Von Klarträumen und der Behandlung von Zwangsstörungen

Herr W. ist 30 Jahre alt und zum dritten Mal in einer Klinik für Psychosomatik und Psychiatrie. Sein täglicher Weg nach dem Aufwachen führt ihn direkt in sein Badezimmer. Er vergewissert sich, dass alle Gegenstände im Bad dort sind, wo er sie haben will, zählt sie mehrmals durch, geht zum Waschbecken und dreht den Wasserhahn auf. Sobald das Plätschern des Wassers zu hören ist, beginnt für Herrn W. ein langes und anstrengendes Ritual: Er wäscht sich mit einstudierten Bewegungen die Hände, immer wieder, bis die Haut an den Knöcheln schmerzt und er mehrere Seifenspender verbraucht hat. Dann geht es unter die Dusche, gleiche Prozedur. Fünf Stunden verbringt er im Bad, bevor er den Tag beginnen kann. Angespannt und nachdenklich verlässt er sein Zimmer. Aufmerksam beobachtet Herr W. seine Gedanken, versucht sie zu unterdrücken, zu kontrollieren. Doch es scheint zwecklos, zu anstrengend ist das Unterfangen. Bald drängen sich ihm Bilder von seinen Mitmenschen auf, wie er ihren Keimen hilflos ausgeliefert ist. Gedanken, die ihm Angst machen, und bevor etwas Schlimmes passiert, kehrt er um, zurück ins Bad, kontrolliert, zählt, wäscht, duscht, nur langsam kann das Wasser die Angst und den Ekel wegspülen. Das alles macht er mehrmals am Tag, das Leben von Herrn W. spielt sich zu einem großen Teil in seinem Badezimmer ab. An soziale Kontakte oder ein Berufsleben ist schon lange nicht mehr zu denken.

Die Zwangsstörung und ihre Grundlagen

Herr W. leidet an einer Zwangsstörung. Zwangsstörungen sind psychische Erkrankungen, die durch immer wieder auftretende Handlungen und Gedanken gekennzeichnet sind, die von den Betroffenen als belastend empfunden werden. In unserer Gesellschaft leiden 2-3% an Zwangsstörungen, von denen 80-90% durch gängige Therapieverfahren wie kognitive Verhaltenstherapie oder die Gabe von Antidepressiva behandelt werden können. Bei den 10-20%, denen mit den gängigen Therapieverfahren nicht geholfen werden kann, kommt es jedoch nicht selten zu einer Chronifizierung der Symptomatik, die das Leben der Betroffenen massiv einschränkt. In diesen seltenen Fällen sprechen Behandelnde auch von „therapieresistenten Zwangsstörungen“.

Die neurobiologischen Grundlagen von Zwangsstörungen sind in den letzten Jahren vielfach untersucht worden. Das am weitesten verbreitete Modell beinhaltet ein Netzwerk, das den Cortex (Hirnrinde) mit subcortikalen Strukturen, insbesondere den Basalganglien, verbindet. Die “Basalganglien-Hypothese“ geht davon aus, dass der Funktionskreis des Cortex, Teile der Thalamuskerne und der Basalganglien überaktiv ist. Wie es zu dieser Überaktivität kommt, ist noch nicht genau geklärt.

Biologische Therapieansätze der Zwangsstörung

Die Identifizierung neuronaler Fehlfunktionen hat Implikationen für die Behandlung solcher Störungen. Die sogenannte Neuromodulation umfasst therapeutische Verfahren, die die Funktion unserer Hirnregionen beeinflussen können. Man unterscheidet invasive Verfahren (die einen chirurgischen Eingriff erfordern, z.B. sogenannte „Hirnschrittmacher“) und nicht-invasive Verfahren (z.B. Elektroden, die aufgesetzt und wieder entfernt werden können). Solche Verfahren können genau dort ansetzen, wo sich die Probleme auf neurobiologischer Ebene abzeichnen.

Wenn Herr W. mit seiner Therapeutin über seine Zwangsgedanken und die Beweisführung seiner Zwangshandlungen spricht, kommt er sich selbst manchmal komisch vor. Für ihn sind seine Handlungen notwendig. Er weiß, dass das Ausmaß nicht angemessen ist, aber gleichzeitig verfolgen sie einen Sinn. Er ist in einer Welt gefangen, die von ihm ein ständiges Handeln verlangt, egal wie unlogisch oder paradox dies erscheinen mag. Herr W.s Therapeutin fühlt sich an eine ganz andere Situation erinnert. Diese hohe Emotionalität, die Paradoxie, der Handlungsdruck, die Unmöglichkeit, sich entziehen zu können… Die Erzählungen von Herrn W. klingen für sie im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Albtraum.

Klarträume – das Wiedererlangen von Bewusstsein

Wenn wir in die letzte Phase unseres Schlafzyklus eintreten, beginnen wir zu träumen. Der REM-Schlaf (kurz für “Rapid Eye Movement” für die auftretenden Augenbewegungen) zeigt uns eine Traumwelt, der keine Grenzen gesetzt sind. Wir erleben die seltsamsten Dinge und unser Gehirn hinterfragt dies nicht. Das liegt daran, dass der vordere Teil unseres Gehirns, der präfrontale Cortex (PFC), während des REM-Schlafs sozusagen abgeschaltet ist. Die höheren kognitiven Fähigkeiten des PFC stehen uns nicht mehr zur Verfügung, wir verlieren in diesen Minuten die Kompetenz, Sachverhalte zu hinterfragen, Muster zu erkennen, uns selbst zu reflektieren. Wir sind in unserer Traumwelt gefangen, unterliegen ihrer “Rationale” und ihrer starken Emotionalität. Doch das muss nicht so sein. Expertinnen und Experten sprechen von luziden Träumen, sogenannten Klarträumen, wenn es uns gelingt, in unseren Träumen zu bemerken, dass wir gerade am Träumen sind. Inzwischen wissen wir, dass dies daran liegt, dass unser PFC wieder erwacht, wir gewinnen einen Teil unseres Bewusstseins zurück. Klarträumerinnen und Klarträumern ist es möglich, die Absurdität ihrer Träume zu erkennen und sie zu hinterfragen. Im besten Fall gelingt es, die Kontrolle zurückzugewinnen und das Traumgeschehen beeinflussen zu können.

Wäre es nicht toll, wenn Herr W. Kontrolle über seinen täglichen Albtraum erlangen könnte? Einen Ausstieg aus dem Teufelskreis des Zwangs finden könnte?

Wie Klarträume halfen, Zwangsstörungen zu behandeln

Luzides Träumen kann trainiert werden. In Schlaflabors konnte beobachtet werden, dass sich die Elektrophysiologie unseres Gehirns verändert, wenn aus einem REM-Schlaf Traum ein luzider Traum wird. Durch ein EEG werden elektrische Ströme der gemessenen Gehirnregionen sichtbar. Bei luziden Träumen wurden insbesondere Wellen im 40-Hz-Bereich beobachtet. Mehr noch: Stimuliert man die PFC-Region im REM-Schlaf, entstehen luzide Träume. Der 40-Hz-Rhythmus scheint für die Wiedererlangung des Bewusstseins und der kognitiven Kontrolle entscheidend zu sein.

Können diese Erkenntnisse bei der Behandlung von Zwangsstörungen helfen? Dieser Frage gingen Klimke et al. (2016) nach und fanden Folgendes heraus: Mittels der nicht-invasiven Neuromodulationsmethode tACS (transkranielle Wechselstromstimulation) konnten sie Patientinnen und Patienten, deren Störung vorher bereits als therapieresistent angesehen werden konnte, erfolgreich aus dem Kreislauf ihrer Zwänge heraushelfen. Sie platzierten Elektroden im fronto-temporalen Bereich und auf Höhe der Basalganglien und leiteten somit die 40-Hz-Frequenz in die für Zwänge relevanten Hirnareale. So behandelten sie chronische Zwangspatientinnen und -patienten drei Mal pro Woche für 20 Minuten. Fazit: Den Betroffenen wurde es auf einmal möglich, ihre Zwangsgedanken loszulassen, ihre Zwangshandlungen zu reduzieren oder sogar ganz einzustellen. Es ist davon auszugehen, dass synchronisierter 40 Hz-Wechselstrom die Überaktivität der Basalganglien beeinflussen kann, aber auch Bewusstsein und Kontrolle unabhängig von starkem Affekt ermöglicht, und zwar ohne chirurgischen Eingriff.

Symbolbild: tAC-Stimulation der für Zwangsstörung relevanten Hirnareale (Dorsolateraler Präfrontalkortex und Striatum)
Symbolbild: tAC-Stimulation der für Zwangsstörung relevanten Hirnareale
Bildquelle 1 und 2

Seit der Behandlung mit tACS geht es Herrn W. besser. Er braucht kaum mehr als 20 Minuten für den Toilettengang und hat nicht mehr das Bedürfnis, seine Umgebung ständig unter Kontrolle haben zu müssen. Langsam, aber sicher findet er in sein altes Leben zurück, kann sich wieder mit Freundinnen und Freunden und auch der Familie treffen und freut sich, seinen Alltag wieder bewältigen zu können.

Ich danke Herrn Prof. Dr. Klimke für die freundliche Kommunikation und das Bereitstellen von Materialien.

Quellen

Abramovitch, A., Abramowitz, J. S., & Mittelman, A. (2013). The neuropsychology of adult obsessive–compulsive disorder: A meta-analysis. Clinical Psychology Review33(8), 1163-1171. https://doi.org/10.1016/j.cpr.2013.09.004

Antal, A., & Paulus, W. (2013). Transcranial alternating current stimulation (tACS). Frontier Human Neuroscience7(317). https://doi.org/10.3389/fnhum.2013.00317

Kammen, A., Cavaleri, J., Lam, J., Frank, A. C., Mason, X., Choi, W., Penn, M., Brasfield, K., Van Noppen, B., Murray, S. B., & Lee, D. J. (2022). Neuromodulation of OCD: A review of invasive and non-invasive methods. Frontiers in Neurology13https://doi.org/10.3389/fneur.2022.909264

Klimke, A., Nitsche, M. A., Maurer, K., & Voss, U. (2016). Case report: Successful treatment of therapy-resistant OCD with application of Transcranial alternating current stimulation (TACS). Brain Stimulation9(3), 463-465. https://doi.org/10.1016/j.brs.2016.03.005

Köhler, T. (2019). Biologische Grundlagen psychischer Störungen. Hogrefe Verlag GmbH & Company KG.

Tiefe Hirnstimulation bei therapieresistenten Depressionen. (2014). Tiefe Hirnstimulation als Ultima Ratio?, 49-80. https://doi.org/10.30965/9783897856554_007

Voss, U., Holzmann, R., Tuin, I., & Hobson, A. J. (2009). Lucid dreaming: A state of consciousness with features of both waking and non-lucid dreaming. Sleep32(9), 1191-1200. https://doi.org/10.1093/sleep/32.9.1191

Voss, U., Holzmann, R., Hobson, A., Paulus, W., Koppehele-Gossel, J., Klimke, A., & Nitsche, M. A. (2014). Induction of self awareness in dreams through frontal low current stimulation of gamma activity. Nature Neuroscience17(6), 810-812. https://doi.org/10.1038/nn.3719

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Mein Name ist Lea Anthes und ich studiere Klinische Psychologie und Psychotherapie im Master an der Goethe-Universität in Frankfurt. Ich interessiere mich schon lange für Themen rund um das menschliche Gehirn und konnte mich während meines Bachelorstudiums der Psychologie sowohl umfangreich mit der kognitiven Neurowissenschaft auseinandersetzen als auch praktische Erfahrung im Bereich der klinischen Neuropsychologie sammeln. Gerne teile ich diese Begeisterung mit interessierten Leserinnen und Lesern.

7 Kommentare

  1. Die hier beschriebene neuartige Therapie bei Zwangsstörungen – transkranielle Wechselstromstimulation – ist nur eine von mehreren erst kürzlich entwickelten Therapieversuchen. Zu diesen neueren Methoden gehören auch
    – Tiefe transkranielle magnetische Stimulation
    – Hirnimplantate
    – Ketamin und andere psychotrope Substanzen
    – Antikörper gegen Immuno-moodulin, ein Protein, dass bei Zwangsstörungen in stark erhöhter Konzentration vorkommt

    Vermutung: Zwangsstörungen, die auf SRI und Verhaltenstherapie nicht ansprechen sollten einem der neueren Therapieverfahren – von denen eines hier beschrieben ist – zugeführt werden, wobei es vielleicht einer Art Expertensystem (KI unterstützt?) bedarf um das richtige Verfahren, die richtige Therapie zu finden.

    • Das stimmt, wie im Artikel erwähnt gibt es eine Vielzahl an invasiven und nicht-invasiven Ansätzen für die biologische Therapie von Zwangsstörungen, die in ihren Theorien spannend und in ihren Resultaten oft vielversprechend sind. Die bis jetzt veröffentlichen Studien sind jedoch meist Einzelfall-basiert und es fehlen häufig noch experimentelle Ergebnisse an größeren Stichproben. Wir können der Zukunft sicherlich interessiert entgegenschauen und hoffen, dass das Etablieren vielfältiger Verfahren und die Beachtung bestimmter Entscheidungsregeln dabei helfen können, möglichst viele Betroffene zu entlasten.

  2. Die zur Zeit am wichtigsten zu behandelnde Zwangsstörung ist: Der SCHEINBAR unabänderliche Glaube an das egozentrierte “Individualbewusstsein” und die wettbewerbsbedingt-konfusionierende Symptomatik. Wenn da wirklich-wahrhaftige Kommunikation stattfinden würde/dürfte (ohne herkömmlich-gewohnte Schuld- und Sündenbocksuche), die den Menschen klar macht, dass die Mythen über das menschliche Wesen nicht wahr sind, dann würden wir den derzeit laufenden Dritten Weltkrieg nicht bis zur finalen Eskalation blöd-, stumpf- und wahnsinnig verdrängen/ausspielen, sondern die aus dem Wettbewerb resultierenden Probleme erkennen und entsprechend nachhaltig und sozusagen geistig-heilend verarbeiten können.

    • Während gesellschaftlich bedingte Stressoren sicherlich der allgemeinen psychischen Belastung beitragen können, kann ein Gesellschaftssystem alleinig nicht psychische Störungen bedingen. Verschwörungen sind in der Regel eher Symptom als Auslöser psychischer Probleme. Ich bitte darum, mit den Kommentaren beim Thema zu bleiben und von der Verbreitung von nicht belegbaren, ausschließlich polarisierenden Aussagen abzusehen. Das Ziel unseres Blogs ist die Verbreitung und Kommunikation wissenschaftlicher Themen und genau deswegen ist es mir an dieser Stelle wichtig für alle Leserinnen und Leser anzumerken, dass (die dargestellte) politische Ideologie in vielen Fällen nicht Fakten-basiert ist.

  3. Wenn also Menschen einen “Putzfimmel” haben, dann könnte das eine Zwangsstörung sein.
    Einer unserer Nachbarn hat sein Auto jeden Tag mit Bohnerwachs eingerieben und dann poliert. (kein Witz) man gewöhnt sich daran.

    Jetzt die Frage, ab welchem Umfang geht eine Gewohnheit in eine Zwangsstörung über ?

    • Genau, nicht jede ordentliche Person hat eine Zwangsstörung und nicht jede Zwangsstörung fokussiert sich auf Ordnung, Sauberkeit oder Hygiene. Für die Diagnose von Zwangsstörungen orientieren sich Psychologinnen und Psychologen an festgelegten Kriterien, die z.B. durch Symptom-Checklisten erfasst werden können. Damit eine Gewohnheit als Zwang kategorisiert werden kann, sollte eine gewisse Schwelle an Symptomen überschritten sein. Ein ganz wichtiges Kriterium ist dabei, dass der oder die Betroffene unter den Handlungen oder Gedanken leidet und/oder sich im Alltag beeinträchtigt fühlt. Da der Übergang durchaus fließend sein kann, sind die genauen Einschätzungen oft den praktizierenden klinischen Psychologinnen und Psychologen überlassen, die Gedanken, Gefühle, Handlungen, Hintergründe, Ausmaß und Beeinträchtigung genau erfassen, um sich ein umfangreiches Bild bilden zu können.

  4. Lea Anthes
    wenn also jemand seine Gewohnheiten genießt, dann ist das keine Zwangsstörung, obwohl Außenstehenden das Verhalten sonderbar vorkommt.

    Was die Träume betrifft, die können sehr real und nützlich sein. Von dem Chemiker Kekulé wird berichtet, er habe die Formel für das Benzol C6 H6 im Traum gesehen.

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