Die neue globale Krankheit

Von den Affenpocken, jetzt offiziell auf den Namen Mpox umgetauft[1], haben wir schon eine ganze Weile nichts mehr gehört. Das liegt natürlich vor allem daran, dass die Infektionszahlen Mitte des Jahres einen Gipfel erreicht haben und seitdem wieder ebenso dramatisch gefallen sind, wie sie zuvor hochgingen.[2] Und wenn man sich die aktuellen Fallzahlen anguckt, könnte man meinen, dass wir im Prinzip wieder da sind, wo wir vor dem Beginn des Ausbruchs waren.

Wir sind aber keineswegs zurück auf Los, sondern in einer potenziell kritischen neuen Phase der Affenpocken-Epidemie. Der entscheidende Unterschied zu vorher: während die Fälle vor 2022 auf Zentral- und Westafrika beschränkt waren, sind die Affenpocken jetzt eine globale Krankheit. In rund 110 Ländern gab es laborbestätigte Fälle.

Obwohl wir derzeit nur zwei, drei Handvoll Infektionen täglich auf der ganzen Welt haben, macht das die ganze Situation deutlich schwieriger zu handhaben. Wir haben gesehen, dass die Krankheit unter den richtigen Bedingungen schnell wachsende Ausbrüche auslösen kann. Das hat sich trotz der gesunkenen Fallzahlen nicht grundsätzlich geändert. Schon jetzt sinken die Fallzahlen keineswegs überall auf der Welt im Gleichschritt. Laut WHO vermeldet fast ein Dutzend Länder schon wieder mehr Infektionen.

Nur die erste Mpox-Welle?

Dass ein paar Affenpocken-Fälle schnell zu einer größeren Epidemie werden können, haben wir ja jetzt gesehen. Und solche Ausbrüche sind nun in vielen Ländern möglich. In unserer global vernetzten Welt streuen Infektionskrankheiten schnell über den Globus und können dann weit entfernt lokale Epidemien aussäen. Und auf diese Möglichkeit sind wir keineswegs vorbereitet. Im Gegenteil, die Bedingungen sind günstig für eine weitere internationale Affenpocken-Welle in den nächsten Jahren.

Tägliche Anzahl laborbestätigter Affenpocken-Fälle weltweit. Quelle: Our World in Data / WHO
Tägliche Anzahl laborbestätigter Affenpocken-Fälle weltweit, 7-Tage-Mittelwert. Quelle: Our World in Data / WHO

Einerseits liegt das daran, dass die bis jetzt getroffenen Maßnahmen und Veränderungen, die die Affenpocken-Welle brechen ließen, das Virus keineswegs dauerhaft eindämmen werden. Ein wichtiger Faktor waren Verhaltensänderungen, die – wie wir ja auch bei Corona sehen – nach dem vermeintlichen Ende der akuten Gefahrensituation sehr schnell wieder verschwinden. Die Impfbereitschaft in der Risikogruppe scheint ebenfalls abzunehmen.

Das ist natürlich auch die Folge des sehr kurzen, begrenzten Ausbruches. Das hat auch dazu geführt, dass die Impfungen nicht flächendeckend durchgeführt wurden, sondern sehr ungleich verteilt sind. Fast die Hälfte aller Impfungen in Deutschland fanden in Berlin statt[3]. In den nächsten Jahren werden die Impflücken außerdem wachsen, weil natürlich neue Jahrgänge sexuell aktiv werden[4].

Viele Fälle bleiben vermutlich unentdeckt, und dieser Anteil dürfte sogar noch steigen. Die Krankheit ist immer noch zu selten, als dass medizinisches Personal Mpox routinemäßig im Blick hat. Früher war es eben auch so, dass man anhand vorangegangener Reisen nach West- und Zentralafrika einen Hinweis auf diese Möglichkeit bekam. Das ist mit der globalen Verbreitung des Virus nun vorbei.

Ausbreitung im toten Winkel

Außerdem ist es nicht ganz einfach, die Affenpocken in der Klinik eindeutig zu identifizieren. Der Krankheitsverlauf ist extrem variabel und kann sehr unterschiedlichen mit Hautausschlägen verbundenen Infektionen ähneln, zum Beispiel Windpocken. Solche Fehldiagnosen sind in den Endemiegebieten schon ein großes Problem – global wird das nicht anders aussehen. Und dann kommt ja noch dazu, dass die Krankheit sich vor allem unter Männern verbreitet, die Sex mit Männern (MSM) haben. Es gibt zwar auch Fälle außerhalb dieser Gruppe, aber Betroffene werden – zu Recht – befürchten, durch die Diagnose stigmatisiert zu werden. Ein Teil der Kranken wird deswegen nicht zum Arzt gehen.

Das heißt, wir steuern auf eine Situation zu, in der die Affenpocken zwar selten, aber eben auch massiv unterdiagnostiziert sind. Das birgt die Gefahr, dass Ausbrüche erst dann erkannt werden, wenn sie schon relativ groß und entsprechend schwer einzudämmen sind.

Im Alltag muss man sich darüber derzeit keine großen Gedanken machen.[5] Den Risiken stehen eine ganze Reihe Faktoren gegenüber, die die Gefahr durch Mpox relativ gering erscheinen lassen. Im Moment ist das individuelle Risiko, sich anzustecken, nahe Null, und das galt mit Ausnahme der höchsten Risikogruppen auch auf dem Höhepunkt des Internationalen Ausbruchs. Nicht zuletzt ist die Erkrankung zwar sehr unangenehm, aber nur sehr selten tödlich, und hinzu kommt, dass es einen gut wirkenden Impfstoff gibt.

Es sieht außerdem danach aus, dass man nach einer Infektion und womöglich sogar durch die Impfung sehr lange vor einer weiteren Infektion geschützt ist. Wie wir bei Covid ja gelernt haben, ist das kein ganz unwesentlicher Aspekt. Dadurch, und weil Mpox vergleichsweise wenig ansteckend ist und engen Kontakt zur Übertragung braucht, lässt sich das Virus auch mit vergleichsweise simplen Maßnahmen und Verhaltensänderungen eindämmen. Helfen dürfte außerdem, dass es wahrscheinlich nur sehr wenige wirklich asymptomatische Infektionen gibt.

Auch Affenpocken evolvieren, wenn man sie lässt

Was die aktuelle Situation trotzdem so kritisch macht ist die Möglichkeit, dass man sich auf dieser günstigen Situation ausruht. Wenn man Mpox jetzt laufen lässt, besteht die Gefahr, dass sich das Virus früher oder später auch außerhalb der MSM-Community dauerhaft verbreiten kann. Anstecken können sich ja alle. Der Unterschied ist lediglich, dass bisher nur in den sexuellen Netzwerken die Reproduktionszahl über 1 lag und so Ausbrüche wachsen konnten. In anderen Bevölkerungsgruppen liegt die Reproduktionszahl eher im Bereich von 0,6 bis 0,8 oder dergleichen, so dass die Infektionsketten bisher immer schnell abbrechen.

Der Unterschied zwischen beiden ist nicht allzu groß. Womöglich gibt es weitere Bevölkerungsgruppen oder Kontexte, in denen sich das Virus ebenfalls verbreiten kann. Zum Beispiel Saunen oder Tattoostudios könnten unter geeigneten Umständen so ein neuer Fokus werden. Es gibt durchaus Beispiele dafür, dass auf die MSM-Community beschränkte Epidemien auf diesem Weg in der weiteren Bevölkerung auftauchen. Und je länger das Virus global zirkuliert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Virus durch Zufall so eine günstige Gelegenheit “findet”.

Es ist ja außerdem keineswegs gesagt, dass sich das Mpox-Virus in Zukunft weiterhin so verhält wie bisher. Im Gegenteil, das ist ja eine relativ neu aufgetretene Krankheit, die gerade erst beginnt, sich evolutionär an den Menschen anzupassen. Schon in der Anfangsphase des globalen Ausbruchs gab es Anzeichen für Selektion im Erbgut des Virus. Mpox mutiert zwar deutlich langsamer als zum Beispiel Corona, aber die niedrige Reproduktionszahl bewirkt einen starken Selektionsdruck Richtung stärkerer Ansteckung. Und wie gesagt, auch in der Gesamtbevölkerung ist die Reproduktionszahl nicht weit weg vom Schwellenwert 1, ab dem sich das Virus ausbreitet.

Deswegen wäre es trotz der gegenwärtig geringen Gefahr definitiv ein Fehler, die Affenpocken aus den Augen zu verlieren. Wir sind am Ende der großen internationalen Welle in der erfreulichen Situation, eine relativ geringe Fallzahl und einen ganz guten Überblick über die geographische Verbreitung zu haben. Das ist einerseits die große Chance, die Epidemie zu beenden und Mpox mit einer einmaligen Kraftanstrengung wieder loszuwerden. Andererseits ist es womöglich die letzte Chance, die wir kriegen.

An der Schwelle einer Pandemie

Dazu muss man  jetzt das Vorkommen des Virus global überwachen – zum Beispiel mit Abwassermonitoring – und seine Ausbreitung mit Impfkampagnen stoppen. Das sagt sich so einfach, aber natürlich gibt es da große Hürden. Zum einen hat sich ja schon bei Covid gezeigt, dass die Industrieländer den globalen Süden bei Impfstoffen ziemlich skrupellos hängen lassen. Und zum anderen wird die MSM-Community praktisch überall diskriminiert und teilweise sogar verfolgt. Die Frage, wie man eine weitere Stigmatisierung vermeidet und an die Leute rankommt, ohne sie in Gefahr zu bringen, ist da ganz zentral.[6]

Außerdem darf man nicht vergessen, dass der Ausbruch nicht erst 2022 angefangen hat. Der Ursprung der Epidemie lag im Jahr 2017, als in Nigeria die Fallzahlen deutlich anstiegen, oder womöglich sogar noch früher. Indizien deuten darauf hin, dass das Virus schon seit rund 20 Jahren unbemerkt unter Menschen zirkulierte. Diese “Abnabelung” der ursprünglichen Zoonose von seinem normalen Reservoir in Nagetieren war der entscheidende Schritt, der die internationale Epidemie möglich machte.

Wenn man bei dieser endemischen Mensch-zu-Mensch-Übertragung in West- und Zentralafrika nicht konsequent dazwischen geht, wird es langfristig wenig bringen, das Virus im Rest der Welt auszurotten. Das ist letztendlich der kritische Punkt, an dem wir nach der großen internationalen Mpox-Welle jetzt stehen. Das war ein deutlicher Warnschuss. Die günstigen Eigenschaften des Virus und die momentan geringen Fallzahlen bieten uns ein Zeitfenster, entschlossen global dagegen vorzugehen und die Krankheit wieder zu einer seltenen Zoonose zu machen.

Wenn sich aber jetzt alle in Sicherheit wiegen und die Affenpocken als erledigt betrachten, dann müssen wir damit rechnen, dass es nach und nach wieder mehr Fälle gibt. Dann würden wir vermutlich über die Jahre immer wieder lokale Ausbrüche und schleichende Verbreitung sehen. Bis sich dann irgendwann herausstellt, dass das Virus tatsächlich überall ist. Womöglich mit relativ geringen Fallzahlen, aber eben gekommen, um zu bleiben. Das wäre dann tatsächlich eine neue Pandemie, diesmal in Zeitlupe.

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[1] Aus schnöden SEO-Erwägungen benutze ich hier beide Bezeichnungen synonym.
[2] Told you so.
[3] Drei Viertel der Impfungen waren außerdem Erstimpfungen, so dass die meisten Geimpften nicht die vorgeschriebenen zwei Dosen erhielten. Ob das ein Problem ist, ist unklar.
[4] Mpox wird generell durch engen Kontakt übertragen, aber anhaltende Übertragungsketten scheint es bisher fast nur in dichten sexuellen Netzwerken zu geben.
[5] Männer, die Sex mit Männern haben, sollten sich deswegen impfen lassen. Einerseits um selbst geschützt und mit dem Thema durch zu sein, und zum anderen, um eventuelle zukünftige Ausbrüche abzuhalten.
[6] Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Diskriminierung einer benachteiligten Gruppe womöglich langfristig die Entstehung einer ansteckenderen oder womöglich gar gefährlicheren Variante begünstigt, die dann die diskriminierende Mehrheitsgesellschaft auf den falschen Fuß erwischt. Es wäre nicht das erste mal.

11 Kommentare

  1. Können wir nicht erst einmal die Corona-“Pandemie” aufarbeiten, bevor wir die nächste Sau durchs Dorf treiben? Da haben sich ja viele Gewissheiten “der Wissenschaft” im Nachhinein ja doch als falsch herausgestellt (“Nur ein Pieks und Sie schützen sich und andere!”, “Nur ein Booster und sie sind ‘vollständig’ geschützt”, “nebenwirkungsfreie Impfung” …).

      • Anscheinend hat nicht nur die Politik sondern auch die Wissenschaft kein Interesse einer Aufarbeitung. Auch wenn Sie es vielleicht anders sehen, war die Diskriminierung und Ausgrenzung von Millionen Ungeimpfter für mich und alle anderen Betroffenen kein “albernes Theater”. Wundern Sie sich dann aber nicht über das nachlassende Vertrauen in “die Wissenschaft”.

      • Naja, oder auweia, wenn die Affen-Pocken und das mediale Getöse in Richtung leichtere Ansteckung gleichermaßen evolvieren, dann Mahlzeit, wobei albernes Polittheater, gegenüber Bashing “vulnerabler Gruppen”, dann das geringere Problem sein wird!?

    • “Die Wissenschaft” hat nicht behauptet, die Pandemie könne Deutschland gar nicht betreffen (Stichwort: “China-Virus”).
      “Die Wissenschaft” hat nicht irgendwelche Entwurmungsmittel als Heilmittel angepriesen.
      “Die Wissenschaft” hat nicht andauernd versucht sämtliche Pandemiemaßnahmen mit “Freiheits”gesabbel zu unterwandern.
      Aber ja, schieb alles ruhig auf” die Wissenschaft”, nur weil sie zu Beginn den Fehler gemacht hat, zu hoffen, dass sich die Vernunft in Politik und Bevölkerung durchsetzt.
      Denn hätte man frühzeitig schnell, hart und entschlossen gehandelt, hätte es nicht zu einem solchen Problem werden müssen. Dann hätte “nur ein pieks” vielleicht tatsächlich gereicht! Das Zeitfenster ist damals jedoch wesentlich kleiner gewesen, als jetzt mit MPox.
      Es ist also noch Zeit, um zu zeigen, ob man aus den Fehlern gelernt hat.

      • “Dann hätte “nur ein pieks” vielleicht tatsächlich gereicht!”

        Nein, denn die Impfstoffe haben von Anfang nicht vor einer Infektion geschützt. Auch mit noch so viel “Härte und Entschlossenheit” wäre das Ergbnis nicht anders gewesen.

        • Das stimmt einfach nicht. Vor dem Auftreten von Omikron waren die Impfstoffe sehr effektiv gegen symptomatische Erkrankungen, bei Alpha und Delta zum Beispiel um die 80 Prozent. Insofern sah es ein paar Monate lang tatsächlich so aus, als würden die Impfungen die Pandemie drastisch entschärfen, unabhängig von der Variante. Omikron war dann eine eher unangenehme Überraschung. Dass heute Impfgegner solche kleinen Feinheiten vergessen, zeigt im Grunde nur, dass dieses Gerede einfach unredlich ist.

  2. @Richard Jansen 24.01. 14:50

    „Denn hätte man frühzeitig schnell, hart und entschlossen gehandelt, hätte es nicht zu einem solchen Problem werden müssen. Dann hätte “nur ein pieks” vielleicht tatsächlich gereicht!“

    Ich bin hier etwas irritiert. Im Nachhinein haben wir wohl in Europa so viel nicht verkehrt gemacht. Wir haben schlimme Zustände in den Kliniken verhindert, und mit Lockdowns und den Impfungen dann ausgehalten, bis die weniger krankmachende Omikronvariante genutzt werden konnte, um auf Basis der Impfungen eine Durchseuchung laufen lassen zu können.

    China hat lange Nullcovid versucht, aber konnte das nicht durchhalten. Sind jetzt unterm Strich in China weniger Menschen Corona zum Opfer gefallen wie in Europa?

    „Das Zeitfenster ist damals jedoch wesentlich kleiner gewesen, als jetzt mit MPox.“

    Einen Versuch wäre es wohl in der Tat wert, Mpox auszurotten. Wer weiß, was da noch draus wird.

    • Denke da muss man ein bisschen differenzieren. Im Großen und Ganzen stimmt das aus meiner Sicht, was die großen Linien angeht, war der Umgang mit der Pandemie hier gar nicht so falsch. Eine strikte Eindämmung am Anfang, und dann flexible Reaktionen im weiteren Verlauf, als man ein bisschen mehr über die gesamte Situation wusste. Es sind aber auch einige wesentliche Aspekte ziemlich in die Hose gegangen.

      Aus meiner Sicht war es von Anfang an ein großer strategischer Fehler, so viel von der koordinierten Reaktion auf staatliche Vorgaben und Maßnahmen zu schieben und die Kommunikation über individuellen Infektionsschutz zu vernachlässigen. Da hat staatliches Zaudern einerseits (speziell im Winter 20/21) und der ganze Wirrwar oft übermäßig detaillierter, unübersichtlicher und immer wieder wechselnder Vorgaben andererseits viel Schaden angerichtet. Und dann kommt dazu, dass Gesundheits- und Bildungssysteme von der Politik komplett hängengelassen wurden. Also insgesamt ein Top-Down-Ansatz mit einem teilweise heillos überforderten Top.

      Was es wirklich rausgerissen hat war tatsächlich die weitere Bevölkerung, die sich trotz alldem weitgehend sinnvoll und vernünftig verhalten hat und sich zum Beispiel unabhängig von den Maßnahmen bei Bedarf stärker geschützt und Kontakte reduziert hat. Das zieht sich ohnehin auch in anderen Ländern durch durch, dass man staatliche Maßnahmen oft gar nicht so richtig bewerten kann, weil die bevölkerungsweiten Reaktionen auf die Pandemie das total überlagern.

      Und sorry wenn ich mich wiederhole, aber: Told you so.

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