Caffarelli und die freien Ränder

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Der argentinische Mathematiker Luis Caffarelli (Jahrgang 1948), der heute an der University of Texas in Austin arbeitet, erhält in diesem Jahr den Abelpreis „für seine wegweisenden Beiträge zur Regularitätstheorie partieller Differenzialgleichungen, insbesondere freie Randwertprobleme und die Monge-Ampère-Gleichung“.

Als ich die Nachricht samt Foto des Preisträgers im Internet las, war mein erster Gedanke: „Der sieht aber alt aus.“ Ich hatte einen wesentlich jüngeren Menschen im Gedächtnis. Mein zweiter Gedanke: Natürlich! Es ist ja auch schon ungefähr 40 Jahre her, dass Caffarelli häufig zu Besuch war am Institut für angewandte Mathematik der Universität Heidelberg. Dort hat er gemeinsam mit Hans-Wilhelm Alt eines seiner großen Werke vollendet: die Lösung eines Problems, das inzwischen als „Alt-Caffarelli-Problem“ mannigfach in der Literatur zitiert wird.

Verstanden habe ich damals kaum etwas; und heute? Na ja – die Sachen sind und bleiben schwierig. Aber ein paar wesentliche Ideen will ich versuchen zu vermitteln.

Die meisten Probleme, mit denen sich Caffarelli befasst, handeln von Strömungen von Flüssigkeiten und Gasen. Und damit ist man bei der berüchtigten Navier-Stokes-Gleichung: eine Gleichung für eine Funktion, welche die Bewegung des Fluids an jedem Ort und zu jeder Zeit beschreibt. Die zeitliche Änderung dieser Bewegung hängt unter anderem von deren räumlicher Änderung in jedem Punkt ab, beide Änderungen werden durch Ableitungen nach der Zeit beziehungsweise dem Ort ausgedrückt, weswegen die Navier-Stokes-Gleichung zu den partiellen Differenzialgleichungen zählt.

Innerhalb der Gleichung gibt es einen „beschwichtigenden“ und einen „aufstachelnden“ Term. Der erste kommt von der Diffusion: Konzentrationen, Geschwindigkeiten und Temperaturen neigen dazu, sich über kurze Entfernungen aneinander anzugleichen. Damit ebnet der Diffusionsterm nicht nur große Unterschiede auf die Dauer ein; vor allem bemüht er sich, jede Neigung zu hässlichem Verhalten bereits im Keim zu ersticken. Wenn zum Beispiel das Medium irgendwo einen unendlichen Wert anzunehmen oder eine Unstetigkeit zu entwickeln droht, also eine Stelle mit der Eigenschaft, dass links von ihr ein anderer Wert herrscht als rechts von ihr, mit abruptem Übergang, dann arbeitet die Diffusion in Richtung Ausgleich. Der aufstachelnde Term dagegen ist auf die Massenträgheit des Mediums zurückzuführen. Er kann unter ungünstigen Umständen dafür sorgen, dass kinetische Energie sich schneller auf einen Punkt konzentriert, als die Diffusion sie umverteilen kann. Weswegen es bis heute keine allgemeine Aussage über Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen der Navier-Stokes-Gleichung gibt.

Und wenn der aufstachelnde Term keine wesentliche Rolle spielt? Dann kann die Stetigkeit – oder die Differenzierbarkeit – der Lösung immer noch bedroht sein, weil eine Unstetigkeit in der Natur des zugrundeliegenden Problems angelegt ist. Denken wir uns einen See, in dem die Wirkung von Zu- und Abfluss sich in Grenzen halten. Dann dominiert die Diffusion, und unter ihrem Einfluss werden die Strömungsgeschwindigkeit des Wassers und seine Temperatur immer gleichmäßiger – es sei denn, irgendwo beginnt das Wasser zu gefrieren. Mag es an der Kante zum Eis auch ein bisschen fließen: Im Eis selbst ist die Strömungsgeschwindigkeit definitiv null, und die Wärmediffusion ist im festen Wasser anders als im flüssigen. Zu allem Überfluss wird beim Gefrieren auch noch Wärmeenergie frei, was man mit einrechnen muss.

Wenn man die Temperatur oder auch den Betrag der Geschwindigkeit über einer Linie aufträgt, die die Eis-Wasser-Grenze überquert, dann wird die Kurve an dieser Grenze einen Knick oder sogar einen Sprung aufweisen. Und schon ist es vorbei mit der Differenzierbarkeit und damit der entscheidenden Eigenschaft, die man braucht, um die Gleichung überhaupt erst aufzustellen. Man muss sich also damit begnügen, die Gleichung nur im flüssigen Teil des Sees zu lösen. Wo der flüssige Teil aufhört? Das ist Teil des Problems. Gesucht ist also die Lösung der Gleichung auf einem Gebiet, dessen Rand noch unbestimmt („frei“) ist.

Diese Problemklasse läuft unter dem leicht irreführenden Namen „freies Randwertproblem“. Nein, nicht das Problem ist frei, auch nicht der Randwert, wohl aber der Rand, und selbst dessen Freiheit besteht im Wesentlichen darin, dass man ihn nicht vorab kennt. Das kommt davon, wenn man die englische Bezeichnung „free boundary value problem“ (bei der man das „free“ ohne weiteres auf die „boundary“ beziehen kann, wo es hingehört) einfach so ins Deutsche überträgt.

Ein freier Rand anderer Art befindet sich nicht im See, sondern in einem Erddamm, der den See aufstaut. Auf der einen Seite steht ihm das Wasser bis zum Hals, auf der anderen viel tiefer, wenn überhaupt. Der Damm ist nicht wasserdicht, so dass er zu einem gewissen Teil mit Wasser getränkt ist. Der andere (obere) Teil ist trocken; irgendwelches Wasser, das dort gewesen sein mag, ist längst abwärts gesickert, bis der Druck der Wassersäule im nassen Teil es zum Stehen brachte. Jedenfalls gibt es einen freien Rand zwischen nass und trocken.

Oder man zieht eine elastische Folie über einen Gegenstand und befestigt sie am Rand der Platte, auf der der Gegenstand steht. Wenn die Folie ihren Gleichgewichtszustand erreicht hat, wird sie an manchen Stellen den Gegenstand berühren, an anderen frei in der Luft hängen. Sie will nämlich ihren Gesamtflächeninhalt minimieren, weil das mit den elastischen Kräften in der Folie auf ein Energieminimum hinausläuft. Der freie Rand ist in diesem Fall die Kurve längs, die die Folie „abhebt“: Auf der einen Seite liegt sie auf, auf der anderen hängt sie in der Luft.

Wie berechnet man die Lösung eines freien Randwertproblems? Ganz schlechte Frage. Eine allgemeine Formel, in die man nur noch die Daten des konkreten Problems einsetzen müsste, gibt es nicht, und dass es sie jemals geben wird, ist schwer vorstellbar. Also muss für die praktischen Zwecke der Computer herhalten. Der berechnet dann eine Funktion, die der richtigen Lösung – hoffentlich – hinreichend nahe kommt.

Aber Vorsicht! Der Computer macht das Übliche: Er überzieht das Rechengebiet mit einem Netz aus (in der Regel) quadratischen Maschen und berechnet die Lösung nicht für jeden Punkt, sondern nur für die Punkte, an denen die Netzfäden sich kreuzen (die „Gitterpunkte“). Wenn das nicht genau genug wird, macht er das Netz eben feiner, um den Preis eines erhöhten Rechenaufwands. Aber einerlei, wie fein er das Netz spinnt, er muss sich darauf verlassen, dass zwischen den Gitterpunkten nichts Dramatisches passiert. Nur unter dieser Voraussetzung kommt das, was er als Näherungen an die Ableitungen verwendet, den echten Ableitungen so nahe, dass man damit weiterarbeiten kann. Insbesondere ist jedes Rechenverfahren darauf angewiesen, dass der freie Rand keine wilden Kapriolen schlägt.

Für die Grenze zwischen fest und flüssig trifft das in der Realität nicht unbedingt zu. Kristalle, die aus einer übersättigten Lösung heranwachsen, bilden manchmal die merkwürdigsten tannenbaumartigen Strukturen aus, und die Eisblumen am Fenster haben geradezu fraktale Gestalt, sprich Strukturelemente in so ziemlich jeder Größenordnung. Das liegt an den Kräften zwischen den Atomen oder Molekülen, die sich an den wachsenden Kristall anlagern. Gut, dass diese Kräfte in dem mathematischen Modell, das mit der Navier-Stokes-Gleichung ausgedrückt wird, nicht vorkommen. Nichts hindert also die Eiskante daran, eine schöne glatte Kurve zu bilden, wie man sie auf einem zufrierenden See beobachten kann.

Aber tut sie das auch unter allen Umständen? Das muss man wissen, damit der Computer eine Arbeitsgrundlage hat. Caffarelli hat im Verein mit zahlreichen Kollegen gezeigt, dass die Antwort in vielen Fällen „ja“ lautet. Das gilt insbesondere für die zweidimensionale Oberfläche eines Sees.

Wie gewinnt Caffarelli derartige Aussagen? Hier muss ich mich mit Andeutungen begnügen. Es zeigt sich, dass man die Differenzialgleichung samt den Zusatzbedingungen, die einen freien Rand erzwingen, in ein Minimierungsproblem umformen kann. Manchmal hat diese Umformung einen physikalischen Hintergrund: Der Gleichgewichtszustand, in dem jede Bewegung zum Stillstand gekommen ist, ist ein Minimum der Gesamtenergie, denn das System hat sich jeder überschüssigen Energie entledigt, indem es Bewegungsenergie in Wärme verwandelte (Reibung ist das Arbeitsgebiet des Diffusionsoperators). Also nimmt man sich eine Menge von Funktionen (potenziellen Lösungen) her; dann muss es eine Folge von Elementen dieser Menge geben, deren Energien gegen das Minimum konvergieren. Davon gibt es eine Teilfolge von Funktionen, die sogar selbst gegen eine Grenzfunktion konvergieren. (Damit das funktioniert, müssen allerlei Voraussetzungen erfüllt sein, zum Beispiel dass in der Menge jede Cauchy-Folge konvergiert; Einzelheiten dazu habe ich hier erzählt.)

Am Ende einer logischen Gedankenkette auf höchst abstraktem Niveau weiß man zwar, dass es eine solche Grenzfunktion gibt, aber sonst fast gar nichts. Sie soll die Differenzialgleichung erfüllen, jedenfalls da, wo sie dazu in der Lage ist, also im flüssigen Teil des Sees, da, wo die Folie in der Luft hängt, im nassen Teil des Erddamms. Das versteht sich nicht von selbst, denn an die „Kandidatenfunktionen“ hat man diese Forderung mit gutem Grund nicht gestellt. Der freie Rand, der dieses Gebiet begrenzt, sollte ebenfalls „glatt“ sein, also eine Kurve, die überall eine Tangente hat. Das will alles mühsam aus den spärlichen Informationen herausgekitzelt werden, die man über die minimierende Funktion hat.

Diese „Regularitätsaussagen“ sind der eigentliche Kern von Caffarellis Werk. Und wie üblich gehen sie weit über die genannten Beispiele hinaus. Nachdem die Mathematiker dank Caffarelli und seinen zahlreichen Kollegen mit freien Randwertproblemen umzugehen gelernt hatten, beeilten sie sich, Probleme aus ganz anderen Bereichen so umzuformulieren, dass sie als freie Randwertprobleme interpretierbar waren. So kommt es, dass das Abelpreis-Komitee in seiner Laudatio sogar Anwendungen von Caffarellis Arbeiten auf die Finanzmathematik preist.

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Christoph Pöppe (Jahrgang 1953) hat Mathematik und Physik studiert und über allerlei partielle Differenzialgleichungen geforscht, bis er 1989 ziemlich plötzlich Redakteur bei „Spektrum der Wissenschaft“ wurde. Fast 30 Jahre lang hat er für diese Zeitschrift Texte bearbeitet und selbst geschrieben, vornehmlich über Mathematik und verwandte Gebiete. Nach wie vor schreibt er gelegentlich Beiträge für die Rubrik „Mathematische Unterhaltungen“. Seine Liebe zum Fach lebt er auch in allerlei geometrischen Objekten aus, die gelegentlich – in Großveranstaltungen mit vielen Beteiligten – ziemlich monumental geraten. Nebenher bietet er in einem Internet-Laden Bastelbögen für allerlei geometrische Körper an.

2 comments

  1. Guten Tag Herr Pöppe,
    ich verstehe Ihre Ausführungen als reine Informationsvermittlung bezüglich Luis Caffarelli und seiner Arbeiten insbesondere über nichtlineare partielle Differentialgleichungen.

    Spontaner Gedanke beim Lesen des Artikels: Einen „groben“ historischen Zusammenhang zwischen Luis Caffarellis und Niels Hendrik Abels (1802 – 1829) Arbeiten, wenn man diesen konstruieren möchte, lässt sich nur schwer herstellen.

    Abel selbst ist in Anbetracht seiner Arbeiten u.a. zu elliptischen Integralen respektive Ellipsen (in Form eines interdisziplinär erfahrbaren geometrischen Realitätsbezugs) “zeitlos modern“. Das ist im Angesicht von geometrischen Realitäten insofern (aus meiner analytischen Sicht) interessant, da sich die Umfänge von Ellipsen nicht exakt berechnen lassen, obwohl diese geometrisch anschaulich „einfach“ erscheinen.

    Sie schreiben hier selber zu »Caffarellis Werk«:
    …“Verstanden habe ich damals kaum etwas; und heute? Na ja – die Sachen sind und bleiben schwierig.“…

    Dazu fällt mir gleichfalls – mehr oder weniger – spontan ein:
    Obwohl die ein oder andere „Auffälligkeit“ seit Jahrhunderten bekannt ist, ist bis heute kein tiefer liegendes Verständnis modellmäßig entwickelt worden. Sehr bemerkenswert ist hier das Buffonsche Nadelproblem welches experimentell die Kreiszahl π bestimmt*. Das ist insbesondere unter dem Aspekt interessant, da die Fragestellung der Wahrscheinlichkeit und die Konzeption des Versuches, indem „Linienobjekte“ (Nadeln) parallele Abstände „berühren“, keinen offensichtlichen Zusammenhang zum Kreis abbilden und der Versuch als solches das Ergebnis ohne eine begründete mathematische Berechnung liefert, insofern als dass man schlicht das Verhältnis von linien-berührenden Nadeln (l) zur Gesamtanzahl (n) der im Versuch „geworfenen“ Nadeln (n) ausdrückt: l/n ≈ 2/ π.
    *Konkret bedarf es hier einer (weiterführenden) analytischen Fähigkeit einen Zusammenhang zu π herzustellen, da die experimentell bestimmte Wahrscheinlichkeit, mit der Nadeln mindestens eine parallele Linie berühren, den Wert 2/π ergibt.

    “Am Rande bemerkt” zur Tatsache, dass heute Form-Normierung wichtiger als die Information ist, die mitunter aus diesen Gründen ignoriert wird und dass signifikante Erkenntnisse nicht im formalisierten Kernfeld von etablierten System-Wissenschaftlern “frei nach” Karl Popper kreiert werden…

    …” Unsere Untersuchung lässt erkennen, daß selbst nahe liegende Zusammenhänge übersehen werden können, wenn uns immer wieder eingehämmert wird, daß das Suchen nach solchen Zusammenhängen ‘sinnlos’ sei.” Quelle: Karl Popper, Logik der Forschung. 1989
    Beispiel aus der Mathematik: Thomas Royen ist ein deutscher Statistikprofessor, der 67-jährig und bereits vier Jahre im Ruhestand „verweilend“, in 2014 unerwartet die so genannte Gaußsche Korrelationsungleichung bewiesen hat: … Das Verblüffende an Thomas Royen‘s Beweis ist, dass er klassische Methoden nutzt, die im Grunde jeder Mathematikstudent verstehen kann. Der Beweis ist nur wenige Seiten lang…
    Hintergrund: Es gab diverse Mathematiker, die jahrzehntelang vergeblich versuchten den Beweis zu erbringen. Da sich Royen eher (out of the box) am Rande der mathematischen Fachkreise aufhielt, konnte er offensichtlich “denkfreier” als seine Fachkollegen das Problem der Beweisführung angehen. Seine diesbezügliche Erstveröffentlichung wurde jedoch inhaltlich ignoriert, da diese nicht der gängigen Gestaltungsform entsprach. Erst als andere Mathematiker auf seinen Beweis aufmerksam wurden und seine Beweis-Ausführungen in die normierte Veröffentlichungsform „transformierten“, wurde die Arbeit zur Kenntnis genommen.

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