Neurowissenschaft als Wissenschaft vom Krebs

Jedes Jahr erkranken in Deutschland schätzungsweise 7000 Menschen an Hirntumoren (1). Betroffen sind vor allem ältere Personen und, auffallend häufig, Kinder. Nicht jeder Krebs ist bösartig, und die meist gutartigen Meningeome der Hirnhäute stellen nur selten ein Gesundheitsrisiko dar. Wenn jedoch ein Hirntumor bösartig ist, dann umso mehr – die Prognosen sind hier meistens besonders düster.

Was die Sache nicht besser macht: Im Gegensatz zu anderen Krebsarten sind keine klaren Ursachen für Hirntumore und damit auch keine Präventionsmaßnahmen bekannt. Doch seit kurzem hat die Wissenschaft womöglich eine Aufholjagd im Kampf gegen den Gehirnkrebs begonnen, die wegweisend für Krebstherapien generell sein könnte. Heldin der Geschichte: die Neurowissenschaft.

Nervenzellen steuern Tumorzellen – und umgekehrt

Im renommierten Fachjournal Cell wurde jüngst ein großer Übersichtsartikel publiziert, in dem die Beziehung zwischen Nervensystem und Tumoren diskutiert wurde (2). Die Fülle an Daten, aus der die Autorinnen und Autoren schöpften, zeichnen ein Bild, das selbst die meisten Fachleute überraschen dürfte: die Entstehung von Tumoren benötigt offenbar Hilfe vom Nervensystem. Dazu muss man wissen, dass ein Tumor keine tote Masse ist, die vor sich hin wuchert. Vielmehr ist ein Tumor ein aktives System, das sich eine individualisierte Mikroumgebung schafft, in der es florieren kann.

Zu dieser Umgebung gehören im Gehirn zum Beispiel Synapsen mit den normalen Nervenzellen, sowie Ionenkanäle. Durch die Ionenkanäle wirken Neurone auf die Krebszellen ein. Das Ziel dieser strukturellen und elektrischen Verbindung mit dem Gehirn: Eine adaptive Reaktionsfähigkeit des Tumors, die der gesunden Neuroplastizität stark ähnelt, und damit optimale Wachstumsbedingungen. Untersuchungen ergaben, dass bei stärkerer synaptischer Verbindung zwischen Tumor und Gehirn die Überlebenswahrscheinlichkeit der Patientinnen und Patienten sank (3).

Ein Gehirn im Gehirn

Dass Tumore Botenstoffe nutzen, die zum Wachstum tumoreigener, neuer Blutgefäße führen, ist lange Standardwissen (Angioneogenese). Der Krebs baut sich so eine eigene Expresszufuhr von Nährstoffen. Dass er aber auch Botenstoffe aus Nervenzellen nutzt, ist eine ganz neue Sachlage. Das adaptive, synaptische System, welches Tumorzellen mit Hirnzellen bilden können, kann wiederum auch im Tumor selbst entstehen. Der Prozess mutet der Bildung eines ‚Gehirns im Gehirn‘ an. Solchen synaptisch selbstvernetzenden Tumoren wurden stärkere Resistenzen gegen eine Chemotherapie attestiert, was die Überlebenschancen gegen solche Tumorarten nochmals sinken lässt.

Präklinische Studienergebnisse aus der ‘Cancer Neuroscience’

Auch außerhalb des Gehirns spielen Nervenzellen eine Rolle bei der Krebsentstehung. Perineurale Invasion bezeichnet das Phänomen, dass Tumorzellen in periphere Nerven einwandern, wo sie aus bisher unbekannten Gründen besonders gut wachsen können. Die Autorinnen und Autoren des Cell Artikels hegen den Verdacht, dass eben die Nähe zu den Botenstoffen, die Nervenzellen freisetzen, ein Überlebenskriterium für die Tumorzellen sei. Besonders Prostata-, Brust- und Bauchspeicheldrüsenkrebs sind anfällig für perineurale Invasion und zeigen eine stärkere Aggressivität, wenn sie auftritt. In Studien, bei denen die Nerven, die für Sinnesempfindungen verantwortlich sind, um die Bauchspeicheldrüse herum entfernt wurden, verlangsamte sich gar das Wachstum des Bauchspeicheldrüsenkrebs (4). Auch wurde gezeigt, dass die Ausschüttung des nerve growth factors (NGF), durch den Tumor selbst, periphere Nerven zum Tumor hinwachsen lässt (5). Auch in Fällen von Magenkrebs wurde ein Zusammenhang von NGF und einem Nerveneinwuchs in die Tumorumgebung gefunden.

Die Perineurale Invasion dagegen wird z.B. durch den glial-cell-line-derived neurotrophic factor (GDNF) befördert (6). Bei Prostatakrebs ist seit 2019 bekannt, dass der Tumor neuronale Vorläuferzellen aus dem Gehirn in die Peripherie lockt (hier zur Prostata), wo diese entwicklungsfreudigen Zellen mitwuchern. All diese Prinzipen ähneln der Angiogenese: der Krebs holt sich, was er braucht, durch das Senden, Manipulieren und Abgreifen molekularer Signale. Meist handelt es sich um normale, physiologische Prozesse, welche die Tumorzellen auf abnormale Weise für sich nutzen (siehe Abbildung). Man könnte auch von einer Steuerung anderer Zellen durch den Tumor sprechen.

Im Normalfall (links) fördert neuronale Aktivität den Einbau von Myelin (einer isolierenden Fettschicht) durch Gliazellen (blau), sodass die Informationsverarbeitung verbessert wird. Im Fall eines Glioms, also eines Hirntumors (rechts), nutzen entartete Gliazellen, also Tumorzellen (grün) die neuronale Aktivität, um statt eines neuronalen Netzwerks ein Tumornetzwerk zu erschaffen.

Im Normalfall (links) fördert neuronale Aktivität den Einbau von Myelin (einer isolierenden Fettschicht) durch Gliazellen (blau), was die Informationsverarbeitung verbessert. Im Fall eines Glioms, also eines Hirntumors (rechts), nutzen entartete Gliazellen die neuronale Aktivität, um statt eines neuronalen Netzwerks ein Tumornetzwerk zu erschaffen. (aus Winkler et al. 2023)

Neue Forschungszentren für eine neue Disziplin

Die Neuroonkologie ist eine vergleichsweise junge Disziplin, für die es bislang nicht einmal einen eigenen Facharzt gibt. Und doch ist die Wissenschaft bereits einen Schritt weiter. Aus der Neuroonkologie heraus entsteht gerade die Neuroonkoimmunologie, welche die hier beschriebenen Sachverhalte erforschen soll. In Heidelberg gründet sich zu dem Zweck gerade das Europäische Zentrum für Neuroonkologie. Am Namen sieht man, wie rasant die Entwicklung ist. Nach Jahren der Planung dem Namen nach noch reine Neuroonkologie, sprechen die Beteiligten des Zentrums inhaltlich schon von Cancer Neuroscience.

Wo wir stehen

Die Krebsforschung zeichnete sich bislang dadurch aus, nur langsame und kleine Erfolge zu erzielen. Krebs ist wissenschaftlich, nach wie vor, eine unglaublich harte Nuss. Da alle hier beschriebenen Ergebnisse lediglich aus präklinischen Studien stammen, ist es noch zu früh für große Hoffnungen. Das Tempo aber nimmt aktuell mehr Fahrt auf denn je und die Bildung großer Forschungszentren spricht immer für Aufbruchsstimmung. Wenn die präklinischen Hinweise sich erhärten, könnte sich die Cancer Neuroscience daher bald als neue Himmelsrichtung auf der Forschungslandkarte erweisen.

Quellen:

(1) Primäre Tumoren von Gehirn und Rückenmark. Deutsche Krebsgesellschaft.

(2) Winkler, F., Venkatesh, H. S., Amit, M., Batchelor, T., Demir, I. E., Deneen, B., … & Monje, M. (2023). Cancer neuroscience: State of the field, emerging directions. Cell186(8), 1689-1707.

(3) Krishna, S., Choudhury, A., Seo, K., Ni, L., Kakaizada, S., Lee, A., … & Hervey-Jumper, S. L. (2023). Glioblastoma remodeling of neural circuits in the human brain decreases survival. Nature, 617, 599–607.

(4) Saloman, J. L., Albers, K. M., Li, D., Hartman, D. J., Crawford, H. C., Muha, E. A., … & Davis, B. M. (2016). Ablation of sensory neurons in a genetic model of pancreatic ductal adenocarcinoma slows initiation and progression of cancer. Proceedings of the National Academy of Sciences113(11), 3078-3083.

(5) Anand, U., Otto, W. R., Casula, M. A., Day, N. C., Davis, J. B., Bountra, C., … & Anand, P. (2006). The effect of neurotrophic factors on morphology, TRPV1 expression and capsaicin responses of cultured human DRG sensory neurons. Neuroscience letters399(1-2), 51-56.

(6) He, S., Chen, C. H., Chernichenko, N., He, S., Bakst, R. L., Barajas, F., … & Wong, R. J. (2014). GFRα1 released by nerves enhances cancer cell perineural invasion through GDNF-RET signaling. Proceedings of the National Academy of Sciences111(19), E2008-E2017.

(7) Neues Zentrum für Neuroonkologie in Heidelberg. Deutsches Ärzteblatt vom 28.11.23

Avatar-Foto

Veröffentlicht von

Mein Name ist David Wurzer. Ich bin Medizinstudent und Philosophiedoktorand an der LMU München, davor habe ich Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften studiert. Besonders interessieren mich die aktuellen Forschungsergebnisse aus der Neurotechnologie, die als Schnittstelle für die zunehmende Verschmelzung von Mensch und Technik fungiert. Dabei werden spannende klinische und ethische Fragen aufgeworfen, die ich zusammen mit der interessierten Öffentlichkeit durchdenken möchte.

3 Kommentare

  1. Aus meiner Laienperspektive ist es immer wieder faszinierend und erschreckend zugleich, zu lesen, wie die Krebszellen sich so gut/schnell/effizient in uns breit machen können.

    Danke für den lesenswerten Artikel!

  2. Es ist vermutlich günstig, wenn man mit einem Abstand von einigen Jahren
    regelmäßig eine Gehirn-Magnetresonanztomographie durchführen lässt,
    ohne und mit Gadolinium-Kontrast.

Schreibe einen Kommentar


E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.
-- Auch möglich: Abo ohne Kommentar. +