einen klaren Vorteil im Vergleich zum klassischen Modell mit eher mehr als weniger feststehenden Insulin- /Tabletten-Schemata, fixen Arztterminen und Konsultationen durch Diätassistentinnen bedeuten sollte. Ob dieses Konzept auch in Ländern wie Deutschland realisierbar ist, wo die Patienten bislang eher häufig zum Arzt gehen (mussten), wird sicher nicht nur aufgrund des medizinischen Nutzens entschieden werden.

    Die Studienergebnisse sind jedenfalls vielversprechend. Nach einem Jahr Nutzung der Virta App brauchten 94% der Studienteilnehmer weniger bzw. kein Insulin mehr, das Gewicht hatte sich normalisiert (-13.8 +/- 0.71 kg) und die HbA1c-Werte waren gesunken (Hallberg, S. J., et al. (2018). Effectiveness and safety of a novel care model for the management of type 2 diabetes at 1 year: An open-label, non-randomized, controlled study. Diabetes Therapy, 9, 583-612. https://doi.org/10.1007/s13300-018-0373-9). Die Auswertung der 5-Jahresdaten wird 2022 erwartet.

    Ob Virta sich auch in Deutschland (erfolgreich) um die Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis des BfArM beworben hat, werden wir sehen, wenn die ersten DiGA online gelistet sind. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft e.V. hat jedenfalls ihr eigenes Gütesiegel “DiaDigital“ für Apps entwickelt. Die Apps mit dem “DiaDigital”-Prüfsiegel sind auf https://www.diadigital.de/apps-mit-siegel/ gelistet.

  4. Vielen Dank für die hier gezeigten Beispiele von Gesundheits-Apps. Und, ich kann die Nutzung von Fitness-Apps in meiner Patientenschaft bestätigen, ebenso auch die Entwicklung eines gewissen Ehrgeizes, um die F-Ziele zu erreichen und zu verbessern. Bei den Usern handelt es sich aber ausschließlich um jüngere und sehr technikaffine Bürger. Bei den chronisch Kranken Menschen, die in eine Behandlungsbedürftigkeit kommen sehe ich diesen Effekt nicht. Es handelt sich meist um bereits ältere Menschen. Der Umgang mit Smartphones oder Tablets gehört nicht zu deren Haupt- oder Lieblingsbeschäftigungen. Hier sehe ich zumindest eine Diskrepanz zwischen den angedachten Sinn der Apps und deren Zielgruppen, dies ist natürlich subjektiv und nur aus der täglichen Praxis eines Haus-Arztes. Etwas verwundert hat mich die unterschwellig anklingende Annahme von Frau Schumacher als auch von Herrn Holzherr, dass Ärzte nicht digital aufgestellt wären. Meines Wissens gibt es in meinem Umkreis keinen Arzt, der nicht vollständig digitalisert ist. Natürlich kann ich das Interesse von Patienten und Bürgern verstehen, dass die Daten von verschiedenen Ärzten auch bei den sie behandelnden Ärzten vorliegen. Die aktuellen Bestrebungen des BGM sprechen eine andere Sprache, deren Ziel mag vielleicht auch irgendwann einmal der Austausch von ärztlichen Befunden untereinander sein. Aktuell hebelt das gerade eben verabschiedete Patienten-Daten-Schutz-Gesetz (PDSG) die ärztliche Schweigepflicht, die DSVG, das SGB und das verfassungsmäßig verbriefte Recht aller auf Selbstbestimmung aus. Offensichtlich haben die Bürgerinnen und Bürger den Inhalt noch nicht würdig vermittelt bekommen, von einer Diskussion darüber einmal ganz zu schweigen. Gut zusammengefasst hat das einmal http://www.heise.de in einem Beitrag. Letztendlich kann kein Patient sich gegen die Einspeisung der von Ärzten erhobenen Daten mehr wehren, seine Rechte auf Löschung etc. sind aufgehoben, oder besser, einfach ausgehebelt. Darin sehe ich einen enormen Verstoß gegen unser verfassungsmäßiges Recht auf Mit- u. Selbstbestimmung. Das PDSG schützt nicht die Gesundheits-Daten, sondern es macht sie für die Gesundheitswirtschaft nutzbar. Was immer sich dahinter verbergen mag.
    Auf der Webseite von Heise.de wurde hierzu ein interessanter und lesenswerte Beitrag, ja eine juristische Analyse veröffentlicht. Wenn das die Sichtweise des BGM von Datenschutz ist, wundere ich mich über die fehlende gesellschaftliche Diskussion darüber. Oder das Thema Corona und der Wunsch alles zu digitalisieren macht die Menschen blind.

    Auf unserer Webseite haben wir einen Beitrag der Webseite Gesundheitsdaten in Gefahr verlinkt.

    Und zum Abschluss, auch ich sehe in der weiteren Digitalisierung im Gesundheitswesen eine Möglichkeit die gesundheitliche Versorgung zu verbessern. Allein meine Erfahrung aus dreißig Jahren Niederlassung als Hausarzt lässt mich daran Zweifeln, dass dies die wirkliche Triebfeder der weiteren Digitalisierung im Gesundheitswesen ist. Es gibt soviel, was man erst einmal ändern könnte, bevor man wieder Neues beginnt. Es fehlen Pfleger*innen, die Erhöhung der Attraktivität dieses Berufszweiges wurde während der akuten Corona-Phase von fast jeden Politiker versprochen. Ja, einige bekommen eine einmalig Prämienzahlung aber nicht in der Höhe von den versprochenen 1.500 EUR sondern abgestaffelt. Auch schön wäre die Einstellung von Bestrafungen der Ärzte, wenn sie die Arzneimittelbudgets überschritten haben.
    Bei den Problemen in unserem Gesundheitswesen komme ich zum Schluss nicht um hin die Bewertung einer Gesundheits-App etwas zu relativieren. Denn diese soll ja auch bezahlt werden, oder sind das altruistische Beigaben der App-Entwickler.

  5. Vielen Dank für die ausgezeichneten Anmerkungen, Herr Dr. Lorenz. Ich kann dem, was Sie schreiben, voll und ganz zustimmen.

    Entweder man bezahlt für das Produkt oder man ist das Produkt. Auch App-Entwickler müssen leben und werden vielleicht nicht so sehr mit den Krankenkassen & Co. feilschen (müssen / wollen) wie andere.
    Denn was, wenn man für das Produkt bezahlt, was man ist bzw. werden soll? Dies ist ja auch schon Realität in der Medizin, aus ähnlichen Gründen. Da reicht schon ein Blick auf die Entwicklung der OP-Zahlen in Deutschland seit Einführung der Fallpauschalen. Ich sehe das Problem dabei nicht bei den Ärzten, auch was die Digitalisierung betrifft, ganz im Gegenteil. Sorry, wenn das vielleicht so klang.

    Die Frage ist nicht ob, sondern wie. Ich denke, es wären erhebliche Reformen notwendig, damit das medizinische Personal auch tatsächlich (wieder) das sein kann, was eigentlich diesen Beruf ausmacht. Die Pflege muss dringend aufgewertet werden und sich auch wieder vermehrt der Pflege der Patienten widmen können, anstatt immer mehr Arbeitszeit mit dem Einpflegen von Leistungen in irgendwelche Abrechnungssysteme verbringen zu müssen. Ich habe gesehen, dass Patienten verstarben, da keiner Zeit hatte, sie zu füttern.

    Wir verfügen mittlerweile über genug Wissen (und Geld), dass wir uns ein Gesundheitssystem leisten könnten, das tatsächlich diesen Namen verdient Vielleicht hilft uns ja Corona dabei. Die Cholera-Epidemien Ende des 19. Jahrhunderts haben ja beispielsweise immerhin bewirkt, dass es nun in vielen Städten sauberes Trinkwasser gibt.

  6. Vielen Dank für den erhellenden Beitrag, Karin! Er hat ja auch schon gut zur Diskussion angeregt. Ich möchte noch einen Aspekt etwas vertiefen, den Du ansprachst, und der m.E. auch noch mehr Aufmerksamkeit verdient, da es – wie auch Du schreibst – weit über Gesundheits-Apps hinaus gilt: Digitale Souveränität.

    Auch der Aktionsrat Bildung (2018) forderte zu Digitalisierung und Hochschulbildung „digitale Souveränität“; was bedeute, „dass man mit digitalen Medien unter vollständiger eigener Kontrolle umgehen kann“, als „wesentliche Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe“, womit digitale Kompetenzen und gesellschaftliche Teilhabe verknüpft werden (vgl. ebd.).

    Leider gab es – zumindest bis vor kurzem – keine Möglichkeit zu erfassen, inwieweit digitale Souveränität bzw. die dafür nötigen digitalen Kompetenzen bei Studierenden oder Hochschulabsolventen ausgeprägt sind, da die entspr. Erhebungsinstrumente anders als bei Schülern fehlten – wie ich erstaunt vor etwa einem Jahr feststellen musste.

    Es gibt aber inzwischen eine Möglichkeit für alle, die vielleicht eine kleine Selbsteinschätzung inkl. einiger Selbsttest-Fragen hierzu vornehmen wollen. 😉 Diese wurde letztes Jahr auf der International Strategy Conference des Hochschulforum Digitalisierung vorgestellt und sie wird inzwischen an mehreren Universitäten genutzt, u.a. auch an der HU Berlin (Präsentation s. http://www.researchgate.net/publication/337889309, Dokumentation des Fragebogens in: http://www.researchgate.net/publication/342304023).

    Quelle:
    Aktionsrat Bildung (2018): Blossfeld, Hans-Peter / Bos, Wilfried / Daniel, Hans-Dieter / Hannover, Bettina / Köller, Olaf / Lenzen, Dieter / McElvany, Nele / Roßbach, Hans-Günther / Seidel, Tina / Tippelt, Rudolf / Wößmann, Ludger: Digitale Souveränität und Bildung. Münster: Waxmann.

    • Vielen Dank für die wertvollen Ergänzungen zur digitalen Souveränität, René! Die Selbsteinschätzung Eurer Studies ist sehr interessant. Der Aktionsrat Bildung stellt allerdings, wie ich finde, ziemlich hohe Anforderungen. 😉 Welcher Mensch besitzt die biologischen Voraussetzungen, um mit “digitalen Medien unter vollständiger eigener Kontrolle umgehen” zu können?

      Wie selbstbestimmt kann ein Mensch überhaupt sein? Inwieweit kann ich kontrollieren, wer oder was bestimmt, wie ich mich verhalte? Hierfür muss ich mein “langsames Denken” trainieren, wie Nobelpreisträger Daniel Kahneman es in seinem Bestseller über Verhaltensökonomie genannt hat. Die digitale Welt ist aber alles andere als langsam. Auch unsere Entscheidungen sind meist emotional vom “schnellen Denken” geprägt. Immerhin sind wir ziemlich gut darin, diese später rational zu begründen. Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der SciLogs anno 2017 (meines Wissens auch das Jahr des letzten analogen Bloggertreffens) haben wir diese Fragen und mehr auf Zeitonline und hier bei den SciLogs im Rahmen der “großen Fragen” zum Thema Bewusstsein diskutiert.

      Selbstbestimmung geht nur, wenn dafür auch die Voraussetzungen bestehen. Hier gibt es noch viel zu tun. Mehr Achtsamkeit durch Selbsteinschätzung ist ein hervorragendes Mittel, auch um gesund zu bleiben und medizinische Apps vielleicht gar nicht erst zu benötigen…

      Ich hoffe, dass Corona uns dabei hilft, mehr Zeit den wirklich wichtigen Dingen im Leben zu widmen. Dies gelingt, wenn es genügend Menschen gibt, die Krisensituationen souverän meistern können. In diesem Sinne, nochmals vielen Dank und bis hoffentlich auf bald mal wieder im realen Leben (vielleicht irgendwann sogar auf einem echten (Blogger-)-Gipfel in den Bergen)?! 🙂

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