Wie man Gehirne mit Licht steuert: Optogenetik (Teil 1)

„Wer Schlagzeilen liest, könnte meinen, die Optogenetik sei eine therapeutische Wunderwaffe, mit deren Hilfe Blinde wieder sehen, Taube hören, Depressive wieder fröhlich werden und demente Menschen sich an längst Vergessenes erinnern“ (1). Mit diesen Worten eröffnet das Deutsche Ärzteblatt im Jahr 2017 einen einführenden Artikel zur Optogenetik, der wissenschaftlichen ‚Methode des Jahres 2010‘ (laut dem renommierten Fachjournal Nature). Mit der Optogenetik können Zellen durch Licht beliebig aktiviert oder inaktiviert werden, Voraussetzung dafür ist die genetische Modifikation der Zielzellen und freie Bahn für das Licht. Weil diese freie Bahn in großen, zum Beispiel menschlichen Gehirnen nicht gegeben ist, wurde die Methode zunächst bei lichttransparenten Tieren wie Zebrafischen oder Fruchtfliegen angewandt – und das Ärzteblatt schlussfolgerte 2017 aus demselben Grund: „Nüchtern gesehen ist das Verfahren vor allem ein Forschungswerkzeug, dessen klinischer Einsatz ziemlich komplex ist.“ Heute, ein paar Jahre später, kann man festhalten, dass diese Einschätzung wohl voreilig war: Blinde können durch Optogenetik teilweise wieder sehen, die erste Studie am tauben Menschen für ein optisches Cochlea-Implantat steht in den Startlöchern und die Tierexperimente zu Parkinson und anderen Erkrankungen sind sehr vielversprechend.

Wie kann man Nervenzellen mit Licht beeinflussen?

Die Geschichte der Optogenetik beginnt in den 1970er Jahren in München. Biochemiker entdecken dort, dass manche Bakterien phototrop sind, ihre Energie also, wie Pflanzen, aus Licht beziehen – allerdings nicht via Photosynthese, sondern durch einen Ionenkanal, der lichtabhängig aktiv ist. Einige Zeit später werden ähnliche Ionenkanäle auch in der einzelligen Grünalge gefunden, die einen sogenannten Augenfleck besitzt. Dabei handelt es sich um eine Art uralten Prototyp eines Auges, das grob aktivierende und inaktivierende Wellenlängen des Lichts wahrnehmen kann. Es dauerte dann zwar bis 2002, bis es erstmals gelang, diese Ionenkanäle (Kanalrhodopsin) von der Alge auf andere Organismen (Froscheier) zu verpflanzen. Was wie eine bloße wissenschaftliche Spielerei anmutet, war die Grundlegung der Optogenetik: es war nun klar, dass man diese lichtsensitiven Ionenkanäle von einem Organismus gezielt auf Zellen eines anderen übertragen konnte, dessen Zellen dann die lichtabhängigen Eigenschaften mitübernahm. Es wurde der Fachwelt mit einem Mal bewusst, dass die Anwendungsmöglichkeiten riesig waren.

Vom Forschungsinstrument zur Therapie

Besonders früh interessierte sich die Neurowissenschaft für die Optogenetik als Forschungsinstrument – schließlich will gerade diese Disziplin verstehen, welche Rolle eine bestimmte Zellart oder ein Areal im Gehirn spielen. Um das herauszufinden, eignet sich die Optogenetik ganz hervorragend. Wenn man zum Beispiel verstehen möchte, welche Verhaltensfunktion ein neuronaler Schaltkreis bei einer Maus hat, kann man diesen Schaltkreis mit einem ungefährlichen Virus infizieren, das so verändert ist, dass es in den Zellen des Schaltkreises die lichtempfindlichen Ionenkanäle aufbaut. Jetzt muss man noch dafür sorgen, dass die lichtsensitiven Zellen auch ihr ‚Sonnenbad‘ bekommen – die gängige Variante ist es, den Mäusen dafür ein Glasfaserkabel in das Gehirn zu implantieren. So kann die Forscherin oder der Forscher per Knopfdruck einen aktivierenden (blaues Licht) oder blockierenden (gelbes Licht) Lichtimpuls in das Gehirn der Maus senden. Startet die Maus sodann in einer harmlosen Situation ein mit Angst assoziiertes Verhalten, ist klar, dass der Schaltkreis für ängstliches Verhalten zuständig ist. Wenn man umgekehrt in einer neuen, unsicheren Umgebung, den Schaltkreis mit Gelblicht blockiert, und die Maus dann keine Angst in der neuen Umgebung zeigt, bestätigt sich die Hypothese. Solche Forschung findet seit guten zwanzig Jahren statt und hat zu vielen bahnbrechenden Erkenntnissen in der Hirnforschung geführt.

Mittlerweile auch wireless: eine optogenetische Zell-Fernbedienung (copyright springernature)

Heute stellen sich jedoch andere Fragen: wenn jemand an Blindheit, Taubheit, Epilepsie oder Parkinson leidet, ließe sich nicht der Teil des Gehirns optisch aktivieren, der für den Funktionsverlust zuständig ist (bzw. bei der Epilepsie blockieren)? Und tatsächlich gibt es erste Erfolge. 2021 stellte ein Forschungsteam die Sehkraft eines 58-jährigen blinden Mannes teilweise wieder her (2). Dafür benötigte er eine Brille, die das Bild vor ihm in Lichtimpulse umkodierte, welche wiederum optogenetisch für sein Gehirn dekodierbar gemacht wurden (die Zellen der Retina wurden per Virus optogenetisch verändert). In Göttingen bereitet ein Team gerade das erste optische Cochlea-Implantat vor, die klinische Studie dazu soll 2026 anlaufen (3). Dabei sollen die Schallwellen in Licht umkodiert werden, die dann das optogenetisch modifizierte Innenohr so aktivieren, wie es der Schall normalerweise bei Hörenden tut. Auch im Fall von Parkinson waren frühere Stimmen skeptisch, ob die Optogenetik wirklich therapeutischen Nutzen haben könne. So glaubten die Autorinnen und Autoren einer Studie von 2009, gezeigt zu haben, dass die dopaminergen Nervenzellen, deren Rezeptoren bei Parkinson untergehen, mit Lichtimpulsen nicht so schnell aktiviert werden können, wie es nötig sei, um die motorischen Ausfallserscheinungen zu verhindern (4). Diese Neuronen feuern nämlich in besonders hoher Frequenz. 2020 kam der Konter: in Parkinson-Ratten führte ein neuer, schneller aktivierbarer Ionenkanal zum Verschwinden der körperlichen Beeinträchtigung (5). Dieser war wie üblich über ein Virus in die Rattengehirne eingeschleust worden, wo die dopaminergen Neurone nun lichtsensitiv wurden, und zwar mit bis zu 100 Lichtpulsen pro Sekunde. Das war ausreichend, um den Ratten die Parkinson-Symptome zu nehmen – und was bei Ratten funktioniert, das findet seinen Weg meist bald in die klinisch-therapeutische Forschung am Menschen.

Was kommt als nächstes? Und wo sind die ethischen Grenzen?

Vieles erstaunt an der Optogenetik. Erstens ist sie ein perfektes Beispiel dafür, wie scheinbar unwichtige ‚Nerd-Forschung‘ an Bakterien und Algen zu den größten neurowissenschaftlichen und medizinischen Durchbrüchen überhaupt führen kann. Zweitens ist sie in doppelter Weise paradigmatisch für die Biowissenschaften unserer Zeit: größere Durchbrüche sind a) zunehmend interdisziplinär und zeigen b) ein immer kürzeres Intervall von der Grundlagenforschung bis zur klinischen Anwendung. Die Neuartigkeit dieser Geschwindigkeit offenbart sich in den Aussagen der Top-Forscherinnen und Forscher, die sich alle paar Jahre korrigieren müssen.

Drittens haben wir mit der Optogenetik eine weitere Technologie, die den Menschen selbst invasiv verändern kann. Das wiederum wirft erhebliche ethische Fragen auf – man stelle sich einmal Soldatinnen oder Soldaten vor, deren Gehirne optogenetisch sozial enthemmt oder deren Gehorsam maximiert wurde. Solche Gedankenexperimente sind aktuell noch völlig illusorisch, und viele Fachwissenschaftlerinnen und Experten warnen einerseits zurecht davor, solche Horrorszenarien an die Wand zu werfen. Andererseits muss gesagt werden, dass die Geschwindigkeit der Möglichkeiten der Optogenetik – und ähnlicher Methoden – rasant zunimmt und das Erwartbare immer wieder übertraf. Die Soldatenthese zum Beispiel diskutierten meine Mitstudierenden und ich vor ein paar Jahren noch ironisch, in dem Wissen, dass Soldaten mit Glasfaserkabeln eine irrwitzige Vorstellung seien. Nur wenige Monate später erschienen die ersten Studien, die Wireless-Optogenetics vorstellten – das Verhalten von Mäusen konnte nun wie mit einer Fernbedienung verändert werden (6, 7).

Zumindest in der Philosophie und der Medizinethik sollten deshalb systematisch Richtlinien dazu ausgearbeitet werden, wie weit wir mit solchen Technologien gehen wollen. Auch wenn Sci-Fi-Albträume wie optogenetische Supersoldaten wahrscheinlich niemals realisiert werden, können an solchen Gedankenexperimenten jene ethischen Prinzipien entwickelt werden, auf die wir für mildere Anwendungen zurückgreifen können. Um diese ethischen Grenzen der Optogenetik soll es im nächsten Artikel gehen.

Quellen

(1) Deutsches Ärzteblatt (2017); 114(37): [30]; DOI: 10.3238/PersNeuro.2017.09.15.08

(2) Sahel, JA. et al.(2021). Partial recovery of visual function in a blind patient after optogenetic therapy. Nature Medicine.

(3) Hernandez V.H. et al. (2014): Optogenetic stimulation of the auditory pathway. Journal of Clinical Investigation, 124 (3): 1114–29

(4) Gradinaru V, Mogri M, Thompson KR, Henderson JM, Deisseroth K (2009) Optical deconstruction of parkinsonian neural circuitry. Science 324:354-359.

(5) Yu, C., Cassar, I. R., Sambangi, J., & Grill, W. M. (2020). Frequency-specific optogenetic deep brain stimulation of subthalamic nucleus improves parkinsonian motor behaviors. Journal of Neuroscience, 40(22), 4323-4334.

(6) Yang, Y., Wu, M., Vázquez-Guardado, A., Wegener, A. J., Grajales-Reyes, J. G., Deng, Y., … & Rogers, J. A. (2021). Wireless multilateral devices for optogenetic studies of individual and social behaviors. Nature neuroscience, 24(7), 1035-1045.

(7) Kathe, C., Michoud, F., Schönle, P., Rowald, A., Brun, N., Ravier, J., … & Courtine, G. (2022). Wireless closed-loop optogenetics across the entire dorsoventral spinal cord in mice. Nature biotechnology, 40(2), 198-208.

Bildquellen:

Beitragsbild: pixabay

(https://protocolsmethods.springernature.com/posts/wireless-optogenetics-a-new-approach-for-deciphering-neural-network)

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Mein Name ist David Wurzer. Ich bin Medizinstudent und Philosophiedoktorand an der LMU München, davor habe ich Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften studiert. Besonders interessieren mich die aktuellen Forschungsergebnisse aus der Neurotechnologie, die als Schnittstelle für die zunehmende Verschmelzung von Mensch und Technik fungiert. Dabei werden spannende klinische und ethische Fragen aufgeworfen, die ich zusammen mit der interessierten Öffentlichkeit durchdenken möchte.

3 Kommentare

  1. Optogenetisch gesteuerte Soldaten scheinen mir ziemlich unrealistisch, denn damit würde man Menschen zu Robotern machen, etwas was klar gegen Menschenrechte verstösst und heute nicht einmal autoritär regierte Staaten wagen würden.
    Realistisch dagegen ist der therapeutische Einsatz der Optogenetik, wobei die Steuerung eventuell dem Patienten überlassen würde. Und der könnte so etwas wie ein Suchtverhalten entwickeln um sich damit in bessere Stimmung zu bringen. Das wäre dann ebenfalls ein ethisches Problem, denn süchtig machen wollen Mediziner ihre Patienten nicht.

  2. Wenn sich Zellen mit elektromagnetischer Strahlung beeinflussen lassen, dann lassen sich Gehirnzellen mit elektromagnetischer Strahlung und/oder mit elektrischem Strom beeinflussen.
    Damit dürfte der Weg zu Lokalisierung des Denkens geebnet sein.
    Hat schon mal jemand untersucht , ob die Gehirnwellen moduliert sind ?

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