Glattwale zwischen Klimakrise, Fischerei und Schifffahrt
Gerade habe ich die ARTE-Doku „360° – Maine, Hummer oder Wale“ gesehen und bin nur so mäßig begeistert. Das Drama um die vom Aussterben bedrohten Nördlichen Glattwal oder Nordkaper (Eubalaena glacialis, Northern Right whale). Leider sind mal wieder Fakten und Befindlichkeit für eine „ausgewogene“ Berichterstattung als gleichwertig gegenübergestellt worden, was bei so einem Thema nicht angemessen ist. „False balancing“ führt zu einer verzerrten Berichterstattung. Da darüber in den letzten Jahren etwa im Kontext mit der Klimakrise oder SARS Cov2 viel diskutiert wurde, habe ich (als Wissenschaftsjournalistin) und Biologin) kein Verständnis mehr dafür, wenn andere JournalistInnen das immer weiter betreiben. Dann ist ihnen die Story mehr wert als die Fakten. In diesem Fall geht es immerhin um das Aussterben eines 17 Meter großen Meeressäugers, da fände ich Fakten schon angebracht. Darum bringe ich hier jetzt mal die Fakten und Hintergründe.
Gerade habe ich die ARTE-Doku „360° – Maine, Hummer oder Wale“ gesehen und bin nur so mäßig begeistert. Das Drama um die vom Aussterben bedrohten Nördlichen Glattwal oder Nordkaper (Eubalaena glacialis, Northern Right whale). Leider sind mal wieder Fakten und Befindlichkeit für eine „ausgewogene“ Berichterstattung als gleichwertig gegenübergestellt worden, was bei so einem Thema nicht angemessen ist. „False balancing“ führt zu einer verzerrten Berichterstattung. Da darüber in den letzten Jahren etwa im Kontext mit der Klimakrise oder SARS Cov2 viel diskutiert wurde, habe ich (als Wissenschaftsjournalistin und Biologin) kein Verständnis mehr dafür, wenn andere JournalistInnen das immer weiter betreiben. Dann ist ihnen die Story mehr wert als die Fakten. In diesem Fall geht es immerhin um das Aussterben eines 17 Meter großen Meeressäugers, da fände ich Fakten schon angebracht. Darum bringe ich hier jetzt mal die Fakten und Hintergründe.
Nördliche Glattwale sind behäbige Meeressäuger. Anders als die schnellen Furchenwale können sie nicht mit einem Trick beim Fressen den Kehlraum erweitern, sondern haben, wie ihr Name sagt, einen glatten Bauch und fassförmigen Körper mit reichlich Volumen. Ihr garagengroßes Maul ist sehr hoch, aus dem Oberkiefer hängen 300 bis zu 2,5 Meter lange Barten herab. Heute werden diese Wale meist 13 bis 17 Meter groß und 100 Tonnen schwer, historische Quellen nennen auch größere Tiere. Das Leben in der Nähe der Menschen führt in der Gegenwart offensichtlich zu geringeren Wachstum, heutige Nordkaper werden immer kleiner.
Der Blubber, aus dem der Tran ausgekocht wurde, macht bei ihnen 40 % des Körpergewichts aus; kein anderer Wal hat einen so hohen Fettanteil. Wegen der großen Menge Fett, ihrer Langsamkeit und ihrer sehr langen Barten, die vor der Erfindung der Kunststoffe zu Korsett- und Schirmstangen und in vielen anderen Gebrauchsgegenständen verarbeitet wurden, wurden die „richtigen Wale“ (Right whale) im Nordatlantik fast ausgerottet: Im Mittelmeer und vor Gibraltar sind sie seit der Antike verschwunden, baskische Walfänger rotteten den kleinen Glattwalbestand in der Biskaya im späten Mittelalter aus und Ende des 19. Jahrhunderts waren die fetten Meeressäuger dann auch in ihren Sommerrevieren vor Neufundland fast verschwunden.
Weiße „Mützen“ helfen beim Wal-Management
Glattwale tragen auf dem Kopf und an den Seiten des Mauls sogenannte „Callosities“, weißliche Hornhaut-Schwielen, die voller Seepocken und Walläuse (kleinen Krebsen) sind. Diese „Mützen“ sind individuell unterschiedlich und sind damit genauso sichere Photo-Identifikationsmerkmale wie der Flukenumriß. Per Photo-ID-Katalog können so einzelne Wale verfolgt und identifiziert werden, die Forscher können ihr Wachstum und den Gesundheitszustand, die Sozialstruktur und Aufenthaltsorte, Geburt und Tod mitverfolgen. Die Forschenden fotografieren bei jeder Sichtung den oder die Wale, vor allem die „Mützen“ und die Fluken, diese Bilder werden im öffentlich zugänglichen North Atlantic Right Whale Catalog gesammelt. Da Wale im Laufe ihres Lebens Narben und Einkerbungen etwa der Fluke „sammeln“, werden die Fotos stetig ergänzt. Solche Narben und Kerben können durch Schiffskollisionen und andere Unfälle entstehen, durch die typischen Narben des Cookie Cutter-Hais, durch Orca-Bisse oder durch Verletzungen in Fischereileinen. Damit können wandernde Wale weltweit verfolgt und identifiziert werden, die Auswertung der Bilder erfolgt mittlerweile per KI.
Diente das Bestandsmanagement einst zur Festlegung der Fangquoten, ist es Jahrzehnte nach dem Ende des kommerziellen Walfangs ein wichtiges Schutzinstrument. Es sammelt alle Informationen der regelmäßigen Zählungen und Schätzungen der Walbevölkerung, dokumentiert ihre Aufenthaltsorte und ihre Wanderungen, untersucht Strandungen und Massensterben (Unusual Mortality Event (UME)), sammelt alle Fakten zu den Tieren und schlägt dann auf wissenschaftlicher Basis Maßnahmen zum Schutz der Tiere vor.
Die Nordkaper-Population vor den europäischen Küsten existiert nicht mehr, dort kommen nur selten einzelne Tiere aus der westatlantischen Population vorbei. Sie schwimmen dann südlich von Island im Bogen bis in die Biskaya, so wurde 2019 der Glattwal-Bulle mit der Katalognummer #3845 und den Namen Mogul vor der isländischen und französischen Küste gesichtet.
Seit 1949 stehen sie weltweit unter strengem Schutz und sind auf der Südhalbkugel wieder zahlreich vor Südafrika und Australien zu beobachten.
Aber der Restbestand vor der nordamerikanischen Atlantikküste hat sich nicht erholt und ist heute akut vom Aussterben bedroht. Auch wenn keine Bejagung mehr stattfindet, sterben zu viele Nordkaper durch menschliche Einwirkungen – die Haupttodesursachen sind Schiffskollisionen (ship strikes) und das Verheddern in Fischereileinen (Entanglement). Außerdem sorgen der Meereslärm und die Wasserbelastung durch toxische Substanzen für Dauerstress.
Nordkaper in der Klimakrise
Die Wale pflanzen sich nur langsam fort und werden sehr alt. Lange Zeit hielten sich Geburten und Todesfälle die Waage.
Eigentlich hatte das Management zum Walschutz gute Pläne, die Nordkaper durch Schifffahrtsrouten und Fischereiaktivitäten vor der US-Küste hindurchzulotsen. Aber die steigenden Meerestemperaturen bringen jetzt die Wal-Fahrpläne durcheinander. Seit 2010 hat die Klimakrise die Ozeanographie und damit den Glattwal-Lebensraum im Golf von Maine und vor dem Scotian Shelf vor der kanadischen und US-Küste rapide verändert. 2010 veränderte die Erwärmung des Ozeans den Golfstrom, warmes Hangwasser drang in die von Walen bevorzugte nahrungsreiche Region ein und schuf ein weniger günstiges Nahrungsumfeld. Mitte des Jahrzehnts passten sich die Glattwale dann an und verlagerten ihre Nahrungsgründe im späten Frühjahr/Sommer teilweise bis in den St. Lorenz-Golf. Die großen Säuger schwimmen nun auf anderen Routen, weiter im Norden, und stoßen dort zu oft mit Schiffen zusammen oder verheddern sich in Fischereigerät.
Wissenschaftler, Natur- und Meeresschutzbehörden sowie NGOs versuchen nun, die letzten der 368 noch lebenden Nördlichen Glattwale zu retten. Von den 368 sind weniger als 100 Weibchen im fortpflanzungsfähigen Alter, schätzen die Wal-Experten der NOAA und anderer Institutionen, die seit Jahrzehnten für das Management dieser Walbestände verantwortlich sind.
Fatness is fitness – nur fette Mütter können Kälber ernähren
Die gewaltigen Glattwale fressen winzige Ruderfußkrebse, vor allem den im kühleren Nordatlantik weit verbreiteten Calanus finnmarchicus. Der Minikrebs weidet pflanzliches Plankton und frisst sich während der langen Sommertage des Nordens daran fett, in seinem 1 bis 2 Millimeter großen Körper wandelt er die pflanzliche Materie in Fett um. Das macht ihn zu einem nahrhaften Snack und die Glattwale füllen sich die gigantischen Mäuler gleich mit Myriaden von Ruderfußkrebsen. Die Produktivität der Meeresregionen hängt von ozeanographischen Parametern ab und verändert sich gelegentlich. Ist die Plankton-Produktion hoch, können sich die Wale in den Sommermonaten ohne viel hin- und herzuschwimmen viel Speck anfressen und paaren sich dabei auch. Dann haben sie genug Energie für die Wanderung zu den „Kinderstuben“ vor den 1000 Kilometer entfernten flachen Küsten vor South Carolina, Georgia, and Florida. Bei Walkühen entscheidet die Fettreserve außerdem über ihre Fruchtbarkeit und den Gesundheitszustand ihres Nachwuchses– die Mütter müssen ihrem Kalb so viel fette Milch geben, dass es in nur wenigen Monaten ausreichend Gewicht zulegt, um mit den Artgenossen 1000 Kilometer nach Norden zum Plankton-Buffet zu ziehen.
Normalerweise werden Glattwalweibchen mit 10 Jahren geschlechtsreif, dann können sie etwa alle drei Jahre ein einzelnes Kalb gebären. Seit 2010 scheint die einjährige Tragezeit allerdings eher alle 7 bis 10 Jahre vorzukommen. Außerdem ist die Jungensterblichkeit hoch, viele erreichen nicht das Erwachsenenalter. Gleichzeitig hat sich offensichtlich die Lebensspanne der Glattwale verringert. In historischen Zeiten sollen manche Wale 100 Jahre alt geworden sein, heute liegt das Alter für Männchen eher bei 65 Jahren und für Weibchen durch die kraftzehrende Aufzucht der Kälber bei 48 Jahren. Der Grund für die geringere Lebenserwartung dürften der Stress durch Lärm, Schiffsverkehr und Fischerei sowie das geringere Nahrungsangebot sein. Der menschengemachte Meereslärm durch Schiffsantriebe, Bauarbeiten, Ölsuche und andere Aktivitäten führt nachweislich dazu, dass Wale ihr Verhalten und ihre Richtung ändern – sie unterbrechen ihre Nahrungsaufnahme oder schwimmen Umwege. Dadurch verlieren sie Energie, die sie für die anstrengenden Wanderungen und die Fortpflanzung brauchen. Außerdem stört der menschliche Lärm die Kommunikation der Wale. (Das gilt natürlich für alle Walarten und auch für viele andere Meerestiere.
Nordwärts zieht das Plankton – die Nordkaper ziehen mit
Durch den Zustrom des warmen Wassers hat sich ein Teil der Produktivität des Ozeans nach Norden verlagert, in kühlere Regionen. Diese typische Verlagerung von Meeresorganismen im sich erwärmenden Ozean in Richtung der Pole ist überall zu beobachten. In diesem Fall hat es dazu geführt, dass die Glattwale auf einmal in den Hauptschifffahrtsrouten im St. Lorenz-Strom auftauchten, dort aber niemand mit ihnen gerechnet hatte. Statt der normalerweise 4 bis 5 toten Glattwale fanden die Forscher 2017 gleich 17 Walkadaver. Darum mussten die kanadischen Behörden und Walschutz-Institutionen schnell neue Pläne entwickeln, um die behäbigen Meeressäuger durch das dicht befahrene Ästuar und die Küstenfischerei zu lotsen und die Schifffahrt „walsicher“ zu machen. Zum Wal-Management gehört auch die Walvorhersage, wann sich die Tiere in welchem Seegebiet aufhalten. Die wichtigste Vorsichtsmaßnahme gegen Schiffskollisionen ist in der Zeit, wenn Wale dort sind, eine gedrosselte Geschwindigkeit und ein scharfer Ausguck. 2018 wurden keine toten Glattwale angespült, 2019 aber wieder 10 – viel zu viele bei so einem kleinen Bestand.
Trotz der Verlagerung ihrer Freßgründe nach Norden stieg die gesunkene Geburtenrate in den folgenden Jahren nicht an. Dieser Meeresabschnitt scheint also keinesfalls ein ideales Wal-Buffet zu bieten. Von normalerweise ca 20 Geburten (2009 waren es ausnahmsweise mal 39) stagnierte diese Zahl bis zu 0 Geburten 2018. Seitdem hat sie langsam wieder zugenommen, zu 20 Kälbern in 2021 – viel zu wenig, um die Todesrate auszugleichen.
Gefahrenquelle Hummerfischerei
Zwischen 1970 und 2009 waren Schiffe die Todesursache Nr. 1, ab 2010 aber änderte sich das, nun wurde die Fischerei zu einem größeren Problem. Der erfahrene Wal-Veterinär Michael Moore hatte viele der Walkadaver untersucht und dabei immer wieder schwere Verletzungen durch Fischereileinen gefunden. Solche Netzmarken verursachen charakteristische Wunden. Ist ein Wal allerdings schon zu stark verwest, verliert er die oberen Hautschichten und damit auch die Spuren der Netze.
Wale können Fischereiausrüstung nicht wahrnehmen, zu dünn sind die Kunststoffleinen und zu unerwartet die Hindernisse im Meer. So schwimmen sie in Leinen und Netze hinein und verheddern sich mit Kopf, Brust- und Schwanzflossen darin. Da sie nicht rückwärts schwimmen können, verheddern sie sich beim Versuch, sich zu befreien immer weiter in den unzerreißbaren Leinen, die sich tief in die Körper einschneiden. Neben der Panik leidet der Wal Schmerzen und wird durch das Mitschleppen des Fanggeschirrs behindert. Blutverlust, Infektionen und Erschöpfung verringern die Fitneß eines Wals und führen oft zu einem langsamen qualvollen Tod.
Bei den Fischerei-Interaktionen kommt es gerade in den flacheren Küstengewässern im Golf von Maine und im St. Lorenz-Ästuar vor allem zu einem Interessenskonflikt mit den Hummerfischern. Die Hummerfischer setzen keine einzelnen Körbe, sondern verbinden 10 bis 20 davon zu einer Kette (s. Graphik im verlinkten Artikel). Diese Hummerkorbketten verankern die Fischer dann für mehrere Tage am Meeresboden, eine mit einer Boje aufrecht im Wasser verankerte Leine markiert die Hummerkörbe. Das bedeutet, dass kein Fischer auf seinem Boot anwesend ist, der einen Wal entdecken könnte, sondern Wale unbeobachtet in die Leinen geraten können. Das bedeutet, dass solch ein Verheddern auch nicht beobachtet wird. Der Wal kämpft dann eine Weile gegen die schwere Verankerung und die Korbkette an und kann vielleicht schließlich einen Teil abreißen. Allerdings haben sich dadurch die Kunststoffleinen dann oft um den Meeressäuger gewickelt, so dass sie aus eigener Kraft nicht abstreifen kann.
Darum wollen Biologen die Hummerfischerei für die Walwanderung zeitweise schließen und/oder fordern andere Fanggeschirre, die entweder keine nach oben stehenden Leinen oder Sollbruchstellen haben, so dass sie unter dem Zappeln eines Wals nachgeben. Im kanadischen St. Lorenz-Strom war die Fischerei beim Auftauchen der Wale geschlossen worden, in den US-amerikanischen Gewässern versuchen Wissenschaftler, walfreundlichere Netze zu entwickeln.
Der Hummerfang vor Maine begann im 21. Jahrhundert, hat aber im 22. Jahrhundert noch einmal zugenommen. Wegen der Gefahr für die Wale haben einige Öko-Food-Anbieter jetzt die Hummer aus ihrem Sortiment gestrichen – die kleinskalige Fischerei ist zwar nachhaltig gegenüber dem Hummer-Bestand, gefährdet aber Wale. Die Hummerfischer sind natürlich empört und weisen diese Restriktionen zurück. Sie bestehen auf ihrer Tradition des Hummerfangs und Hummeressens und können sich natürlich kein anderes Leben vorstellen. Darum machen sie Stimmung gegen Wal- und Meeresschutz.
Meine Meinung (ein Rant zum Waltod, zu Klimakrise und Ökokrise)
Ich fand die ARTE-Reportage ganz interessant, aber der Interessenskonflikt zwischen Nordkapern und Hummerfischern ist meiner Ansicht nach unausgewogen dargestellt worden.
Warum lässt man die falschen Behauptungen der Hummerfischer, es sei nicht nachgewiesen, dass Wale in ihren Leinen sterben, so stehen? Die Hummerfischer nennen dann als alleinige Todesursache Schiffskollisionen, was eben nicht stimmt. Sondern durch Lobbyisten und konservative PolitikerInnen behauptet und als Mantra stetig wiederholt wird. Die Meinungen der Fischer in epischer Breite bleiben gegenüber den Fakten aus ein paar Dekaden Walforschung mit Hunderten von Publikationen so stehen. Diese Statistik des „Unusual Mortality Event“ der Marine Mammal Commission zeigt noch einmal die Todesursachen. Die Marine Mammal Commission vertritt die Interessen der Wale, sie vertritt die nationalen und internationalen Gesetze und Abkommen zum Walschutz.
Für die wissenschaftliche Basis sprechen der erfahrene Meeresbiologe und Glattwalexptere Sean Todd (College of the Atlantic, Maine) und der Meeresbiologe und Meeresschützer Zack Klyver, der beim Whale Watching die Wale und die Situation erklärt. Beide sprechen als langjährige Wissenschaftler natürlich sachlicher und scheinbar weniger leidenschaftlich für die Wale. Ein starker Gegensatz zur emotionalen Kommunikation der Fischer.
Die Fakten der Biologen stehen gegen die Emotionen der Fischer, die Kommunikation läuft also auf zwei verschiedenen Ebenen. Das macht eine Problemlösung sehr schwierig, ist aber leider exemplarisch für viele Diskussionen zur Klima- und Ökokrise, auch bei uns.
Stattdessen opfert die Reportage die Forschungsergebnisse und die Brisanz des Aussterbens einer Großwalart dem Storytellung und der „False Balance“, der falschen Ausgewogenheit. Neben der rührseligen Darstellung der Hummerfischer hätten gern genauso emotionale Bilder eines in Leinen verhedderten Walkalbs gesehen. Oder die tief eingeschnittenen Netzmarken eines Wals, der krank, geschwächt und abgemagert die nächste Wanderung kaum überleben wird.
Dass die Biologen eben nicht einfach den Hummerfang verbieten wollen, sondern nach walfreundlichen Lösungen suchen, kommt viel zu kurz. Auch diese Fischer sehen Meeresschutz als Feindbild und jammern dann, dass man ihnen ihre Existenzgrundlage wegnehmen will. Typisch verkürzen sie die Diskussion auf „arme Fischer und böse Biologen/Meeresschutzbehörden“. Den Grund, nämlich die Klimakrise, ignorieren sie natürlich. Die junge Hummerfischerin Emma ist die Einzige, die ausspricht, dass die Hummerfischerei vielleicht keine Zukunft hat und sie stattdessen eine Muschelzucht anlegen will. Die anderen interviewten Fischer singen das Klagelied, dass ihnen die böse Regierung/böse Wissenschaftler ihre Lebensweise wegnehmen will.
Allein im Januar 2023 haben sich bereits wieder drei Glattwale in Fischereileinen verfangen.
Die Veränderungen in der Ozeanzirkulation durch die Klimakrise haben die Nahrungsumgebung und die Lebensraumnutzung der Glattwale verändert, ihre Kalbungsrate hat sich verringert und sie einem höheren Sterblichkeitsrisiko ausgesetzt. Der Fall des nordatlantischen Glattwals ist ein Alarmsignal für das Überleben geschützter Arten in einem sich durch die Klimakrise verändernden Ozean.
Und es zeigt klar, dass Anpassungen an die sich erwärmende Umgebung möglich sind, diese aber oft andere, neue Probleme hervorrufen. Auch wenn die Wale sich an ein neues Habitat anpassen können, bleibt die Frage, ob die Menschen sich an das veränderte Walhabitat anpassen können. Oder eine weitere, ikonische Art einfach erlischt.
Ich möchte mal EINEN Bericht sehen, in dem diskutiert wird, warum Menschen meinen, einen Anspruch auf die Fortführung ihrer geheiligten Tradition in einer sich rasant verändernden Welt zu haben meinen. Andere Menschengruppen müssen sich ja auch oft beruflich umorientieren. Warum sollten dann ausgerechnet Jobs, die die Klima- und Ökokrise befeuern, unbedingt Bestand haben.
Und: Was wiegt schwerer? Die Hummerfischerei in ihrer jetzigen Form? Oder das Überleben der letzten Nordkaper?
Diese Traditionalisten beharren vermutlich genauso auf das Ignorieren der Klimakrise (die Hummerfischer-Versammlung sah mir ganz schön nach strammen Republikanern aus). Als Begründung zur Verharmlung/Leugnung der Klimakrise führen sie ja gern an, dass Mensch und Natur sich eben anpassen müssen. Um im nächsten Satz genau diese nötigen Veränderungen für sich selbst zu verneinen.
Außerdem fehlt mir auch in diesem Bericht die Gegenüberstellung der Geschäftsmodelle Hummerfischerei und Nordkaper – die letzten dieser Meeresgiganten sind nämlich, neben Buckel-, Finn- und Zwergwalen – die Stars der Whale Watching-Branche. Whale Watching gilt als nachhaltiger Ökotourismus und garantiert die jahrzehntelange Nutzung der Wale, die ja durchs Angucken nicht abnutzen. Wale Watching ist hochpreisig und gehört zu den touristischen Tipps für Maine unbedingt dazu. Das könnte man ja auch mal erwähnen.
Dazu kommt der ökologische Fußabdruck gerade großer Wale, die als “Walpumpe” und Ökosystem-Ingenieure mit (ihren Fäkalien und dem Herumtauchen) für die Gesundheit und Produktivität der Ozeane sowie deren CO2-Bindung sorgen.
Ich denke, dass solch eine Reportage durchaus mehr Fakten hätte vertragen können.
Sie ist trotzdem unbedingt sehenswert.
Übrigens: Die Maine-Hummer werden auch nach Europa exportiert. Also, Augen auf beim Hummerkauf. Oder lieber etwas anderes essen.
Den Glattwal-Vettern im östlichen Nordpazifik geht es übrigens nicht besser. Sie sind auch nach dem Walfang-Moratorium im sowjetischen Walfang weiterhin getötet worden, ein Teil des Fleisches ist u. a. an die sowjetischen Zuchtnerze in ihrer Käfighaltung verfüttert worden. Aber das ist eine andere Geschichte…
„360° Reportage – Maine, Hummer oder Wale?
Erin L. Meyer-Gutbrod , Charles H. Greene , Kimberley T.A. Davies, David G. Johns: Ocean Regime Shift is Driving Collapse of the North Atlantic Right Whale Population (August 31, 2021), https://doi.org/10.5670/oceanog.2021.308
Andere Quellen direkt verlinkt, überwiegend wissenschaftliche Publikationen und einige sachkundige Presseartikel.
Hier ist ein empfehlenswertes TEDx-Video, in dem Michael Moore das Glattwal-Fischerei-Problem erklärt und Lösungen aufzeigt:
„A fix for the imperiled North Atlantic right whale“
Also daß Klaviersaiten aus Walbarten hergestellt wurden, kann ich mir nicht vorstellen. Die waren in den Anfängen aus Eisen- oder Messingdraht (das dazu notwendige Verfahren gibt es seit 1350!), später verwendete man nur mehr Stahlsaiten, die auch heute im Einsatz sind. Kunststoffe wurden dafür m.W. nie verwendet. Andere Materialien gibt es nur bei Zupf- und Streichinstrumenten, aber auch hier finde ich keine Information darüber, daß Walbarten zum Einsatz kamen. Materialien sind und waren abgesehen von Metallen hier: Darm, Seide, Nylon, Carbon,…
Siehe dazu hier: https://www.nzz.ch/articleES3LR-ld.397471 und hier: https://www.dieklaviermachermeister.at/wp-content/uploads/2018/09/pian-e-forte_klaviergeschichte.pdf und hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Saite
@Robert aus Wien: Ich habe es aus einer Quelle übernommen und finde es leider nicht wieder, darum habe ich die Klaviersaiten jetzt `rausgenommen.
Die Barten (Fischbein) sind teils sehr wohl als Metallersatz genutzt worden, zu den dünnen federnden Metallstäben etwa bei Korsetts. Auch in Sprungfedern für Betten oder Schirm”speichen” war Fischbein die Alternative zu Metall. In dickerer Version auch für, Messergriffen, Schwertgriff, …
https://www.scran.ac.uk/packs/exhibitions/learning_materials/webs/40/utilitarian.htm
Auch wenn es wahr ist, war das Absicht, dass der Absatz “Fakten gegen Emotionen” zweimal drinsteht?
@Sascha: Nein. Der ist durch die Korrekturen und meinen Kampf mit dem Gutenberg-Editor hineingeschlüpft
Ja, für Streben für Sonnenschirme, Korsetts, Reifröcke, Bürsten, etc. wurde Fischbein genutzt. Das hab ich auch nicht bestritten. (Im verlinkten Artikel geht es auch genau darum.) Aber ein Material, das z.B. für Streben für Schirme geeignet ist, ist genau wegen dieser Eigenschaften für Saiten – und übrigens auch für die Bespannung von Tennisschlägern – eben NICHT geeignet. (Auch Tennisschläger wurden übrigens mit Naturdarmsaiten bespannt, bevor es die moderneren Materialien gab.)
Im Klavierbau wurden und werden andere tierische Materialien genutzt: Elfenbein (bis Ende der 80er, dann nicht mehr) und Knochenleim. Letzterer ist wegen seiner Eigenschaften im Instrumentenbau m.W. übrigens unersetzbar.
@Robert aus Wien: Tennisracket-Bespannung – ich habe die Quelle noch einmal `rausgesucht: Die Bespannung der Tennisrackets wurde mit WalÖL behandelt. Das war mein Fehler, danke fürs Richtigstellen.
Maine Wahl 😉
Wie praktisch doch dieser Text daherkommt: spart mir langes Beschreiben (bisher nur angerissen) durch Verlinken.
@Bettina Wurche: OK, die Behandlung der Saiten für die Tennisschlägerbespannung mit Walöl glaub ich sofort. Das klingt auch absolut plausibel, da Naturdarmsaiten bei Feuchtigkeit zum Aufquellen neigen, was auch bei Streichinstrumenten ein Problem ist. (Bei denen geht das vermutlich allerdings wiederum nicht, weil man mit Öl die Reibung zwischen Saite und Geigenbogen verringern würde, und das wäre äußerst unpraktisch. Aber das ist nur eine Vermutung, ich bin ja kein Fachmann im Instrumentenbau, nur ein interessierter Laie, da ich selber Hobbymusiker bin.) Mit dem Öl kann man dem vermutlich entgegenwirken.
Michael Shellenberger hat kürzlich darauf hingewiesen:
https://public.substack.com/p/why-environmentalists-may-make-this
@HubertD: Er bezeiht sich auf diesen offenen Brief der Walexperten:
https://media.fisheries.noaa.gov/2021-04/Skipjack_2021%20IHA_pubComm_OPR1.pdf?null=
Der Lärm und Verkehr beim Bau und Betrieb einer solchen Anlage könnte den Glattwalen den Rest geben. Das Streßlevel und die Gefahren werden insgesamt zu hoch. Wale, die in Küstennähe leben, haben keine guten Überlebenschancehn : (