Über messbare und unmessbare Mengen

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Hier kommt nun Teil 3 der Trilogie, die sich mit den verschiedenen Größen des Unendlichen befasst.

Im ersten Teil hatte ich Ihnen die kleinste Sorte vorgestellt, die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen, auch das abzählbar Unendliche genannt. Auf den ersten Blick sah das noch vergleichsweise übersichtlich aus – immerhin kann eine Summe aus abzählbar unendlich vielen Zahlen einen endlichen Wert haben –, aber dann stellt sich heraus: Alle Zahlen, die wir mit unserem – unvermeidlich beschränkten – Geist überhaupt erfassen können, lassen sich der Reihe nach mit Nummern versehen; ihre Menge ist also abzählbar.

Dabei sind das eigentlich ziemlich viele. Jede Zahl, die mit Ziffern oder auch mit Worten eindeutig beschreibbar ist, zählt zu dieser Menge, die ich im zweiten Teil als die Menge der „säglichen Zahlen“ beschrieben habe. Aber die anderen reellen Zahlen, die „unsäglichen“, sind noch unendlich viel mehr, so unendlich viel, dass man dafür eine neue Größenklasse einrichten muss. Man nennt sie die Mächtigkeit des Kontinuums.

Zu allem Überfluss sind die unsäglichen Zahlen sogar unentbehrlich, weil man ohne sie keine brauchbare Maßtheorie betreiben kann. Dabei geht es darum, einer Teilmenge der reellen Zahlengeraden eine Länge zuzuordnen, einem Tintenklecks in der Ebene einen Flächeninhalt, einer Kartoffel im dreidimensionalen Raum ein Volumen und so weiter, allgemein zu einer Menge deren „Maß“ zu bestimmen, eine Zahl, die angibt, wie „groß“ oder „dick“ die Menge ist.

Es liegt nahe, einem Intervall der reellen Zahlen dessen Länge zuzuordnen. Das Maß des Intervalls [a, b] ist also gleich ba. Die Mathematiker spielen mit einem großen Sortiment an Maßen, aber für unsere Zwecke genügt es, sich mit diesem Standardmaß zu beschäftigen. Man nennt es das Lebesgue-Maß zu Ehren von Henri Léon Lebesgue (1875–1941), der die theoretischen Grundlagen klärte. Dabei stellte sich heraus, dass man über diesen scheinbar einfachen Maßbegriff doch etwas intensiver nachdenken muss.

Wie groß ist das Maß einer wilden Teilmenge der reellen Zahlen? Na ja, man muss die Menge irgendwie aus Intervallen zusammenbasteln. Und dafür gibt es eine Fülle von Möglichkeiten:

• Nehmen wir zwei Mengen A und B, die kein Element gemeinsam haben. Dann ist das Maß von \(A\cup B\), der Vereinigung von A und B, gleich der Summe der Maße von A und B. Soweit einleuchtend. Das gilt auch für unendliche Summen von Mengen – abzählbar unendliche, wohlgemerkt, denn über überabzählbar viele Terme kann man keine Summe bilden. (Wie war das? Schon eine Summe über abzählbar viele Terme ist definitionsbedürftig, und zwar über einen Grenzwertprozess. Dabei kann als Summe auch unendlich herauskommen; so ist das Lebesgue-Maß der Menge aller reellen Zahlen gleich unendlich. Es gelten die üblichen Vorsichtsmaßregeln für das Rechnen mit dem Symbol ∞.)

• Die leere Menge hat das Maß null.

• Das Lebesgue-Maß ist eine stetige Abbildung: Haben wir eine Folge von Mengen, die gegen eine „Grenzmenge“ konvergiert, dann ist das Maß der Grenzmenge gleich dem Grenzwert der Maße der Mengen der Folge. Was genau es heißen soll, dass eine Folge von Mengen konvergiert, ist definitionsbedürftig. Aber zwei einfache Fälle sind klar: Wenn jede Menge der Folge Teilmenge ihrer Nachfolgerin ist, die Mengen also immer „dicker“ werden, dann ist die Grenzmenge die unendliche Vereinigung all dieser Mengen. Im umgekehrten Fall – die Mengen werden immer dünner, weil jede Menge der Folge in ihrer Vorgängerin enthalten ist – ist die Grenzmenge der unendliche Durchschnitt der Folgenglieder.

Diese Bastelwerkzeuge reichen aus, um Ihnen eine spezielle Menge zu präsentieren, die wiederum geeignet ist, einige naheliegende Vorstellungen über den Haufen zu werfen. Abzählbare Mengen sind „Nullmengen“, das heißt sie haben das Maß null. Und wenn eine Menge das Maß null hat, muss sie ja wohl abzählbar sein? Falsch. Ich stelle Ihnen eine Nullmenge mit der Mächtigkeit des Kontinuums vor.

Die Cantor-Menge: unendlich dünn und unendlich dick zugleich

Fangen wir an mit dem Intervall [0, 1]. Wir zerlegen es in drei gleiche Teile und nehmen das mittlere Drittel heraus. Es bleiben die zwei Intervalle [0, 1/3] und [2/3, 1] mit der Gesamtlänge 2/3 übrig. Mit diesen verfahren wir genauso wie mit unserem Ursprungsintervall. Dann blieben vier Intervalle mit der Gesamtlänge 4/9. Und so weiter.

https://de.wikipedia.org/wiki/Cantor-Menge#/media/Datei:Cantor5.svg

(Wenn Ihnen das irgendwie bekannt vorkommt: Ja, nach einem ganz ähnlichen Rezept macht man das Sierpinski-Dreieck, indem man aus einem gleichseitigen Dreieck das mittlere von vier Teildreiecken wegnimmt und den Prozess auf diesen Teildreiecken iteriert, und landet damit beim einfachsten Objekt der fraktalen Geometrie.)

Wir haben eine Folge von Mengen, die immer dünner werden. In diesem Fall macht sich das auch in deren Maßen bemerkbar: Jede Menge der Folge hat 2/3 des Maßes ihrer Vorgängerin. Da die geometrische Folge mit dem Faktor 2/3 gegen null strebt, hat die Grenzmenge das Maß null. Sie heißt Cantor-Menge nach Georg Cantor (1845–1918), dem Schöpfer der modernen Mengenlehre. Aber was ist die Grenzmenge?

Für diese Frage begeben wir uns zweckmäßig in das Zahlensystem zur Basis 3. Das funktioniert im Prinzip genauso wie unser gewohntes Dezimalsystem; es gibt nur die Ziffern 0, 1 und 2, die Drei muss man schon als 10 schreiben, die Neun als 100, die Zahl, die wir als 14 kennen, ist \(1 \cdot 9 + 1 \cdot 3 + 2 \cdot 1 = 112\) im Dreiersystem, und hinter dem Komma geht es entsprechend zu: 0,1 ist ein Drittel, 0,01 ein Neuntel, einhalb ist die periodische Zahl 0,1111… Etwas gewöhnungsbedürftig, aber perfekt geeignet für unsere merkwürdige Mengenfolge.

Wie im Dezimalsystem ist das Intervall [0, 1] die Menge aller Zahlen, die mit 0,… anfangen. Statt „Dezimalbrüche“ würde man sie „Ternärbrüche“ nennen. Das mittlere Drittel herausnehmen heißt alle Zahlen zu streichen, die an erster Stelle hinter dem Komma eine Eins haben. Im zweiten Iterationsschritt streichen wir alle Zahlen, in denen an zweiter Stelle hinter dem Komma eine Eins steht, und so weiter. Damit ist klar, wie die Cantor-Menge zu beschreiben ist: Sie besteht aus allen Zahlen zwischen 0 und 1, die im Dreiersystem geschrieben nirgendwo eine Eins, sondern nur die Ziffern 0 und 2 enthalten.

Darunter sind auch solche, in denen von einer gewissen Stelle an alle Ziffern gleich 2 sind. Für die gilt dasselbe wie für die Dezimalzahlen, die ab einer gewissen Stelle nur noch Neunen enthalten: Die Darstellung ist nicht eindeutig, man könnte statt 0,0220022222… auch 0,022010000… schreiben. Dann müsste man vereinbaren, ob diese Zahlen zu streichen sind oder auch nicht. Das läuft auf die Frage hinaus, ob man bei den Teilintervallen die Grenzen mitzählt oder nicht. Für das Endergebnis macht es keinen Unterschied; denn alle Dezimal- oder auch Ternärbrüche, die schließlich periodisch werden, sind insbesondere rational und damit vernachlässigbar, denn die rationalen Zahlen sind eine Nullmenge.

Wir wissen schon: Die Cantor-Menge ist eine Nullmenge. Jeder Versuch, sie bildlich darzustellen, muss scheitern: Wenn man die Iteration im obigen Bild fortsetzt, landet man relativ bald bei einem unansehnlichen Staub aus Intervallen, die alle kleiner sind, als ein gedruckter Punkt breit ist, und spätestens dann macht das Abbilden keinen Sinn mehr.

Aber die Cantor-Menge ist alles andere als klein! Um das zu sehen, ersetzen wir in unseren Ternärbrüchen jede Zwei durch eine Eins (Null bleibt Null) und interpretieren die entstehende Ziffernfolge als Binärbruch, das heißt im Zahlensystem zur Basis 2. Alle Binärbrüche sind Folgen von Ziffern, die nur die Werte 0 und 1 annehmen können. Und zu jedem solchen Binärbruch gibt es einen Ternärbruch, der Element der Cantor-Menge ist: Ersetze jede Eins durch eine Zwei und interpretiere die Ziffernfolge als Ternärbruch.

Wir haben soeben eine bijektive (umkehrbar eindeutige) Abbildung von der Cantor-Menge auf das gesamte Intervall [0, 1] definiert. Die Cantor-Menge ist gleichmächtig diesem Intervall, und das hat die Mächtigkeit des Kontinuums.

Auf die reale Welt angewandt klingt das beliebig absurd. Ein Mensch verliert von gestern auf heute ein Drittel seiner Haare, am nächsten Tag von dem verbleibenden Rest wieder ein Drittel und so weiter. Bereits nach wenigen Wochen ist das äußere Erscheinungsbild von einer Totalglatze nicht zu unterscheiden. Und dennoch: Selbst nachdem der Haarverlust sich bis in alle Ewigkeit fortgesetzt hat, kommt ein geschickter Friseur, sortiert die nach wie vor verbliebenen Haare ein bisschen um, und schon hat der Mensch die volle Haarpracht seiner Jugend wieder.

Die Mathematik gibt die Realität wieder – und etwas mehr

Was ist da passiert? Irgendwie wünscht man sich, dass die Mathematik die Realität widerspiegelt – wenigstens so ungefähr. Man lässt sich auf unendliche Folgen und Grenzwerte ein, was zwingend geboten ist, damit man die Bewegungen von Achill und der Schildkröte sauber beschreiben kann. Mit dem Grenzwertbegriff kommen quasi als Zugabe die reellen Zahlen in ihrer ganzen Pracht, insbesondere die unsäglichen. Mit denen kann man zwar in der Realität nichts anfangen, aber sie sind unentbehrlich für eine ordentliche Maßtheorie. Und kaum hat man die zugehörigen Rechenregeln – die oben genannten „Bastelanleitungen“ – gefunden, gibt es wieder unerwünschte Zugaben. Diesmal sind es Monster wie die Cantor-Menge, die uns zeigen, dass selbst überabzählbar viele Elemente eine Menge nicht vor der Bedeutungslosigkeit schützen.

Es kommt noch schlimmer. Der berühmte Satz von Banach und Tarski sagt, dass man eine Kugel in endlich viele Teile zerlegen kann derart, dass diese Teile sich zu zwei Kugeln zusammensetzen lassen, die jede für sich so groß sind wie die Ausgangskugel. Wie kann das sein? Welches Volumen müssen die Teile haben, wenn die Summe dieser Volumina einmal das einfache und das andere Mal das doppelte Kugelvolumen ist?

Die klare Antwort ist: gar keins. Es gibt Teilmengen des dreidimensionalen Raums, denen kann man kein Maß zuschreiben; sie sind „unmessbar“. Das gilt insbesondere für die Kugelteile von Banach und Tarski. Im Umkehrschluss folgt, dass man sie mit den genannten Bastelanleitungen nicht aus Quadern – der Verallgemeinerung von Intervallen auf den dreidimensionalen Raum – zurechtmachen kann.

Mit den unsäglichen Zahlen musste man sich irgendwie abfinden; aber sie stören nicht wirklich. Die unmessbaren Mengen sind schlimmer. Es gibt sie, ob man will oder nicht, aber innerhalb der Maßtheorie kann man sie zu nichts gebrauchen. Vielmehr muss man sich bei jeder Menge, mit der man umgeht, vergewissern, ob sie auch messbar ist – in der Praxis selten ein Problem, aber lästig.

Und den ganzen Ärger haben sich die Mathematikerinnen und Mathematiker nicht etwa aus masochistischen Motiven an den Hals geladen. Er kam einfach mit bei dem Unternehmen, die Theorie der reellen Zahlen – die, wie der Name schon sagt, die Realität abbilden sollen – auf eine solide Basis zu stellen.

Ob es auch anders gegangen wäre? Das sieht nicht so aus.

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Christoph Pöppe (Jahrgang 1953) hat Mathematik und Physik studiert und über allerlei partielle Differenzialgleichungen geforscht, bis er 1989 ziemlich plötzlich Redakteur bei „Spektrum der Wissenschaft“ wurde. Fast 30 Jahre lang hat er für diese Zeitschrift Texte bearbeitet und selbst geschrieben, vornehmlich über Mathematik und verwandte Gebiete. Nach wie vor schreibt er gelegentlich Beiträge für die Rubrik „Mathematische Unterhaltungen“. Seine Liebe zum Fach lebt er auch in allerlei geometrischen Objekten aus, die gelegentlich – in Großveranstaltungen mit vielen Beteiligten – ziemlich monumental geraten. Nebenher bietet er in einem Internet-Laden Bastelbögen für allerlei geometrische Körper an.

6 comments

  1. Christoph Pöppe schrieb (21. Dec 2022):
    > […] Es liegt nahe, einem Intervall der reellen Zahlen dessen Länge zuzuordnen. Das Maß des Intervalls [a, b] ist also gleich b – a. […] Man nennt es das Lebesgue-Maß

    Beruhigend, dass sich metrische Räume in Betracht ziehen lassen, und somit Distanz (jeweils zwischen einem Paar von Elementen einer Menge) und (dadurch auch) Länge (von bestimmten, geeignet geordneten Teilmengen) diskutabel sind, ohne sich deswegen mit allgemeinen “Maß”-Bewertungen von beliebigen Teilmengen beschäftigen zu müssen.

    Analog lässt sich wohl gewisser o.g. “Ärger” vermeiden, wenn je \(n\) Elementen einer Menge ein bestimmter (nicht-negativer) “\(n\)-Simplex-Inhalt” zugewiesen, und daraus zumindest in “geeigneten Fällen” entsprechender “Gesamt-Inhalt” der betreffenden Menge ermittelt werden kann.

  2. Es kommt noch schlimmer. Der berühmte Satz von Banach und Tarski sagt, dass man eine Kugel in endlich viele Teile zerlegen kann derart, dass diese Teile sich zu zwei Kugeln zusammensetzen lassen, die jede für sich so groß sind wie die Ausgangskugel. Wie kann das sein?

    Ist anti-intuitiv und physikalisch entsprochen unmöglich, zeigt insofern dass Mathematik und Realitas (“Sachlichkeit”) sozusagen ein Kriegsbeil ausgegraben haben, die Mathematik womöglich an Hand der Physik anderer Axiomatiken bedarf.
    Die Mathematik gehorcht von Anfang an der Natur, vielleicht ist dies nicht allen klar, sie ist ein Tool der Naturwissenschaft.
    Exaggerationen sind denkbar, möglich, erfüllen aber nicht den erwarteten Zweck,
    MFG
    WB

  3. Interessant am Banach-Tarski-Beweis der »Schaffung aus dem Nichts« ist die Tatsache, dass in der „Rezeption“ in der Fachwelt (der Mathematiker und Theoretischen Physiker) die physische Unmöglichkeit des mathematischen Beweises keine fundamentale Kritik an der „axiomatischen Mathematik“ zur Folge hat(te). Denn es drängt sich (nicht nur analytisch betrachtet) die Frage auf, inwieweit auch andere axiomatisch begründete Beweis-Konstrukte, insbesondere innerhalb der Theoretischen Physik, nicht anwendbar sind, da sie physische Unmöglichkeiten als physikalische Realität erscheinen lassen. Ohnehin gilt beispielsweise im Rahmen der Differentialgeometrie seit Anbeginn, plakativ formuliert – das auch banale Schreibfehler im Formalismus zu neuen Lösungen führen. Dieses Phänomen ist nicht zu unterschätzen, da in den Abstraktionen der „modernen“ Theoretischen Physik per se postuliert realobjektbefreite Begriffe und Entitäten dominieren. Eine nicht erkannte falsche Axiomatik wäre eine weitere „Eskalationsstufe“.

  4. Dirk Freyling, Dr. Webbaer
    eine andere physische Unmöglichkeit sind mehrdimensionale Räume.
    Die 4. Dimension lässt sich noch gut mathematisch darstellen, aber unser Weltraum hat nur 3 Dimensionen.
    Die Dimensionen der Fraktale lassen sich auch nicht real verwirklichen.

  5. Dr. Webbaer
    22.12.2022, 20:28 o’clock
    Zitat:
    Die Mathematik gehorcht von Anfang an der Natur, vielleicht ist dies nicht allen klar, sie ist ein Tool der Naturwissenschaft.
    = = =
    Danke für den Hinweis!
    Genau das habe ich versucht, mit den nachfolgenden Artikeln zu beweisen:
    a)> http://www.4-e-inigkeit.info/Raum-Zeit.htm
    und
    b)> http://www.4-e-inigkeit.info/Hintergrundstrahlung.html
    zu a)
    Bei der mathematischen Verprobung am Ende des Artikels ist auch die 4. Dimension erforderlich, anders geht es nicht.
    Zu b)
    Zum Aufblasen eines Luftballons wird Luft hineingepustet. Bei der Expansion des Universums weiß man nicht, wie das geht.
    Beides wird benötigt – ein Medium und Zeit.
    Man möge mir zugutehalten, dass ich weder Mathematiker noch Physiker bzw. Theologe bin.
    M. f. G.

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