Merkur, Messenger und der inelastische Stoß

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Gedanken eines Experimentalphysikers
Quantenwelt

In der Scientific American vom März 2011 gibt es ein spannendes Special zur Merkur-Sonde Messenger, die am 18. März in den Orbit des sonnennächsten Planeten einschwenken soll. Interessant finde ich, dass es energetisch aufwendiger ist Merkur zu erreichen als Jupiter. Aus sonnenzentrierter Sicht muss die Sonde viel Energie loswerden, um in einen stabilen Merkur-Orbit einzuschwenken. Aus endzentrierter Sicht muss sie diese Energie aufwenden, denn die Zentrifugalkraft muss im rotierenden Sonnensystem überwunden werden, um ins Zentrum zu kommen.

Messenger gewinnt oder verliert die Energie unter anderem in so genannten Fly-By-Manövern. Das dürfte den meisten astronomisch interessierten Lesern der Wissenslogs bekannt sein. Aber haben Sie dieses Manöver schonmal als inelastischen Stoß betrachtet?

Elastische Stöße zeichnen sich dadurch aus, dass keine Energie zwischen den beiden Stoßobjekten ausgetauscht wird. In jeder Physikformelsammlung kann man nachlesen, dass der elastische Stoß im Schwerpunktsystem der stoßenden Objekte nur die Richtung der Bewegungen, nicht aber deren Geschwindigkeiten ändern kann. Das liegt einfach daran, dass Energie und Impuls zugleich erhalten sein müssen. Betrachtet man die Situation aus deinem Bezugssystem, in dem der Schwerpunkt der streuenden Objekte nicht ruht, so kann durchaus Bewegungsenergie zwischen den Stoßpartnern übertragen werden. Wenn man also ein Fly-By-Manöver im sonnenzentrierten Bezugssystem betrachtet, dann kann man durchaus sehen, dass solch ein Manöver die Raumsonde entweder beschleunigt oder abbremst. Es gibt also kein Problem damit, den Vorbeiflug elastisch zu verstehen. Aber vielleicht haben Sie ja mal Lust, auf eine andere Sichtweise.

Inelastische Stöße sind alltäglich. Oft sind sie ungewollt, zum Beispiel wenn bei einem Autounfall mehr als genug Bewegungsenergie umgewandelt wird um damit Teile der Karosserie oder, schlimmer noch, der Insassen zu verformen.  Manchmal sind inelastische Stöße aber auch willkommen, zum Beispiel wenn eine Fußballer einen Pass annimmt und dabei einen Großteil der kinetischen Energie des Balls aufnimmt oder wenn ein Kind vergnügt ins Bällebad springt und dabei seine Energie sanft an viele Gummibälle verteilt.

In der Experimentalphysik helfen inelastische Stöße, die Natur sehr kleiner Teilchen besser zu verstehen. Historisch bemerkenswert ist das Experiment am SLAC, in dem 1968 erstmals Quarks als Bausteine der Protonen nachgewiesen wurden. Während man den Nachweis einer inneren Struktur noch mit elastischer Streuung führen kann, werden inelastische Stöße benötigt, um die Kräfte zwischen den Teilchen zu untersuchen. Von 1992 bis 2007 wurden am Elektronen-Protonen-Speicherring HERA in Hamburg Elektronen inelastisch an den Quarks im Inneren von Protonen gestreut. Das hat geholfen, die Details der starken Kernkraft, die die Atomkerne zusammenhält, auszuloten. Konkret stoßen dort die elementaren Elektronen auf die gebundenen Systeme von Quarks und Gluonen und geben einen Teil ihrer Bewegungsenergie ab. Die dabei übertragene Energie erzeugt durch die starke Kernkraft ganze Lawinen neuer Elementarteilchen. Hieraus kann man nicht nur lernen, welche Elementarteilchen es gibt. Man kann mathematische Modelle der starken Kernkraft mit den experimentellen Daten vergleichen und so Physik lernen.

Ich habe mich in meiner Laufbahn mehr mit Atomen als ganzes und weniger mit einzelnen Protonen beschäftigt. Dabei habe ich auch an Experimenten zur inelastischen Streuung teilgenommen. Elektronen-Energieverlust-Spektroskopie heißt das dann. Oder Fachsprachlich “electron energy loss spectroscopy” (EELS). Wir haben Elektronen in einem magnetischen Feld nach ihrer Energie sortiert und auf ein Atomares Gas geschossen. Die von diesem Gas abgelenkten Elektronen haben wir dann auf ihre Energieverteilung untersucht. Es kommt natürlich heraus, dass die Elektronen nur ganz bestimmte Energiepakete an die Atome abgeben können. Wir können so über die atomaren Energieniveaus in den Atomen lernen. EELS hat dabei gegenüber optischer Spektroskopie, bei der man Licht zur Anregung der Atome verwendet, den Vorteil weniger selektiv zu sein. Photonen sind als masselose Teilchen recht wählerisch, welche energetischen Übergänge sie anregen wollen und welche nicht. Elektronen wechselwirken mit anderen Elektronen viel intensiver und weniger restriktiv.

Elektronen können im Stoß mit einem Atom auch Energie gewinnen. Und zwar dann, wenn man das Atom vorher in einen angeregten Zustand versetzt hat. Wir haben zur Anregung einen Laser genommen. Der Stoß, bei dem die Elektronen Energie aus dem Atom bekommen, wird auch superelastische Streuung genannt. Man kann sie in Flipper-Automaten makroskopisch beobachten. Oder beim Torschuss im Fußball.

Inelastische Stöße kommen in Atomen auch zwischen zwei gebundenen Elektronen vor: Befindet sich ein Atom in einem doppelt angeregten Zustand, also einem, bei dem sich zwei Elektronen auf höheren Orbitalen als ihrem Grundzustand befinden, so können diese beiden Elektronen miteinander wechselwirken. Dabei wird dann ein Elektron aus dem Atomverband herausgeschleudert (das Atom wird ionisiert) und das andere Elektron geht in einen niedrigeren Energiezustand über. Dieser Prozess heißt Autoionisation.

Kommen wir zum Swing-By-Manöver zurück. Die Analogie ist, wenn man einmal darauf kommt, offensichtlich: Die Sonne bindet mit ihrer überwältigenden Masse sowohl den Planeten als auch die Raumsonde in einer Umlaufbahn (einem Orbit). Diese beiden gebundenen Objekte können nun über ihre Schwerkraft miteinander in Wechselwikung treten und dabei Energie austauschen. Dabei landet der Planet zum Beispiel auf einem niedrigerem Orbit (geringere Energie) und die Raumsonde auf einem höheren. Zum Glück sind aber Raumsonden so viel leichter als Planeten, dass ersteres gar nicht auffällt. Wir müssen uns also keine Sorgen machen, dass wir mit zu viel Swing-By-Manövern unser Planetensystem autoionisieren. Jedenfalls nicht um Planeten, die Raumsonden können wir schon aus dem Planetensystem herausschleudern. Oder eben, wie im Fall der Merkur-Sonde Messenger, in das Innere des Sonnensystems hinein.

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Joachim Schulz ist Gruppenleiter für Probenumgebung an der European XFEL GmbH in Schenefeld bei Hamburg. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann in der Quantenoptik, in der er die Wechselwirkung einzelner Atome mit Laserfeldern untersucht hat. Sie führte ihn unter anderem zur Atomphysik mit Synchrotronstrahlung und Clusterphysik mit Freie-Elektronen Lasern. Vier Jahre hat er am Centre for Free-Electron Laser Science (CFEL) in Hamburg Experimente zur kohärenten Röntgenbeugung an Biomolekülen geplant, aufgebaut und durchgeführt. In seiner Freizeit schreibt er zum Beispiel hier im Blog oder an seiner Homepage "Joachims Quantenwelt".

3 Kommentare

  1. Sichtweisen kontra Invarianten

    Joachim Schulz schrieb (27. Februar 2011, 12:43):

    > Elastische Stöße zeichnen sich dadurch aus, dass keine Energie zwischen den beiden Stoßobjekten ausgetauscht wird. […] im Schwerpunktsystem der stoßenden Objekte

    > […] als inelastischen Stoß betrachtet […], so kann durchaus Bewegungsenergie zwischen den Stoßpartnern übertragen werden.

    Auch ohne eine bestimmte “Betrachtung” voraussetzen oder wählen zu müssen, kann man Stöße nachvollziehbar z.B. dahingehend unterscheiden, ob vor und nach dem Stoßereignis die gleiche Anzahl von Stoßpartnern und mit unveränderten Massen vorlagen, oder nicht.

  2. You can teach a horse to count, but …

    Joachim schrieb (02.03.2011 | 11:55):

    > In der Tat. Man kann die Anzahl und Masse von Stoßpartnern bestimmen.

    Siehste.

    (Man könnte sicher auch mal
    http://en.wikipedia.org/wiki/Inelastic_collision
    lesen. Aber darin taucht der Begriff “kinetic energy” auf, und dessen “Betrachtung” ist wohl noch weniger trivial.)

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