Linear, nichtlinear, chaotisch …?

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„Nichtlinear“, das ist schon fast ein Modewort geworden. Wenn irgendetwas kompliziert, unkalkulierbar oder im strengen Sinne chaotisch wird, dann muss es ja irgendwie nichtlinear sein. Die Idee ist: Linear ist brav, ordentlich und berechenbar, nichtlinear ist wild, chaotisch und schmetterlingseffektmäßig unvorhersehbar. Gute Mädchen sind linear, nichtlineare kommen überallhin. Das stimmt auch irgendwie – aber dann doch nicht so ganz. Im Folgenden soll es um die komplizierte Beziehung zwischen Nichtlinearität und Chaos gehen.

Ein mittlerweile geflügeltes Wort, dessen Ursprung nicht mehr auszumachen ist, lautet: „Nichtlineare Probleme“ als eine Art Klasse zusammenzufassen ist ungefähr so sinnvoll wie in der Zoologie über „Nicht-Elefanten“ zu reden. In der Tat: Der Zoo der nichtlinearen Probleme ist äußerst vielgestaltig, und ihre einzige Gemeinsamkeit besteht im Fehlen einer Eigenschaft, eben der Linearität. Diese Eigenschaft wiederum ist uns nur deshalb so lieb und wert, weil sie uns beim Lösen der Probleme ungeheuer behilflich ist. Und da man lieber über gelöste Probleme spricht als über ungelöste (und es über die gelösten auch mehr zu erzählen gibt), kann schon der Eindruck entstehen, die Welt sei im Wesentlichen linear. Na ja – jedenfalls soweit man sie überhaupt berechnen oder den Kindern im Physikunterricht zumuten kann.

In der Tat sind erstaunlich viele physikalische Gesetze linear. Das heißt, sie erzählen uns, dass zwei verschiedene Größen zueinander proportional sind. Der Klassiker ist Newtons zweites Gesetz der Mechanik: \(F=ma\), Kraft ist Masse mal Beschleunigung, oder auch: Kraft und Beschleunigung sind proportional zueinander, und den Proportionalitätsfaktor nennen wir Masse.

Das geht munter so weiter. Ohm’sches Gesetz: \(U=RI\), elektrische Spannung und Stromstärke sind proportional, mit dem Widerstand als Faktor. Allgemeine Gasgleichung: \(pV= N k_{\rm B} T \), die Temperatur ist proportional dem Druck oder auch dem Volumen, vorausgesetzt, man hält die jeweils andere der beiden Größen konstant; der Proportionalitätsfaktor ist Teilchenzahl mal Boltzmann-Konstante. Die Maxwell-Gleichungen des Elektromagnetismus sind etwas komplizierter, aber im Vakuum laufen sie darauf hinaus, dass die zeitliche Änderung des elektrischen Feldes proportional einer (ziemlich komplizierten) räumlichen Änderung des magnetischen Feldes ist – und umgekehrt.

Das hat eine bedeutende Folge. Die Lösungen der Maxwell-Gleichungen, die elektromagnetischen Wellen, überlagern sich störungsfrei (Superpositionsprinzip). Mathematisch ausgedrückt: Die Summe zweier Lösungen ist wieder eine Lösung, und wenn man eine Lösung mit einem konstanten Faktor multipliziert, bleibt es eine Lösung. Aus diesem Grund können sehr viele Radio- und Fernsehsender zugleich ihre Signale ausstrahlen, ohne dass sie einander in die Quere kommen. Gleiches gilt für die Lichtwellen, die unsere Augen treffen. Wären die Maxwell-Gleichungen nichtlinear, wäre das mit dem Sehen zumindest sehr schwierig.

In diesem Fall folgt aus der Linearität eines physikalischen Gesetzes unmittelbar eine Eigenschaft des Systems, das diesem Gesetz unterliegt, nämlich das Superpositionsprinzip für elektromagnetische Wellen. Wie ist das in der Mechanik? Immerhin ist Newton II auch linear.

Das ist schon richtig, aber nur die halbe Wahrheit. Das fundamentale Gesetz der Mechanik sagt zwar, wie der Ort eines Masseteilchens von der Kraft abhängt (nämlich dass die Änderung der Änderung (zweite Ableitung) des Ortes, oder auch kurz Beschleunigung, gleich Kraft durch Masse ist), aber nicht, wie die Kraft vom Ort abhängt. Erst wenn man dieses Kraftgesetz hinzunimmt, hat man eine vollständige Beschreibung der Gesetze des Systems. Die nimmt in der Regel die Form einer Differenzialgleichung an, also einer Gleichung, die die zeitliche Änderung (Ableitung) einer Größe mit der Größe selbst (zum Beispiel dem Ort des Teilchens) in Beziehung setzt. Die Lösung einer solchen Gleichung ist dann eine Funktion, die angibt, wie sich diese Größe (oder ein Ensemble von Größen, zum Beispiel viele Massenpunkte) in Abhängigkeit von der Zeit verhält. Laplacens Dämon ist nichts weiter als ein Lösungsverfahren für Differenzialgleichungen: Aus den physikalischen Gesetzen eines Systems und den Anfangsbedingungen berechnet er dessen Verhalten für alle Zeiten.

Ein mechanisches System ist also erst dann linear, wenn auch das Kraftgesetz linear ist. Und damit sieht es ziemlich mau aus. Die Kraft, die unseren Alltag bestimmt, die Schwerkraft, ist – wieder nach Newton – umgekehrt proportional dem Quadrat des Abstands der beteiligten Massen, also alles andere als linear. Das erklärt, wieso das System aus Sonne und Planeten chaotisch ist. Wieso stört uns das im Alltag nicht? Weil wir in unserem, sagen wir, häuslichen Umfeld die Anziehungskraft der Erde als konstant annehmen dürfen. Das ist noch ordentlicher als linear.

Ein richtig lineares Kraftgesetz kommt in der Mechanik von Natur aus nicht so wirklich vor. Aber die Physiker haben sich eins zurechtgebastelt, weil die linearen Systeme halt so schön sind. Es handelt sich um die Schraubenfeder, ein beliebtes Requisit des Physikunterrichts. Nach dem Hooke’schen Gesetz ist deren Rückstellkraft proportional der Auslenkung. Man hänge sie an ein Stativ und an ihr unteres Ende eine Masse im – konstanten – Schwerefeld. Die zappelt dann mit einer Frequenz, die nicht nur unabhängig von der Amplitude, sondern auch theoretisch aus den Daten berechenbar ist; denn das System ist richtig linear und damit einer erschöpfenden Analyse zugänglich. Man nennt es den „harmonischen Oszillator“, weil es so schöne Sinusschwingungen macht.

Und wenn das mit der Linearität nicht so ganz passt? Dann wird es passend gemacht. Welche Kraft wirkt zwischen zwei Atomen in einem Stickstoff- oder Sauerstoffmolekül? Das auszurechnen ist schon theoretisch eine Herausforderung und praktisch so gut wie unmöglich. Aber offensichtlich haben die beiden Atome einen Lieblingsabstand, und wenn der nicht genau eingehalten wird, dann wirkt eine Rückstellkraft, die sie auf diesen Gleichgewichtszustand hin treibt. Dann tun wir doch wider besseres Wissen einfach so, als säße zwischen den Atomen eine Schraubenfeder. Deren Härte ermitteln wir durch Messen der Schwingungsdauer – und für gewisse Anwendungen reicht das! Klaus Schulten und seine Kollegen berechnen mit dieser wilden Annahme die Dynamik biologischer Moleküle bis hin zu ganzen Proteinen und kommen damit der Realität erstaunlich nahe.

Mit einer derart, sagen wir, kreativen Interpretation der Realität sind Schulten und seine Kollegen nicht allein. Wenn ein „schmutziges“ reales System nur geringfügig von einem „sauberen“, gut berechenbaren, zum Beispiel linearen System abweicht, dann rechnet man mit dem sauberen System, und die Ergebnisse werden mit etwas Glück auf das reale System anwendbar sein – ungefähr.

In der Mechanik findet dieses Prinzip Anwendung zum Beispiel bei schwingenden Saiten oder Membranen. Man nähert die Saite durch ein System aus Massen, die durch lineare Federn aneinander gekoppelt sind, und siehe da: Das angenäherte System schwingt ziemlich genau wie eine echte Saite, mit Grund- und Obertönen. Und dank dem Superpositionsprinzip beeinflussen diese verschiedenen „Schwingungsmoden“ einander nicht. Jeder Oberton klingt mit derselben Intensität weiter, die er durch die Anfangsbedingungen mitbekommen hat – auf ewig, wenn es keine Reibung gäbe.

Bei der allgemeinen Gasgleichung ist das mit der Linearität etwas anderes. Es handelt sich nicht um ein fundamentales Gesetz wie Newton II, sondern um die summarische Beschreibung eines statistischen Effekts. Die eigentlichen Akteure sind die Gasmoleküle. Die sind erstens sehr zahlreich, und zweitens stoßen sie die ganze Zeit zusammen und tauschen dabei Impuls und Energie aus. Der Stoßprozess selbst ist so chaotisch, dass es schlimmer kaum geht. Ob die zwei Gasmoleküle zentral oder ein bisschen versetzt aufeinanderballern, macht für ihren weiteren Weg einen Riesenunterschied: empfindliche Abhängigkeit von den Anfangsdaten in Reinkultur.

Was folgt aus dem Chaos im Kleinen? Die totale Ordnung im Großen. Die Stöße sind im Effekt vom Zufall nicht zu unterscheiden und so zahlreich, dass das System ergodisch ist, das heißt jeden Zustand, den es in der Theorie annehmen könnte, tatsächlich annimmt – näherungsweise. Gute Systeme kommen in den Himmel, nichtlineare überallhin. Infolgedessen herrschen binnen kürzester Zeit im ganzen Fahrradschlauch, Dampfkochtopf oder Motorzylinder ein einheitlicher Druck und eine einheitliche Temperatur – aus statistischen Gründen. Jeder Freiheitsgrad der Bewegung kriegt im Mittel denselben Anteil an der Gesamtenergie ab. Irgendwelche Abweichungen sind zwar theoretisch denkbar, aber hoffnungslos unwahrscheinlich.

Mit einem linearen Kraftgesetz wäre das nicht passiert – siehe das Gegenbeispiel mit der schwingenden Saite. Wenn man also in deren mathematischer Modellierung die fiktiven Schraubenfedern mit einem nichtlinearen statt einem linearen Kraftgesetz ausstattet, sollte auf jede anfänglich geregelte Schwingung das Chaos einwirken mit dem Effekt, dass sich die Energie über alle Schwingungsmoden gleichmäßig verteilt.

So hatten sich das Enrico Fermi, John Pasta und Stanislaw Ulam Anfang der 1950er Jahre auch gedacht. Und da sie gerade einen der ersten Computer der Welt, den MANIAC, zur Verfügung hatten, ließen sie ihn eine schwingende Saite mit nichtlinearem Kraftgesetz rechnen – quasi als Erholung von ihrer damaligen Hauptbeschäftigung, dem Entwurf einer Wasserstoffbombe.

Das Ergebnis war eine Überraschung. Die Energie wanderte zunächst von der ersten Mode, der Grundschwingung, ab, verteilte sich irgendwie auf die anderen – und kam nach einer Weile wieder zurück! Zunächst nur zu 97 Prozent, später dann praktisch vollständig. Ab da wiederholte sich das Verhalten des Systems in regelmäßigen Zeitabständen.

Damit hatte man nun überhaupt nicht gerechnet. Ein System mit einer nichtlinearen Wechselwirkung zeigt ein periodisches Verhalten! Und zwar ein System mit vielen Komponenten: 64 Massepunkten, wahrscheinlich das Maximum dessen, was in den Arbeitsspeicher des MANIAC passte. Bei zwei Komponenten hätte man sich trotz nichtlinearer Wechselwirkung nicht so sehr über eine periodische Lösung gewundert; das kriegen eine Sonne und ein Planet schließlich auch hin. Aber so hatten Fermi, Pasta und Ulam eine Entwicklung losgetreten, die noch weit in die Zukunft fortwirkte.

Heute wissen wir: Es gibt eine Klasse nichtlinearer Systeme, die ein „ordentliches“ Verhalten zeigt, das mit dem linearer Systeme zumindest gewisse Gemeinsamkeiten hat. Man findet sie an den verschiedensten Stellen; das FPU-System (so genannt nach den Initialen der Entdecker) ist nur eines von zahlreichen Beispielen und noch nicht einmal das eindrucksvollste. Aber davon erzähle ich beim nächsten Mal.

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Christoph Pöppe (Jahrgang 1953) hat Mathematik und Physik studiert und über allerlei partielle Differenzialgleichungen geforscht, bis er 1989 ziemlich plötzlich Redakteur bei „Spektrum der Wissenschaft“ wurde. Fast 30 Jahre lang hat er für diese Zeitschrift Texte bearbeitet und selbst geschrieben, vornehmlich über Mathematik und verwandte Gebiete. Nach wie vor schreibt er gelegentlich Beiträge für die Rubrik „Mathematische Unterhaltungen“. Seine Liebe zum Fach lebt er auch in allerlei geometrischen Objekten aus, die gelegentlich – in Großveranstaltungen mit vielen Beteiligten – ziemlich monumental geraten. Nebenher bietet er in einem Internet-Laden Bastelbögen für allerlei geometrische Körper an.

21 comments

  1. Dieser Beitrag ist wie Poesie für einen naturwissenschaftlich interessierten Leser.
    Weiter so !

    Vergessen Sie nicht die belebte Natur. Die verhält sich auch gesetzmäßig. Über einen längeren Zeitraum erkennt man die Perioden.

  2. Sinngemäss las ich vor einiger Zeit, ein theoretischer Physiker, der mit Papier und Stift arbeite, lande bei fast jedem Problem, das er angehe, beim harmonischen Oszillator. Das Problem dabei sei aber, dass praktisch kein reales physikalisches System sich als harmonischer Oszillator darstellen liesse. Trotzdem funktioniert es recht gut. Mindestens auf dem Papier.

  3. M.Holzherr,
    In der Weihnachtszeit müssen Sie die Betonung auf “harmonisch” legen.
    Und der Ablauf des Jahres ist doch real, und physikalisch ist er obendrein, was denn sonst ?

  4. Ich möchte zu dem interessanten Beitrag von Christoph Pöppe ergänzen, dass es sich bei der erwähnten Chaostheorie um Prozesse mit schwankenden Anfangszuständen bzw. Randbedingungen handelt, da dort die Rückwirkungen (Rückkopplungen) kleiner Veränderungen auf den Prozess selbst in so genannten nichtlinearen, dynamischen Systemen die Vorhersagbarkeit im Großen vereiteln können und – sich aufschaukelnd – unregelmäßige und instabile, nämlich „chaotische“ Zeitverläufe auslösen können (z.B. Wetteränderungen der Meteorologie, Turbulenzen von Strömungen, die einer Vielzahl von Einflussfaktoren unterliegen). Es handelt sich also in der Chaosphysik um eine „quasideterministische“, d.h. nur scheinbar vorhersagbare Naturgesetzlichkeit, die auf schwankenden, sich ändernden Anfangs- bzw. Randbedingungen innerhalb eines Systems beruht. Der Kybernetiker Gunter Berauer vertritt in seinem Buch “Vom Irrtum des Determinismus” die Ansicht, dass die Instabilitäten der chaotischen Systeme als Verstärker quantenmechanischer Effekte innerhalb des Makrokosmos wirken können, durch quantenmechanische Unschärfen bei den Randbedingungen.
    Ein besonders krasses Beispiel für den Übergang vom regelmäßigen, stabilen Verhalten zum sich selbst verstärkenden instabilen, chaotischen Verhalten ist in der Medizin das Herzkammerflimmern, bei dem der periodische Herzmuskelrhythmus aus dem Takt gerät. Freilich ist die allzu empfindliche Abhängigkeit von den Anfangs- bzw. Randbedingungen, wie sie beim so genannten „Schmetterlingseffekt“ zugrunde gelegt wird, inzwischen als irrig erwiesen. Die Annahme, dass nämlich der Flügelschlag eines Schmetterlings an einer beliebigen Stelle der Erde nach kurzer Zeit weit davon entfernt den Zustand der Atmosphäre nachhaltig verändern und beispielsweise einen Tornado auslösen könne, vernachlässigt grob die Phänomene der Thermodynamik in der Atmosphäre, die statistischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und ausgleichend auf den Vorgang des winzigen Flügelschlags wirken, ohne chaotische, Verstärkungen infolge Rückkopplungen zu erzeugen (nach Spektrum der Wissenschaft Heft 11.2001: “Das Ende des Schmetterlingseffektes”).

  5. Für einschlägig Interessierte: Eine nette Übersicht zum Begriff Schmetterlingseffekt, seiner Historie und Rezeption, gibt dieser (Open Access) Artikel von Étienne Ghys (2015) The Butterfly Effect.

    Von einem “Ende des Schmetterlingseffekts” kann seriöserweise gar keine Rede sein…

    • @ Chris
      Die Argumentation im Artikel “The Butterfly Effekt” zugunsten einer metapherhaften Deutung auch für “Nichtwissenschaftler” erinnert mich stark an die rein mathematische Spekulation einer Multiversen-Existenz als Herleitung aus der Stringtheorie. Zweifellos eine interessante Perspektive für science fiction-Anhänger, aber thermodynamisch ein “Nonsense”! Wo bleiben da die für die Chaostheorie chrakteristischen Rückkopplungen im dynamischen Prozess?

    • @ Chrys
      Die Argumentation im Artikel “The Butterfly Effekt” zugunsten einer metapherhaften Deutung auch für “Nichtwissenschaftler” erinnert mich stark an die rein mathematische Spekulation einer Multiversen-Existenz als Herleitung aus der Stringtheorie. Zweifellos eine interessante Perspektive für science fiction-Anhänger, aber thermodynamisch ein “Nonsense”! Wo bleiben da die für die Chaostheorie chrakteristischen Rückkopplungen im dynamischen Prozess?

  6. Wer gerne in Form eines Romans zu den Themen Chaos und Ordnung, Symmetrie usw. von der Stringtheorie über den Urknall bis zur “Erklärung von Allem” etwas lesen will, das laut Autor überall dort, wo es um wissenschaftliche Themen geht, den tatsächlichen Stand der Wissenschaft beinhaltet, dem empfehle ich das Buch “Das Einstein Enigma” von J.R. Dos Santos.
    Die Diskussionen und Erörterungen zu diesen Themen in diesem Buch sind sehr lang und nicht geeignet für Leute, die nur einen “spannenden Roman” mit unerwarteten Ereignissen lesen wollen. Spannend ist es aber sehr wohl, wenn man sich für die Relativitätstheorie interessiert.

  7. > Ein richtig lineares Kraftgesetz kommt in der Mechanik von Natur aus nicht so wirklich vor. Aber die Physiker haben sich eins zurechtgebastelt, weil die linearen Systeme halt so schön sind.

    Physiker zeichnen sich dadurch aus, dass sie einerseits die Realität radikal vereinfachen, die vereinfachten Modelle immer noch nicht exakt lösen können andererseits im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossen brauchbare Vorhersagen machen können.

  8. Karl Mistelberger,
    Beim Hebelgesetz sind wir schon zufrieden, wenn die Anzugsmomente für Schrauben einigermaßen stimmen. Und wenn die Dachkonstruktion hält. Und wenn Kinder schaukeln, und man noch die Bewegung der Kinder auf der Wippe berücksichtigen will, da merkt man den Unterschied von exakter Physik und angewandter Physik.

  9. > Chrys, 03.12.2020, 14:53 o’clock
    > Für einschlägig Interessierte: Eine nette Übersicht zum Begriff Schmetterlingseffekt, seiner Historie und Rezeption, gibt dieser (Open Access) Artikel von Étienne Ghys (2015) The Butterfly Effect.
    >Von einem “Ende des Schmetterlingseffekts” kann seriöserweise gar keine Rede sein…

    Im oben erwähnten Artikel lese ich: Poor Brazilian butterflies! They are now unable to change the fate of the world!

    Wie auch immer: Bei so vielen Schmetterlingen und anderen, die alle unkoordiniert mit ihren Flügeln schlagen kommt es wie es kommen muss:

    Raoul Robert sagt in “Das Ende des Schmetterlingseffekts”:

    In den letzten Jahrzehnten untersuchten die Meteorologen, wie sich ein Anfangsfehler in den Modellen fortsetzt, die zur Wettervorhersage verwendet werden. Dabei stellten sie fest, dass nach einer kurzen Zeitspanne von etwa ein bis zwei Tagen die Störungen nicht mehr exponentiell anwachsen, wie den Ergebnissen von Lorenz entsprochen hätte, sondern nur linear, das heißt proportional zur verflossenen Zeit. Wie ist dieser Widerspruch zum Schmetterlingseffekt zu erklären?

    Für Lorenz und die vielen, die seiner Argumentation folgten, war die Übertragung seiner Ergebnisse von wenigen auf viele Freiheitsgrade sehr nahe liegend. Sie übersahen allerdings, dass genau dabei neue Phänomene statistischer Natur ins Spiel kommen. Sie bilden die Grundlage der statistischen Mechanik, die Ludwig Boltzmann (1844-1906) gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte.

  10. @Karl Mistelberger / 03.12.2020, 19:29 o’clock

    Predictability: Does the Flap of a Butterfly’s Wings in Brazil Set off a Tornado in Texas?” — Das war der Titel eines Vortrags, denn Lorenz 1972 bei einem AAAS Meeting gehalten hat. Mit einem `?’ am Ende. Und wie Lorenz selbst die Fragestellung dann präzisiert hat: “In more technical language, is the behavior of the atmosphere unstable with respect to perturbations of small amplitude?” Das Bild mit den Schmetterlingen und Tornados hat sich als eine sehr eingängige Metapher erwiesen, die man jedoch nicht allzu wörtlich nehmen darf.

    Sein System von Gleichungen hat Lorenz als ein Modell für Konvektion erhalten, was naturgemäss nicht als Modell für die gesamte Vielfalt atmosphärischer Erscheinungen gedacht war. Nicht mal für Tornados. In diesem System steckt die sensitivity to initial conditions nun mal drin, und sofern es zur Modellierung von atmosphärischer Konvektion tatsächlich brauchbar ist, hat man damit ein Phänomen gefunden, wo dieser Effekt von Belang ist. Welche Konsequenzen sich daraus für das gesamte atmosphärische Geschehen ergeben, lässt sich nicht so leicht und pauschal beantworten.

    Raoul Robert hat sich indessen gar nicht mit Konvektion befasst. Er macht ganz etwas anderes, indem er die Atmosphäre als ein inkompressibles ideales Fluid auf dem 2-Torus modelliert und damit einige numerische Simulationen anstellt. Ist nicht mal klar, dass seine daraus gezogenen Konklusionen für sein simples Modell korrekt sind (vgl. hier), doch keinesfalls kann er damit etwas aussagen zur dynamischen Struktur von 3D-Phänomenen, die in seiner 2D-Welt gar nicht vorkommen.

    «L’effet papillon n’existe plus !» Eine ziemlich steile These angesichts der Schlichtheit von Roberts Modellierung. Dass sich in einem Meer aus Chaos immer wieder auch Inseln der Ordnung finden lassen, ist zudem für komplexe dynamische Systeme nicht so erstaunlich und aus der Himmelsmechanik hinlänglich bekannt. Ghys erwähnt Robert immerhin beiläufig, mehr ist ihm dazu wohl auch nicht eingefallen.

  11. > Chrys, 04.12.2020, 09:37 o’clock, schreibt:

    Raoul Robert hat sich indessen gar nicht mit Konvektion befasst. Er macht ganz etwas anderes, indem er die Atmosphäre als ein inkompressibles ideales Fluid auf dem 2-Torus modelliert und damit einige numerische Simulationen anstellt.

    Raoul Robert schreibt in L’effet papillon n’existe plus !

    L’évolution de l’atmosphère est simulée avec un modèle d’écoulement identique à celui utilisé par E. Lorenz. … Pour un tel système, l’évolution à long terme n’est pas prévisible.

    Nous avons validé cette approche théorique en effectuant des simulations numériques sur l’équation du fluide parfait à deux dimensions et en utilisant un très grand nombre de degrés de liberté. Autrement dit, nous refaisons les calculs de E. Lorenz, mais avec un grand nombre de degrés de liberté, au lieu de quelques dizaines.

    Avec un grand nombre de variables (de l’ordre de 100 000), la simulation de l’atmosphère diffère de celle que prévoit le modèle de Lorenz: l’atmosphère s’organise, car des effets statistiques interviennent. Au début, la couronne se déforme et s’enroule autour de l’ellipse ; progressivement un système formé de trois tourbillons se constituent … On aboutit donc non plus à un système chaotique, mais à une structure cohérente stable.

    Raoul Robert hat also nicht ganz was anderes gemacht als Lorenz. Er macht eine Simulation basierend auf dem Modell von Lorenz und wiederholt diese Simulation.

  12. Liebe Kommentatoren,
    da sieht der Autor etwas hilflos zu, wie ein einziges nebenher erwähntes Wort, “Schmetterlingseffekt”, die ganze Diskussion beherrscht. Was hat das mit dem Thema meines Beitrags zu tun? Na ja, immerhin ein bisschen.
    Die empfindliche Abhängigkeit eines physikalischen Systems von den Anfangsdaten kann verschiedene Folgen haben: Unvorhersagbarkeit im Großen oder im Kleinen. Den ersten Fall habe ich in meinem Blätterteig-Text ausgeführt. Der zweite ist in jedem Kochtopf realisiert: Das Chaos ist dem System behilflich, unter allen Makrozuständen den wahrscheinlichsten anzunehmen, wodurch das System für alle praktischen Zwecke deterministisch wird.
    Von welcher Sorte ist das Chaos in der Atmosphäre? Es kann im Prinzip von der ersten Sorte sein, sagte Edward Lorenz. (Er hat nie gesagt, “es ist von der ersten Sorte”; das hätte seine sehr grobe Modellierung auch nicht hergegeben.) Es ist von der zweiten Sorte, sagt Raoul Robert anhand einer wesentlich feineren Modellierung. (Für mich ein nettes Déjà-vu-Erlebnis: Ich war der Redakteur, der Roberts Artikel in der deutschen Version bearbeitet hat.). Es ist doch von der ersten Sorte, sagt Alexander Shnirelman in dem von Chrys zitierten Text unter Verwendung einer anderen Modellierung, von der ich nicht so schnell erkennen kann, ob sie feiner oder gröber ist. Gröber als die Realität ist sie – unvermeidlich – allemal, und zwar weit gröber.
    Was sollen wir glauben, bis die Wissenschaft sich darüber geeinigt hat, wer von beiden Recht hat?
    Vielleicht kann die Praxis Aufklärung bringen. Wenn die Wettervorhersagen mit feineren Daten und nochmals massiv gesteigerter Rechenleistung in wenigen Jahren über die 14-Tage-Grenze kommen, würde das für Robert sprechen.
    Dem Vorhersageverfahren bleibt auch gar nichts anderes übrig, als den Flügelschlag eines Schmetterlings als Zufallseffekt aufzufassen. Die Alternative wäre Datenerhebung und Berechnung auf einem Gitter mit der Maschenweite Schmetterlingsgröße – eine absurde Idee.

    • Vielleicht kann die Praxis Aufklärung bringen. Wenn die Wettervorhersagen mit feineren Daten und nochmals massiv gesteigerter Rechenleistung in wenigen Jahren über die 14-Tage-Grenze kommen, würde das für Robert sprechen.

      Es wird bleiben wie es seit Beginn der Neuzeit war. Über die Richtigkeit einer Theorie entscheidet das Experiment:

      https://www.youtube.com/watch?v=EYPapE-3FRw

      Robert und der später dazugekommene Haller vergleichen mathematisches Modell und Realität. Shnirelman tut das nicht.

      James Annan und William Connolley haben zum Thema geschrieben:

      http://www.realclimate.org/index.php/archives/2005/11/chaos-and-climate/

    • @Christoph Pöppe

      »… unter Verwendung einer anderen Modellierung, von der ich nicht so schnell erkennen kann, ob sie feiner oder gröber ist.«

      Die Simulation von Robert verwendet \(256 \times 256\) Gitterpunkte, Shnirelman nimmt \(1024 \times 1024\).

      Shnirelman hat für seinen in den beiden Bildserien dargestellten Vergleich die initiale Konfiguration in nur in einem Gitterpunkt minimal abgeändert, was Robert zufolge zu keiner erkennbaren Instabilität führen sollte. Die Bilder offenbaren jedoch deutlich etwas anderes.

  13. @Karl Mistelberger / 04.12.2020, 18:50 o’clock

    In einem 2D-Fluid à la Robert — mit vertikaler Ausdehnung null — hat es keine durch ein vertikales Temperaturgefälle bedingte Konvektion, wie sie durch die Gleichungen von Lorenz modelliert wird.

    Das Sujet bei Robert ist ein 2D-Fluid mit Turbulenz. In diesem Theater wird also ganz ein anderes Drama aufgeführt, wo überhaupt kein Lorenz Attraktor auftritt. Trivialerweise.

    Zu Problemstellungen vergleichbar mit jener von Robert existiert ein Fülle von Literatur; siehe e.g. hier für eine Übersicht. Wie es aussieht, hat Robert jedoch bei den massgeblichen Autoren weder mit seinem Modell, noch mit seinen Querelen über Schmetterlinge einen zitierfähigen Eindruck hinterlassen. Woran mag das wohl liegen?

  14. Die Rückkopplung ist charakteristisch für die Kybernetik, indem sie einen selbstverstärkenden oder selbstabschwächenden Effekt aufweist, entsprechend positiver oder negativer Rückkopplung. Bei negativer Rückkopplung wird häufig ein Gleichgewicht erreicht nach ausreichend langer Zeit. Positive Rückkopplung hat oftmals eine Exponentialfunktion zur Folge, somit also Nichtlinearität. Eine stetige Nichtlinearität ist noch kein Chaos, kann jedoch den Zusammenbruch des Systems verursachen.

    Für die Chaostheorie ist die Rückkopplung nicht notwendig, obgleich auch hier Selbstverstärkungseffekte auftreten können. Oftmals treten chaotische Verstärkungen dadurch auf, dass im Nenner eines Bruches eine Zahl (Variable) nahe Null auftaucht. Durch ungenaue oder instabile Schwellwerte (Randbedingungen wie z. B. Ressourcen) können chaotische Verläufe entstehen, indem durch wiederholtes Erreichen der Schwellwerte die Fehler eskalieren und das System unberechenbar wird. Beispiele dafür wären wiederholte Reflexionen an Wänden oder Knappheit von Ressourcen.

  15. @Christoph Pöppe / 04.12.2020, 23:00 o’clock

    »Für mich ein nettes Déjà-vu-Erlebnis: Ich war der Redakteur, der Roberts Artikel in der deutschen Version bearbeitet hat.«

    Aha! Dank Ihrer hilfreichen Mitwirkung hat also Robert die Leserschaft von SdW anscheinend nachhaltiger beeindruckt als die der SMF Gazette.

    Der “Butterfly Talk” von 1972 war erstmals abgedruckt in E. Lorenz, The Essence of Chaos, Univ. of Washington Press, 1993. Man kann nicht den Eindruck gewinnen, dass Raoult Robert diesen Text je gelesen oder überhaupt nur zur Kenntnis genommen hat; zitiert hat er ihn jedenfalls auch in der Version seines Artikels für die SMF Gazette nicht. Anders als Robert es insinuiert, hat Lorenz da keineswegs behauptet, eine affirmative Antwort auf seine plakative Titelfrage zu haben, und das spricht meines Erachtens nicht unbedingt für Robert und eine nennenswerte Sorgfalt bei seiner Recherche der Hintergründe.

    Gewiss nicht vorhersagebar war, dass sich die Butterfly Metapher von Lorenz nachfolgend in der populären Wahrnehmung quasi zum Sinnbild für deterministisches Chaos schlechthin mausern würde — mit welchem nichtlinearen Modell auch immer. C’est la vie.

  16. Gerade passend zum Thema hat SdW 1/2021 die übersetzte und bearbeitete Fassung eines interesanten Artikels von David Freedman aus Quantamagazine, An Unexpected Twist Lights Up the Secrets of Turbulence.

    Wirklich überraschend ist es (zumindest für einige von uns) allerdings nicht, wenn man dort dann auch liest:

    One thing is clear: Turbulence is chaotic — meaning its behavior is hypersensitive to any change, including the speed, volume and direction of flow, the shapes of the surfaces around it, and much more. The result is that even an infinitesimal inaccuracy in any measurement of the turbulence is enough to throw off any analysis of how it might evolve.

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