Warum starben 2023 schon zehn Orcas in Fischereinetzen im Beringmeer?

Zwischen Mai und September 2023 starben 10 Schwertwale (Orcinus orca) in den Netzen der Fischer in der Beringsee und um den Aleuten-Inselbogen. Das sind doppelt so viele, wie in anderen Jahren. Da die Orcas in Familiengruppen mit engen sozialen Beziehungen leben, ist der Tod eines Familienmitglieds traumatisierend für die ganze Familie. Außerdem stehen die charismatischen schwarz-weißen Wale unter strengem Schutz. Darum sammeln jetzt Fischerei-Beobachter der NOAA (National Oceanographic and Atmospheric Administration) Daten zu den Orca-Fischerei-Interaktionen und arbeiten mit Hochdruck an der Analyse und Lösung des Problems. Die großflächigen Medienberichte zeigen, wie wichtig das Thema in Alaska ist.

Breachender Orca vor der Nordpazikikküste (Wikipedia: Minette Layne from Seattle, Washington, USA – Single breaching orca (cropped))

Nördlich der Inselkette der Aleuten, die sich von der russischen Küste bis zur alaskanischen zieht und das Beringmeer vom Nordpazifik trennt, liegen reiche Fischgründe. Die Fischerei ist darum ein wichtiger Wirtschaftszweig, mit verschiedenen Netzen und Langleinen wird dort nach lukrativen Meerestier-Arten gefischt. Seit Mai haben sich neun Orcas in den Netzen der Grundfischfänger (Bottom trawls, die über den Grund geschleppt werden) verheddert (Entanglement), ein weiterer Schwertwal wurde nach Angaben der NOAA lebend aus einem Schleppnetz wieder freigelassen. Ein zehnter Orca starb im Juni im zentralen Beringmeer: Ausgerechnet in einer Langleine des jährlichen wissenschaftlichen Surveys von Kohlenfisch (Sablefisch, Schwarzer Kabeljau) und anderen kommerziell wichtigen Fischpopulationen.
Darum hat sich NOAA Fisheries als zuständige Aufsichtsbehörde eingeschaltet und führt nun eine Sonder-Untersuchung durch: „NOAA Fisheries analysiert die gesammelten Daten, um die Ursache von Verletzungen oder Todesfällen zu ermitteln und anhand einer Überprüfung der genetischen Informationen festzustellen, zu welchen Beständen diese Wale gehören“, so erklärte Julie Fair, Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit im Alaska-Büro der Bundesbehörde, in einer Pressemitteilung.

Wie alle Wale sind auch Orcas durch den Marine Mammal Protection Act streng geschützt, jeder Bootsbesitzer oder -betreiber ist dazu verpflichtet, Todesfälle und Verletzungen der schwarz-weißen Zahnwale bei kommerziellen Fischerei- und Beobachtungsarbeiten zu melden. Branchen- und Behördensprecher lehnten es ab, die an den Todesfällen beteiligten Schiffe oder weitere Einzelheiten zu diesen Vorfällen zu nennen. Damit sollen Zusammenstöße von Walschützern und Fischern vermieden werden, die schnell sehr hitzig und ideologisch instrumentalisiert eskalieren können – der Alaska Beacon berichtete von geplanten Protestmärschen gegen Bottom Trawls und für Orcas. Das zeigt, wie brisant diese Todesfälle sind. (Wie tote Wale von Interessengruppen zu ideologischen Zwecken instrumentalisiert werden, hatte ich am Beispiel der Nordkaper und anderen Großwalstrandungen beschrieben).

Alle beteiligten Boote müssen jetzt zwei Fischereibeobachter der Bundesbehörden an Bord haben, die Informationen während der Fischereiaktivitäten sammeln, sowohl des Fangs als auch der Orca-Anwesenheiten sowie -Interaktionen. Die Fischerei im Beringmeer (wie auch anderswo, etwa vor Patagonien) zieht regelmäßig Orcas und auch Pottwale an: die am Haken gefangenen großen Fische sind leichte Snacks für die beiden größten Zahnwalarten, die das Geräusch des Einholens der mit Haken und Fischen besetzten Leinen als Essens”glocke” verstehen. Da die Fischer teils in größerer Tiefe fischen, als die Orcas tauchen mögen und Fische am Haken auch für die Pottwale viel komfortabler abzupflücken sind, haben sich einige Wale auf diesen Nahrungserwerb sogar spezialisiert. Bislang waren Begegnungen mit Fischerbooten, bei denen Orcas in den Gewässern Alaskas verletzt oder gar getötet wurden, laut der Erklärung des Groundfish Forums selten. So hatte NOAA zwischen 2016 und 2020 dort nur sieben Todesfälle oder schwere Verletzungen durch Fischereigeräte erfasst. Im Jahr 2023 hingegen meldeten die Kapitäne auf einmal einen Anstieg der Orcas in der Nähe der Schiffe. Nun fraßen die Meeressäuger die Flossentiere direkt vor den Netzöffnungen der Trawls, dieses Verhalten war neu.


Andere Orcas folgten den Fischern, um sich die aussortierten Heilbutte zu schnappen: Heilbutte sind streng geschützt und dürfen nicht angelandet, sondern müssen zurückgeworfen werden. Leider erhöht der Rückwurf die Überlebenschancen für die großen fetten Plattfische nicht, wenn sie dann in den Mäulern der wartenden Orcas landen. Deshalb, so erklärte die Fischer-Vertretung Groundfish Forum in einem Statement, würden die Fischer keinen Heilbutt mehr an Deck aussortieren, wenn die Wale am Schiff sind (Ob sie die Fische dann solange in Wasserbecken setzen und mit dem Rückwurf bis später warten, um die Überlebenschancen der Plattfische zu erhöhen, wird nicht gesagt – vermutlich ist dafür keine Zeit).

Orcas lernen neue Fischfang-Methode

Die Meeresbiologin Hannah Myers, eine auf Orcas spezialisierte Doktorandin der University of Alaska in Fairbanks und Forscherin bei der gemeinnützigen North Gulf Oceanic Society, hatte das Verhalten der Schwertwale beobachtet. Im Mai war sie für die NGO North Gulf Oceanic Society, die von der Alaska Seafood Cooperative beauftragt worden war, eine Woche auf einem Trawler, um mehr über die Wal-Interaktionen mit den Schiffen und ihrem Equipment zu erfahren. Sie hatte etwa 30 Schleppzüge des Netzes mit einem an der Netzöffnung befestigten Hydrophon verfolgt. Dadurch konnte sie dokumentieren, dass die Orcas beim Einholen des Trawls tief unter Wasser waren und dabei  Klicks ausstießen, die mit der Nahrungssuche in Zusammenhang standen. Darum vermutet sie, dass die Meeressäuger Fische direkt vor dem Netz verfolgten, sie möglicherweise aus dem Netz fraßen oder sogar in das Netz jagten. Dabei besteht natürlich ein erhebliches Risiko für die schwarz-weißen Jäger, sich in Leinen oder Netz zu verheddern, erklärte Hannah Myers gegenüber den Anchorage Daily News.
Warum sich einige Schwertwal-Familien auf die Schleppnetze konzentriert haben, sei noch unbekannt. Myers und andere Biologen vermuten, dass der Verlust anderer Beutequellen der Grund dafür sein könnte. Myers schätzte, dass sich während ihrer Woche auf See etwa zwei Dutzend Wale um das Boot herum aufhielten. Sie tauchten zu Beginn der Fischereiaktivität auf, die Geräuschkulisse des Netzaussetzens und -einholens können die Meeressäuger gut zuordnen.

Beifang aus der Fischstäbchen-Fischerei

Viele Trawler fischen vor Alaska Seelachs und andere Arten, die zu Produkten wie Fischstäbchen und Filet-O-Fish-Sandwiches verarbeitet werden. Manche betreiben Raubbau: Als Anfang der 1990er Jahre ein Trawler mit einem einzigen Schleppzug des Trawls die gesamte Steinfischquote in Südost-Alaska wegfischte, gab es mächtigen Aufruhr, der zum Verbot der Schleppnetzfischerei vor Südost-Alaska führte. Mittlerweile wird vielerorts eine kleinskaligere und vom Marine Stewardship Council als nachhaltig eingestufte Schleppnetzfischerei betrieben. Die Nachhaltigkeit des Trawlens am Meeresboden ist allerdings umstritten, da gerade solche Grundschleppnetze nachweislich Kaltwasserkorallen und andere wichtige Meereslebensräume zerstören.
Im letzten Jahrzehnt haben Trawler im Beringmeer und im Golf von Alaska mehr als eine Milliarde Pfund Meereslebewesen gefangen. Zu diesem Beifang gehören Königs- und Keta-Lachs, Krabben, Heilbutt und andere Arten. Ein Großteil des Beifangs wird tot über Bord geworfen. Große Trawls hinterlassen auf den Meeresböden große Schneisen der Verwüstung und töten Bodenbewohner wie Krebse, Weichtier oder Schwämme, was kaum dokumentiert wird. „Wenn das, was sie unter Wasser mit Schleppnetzen machen, an Land passieren würde, wo die Öffentlichkeit es sehen könnte, würde es morgen eingestellt werden“, sagte David Bayes, Inhaber des in Homer ansässigen Unternehmens DeepStrike Sportfishing.

Die Königs- und Buckellachsbestände (Pazifischer Lachs wie Oncorhynchus spp) in West-Alaska sind trotz Quotenregelung in den letzten Jahren zusammengebrochen, während Keta-Lachs immer noch unbegrenzt gefangen werden darf. Diese Überfischung wird durch die Auswirkungen der Klimakrise, die auch die Ökosysteme im Nordpazifik erheblich betrifft, noch zusätzlich verschärft. Unter der Verknappung der Lachsbestände leiden sowohl viele Dorfgemeinschaften der Ureinwohner Alaskas entlang der Flüsse Yukon und Kuskokwim, deren Lebensgrundlage diese Lachse sind, als auch die Lachs fressenden Orcas. Anmerkung: Im Pazifik leben wesentlich mehr Arten von Lachsen, bei vielen Arten bilden die Männchen in der Fortpflanzungszeit hakenförmige Mäuler und prachtvolle Rottöne aus. Sie sind seit Jahrtausenden die Lebensgrundlage sowohl von indigenen Küstenbewohnern als auch von Orcas. Falls Interesse besteht, kann ich die gern mal vorstellen.)

Jeder Orca-Bestand hat seine eigene Kultur, zu der auch Jagdstrategien zur effektivsten Nutzung der jahreszeitlich auftretenden Fischschwärme gehören. Diese Jagdtechniken zu lernen, gehört zur Erziehung junger Wale. Gerade in Gruppen jagende Schwertwale sind für den Jagderfolg auf die exakte Koordination der Familienmitglieder angewiesen (Dazu bringe ich auf Meertext in den nächsten Monaten konkrete Beispiele).
Manchmal entwickeln einige innovativ agierende Wale ein neuartiges Verhalten, das dann von anderen kopiert wird und sich schließlich im Bestand verbreitet. Darum ist zu befürchten, dass diese einfache, aber riskante neue Form des Nahrungserwerbs von weiteren Individuen und Familien nachgeahmt wird. Das bekannteste Lernverhalten der schwarz-weißen Zahnwale findet gerade vor Gibraltar statt, wo Orcas gelernt haben, Yachten anzurempeln.

Die Biologen wissen noch nicht sicher, warum jetzt offenbar eine Veränderung aufgetreten ist. Die Fischereibeobachter berichteten jedenfalls, dass große Gruppen von Orcas den Schiffen tagelang folgen und sich die Verarbeitungsabfälle schnappen (NOAA-Studie).
Einer im Juli veröffentlichten Populationsschätzung der NOAA zufolge schwimmen mindestens 1.000 fischfressende Orcas im Beringmeer. Ihre Population ist mehr als 13-mal größer als die der gefährdeten fischfressenden Orcas im pazifischen Nordwesten, die aus nur noch 73 Tiere besteht. Vermutlich gehören die aktuell betroffenen Orcas nicht zu diesen Southern Residents genannten Familien, sie leben eigentlich zu weit südlich dafür. Das wäre dann eine ganz gute Nachricht, weil der Southern Residents-Bestand sonst akut vom Aussterben bedroht wäre.

Wegen des Orca-Beifangs haben die Plattfisch-Schleppnetzboote am 9. September freiwillig den Fischfang eingestellt, obwohl in der Saison 2023 noch mehr als drei Monate übrig waren. Sowohl Biologen, Behörden als auch Fischereiverbände sind jetzt bemüht, schnell die Ursachen für diese Änderung zu finden und dann hoffentlich Abhilfe zu schaffen.

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Auf dem Science-Blog „Meertext“ schreibe ich über meine Lieblingsthemen: Biologie, Zoologie, Paläontologie und das Meer. Wale, Fische und andere Meeresgetüme. Tot oder lebendig. Fossile Meere, heutige Meere und Meere der Zukunft. Die Erforschung, nachhaltige Nutzung und den Schutz der Ozeane. Auf der Erde und anderen Welten. Ich berichte regelmäßig über Forschung und Wissenschaft, hinterfrage Publikationen und Statements und publiziere eigene Erlebnisse und Ergebnisse. Außerdem schreibe ich über ausgewählte Ausstellungen, Vorträge, Bücher, Filme und Events zu den Themen. Mehr über meine Arbeit als Biologin und Journalistin gibt´s auf meiner Homepage “Meertext”.

10 Kommentare

  1. Die Schwertwale und ihr Verhalten bei der Nahrungsbeschaffungs überraschen mich immer wieder: Erst die Haijäger, die auf die fettreiche Leber scharf sind, und nun die Opportunisten, die es auf die Beute der Fischer abgesehen haben.

  2. @RPGNo1: Ja, sie sind wirklich vielseitig. Demnächst gibt es hier noch eine weitere Orca-Story, diesmal sehr aussergewöhnlich

  3. Ja, und wir vergessen allzuschnell/allzugern, dass die Nahrungsbeschaffung als Grundlage für die Möglichkeit, Nachkommen zu erzeugen, auch der Entwicklung des homo sapiens xyz zugrunde lag.
    Der Unterschied zu den Orcas lag ( nur ) darin, dass es im Gegensatz zum geschmeidigen Wasser auf der festen Erde Knüppel und Steine gab und die Hände zum Klettern in Bäumen entsprechend greifen konnten.
    Die Vögel haben ihre “Hände” zum Fliegen benutzt, eine Form der evolutionären Sackgasse, von heute und uns aus gesehen.

    • @Karl Maier: Wirbeltier-Flug als evolutive Sackgasse zu bezeichnen würde negieren, dass es seit den Flugsauriern und in fast allen Wirbeltiergruppen sehr erfolgreiche Gruppen von hoch spezialisierten Fliegern gibt. Die modernen Vögel haben in jüngerer Zeit noch einmal eine starke Entwicklung hingelegt und damit den größten Teil selbst extremer Ökosysteme besiedelt.
      Dazu kommt, dass Vögel die einzige Gruppe der Sauropsiden sind, die die KT-Grenze überlebt hat.
      Darum wäre ich mit solchen Aussagen sehr vorsichtig.

      • Darum wäre ich mit solchen Aussagen sehr vorsichtig.

        Ich lege da noch einen drauf. Vögel als “evolutionäre Sackgasse” zu bezeichnen halte ich für komplett absurd.

        Im Gegenteil müssen wir Homo sapiens aufpassen, dass die Nutzung unserer Hände nicht uns selbst in eine evolutionäre Sackgasse führt.

        • @Spritkopf: Ja, wir sind wesentlich spezialisierter als Tiere mit Schwingen. Ich bin wirklich sehr gespannt, wie es mit der Hominiden-Evolution weitergeht. Manchmal würde ich gern 10.000 Jahre in die Zukunft schauen können. Andererseits könnte das auch sehr verstörend sein, vielleicht sollte ich es lieber lassen

    • Ich finde den Begriff “evolutionäre Sackgasse” inzwischen sehr schwierig, obwohl er immer wieder gerne verwendet wird. Die Tiere, denen aufgrund ihrer evolutionären Entwicklung zugeschrieben wurde, dass sie in einer Sackgasse gelandet seien, waren zu ihrer Lebenszeit höchst erfolgreich. Dann im Rückblick zu sagen, diese Entwicklung sei letztendlich eine Fehlentwicklung gewesen, klingt doch sehr arrogant

      Ich kann mich erinnern, dass in meiner Jugend auch über Dinosauriern des öfteren behauptet wurde, sie seien in einer “evolutionäre Sackgasse” gelandet. Weil sie vor ca. 65 Mio Jahren ausstarben (*), während Vögel und Säugetiere überlebten. Dabei wurde gerne übersehen, dass die Dinos ca. 170 Mio Jahre die Kontinente beherrschten und sich trotz Aussterbewellen sehr erfolgreich immer wieder anpassten und aufblühten, wie es heute noch die gefiederten fliegenden Dinos, die Vögel, beweisen.

      (*) In den 80er Jahren war noch die Aussterbehypothese aufgrund eines globalen katastrophalen Klimawandels sehr weit verbreitet. Die Impakt-Hypothese steckte noch in den Kinderschuhen.

    • @RPGNo1: Danke. Das ist ein älteres Tier (extrem abgewetzte Zähne) und wirklich extrem abgemagert.
      Mit dem Orca in der Seine 2022 und dem am niederländischen Strand 2022 macht das nun 3, das ist schon eine Serie. Da würde ich zu gern wissen, woher die kommen, aus der Gibraltar-Population oder von Island/Norwegen. Bin gespannt, was dabei herauskommt.

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