Narratologie, Erzählforschung, Memorik
BLOG: Natur des Glaubens
Schon seit einiger Zeit haben Forscher aus Biologie(n), Sozial- und Kulturwissenschaften begonnen, gemeinsam zu erforschen, wie wir Homo sapiens Ereignisse und Erfahrungen mündlich und schriftlich rekonstruieren: Erzählungen (lat. narrationes, engl. narratives) im weitesten Sinne inkl. von Literatur und Mythologien sind Paradebeispiele biokultureller Evolution, in denen die biologischen und kulturellen Traditionen der Menschen immer wieder neu wechselwirken.
Für die (evolutionäre) Religionswissenschaft eröffnete v.a. Pascal Boyer mit seinem "Religion explained" (2001) das Thema, aber auch andere Disziplinen fanden durch gelungene Sammelbände wie "The Literary Animal: Evolution and the Nature of Narrative" von Jonathan Gottschall und David Sloan Wilson (Hrsg.) erste Zugänge.
In Gehirn & Geist Dezember 2008 fand sich ein hervorragender Artikel zur "Erzählforschung" von Jeremy Hsu.
Anwendung auch in der Religions- und Geschichtsforschung?
In der deutschsprachigen Religionswissenschaft wirbt v.a. Dirk Johannsen (Basel), der über die Konstruktion norwegischer Volkserzählungen promovierte, für einen Einbezug der Erkenntnisse aus Hirnforschung und Evolutions- (bzw. Kognitions-)psychologie. Sein überzeugendes Argument: Wenn wir (an empirischen Studien bewährte) Modelle davon haben, wie Wahrnehmungen und Erzählungen konstruiert und tradiert werden, so können wir u.a. auch begründete Hypothesen über Prozesse bilden, über die wenig oder keine Schriftzeugnisse vorliegen – was z.B. in der Volksreligiosität oder auch in Frühphasen von Religionsgründungen sehr häufig der Fall ist.
Mit genau der gleichen Stoßrichtung plädiert der Frankfurter Mediävist Johannes Fried im aktuellen Epoc-Interview (Dezember 2009) für die Etablierung von "Memorik" – der Disziplin, die das (neurobiologische wie soziale) Erinnern und Tradieren erkundet und auf dieser Basis auch etablierte Überzeugungen (wie den Gang nach Canossa) neu bewertet. Wenn die Skepsis etablierter Zugänge (hier verkörpert durch Hans-Joachim Gehrke) auch vor Übertreibungen warnt und Beharrungskräfte in der Wissenschaft generell nicht einfach zu überwinden sind, so besteht doch Hoffnung, dass für zukünftige Generationen auch in Geschichts- und Religionswissenschaft die wechselseitige Kenntnis und fruchtbare Zusammenarbeit von Natur- und Kulturwissenschaften zum Alltag gehören kann.
Erinnerung: Der Pfarrer und der Richter
Persönlich stieß ich vor vielen, vielen Jahren auf einer Akademietagung auf das Thema, das mich seitdem nie ganz losgelassen hat (wobei es sich hier natürlich nur um eine Rekonstruktion von Erinnerungen handelt! 😉 ). Damals beklagte sich in einer Diskussion ein Pfarrer darüber, dass in den vier Evangelien über das Leben Jesu Widersprüche aufträten – das sei schwer zu vermitteln. Darauf meldete sich ein erfahrener Richter und erklärte: "Werter Kollege, das sehe ich anders. Wenn mir vier Zeugen von einem längeren und emotional bewegenden Ereignis völlig übereinstimmend berichten, dann weiß ich, dass die Zeugnisse abgesprochen und wahrscheinlich wertlos sind. Ob sich jemand als Zeuge wirklich und glaubwürdig erinnert, merkt man erst an den Unterschieden!" Diese Antwort – nicht aus theoretischer Reflektion, sondern aus Praxis gewonnen – beeindruckte mich damals und hat mich seitdem immer wieder beschäftigt.
So bleibt für die Wissenschaft m.E. zu hoffen, dass mutige Pioniere wie Dirk und Prof. Fried Unterstützung und Erfolg finden werden.
Da werde ich doch wieder …
… an das “Story”-Konzept des Theologen Dietrich Ritschl erinnert – und die “Impliziten Axiome”, die demnach jede Erzählung steuern.
Vgl. folgende Textabschnitte auf Google Books:
http://bit.ly/6NaIhP
http://bit.ly/4YT789
@ Alexander Ebel: Vielen Dank!
Diesen Theologen kannte ich noch nicht, aber die verlinkten Texte sind in der Tat sehr anregend. Ja, vorgeahnt sind diese Forschungsrichtungen schon worden – denken wir z.B. auch an die Assmanns und den Philologen Walter Burkert, die je Teile ihrer strukturellen Überlegungen zu v.a. ägyptischen (Assmanns) bzw. griechischen (Burkert) Mythologien bereits auf (evolutions-)biologischer Grundlage anstellten.
Jetzt dürften sicher einige Jahrzehnte (auch) empirischer Studien vor uns liegen, mit bestimmt vielen bestätigenden und manchen überraschenden Erkenntnissen… *freut-sich-schon*
@ M. Blume
Spannendes Thema, Herr Blume!
Wissen Sie, was sich Johannsen hierbei von der Hirnforschung verspricht?
@ Katharina
Danke für die sehr gute Frage!
Ich bin übers Wochenende nochmal auf einer Tagung zum Thema Religion-Evolution.
http://www.kircheundgesellschaft.de/…_Darwin.pdf
Aber Anfang kommender Woche würde ich Dirk fragen, ob er diese Frage hier vielleicht selbst beantworten möchte.
Beste Grüße, schönen Advent allen!
Nur ein Aspekt
Das Problem des Pfarrers und die Antwort des Richters verlagern die Sache mit den Widersprüchen in den vier Evangelien auf eine nicht angemessene Ebene: Es sind nicht Ereignisse zu untersuchen, die von verschiedenen Augenzeugen unterschiedlich erinnert werden, sondern es sind unterschiedliche Erzähltraditionen, Erzähl-Gewichtungen. Man kann z.B. sehr klar nachweisen, dass Matthäus und auch Lukas das Markusevangelium vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatten, als sie ihre Evangelien abfassten. Es gibt bestimmte Stellen, die sie wörtlich von Markus abschreiben und andere, in denen sie auf ihre jeweils eigene charakteristische Art die Wortwahl ändern oder zusätzliche Gesichtspunkte einbringen.
An manchen Stellen *will* der eine dem andern widersprechen. Also muss man mehr nach dem Erzähl-Interesse schauen bzw. nach den unterschiedlichen Situationen, in denen die Geschichten geformt und absichtlich umgeformt wurden.
Den Aufsatz von Jeremy Hsu las ich – fand ich spannend. Ganz kostenlos war er nicht – na ja, erschwinglich: 1 Euro.
Hier nur aus dem Untertitel zitiert:
“Mythen, Märchen und Legenden
unterhalten nicht nur – sie erzählen auch einiges über unsere Psyche”. Genau – aucb für die Sache mit den Evangelien: Sie erzählen was über die Psyche bei und um Jesus, bei und um die Evanngelisten und ihren jeweiligen unterschiedlichen Adressaten. Sie sollten aber besser nicht (mehr) als Augenzeugenberichte, (durch Widersprüchlichkeit missglückte) Faktenberichte… verstanden werden.
Gute Nacht allerseits…
@ Basty: Noch komplexer
Lieber @Basty,
nun, ich fand die Aussagen weisen ja auf noch komplexere Zusammenhänge hin: Nicht nur die Textzeugnisse werden je historisch (und mit Bezügen zueinander) konzipiert, sondern auch die Rezeption. Welche Textstellen wählen z.B. Pfarrer und Religionslehrer aus, welche eher nicht? Was wird dann auch erinnert, was fällt heraus?
Aus fundamentalistischer Sicht wird die vertiefte Erforschung religiöser Narrationen und (Re-)Konstruktionen oft als Relativismus empfunden (stellen die Wahrheit infrage, lösen die Wahrheit auf etc.). Auch Stimmen wie neulich wieder @Luchs erscheint nur eine wortwörtliche Lesart des Textes – und dann noch als naturwissenschaftliche Aussage! – schlüssig. Mir scheint dagegen, dass ein wirkliches Ernst-nehmen der Texte und religiösen Menschen v.a. auch bedeutet, sich der dabei ablaufenden Prozesse bewusst zu werden. Und das Gleiche gälte sicher auch z.B. für Literatur insgesamt, Kunstwerke oder Musik. Ich freue mich, dass da ein zunehmend dialogische Zusammenarbeit von Natur- und Geisteswissenschaften absehbar wird.
Komplexere Zusammenhänge: Eben!
Die Zusammenhänge sind wirklich komplex. Und genau das scheint mir die Antwort des Richters und vermutlich schon die Frage des Pfarrers auf eine zu banale Ebene zu verschieben. Die Widersprüche in den Erzähltraditionen der Evangelien sind eben nicht bloß wie (unbewusste, erinnerungspsychologisch erklärbare) Widersprüche von Aussagen von – deshalb subjektiven und umso glaubwürdigeren – (Augen-)zeugen zu nehmen, sondern weisen auf verschiedene (durchaus auch bewusste) Erzähl-Absichten und entsprechende Rezeption hin.
„Welche Textstellen wählen z.B. Pfarrer und Religionslehrer aus, welche eher nicht? Was wird dann auch erinnert, was fällt heraus?“ Da scheint mir des öfteren eine unbewusste Evangelienharmonie sich auszuwirken. Nehme ich die Weihnachts-Geschichten als Beispiel: Natürlich werden die zwischen Matthäus und Lukas widersprüchlichen Verknüpfungen der beiden Orte Nazareth und Bethlehem zu einer harmonisierende Reihenfolge der Reisen von Joseph und Maria verknüpft: Nazareth, Bethlehem, Jerusalem, Bethlehem, Ägypten, Nazareth. Dabei wird Lukas 2,39 unterschlagen: Nach der Beschneidung in Jerusalem kehren Maria und Joseph heim nach Nazareth. Ebenso Matth. 2,22f: Bei der Rückkehr aus Ägypten käme Joseph von sich aus nicht auf die Idee, dass er auch in Nazareth wohnen könne… Vorher schon müssen die Magier aus dem Osten, die natürlich längst zu „Heiligen drei Königen“ mutiert sind, in den Stall von Bethlehem, von dem ihr Erzähler Matthäus gar nichts weiß.
Natürlich ist das nicht böswillige Unterschlagung, sondern ein mehr unbewusster Wunsch nach Harmonisierung. Ähnlich werden die verschiedenen Gottes-Vorstellungen oder etwa die unterschiedlichen Vorstellungen zur Auferstehung harmonisiert, obwohl z.B. der Jesus, wie ihn das Johannesevangelium erzählt, Letzterem deutlich wider-spricht: Johannes 11,24+25!
Die meisten „Pfarrer und Religionslehrer“ werden zumindest nach außen mit diesen Harmonisierungen leben können. Man kann dagegen auch an solchen Zusammenhängen hämisch „Widersprüche in der Bibel“ festmachen. Oder aber – fundamentalistisch – die Augen schließen, „und glauben blind“, was übrigens in der Bibel auch nicht gerade befürwortet wird. Für aufgeklärtere Leute können das aber auch Belege dafür sein, dass die Bibel kein dogmatisch festgeschriebenes Buch ist sondern eine lebendige Diskussion über Jahrhunderte weg, mit Spruch und Wider-Spruch.
Und um von der Theologie weg auf den Ausgangspunkt zurück zu lenken. Jeremy Hsu schreibt ja: „Geschichten erzählen wir immer für und über andere Menschen. Sie entführen uns in gedankliche Welten, wo wir gefahrlos den Umgang mit anderen erproben und die Spielregeln der Gesellschaft erfahren. Und nicht zuletzt manipulieren sie auf einzigartige Weise Überzeugungen, indem sie über das Einfühlungsvermögen der Zuhörer direkt an deren Gefühle appellieren.“ Er erwähnt Religion(en) überhaupt nicht. Aber genau für diesen von ihm beschriebenen Zweck haben sich – mit ihren „Mythen, Märchen und Legenden“ und einigem mehr – seit Jahrtausenden Religionen als das Haupt-Transportmittel/Medium erwiesen – *und* bewährt. Sie sind „kulturelle Schatzkammern der Menschheit“ (Schmidt-Salomon!, eines meiner Lieblingszitate von ihm ;-), im Nachwort zur zweiten Auflage seines Manifests), die zwar auch zu entrümpeln sind. Aber „tabula rasa“ draus zu machen – das kann nur zu unser aller Schaden gereichen.
@ all: Grüße von Dr. Johannsen
Dirk ist derzeit noch auf einer Konferenz im Ausland, hat sich über den Blogbeitrag und die Leserfragen an ihn aber gefreut und wird in den kommenden Tagen gerne antworten.
Beste Grüße!
Perspektiven, Potentiale
Herzlichen Dank für den Beitrag. Hier noch kurz ein paar Überlegungen zur Rolle der Hirnforschung für die Untersuchung religiöser Narrativität. Es ist sicher so, dass die Hirnforschung noch lange nicht das gleiche Umsetzungspotential für erzähltheoretische Ansätze hat wie Ergebnisse und Modelle der Kognitions- bzw. Evolutionspsychologie, die ja vorläufig auch vor allem neue Perspektiven und Fragestellungen aufzeigen können. Bei letzteren lassen sich meiner Meinung nach, gerade im Anschluss an die Ergebnisse der Cognitive Science of Religion (z.B. Boyer), zum Beispiel Auslegungsdispositionen bestimmen oder auch der Zusammenhang von Konzepten und Handlungsweisen näher analysieren. Vor allem aber lässt sich durch Prognosenbildung fragmentiertes Material teilweise in den Griff bekommen, wenn man etwa die „kognitiv optimalen“ Plotstrukturen identifiziert und auf ihre Kohärenz mit den Quellen hin überprüft. Die Hirnforschung besitzt kein solches unmittelbares Umsetzungspotential, trotzdem ist es meiner Meinung nach sinnvoll, sie nicht aus den Augen zu verlieren. So gibt es zum Beispiel bereits eine Reihe fMRI-Studien zum Story Processing (der Verarbeitung von Erzählungen bzw. komplexen Sprachgebilden). Allein, dass gezeigt wird, dass Erzählungen weitgehend gleich verarbeitet werden, unabhängig davon ob sie gehört oder gelesen werden ist ja schon relevant, wenn man sich etwa mit verschriftlichten Quellen mündlicher Überlieferung auseinandersetzt. Solche Detailstudien haben natürlich eher eine Zubringerfunktion, können also erzähltehoretische Studien bestenfalls ergänzen und unterfüttern. Etwas weitere Potentiale kognitiver Neurowissenschaften für die Erzählforschung wurden kürzlich in einem dänischen Band „Religiøs Narrativitet, Kognition og Kultur“ (Hrsg: Jeppe Sinding Jensen und Armin W. Geertz) aufgezeigt. Hier wird vor allem auf neurobiologische Studien zur Emotionalität zurückgegriffen: Erzählungen zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie nicht nur einen Informationswert sondern einen Erlebnischarakter habe, insofern sie starke emotionale Regungen auslösen können. Geertz zum Beispiel denkt Rückkopplungseffekte in der Gehirnentwicklung von Kindern an, insofern die Geschichten, die ihnen in verschiedenen Altersstufen erzählt werden, jeweils die auftretenden mentalen Zustände reflektieren und damit ein „Trainingseffekt“ eintritt, mit dem die Vereinheitlichung dieser Prozesse gelenkt wird. Wenn dem so ist, erscheint der prägende Einfluss religiöser Erzählungen natürlich nochmal in anderem Licht.
Wie gesagt, bislang sind es nur erste Überlegungen, aber irgendwo muss ja mal ganz optimistisch angefangen werden 🙂