App auf Rezept: Die digitale Kompetenz wird ein wichtiger Erfolgsfaktor

Die digitale Kompetenz wird ein wichtiger Erfolgsfaktor Digitaler Medizin. Nur wenige scheinen den Wirkmechanismus Digitaler Medizin heute schon vollumfänglich zu verstehen.

Gestern wurde das Digitale Versorgung-Gesetz (DVG) vom Bundeskabinett beschlossen. Verkürzt wird das DVG als der Weg zur »App auf Rezept« zusammengefasst. Nicht verkürzt, sondern verzerrt wird das DVG, wenn es so umschrieben wird: »Dabei geht es etwa um Anwendungen, die beim regelmäßigen Einnehmen von Medikamenten helfen. Patienten sollen leichter Arztpraxen finden können« (FAZ).

Das wäre so, als wenn man Ende der 1990er geschrieben hätte: »Bei Amazon geht es etwa um Webseiten, die motivieren mehr Bücher zu lesen. Leseratten sollen leichter Buchhandlungen finden können.«

Oder: »Bei Wikipedia geht es um Webseiten, die Motivieren ein Lexikon in die Hand zu nehmen. Wissbegierige sollen leichter Einträge in gedruckten Enzyklopädien finden können.«

Worum geht es?

Die digitale Kompetenz wird ein wichtiger Erfolgsfaktor der digitalen Medizin sein. In dem Punkt hängen wir in Deutschland hinterher. Denn wer Medizin-Apps allein als digitale Verlaufskontrolle für den Arzt denkt, der hat Digitale Medizin noch nicht vollständig verstanden.

Es geht um evidenzbasierte therapeutische Interventionen zur direkten Behandlung einer Erkrankung sowohl unabhängig als auch in Kombination mit Medikamenten. Beispielsweise trainieren Medizin-Apps Körper und Gehirn, Kopfschmerzen zu mindern oder Schmerzattacken ganz zu vermeiden. Medizin-Apps können das Gehirn umprogrammieren. D.h. Medizin-Apps können durch eine therapeutische neuronale Neuverdrahtung (»therapeutic re-wiring«) das Gehirn zurück in den gesunden Zustand führen.

Wir sind mit unserem Start-up einer der Vorreiter in Deutschland, weil wir auf eine über 20 Jahre lange Forschungstradition der »Computational Neurology« zurückgreifen können. Das umfasst Bereiche der Diagnostik, zum Beispiel Biomarker zu Aura-Diagnostik [1] oder Schmerzmessung [2], Bereiche der Prognostik, zum Beispiel präemptive Biomarker zur Attacken-Früherkennung [3] oder prädiktive/prognostische Biomarker zur Identifikation von Super-Respondern (therapie-spezifisch oder unspezifisch) [4] sowie auch digitale Therapien alleinstehend [5] oder in Kombination mit Neuromodulation [6]. Eine App zur Verlaufkontrolle der Migräne ist dabei nicht mehr als die Plattform für eine Pipeline neuer digitaler Therapeutika. Internationale Beispiele von Unternehmen, die in gleicher Weise vorgehen und wissenschaftlich ebenso gut belegten Medizin-Apps entwicklen sind Akili Interactive, Pear Therapeutics, Click TherapeuticsPropeller Health oder Spring Health. All diese Start-up kennen das neue Gesetzt von Jens Spahn und schauen mit Interesse auf den deutschen Gesundheitsmarkt. Das ist gut für die Patienten hier. Dass wir zu wenig eigene Start-ups in diesem Bereich hervorbringen ist weniger gut.

Wenn die Gesundheitswirtschaft in Deutschland nicht weiter zurückfallen soll und in Deutschland noch mehr Start-ups zu den oben genannten Marktführern im Bereich der digitalen Gesundheit aufschließen und sie überholen wollen, dann müssen wir Digitale Medizin ernst nehmen. Die aktuelle Diskussionen um das DVG zeigt vor allem eins, es fehlt nach wie vor in Deutschland an digitaler Kompetenz.

Paradebeispiel ist der Datenschutz, der reflexartig angeführt wird. Datenschutz ist Voraussetzung. Wer anonymisierte Daten für eine bessere Medizin spenden und später selbst auch von der Forschung profitieren will, der muss davor geschützt werden, dass diese Daten auf dem Smartphone ungenutzt bleiben. So wird Digitale Medizin verhindert. Auch das ist Datenschutz.

Literatur

[1] M. A. Dahlem and E. P. Chronicle: A computational perspective on migraine aura, Prog. Neurobiol. 74, 351 (2004).

[2] undisclosed

[3] M.A. Dahlem, J. Kurths, M. D. Ferrari, K. Aihara, M. Scheffer, and A. May, Understanding Migraine using Dynamical Network Biomarkers, Cephalalgia, (2014). doi: 10.1177/0123456789123456

[4] undisclosed

[5] undisclosed, siehe hier: Spezialbrille gegen Migräne?

[6] M. A. Dahlem, B. Schmidt, F. Kneer, S. Boie, I. Bojak, N. Hadjikhani, and J. Kurths, Hot spots and labyrinths: Why neuromodulation devices for episodic migraine should be personalized. Front. Comput. Neurosci. 9:29 2015

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

7 Kommentare

  1. Vielen Dank für den prägnanten Hinweis auf die künftigen und gegenwärtigen Paradigmenwechsel in der Medizin. Das hätte ich fast verschlafen.
    Der letzte Satz spricht mir aus der Seele. Ich wünsche mir ein persönliches Recht auf ungeschützte Daten. Nicht nur im medizinischen Bereich. Datenschutz ist wichtig, aber in beide Richtungen, ansonsten wird das Potential der Digitalisierung an Deutschland vorbeigehen.

  2. Amazon war sicher der Tod vieler Buchhandlungen.
    Wenn Medizin-Apps am Ende Ärzte ersetzen sollen, dann bin ich nicht nur begeistert.
    Verstehen tue ich die digitale Medizin dann in der Tat nur als Trostpflaster. Besser als nix, aber weit entfernt von einer wirklich guten Versorgung.

    Sorry für die unbequeme Meinung.

  3. Ein sehr sehr spannendes Thema.
    Ich bin gespannt, was da in naher Zukunft auf uns zukommt.
    Besondere Aufmerksamkeit sollte vor allem in den Universitäten geboten sein.
    Schließlich kann man dort die Forschungs-Defizite am besten beheben..
    Lg, Jeremy

  4. @Rafael

    Mein Eindruck ist, das Medizin-Apps in einigen Fällen chemische Wirkstoffe ersetzen können, aber sicher nicht am Ende Ärzte ersetzen sollen. Es wird viele Krankheiten geben, die niemals mit Medizin-Apps allein behandelt werden können – auch das sollte man klar sagen.

    Nochmal zu den Ärzten: Ist es nicht viel mehr so, dass heute schon der Arzt hinter einem Computer-Bildschirm verschwunden ist? Ihn dort wieder hervorzuholen, ist eine weitere Aufgabe der Medizin-Apps.

  5. Guten Tag,
    gerne würde ich an der kleinen Debatte teilhaben.

    ” Es wird viele Krankheiten geben, die niemals mit Medizin-Apps allein behandelt werden können – auch das sollte man klar sagen.”

    Das ist durchaus eine gewagte Aussage Markus.
    Glaubst Du nicht daran, dass wir in 50 Jahren nur noch via. Smartphone und Robotern in weißen Kitteln geheilt werden können?
    Das Ende von unserer bereits digitalisieren Welt ist doch, dass Computer irgendwann einmal alles ersetzen, oder? LG Hans

  6. Diese reflexartige Anführung des Datenschutzes als angeblicher Verhinderer von Innovationen sollte uns sehr zu denken geben: Hier ist ein starker Verdacht gegeben, dass der Autor und sein Startup auf den Datenschutz scheissen, sobald er ihren geschäftlichen Interessen im Wege steht.

    Migräne ist mir nicht unbekannt, jedoch werde ich zu ihrer Bekämpfung ganz sicher keine App nutzen, deren Vertreiber so deutlich sagt, dass er Datenschutz ausschließlich als Hindernis betrachtet.

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