Kein Blick über den kosmischen Tellerrand in Baden-Württemberg

BLOG: RELATIV EINFACH

… aber nicht einfacher
RELATIV EINFACH

Ich habe mir jetzt die Zeit genommen, sowohl den neuen Bildungsplanentwurf 2016 als auch die vorigen Bildungspläne (von 2004 bzw. in einem Falle 2012) für das Land Baden-Württemberg von vorne bis hinten durchzublättern und dabei alle astronomischen Bezüge zu notieren. Das Ergebnis in Listenform steht auf S. 2 dieses Blogbeitrags, jeweils mit Verlinkungen. Über einige allgemeine Probleme mit dem Bildungsplan hatte ich ja bereits in Baden-Württembergische Bildungspläne: Durchmarsch der Techniker und Bildungsplan Naturwissenschaft und Technik 2016 in BW: Kontext-Korsett gebloggt.

Jetzt, wo ich die Bildungspläne einmal im Zusammenhang mit astronomischen Augen betrachtet habe, ist mir noch eine weitere ziemlich fürchterliche Systematik aufgefallen.

Die Abschaffung von Kopernikus

Wer die großen Revolutionen des wissenschaftlichen Weltbildes aufzählen sollte, wird darunter vermutlich die Kopernikanische Wende aufführen – die Erkenntnis, dass wir uns nicht im Zentrum des Sonnensystems befinden, sondern einer von mehreren Planeten sind. Darauf beruht unsere heutige Selbstverortung in der physischen Welt: Ein Planet unter vielen, unsere Sonne ein Stern unter vielen, in einer recht großen, aber nicht wirklich außergewöhnlichen Galaxie, Teil größerer Strukturen mit noch vielen weiteren Galaxien.

Das zu wissen, ist nicht nur Teil der Allgemeinbildung. Es spielt auch direkt hinein in zwei wichtige Leitideen des Bildungsplans 2016. Wohl in keiner Situation wird einem so unmittelbar bewusst, wie klein und ungewöhnlich unser Lebensraum ist, als wenn man sich den vergleichsweise kleinen Planeten Erde im Sonnensystem vorstellt und ein Gefühl dafür entwickelt, wie groß der lebensfeindliche Weltraum ist und wie klein – und umso schützenswerter! – unser “Raumschiff Erde”. Planeten wie Venus (Treibhauseffekt) und Mars (so gut wie keine Atmosphäre) sind warnende Beispiele, wie es sonst noch auf Planeten aussehen kann. Insgesamt ein eindringliches Beispiel für die Umsetzung der Leitidee Bildung für nachhaltige Entwicklung. Und aus keiner anderen Perspektive als mit dem Blick von außen, vom Weltraum aus, wird klar, dass wir alle auf der einen Erde leben und dass all unsere menschlichen und gesellschaftlichen Unterschiede so groß gar nicht sind – ein eindringliches Beispiel, wie man Schülerinnen und Schülern die Leitidee Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt nachbringen kann.

Vergleicht man die Bildungspläne 2004 und 2016, dann fällt auf, dass gerade diese Verortung im Sonnensystem und die großen Weltbilder systematisch gestrichen wurden.

Weltraum in der Grundschule? Gestrichen.

Das beginnt schon in der Grundschule. Gab es 2004 mit der Vorgabe “Fragen nach der Unendlichkeit von Raum und Zeit” noch eine Steilvorlage, mit den Kindern in Gedanken an die Grenzen des Alls zu reisen (gibt es die denn?), ist in der Version 2016 nur noch von der Unendlichkeit der Zeit die Rede. Wen kümmert’s, dass sich gerade Kinder im Grundschulalter brennend für das Thema Weltraum interessieren?

Weiter geht es in der Physik. Dort war 2004 noch das Thema “Modellvorstellungen und Weltbilder” Standard – mit dem explizit genannten Beispiel Sonnensystem und der Vorgabe, die geschichtliche Entwicklung von Modellen und Weltbildern durchzunehmen. Version 2016? Nirgends ein Weltbildwandel oder ein Sonnensystem in Sicht im herkömmlichen Physikunterricht. Allenfalls beim zweistündigen Kurs mit Schwerpunkt Astrophysik (dessen Inhalte noch nicht veröffentlicht sind) darf man noch darauf hoffen. Aber aus der physikalischen Allgemeinbildung scheint der Umstand, dass wir nicht der Nabel der Welt sind, in Baden-Württemberg gestrichen worden zu sein.

Geographie ohne Sonnensystem

In der Geographie war 2004 noch Standard, dass baden-württembergische Schüler die Grundstruktur unseres Sonnensystems und insbesondere die Gestalt der Erde darlegen können. Was die Kugelgestalt der Erde angeht, muss man 2016 schon zwischen den Zeilen lesen. Immerhin können die Schülerinnen und Schüler “die Lage der Kontinente und Ozeane beschreiben (Kontinent, Ozean, Äquator, Nordhalbkugel, Südhalbkugel, Pole, Gradnetz, Breitenkreis, Längenhalbkreis, Globus als Modell)” – da sollte die Kugelgestalt der Erde ihnen klar werden, auch wenn sie nicht mehr explizit im Bildungsplan erwähnt wird. Dass Sonnensystem ist 2016 aber auf die Bewegung des Mondes um die Erde und der Erde um die Sonne reduziert. Dass da noch Planeten im Spiel sind, kommt allenfalls nebenbei beim Stichwort Entwicklung der Erde (“Die Schülerinnen und Schüler können die Entwicklungsgeschichte der Erde in Grundzügen erläutern (Urknall, Sonne, Planeten, Pangäa, Gondwana, Laurasia)”) ins Spiel; das Wort Sonnensystem fällt gar nicht mehr.

Außer in Geographie kommt der Fachbegriff Urknall übrigens noch im Bildungsplan für die Evangelische Religionslehre vor. Aber derzeit z.B. nicht im Bildungsplan für die Physik. (Das ändert sich aber hoffentlich mit der Vervollständigung des dortigen zweistündigen Kurses mit Schwerpunkt Astrophysik, der derzeit noch fehlt.)

Naturwissenschaft und Technik

Dann das Trauerspiel “Naturwissenschaft und Technik”, auf das ich ja bereits in früheren Blogbeiträgen eingegangen war. Dieses Fach wurde, wie gesagt, komplett von den Technikern gekapert. 2004 war dort noch eines der Ziele gewesen

Die Schülerinnen und Schüler sind sich der Stellung des Menschen im System Erde und im Weltall bewusst. Sie erkennen die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den Komponenten und wissen um die besondere Verantwortung des Menschen für den Schutz der Erdatmosphäre. Die Schülerinnen und Schüler können den Himmelsanblick dokumentieren und erklären, Objekte identifizieren und sich damit auf der Erde orientieren; Methoden astronomischer Beobachtung und Forschung erläutern; astronomische Vorgänge einordnen und erklären; die Entwicklung des Sonnensystems beschreiben; die Bedeutung der Sonne für das Leben auf der Erde erläutern; bedeutende Schritte der Geschichte des Lebens beschreiben; Zusammenhänge und Wechselwirkungen am Beispiel eines ausgewählten Stoffkreislaufes erklären und die Prinzipien auf andere Kreisläufe übertragen; Veränderungen des Systems Erde durch menschliches Eingreifen analysieren und bewerten.

Davon ist 2016 so gut wie nichts mehr übrig. Stellung des Menschen auf der Erde und im Weltall? Besondere Verantwortung? Astronomische Vorgänge einordnen, die Entwicklung des Sonnensystems beschreiben? Dafür ist vor lauter Schaltkreisbauen, Stoffeigenschaften bestimmen, vor ressourcenschonender Materialwahl und der Bewertung der Eigenschaften von Produkten kein Platz mehr. Wer muss denn auch seinen Platz in der Welt kennen, wenn er oder sie stattdessen “in einem chemisch-technischen Verfahren ein Produkt realisieren” kann?

Nur ja nicht über den Tellerrand blicken

Wie gesagt: Das ist eine der aus meiner Sicht traurigsten Entwicklungen im neuen Bildungsplan 2016. Diejenigen Stellen, an denen die Jugendlichen sich im großen Kosmos verorten konnten, mit der Kopernikanischen Wende direkt vor Augen geführt bekamen, wie Wissenschaft Weltbilder verändern kann und wie der Mensch erstmals aus dem Zentrum verdrängt wurde, wurden systematisch gestrichen – von der Grundschule bis zum Gymnasium. Solide Bildung sieht anders aus.


Eine Übersicht über die astronomischen Bezüge in den Bildungsplänen 2016 vs. 2004 gibt es, wie gesagt, auf der zweiten Seite dieses Blogbeitrags.

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

2 Kommentare

  1. Nicht nur Sterne und der Kosmos, sondern auch die Informatik verschwindet vom Teller des Baden-Württembergers Schülers wie Christian Spannagel in Über das Verschwinden der Informatik in Baden-Württemberg berichtet. Neu wird nur noch angewandte Informatik (Word, Excel (Microsoft lässt grüssen)) unterrichtet.

    Scheinbar haben die Didaktiker in Baden-Württemberg gerade so etwas wie die Bildungsquote analog zur Fernsehquote entdeckt: Nur was für die Niedrigkeiten des Lebens gebraucht wird, soll noch unterrichtet werden. Im Moment ist das noch Technologie und sind es Anleitungen wie man den Computer ein- und ausschaltet, in Zukunft gehört dann vielleicht auch Selbstverteidigung und eine Anleitung zur Steuerhinterziehung zum Lehrprogramm, denn das hat doch enorm praktischen Wert, speziell in Baden-Württemberg.